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Sechstes Kapitel.

Der gelöschte Durst.

Nachdem man an Bord der Grille einmal den Entschluß gefaßt hatte, dem ersten Ziele, Schweden, den Rücken zu kehren, wandte man sich nun mit neuen Hoffnungen dem zweiten zu; so handelte es sich denn zunächst darum, den Kurs nach Südost zu verfolgen, der sie nach Colberg führen mußte, um dann dort an irgend einer Stelle die Landung zu versuchen. Der Nordostwind hielt jetzt unverändert an, nun blies er sehr heftig, nahm sogar, je tiefer der Abend hereinsank, noch mehr zu und versprach den Flüchtlingen somit die Erfüllung ihrer Hoffnung, da bei diesem Winde die dänischen Kreuzer sich von der deutschen Küste fern halten mußten und ihnen also auf keinerlei Weise den Eingang in deren Häfen sperren konnten.

Es war etwa nach acht Uhr abends, als die Höhe von Arcona erreicht war, dessen Umrisse man im düsteren Bogen sich von dem grauschwarzen Meere und dem mit gefederten Wolken bedeckten Himmel abheben sah. Brausend schlugen die Wogen übereinander und wälzten sich dem steinigen Strande zu, als strebte eine die andere zu überholen, um zuerst das oft besuchte Eiland zu bespülen.

Es lag nicht in der Absicht der an Bord der Grille Befindlichen, dicht an den Küsten Rügens entlang zu steuern, da ihnen der Wind, wenn sie diesen Kurs verfolgten, sonst im Süden der Insel wieder ungünstig werden mußte und sie voraussichtlich ebenso von dem erstrebten, mehr östlich gelegenen Küstenpunkte Deutschlands zurückwerfen würde, wie er früher im Norden der Insel von Schweden getan. Kaum aber hatte man Arcona in Sicht genommen und wollte sich nun noch mehr ostwärts halten, so trat zu aller Betrübnis abermals ein Zwischenfall ein, der auch diesen Plan als unausführbar erkennen ließ.

Waldemar war diesmal der erste, dessen wachsames Auge den neuen Feind entdeckte. Bald nach Rügen und bald nach dem östlichen Meere schauend, überflog er mit raschem Blick die schäumende Wasserwüste und bemühte sich dabei, seine schwirrenden Gedanken von dem verlorenen Ziele ab auf das möglicherweise erreichbare zu richten. Da fuhr er plötzlich in die Höhe und schaute scharf nach Osten hinüber. Unter einer lichteren Wolke, die grell gegen den düsteren Abendhimmel abstach, glaubte er einen weißen Punkt zu erkennen, der dem ausgebreiteten Flügel eines nach Süden fliegenden Schwanes glich, mit der Grille also parallel lief und demselben Ziele zustrebte.

Es bedurfte nur eines kurzen und genauen Hinblicks, so hatte er erkannt, daß er nicht den Flügel eines Schwans, sondern das große Marssegel eines Schiffes vor Augen hatte, dem, wie sich alsbald herausstellte, ein kleineres voranging und ein ebensolches folgte, die offenbar zu einander gehörten, da sie in regelmäßig abgemessenen Zwischenräumen genau denselben Kurs innehielten.

Der aufmerksame Piesing hatte Waldemars Emporfahren und starres Hinblicken aufgefangen und war ohne Zögern seinem Auge gefolgt. »Was!« rief er mit heiserer Stimme, die fast hohl klang vor Erregung und Staunen, »hat denn der Teufel heute alle seine Höllenhunde losgelassen, sind sie auch hier auf unserer Fährte?«

»Es scheint so,« erwiderte Waldemar mit ruhigerer Ergebung, »und sie kommen so dicht an die Küste, als es ihnen der Nordost gestattet, gerade als wollten sie uns gegen dieselbe pressen, bis sie uns auf irgend einem Punkte fest haben.«

»O nein, das sollen sie nicht! Bei diesem Winde können sie nicht näher heran und es bleibt uns im Notfall bei der zunehmenden Dunkelheit noch Raum genug, um das Thiessower-Höwt auf Mönchgut herumzuschlüpfen und in einer der kleinen Buchten bei Zicker uns so lange zu bergen, bis die Gefahr vorüber ist.«

Magnus hörte aufmerksam dieser Auseinandersetzung zu und lächelte dann still vor sich hin, wie jemand, der seiner Sache sicher ist, aber einem anderen gönnt, das Gegenteil davon anzunehmen. Unterdessen aber hatte Piesing durch einen Druck seiner mächtigen Hand schon das Steuer nach Backbord gedrückt und demgemäß flog der Schnabel der Grille scharf nach der Wittower Küste herum, so daß sie dadurch den Kurs einschlug, den man früher hatte vermeiden wollen, also längs des Außenstrandes von Rügen nach Süden ging.

Da die Dunkelheit bei dem bedeckten Himmel rasch zunahm, das Schiff unter günstigem Winde flüchtig wie eine Taube über das Wasser schoß, so kamen sie bald dem Lande näher, so daß sie es ziemlich deutlich zur Rechten liegen sahen.

»Wir sind jetzt dicht genug heran,« bemerkte Waldemar, »sonst kommen wir zu tief in die Tromper Wiek hinein und der Ausgang daraus ist schwierig bei diesem Winde. Ich würde sogar noch ein paar Striche über Lohme hinaushalten, Piesing, wir kommen zu nahe an die felsige Küste Jasmunds, und werden wir von Osten aus erkannt, so schlagen sie wieder unnützen Lärm und jagen uns am Ende vom Lande her den Schiffen entgegen. Und wahrhaftig, der Feind von einer Seite ist jetzt schon stark genug für uns. Ha, seht, wo sind die Schiffe geblieben? Ich sehe keins mehr – oder sind Eure Augen besser als die meinen?«

»Nein, Ihr habt recht,« erwiderte Piesing, nachdem er scharf nach Osten ausgelugt hatte, »sie sind weg und nun will ich Euch gestehn, daß ich Euren Rat, etwas weiter nach Osten abzuhalten, für vollkommen richtig erkenne, aber absichtlich erst stramm nach Westen gegangen bin, damit die Schurken da drüben getäuscht werden und glauben sollen, wir gehören an das Land und kehren dahin zurück. Eine Kriegslist zu rechter Zeit ist immer erlaubt und oft sogar notwendig. Meiner Meinung nach bedrängen sie uns jetzt nicht, da sie das Einsehen haben, uns hier doch nicht in die Mausefalle der Tromper Wiek nachlaufen zu können.«

»Ich will wünschen, daß Ihr recht habt und daß sie glauben, wir seien nicht die, die wir wirklich sind. Sie gehen aber doch eben so sicher wie wir, Piesing, denn seht, wenn sie wirklich den Verdacht hegen, daß wir Flüchtlinge von Rügen sind, so können sie sich auch sagen, daß es nicht in unserm Interesse liegt, an das Land zurückzukehren, und da wir also daran vorbei müssen, um unterhalb Rügen irgend einen anderen Kurs einzuschlagen, so werden sie schon vor uns auf dem Posten daselbst sein und uns erwarten, wo wir sie am wenigsten gebrauchen können.«

»Lirum, larum, Herr Granzow, Eure Vorsicht geht mir etwas zu weit und ich kann Euch nicht auf jedem Eurer Gedankenflüge folgen. Für jetzt weiß ich nur so viel, daß die Dänen uns aus dem Gesicht sind, sie uns also auch nicht sehen können, und daß wir von der Seite nichts zu befürchten haben, so lange der Wind anhält. Ob das geschieht, ist eine andere Frage, und mein Bruder und Jochen da vorn, die schon lange die Nase in die Luft stecken, werden Euch gleich sagen können, ob er nicht schon nachgelassen hat. Heda, Ihr Burschen da vorn, wie steht's mit dem Winde?«

»Meiner Treu,« rief der jüngere Bruder zurück, »er bläst nicht mehr so stark wie vorher, und die Wellen sind auch schon kleiner geworden.«

War der Wind den Flüchtlingen früher zu stark gewesen und hatte er sie zur Umkehr gezwungen, so schauten sie jetzt mit Besorgnis nach ihm aus, als könne er leicht in das Gegenteil umschlagen, und Waldemar fand in der Tat die Aussage des Lotsen bestätigt, nachdem er eine Zeitlang die Wellen und den Wind beobachtet hatte.

»Es geht noch,« sagte er, »obwohl eine Abnahme merklich ist. Bleibt er nur, wie er jetzt ist, so laufen die großen Schiffe doch nicht so leicht gegen die Küste an; nur fürchte ich, die Nacht wird ihn ganz einschläfern.«

»Ich verdächte es ihm nicht,« bemerkte Piesing am Steuer. »Er hat sich genug angestrengt, ganze vierundzwanzig Stunden, und nun mag er wohl gern schlafen gehen wollen. Uns geht es nicht besser, fürwahr, denn ich fühle mich auch müde, obwohl ich eben kein schwächliches Kind bin, wie Ihr wißt.«

»Sprecht nicht von Müdigkeit,« sagte Waldemar ermunternd, »dazu haben wir keine Zeit heute. Erst müssen wir Colberg vor uns haben, dann wollen wir an unser Bett denken. Bist du damit einverstanden, Magnus?«

»Ja, was die Müdigkeit, aber nicht, was den Durst betrifft. Meine Zunge lechzt und ich sehne mich nach Wasser wie ein auf den Tod verwundeter Hirsch.«

»Das ist übel,« meinte Piesing, »aber wir alle teilen Ihre Sehnsucht, Herr Graf. Der Alte auf Pulitz hätte besser getan, uns ein Faß frisch Wasser als so viel Wein und Likör beizustauen, die den Kopf schwindeln machen, wenn man sie vor lauter Durst in langen Zügen trinkt. Na, dem Übel können wir auch vielleicht abhelfen, es wird doch wohl von hier bis Zicker einen Ort geben, wo wir sicher landen und ein paar Flaschen mit Wasser füllen können, nachdem wir uns satt getrunken? Heda, denke einmal jeder nach, wo der beste Ort dazu ist, und dann wollen wir alle zu Gericht darüber sitzen.«

»Wenn es ganz finster wird und der Wind, wie es leider scheint, noch mehr nachläßt, werden wir darüber nicht in Verlegenheit zu sein brauchen,« bemerkte Waldemar und dachte plötzlich an Sassnitz, obgleich er es niemanden merken ließ.

»Es wird auf die Zeit ankommen,« nahm Magnus das Wort, »die wir noch warten müssen, um unsern Durst zu stillen. Was mich betrifft, so wird mir der nächste Ort der liebste sein, alles übrige aber ist mir gleichgültig.«

»Das darf es dir nicht sein,« mahnte Waldemar. »Wir sind alle gefährdet, mein Freund, und wollen doch nicht in Gefangenschaft geraten, wo wir ihr eben erst kaum entschlüpft sind. – Ach, Piesing, aus der Finsternis wird es leider nichts werden, da blinkt schon der erste Stern neben der düsteren Wolke heraus, und wo ich erst einen sehe, werde ich den andern auch bald finden, denn die Sterne da oben lieben Gesellschaft, wie die Menschen auf Erden.«

»Weiß Gott, da ist ein Auge des Himmels offen,« rief Piesing, den Kopf nach dem Firmamente erhebend, »und da – da ist schon der zweite und dritte. Ach, meine Freunde, so sehr ich den Sternenhimmel liebe und seit meiner Knabenzeit alle Nächte mein Auge daran labe, heute wünsche ich sie alle zum – ha, was ist das? Auch der Mond?«

Er rückte gewaltsam den Kopf nach Osten hinüber und schaute empor, und siehe da, aus einer kleinen zerrissenen Wolke blickte ein Stück des abnehmenden Mondes hervor, das groß genug war, um das Meer ringsum zu erleuchten und die Küsten zu bestrahlen, die den nächtlichen Schiffern zur Rechten lagen.

»Seid nicht undankbar,« sagte der Sohn des Strandvogts, der bei dem vor seinen Augen sich jetzt aufrollenden Bilde weich gestimmt wurde. »Seht, das Licht des Himmels wenigstens meint es gut mit uns und will uns das schönste zeigen, was unser Vaterland aufzuweisen hat, seine Kreidefelsen auf Jasmund.«

Es mochte abends zehn Uhr sein, als dieses Gespräch stattfand und der Mond allmählich sein Gesicht entschleierte, um das schon angedeutete schöne Bild zu beleuchten. Alle an Bord befindlichen schwiegen und wandten, staunend und bewundernd, als hätten sie noch nie das sich entwickelnde Schauspiel betrachtet, den Kopf nach Jasmunds Küste hinüber, an der sie bei gesänftigtem Winde und stiller gewordenem Wellenschlage, etwa in der Entfernung von hundert Faden jetzt gemächlich entlang fuhren.

Aus dem niedrigen Ufer der Schabe erhoben sich allmählich dicht mit Gebüsch bekleidete Lehmwände, an deren Ufer die Brandung nagte, deren Brausen und Fluten man deutlich wahrnehmen konnte. Diesen im Schein des Mondlichtes hell schimmernden Wänden folgte als Einleitung zu den malerischen Schönheiten, die sich jetzt vor den Augen der Schauenden rasch nacheinander enthüllen sollten, ein hohes grünes Waldufer. Plötzlich sprang der ragende Königsstuhl majestätisch in seinem feierlichen Schweigen in die Lüfte, und nur durch die Zweige der einsamen Buche auf seiner höchsten Spitze rauschte geisterhaft der Seewind, der noch nicht ganz erstorben war. Dunkel beschattet von den Kreideriesen, folgte die buschige Lithe des Golchabaches, alsdann erhob sich die phantastische Gestaltung von Klein-Stubbenkammer mit ihren Kanten und Spitzen, schneeweiß erglänzend in dem bleichen Lichtstrahl, der immer heller und heller vom Himmel herniedersprühte. Hinter einer dunkel bewaldeten Wand folgte der Witte Plakken mit seiner breiten riesigen Stirn, die er dräuend und furchtlos Tag und Nacht dem schäumenden Meere zukehrt. Unterhalb desselben rieselte der emsige Steinbach durch seine Lithe ins Meer, im Mondenlicht weiße Perlen werfend und mit Widerstreben dem aufgeregten Meere zuströmend, vor dem er sich zu fürchten schien. Hinter ihm sprang der Äser-Ort weit vor und dann trat gespensterartig der Mönch heraus, worauf sich die Küste allmählich wieder in ein hochwaldiges Ufer verlor.

Hiermit hatten die Schiffenden die erste Ausbiegung der felsigen Kreideufer Jasmunds zurückgelegt, die durch vorspringende Felsenkanten in fünf Abteilungen zerfallen, die man Hunke nennt, und näherten sich jetzt dem zweiten Hunk, der mit den gewaltigen Kreidepfeilern des Kolliker-Ortes beginnt. Dieser dachte sich scharf ab in die Lithe des Kolliker Baches, dem das Hundskröse und die drei rauhen Howen folgten, worauf sich die Felsmassen wieder in eine malerische Lithe zerklüfteten, durch die der Brisnitzer Bach sprudelte, woran sich das Kieler Ufer mit seinen zerspaltenen Pfeilern, gleich Türmen emporragend, sodann die Fahrnitzer Rinne, die trichterförmige Schlucht, das Fahrnitzer Loch genannt, und endlich das steile Fahrnitzer Kreideufer anschloß, womit der zweite Hunk endigte. Bald hinter ihm sprang der waldbedeckte Tipper Ort scharf in die Nachtluft vor und es folgte die Lithe des Tipper Baches, die weißen Tippen und das waldige Schnakenufer, und endlich nach dem sanft fließenden Leescher Bach die malerischen Wissower Klinken, die der Wissower Bach und der dritte Hunk begrenzte. Im vierten ragte zuerst die lange schroffe Kreidewand, der Wissower Ort, empor; ihm folgte die Lithe des Lenscher Baches und endlich der riesenhafte Kreidewürfel, der Hengst genannt, dann das Gakow-Ufer, steil aufragend, düster leuchtend und das blendende Mondlicht gespensterhaft zurückstrahlend.

Hier endeten die weißen Felsen und die Kreide verlor sich unter dem grünen Waldufer, der Bläse, worauf der fünfte Hunk erschien, an welchem die mit undurchdringlichem Gestrüpp bewachsenen und bis unterhalb Sassnitz aufgetürmten Lehmwände begannen, an deren Strande der große Granitblock finster in das Meer hineinragt, dem man den Namen Uscan gegeben hat.

Bald nachdem diese Uferstelle in Sicht gekommen war, sah man in den nächsten Strandhäusern von Sassnitz die Lichter schimmern, die den Bewohnern des stillen Dörfchens bei ihrer Nachtarbeit leuchten, und mit verdoppelter Aufmerksamkeit schauten die Männer im Boote, die nach Sassnitz gehörten, hinüber in die grüne Schlucht des Steinbaches, wo ihre heimatlichen Hütten lagen, deren Bewohner nicht ahnen mochten, daß ihre Angehörigen in diesem Augenblick, einem ungewissen Schicksal preisgegeben, dicht an ihrem Strande vorübersteuerten.

Und gerade jetzt, als ob der Mond seine Schuldigkeit getan zu haben glaubte, nachdem er den Flüchtlingen die Schönheiten ihrer Heimat enthüllt hatte, verschleierte er wieder sein Angesicht und trat hinter eine düstere große Wolke zurück, die schwer über Land und Meer hing und gleich darauf ganz Sassnitz beschattete.

»Ha,« sagte der ältere Piesing, dem erst jetzt die Sprache wiederkam, »das war schön, Kinder, und wir haben wenigstens einmal unsere Augen gelabt. Da verdunkelt sich das Licht des Himmels, seht, es ist müde wie wir, aber gleich uns muß es rastlos seinen Weg fortsetzen und ist immer noch besser daran als wir, denn es weiß, wohin es geht, und das wissen wir nicht. – Heda, Herr Granzow, woran denkt Ihr und was schaut Ihr so sehnsüchtig nach dem Kiekhause hinauf? Ihr sehet ihn nicht, den guten Alten, der sitzt in seiner warmen Koje und betet für Euch. O, wenn er gewußt hätte, daß Ihr ihm so nahe vorüberkommen würdet, er wäre in später Nacht die Felsentreppe herabgestiegen und hätte sein altes Auge wenigstens an Eurem Anblick gelabt – he?«

Aber er erhielt keine Antwort von dem Angeredeten, der immer noch das dunkle Haupt nach Sassnitz zurückgewendet hielt, obgleich er schon lange nichts mehr davon wahrnehmen konnte. Waldemar hatte sein Gesicht, sobald er in die Nähe von Sassnitz gekommen war, ganz dem Westen zugekehrt und den spähenden Blick scharf nach der Höhe des Kiekhauses emporgerichtet. Ob er sich wohl der Worte Hilles erinnerte, die ihm ein Zeichen und mit diesem Zeichen einen Gruß zu geben versprochen hatte, daß sie auch in dieser Nacht an ihn dächte? Fragen wir nicht – beobachten wir nur das brennende Auge des jungen Mannes, das mit der Sehschärfe eines Falken durch die Nachtluft nach der Höhe drang und – ja, das weiße Tuch flattern sah, welches das mutige Mädchen seinetwegen an den Bäumen des Auslugeortes aufgehängt hatte, Waldemar war so in Anschauen dieses flatternden Stückes Wäsche versunken, daß er vergaß, auch die von ihm verheißene Flagge als Gegengruß aufzuhissen, und erst als Piesings Anruf ihn aus seiner Träumerei weckte, erinnerte er sich seines Versprechens, leider jedoch zu spät, um das Unterlassene nachzuholen, da die Grille schon weit südwärts steuerte.

»Seid Ihr endlich fertig mit Schauen?« fuhr Piesing fort – »ja? Nun seht Ihr wohl! Was könnt Ihr uns nun erzählen von dem, was Ihr geschaut habt, he?«

»Nein, Piesing, ich kann es Euch nicht erzählen, und was ich gedacht habe, würde Euch vielleicht ganz gleichgültig sein.«

»O nein, Mann, gewiß nicht, das glaubt nicht von mir. So stumpf und steinkalt bin ich denn doch nicht, wie Ihr diesmal anzunehmen scheint. Doch halt – da ist Crampas, und da wirft der kleine Tribberbach seine Schaumperlen ins Meer – ist mir doch, als ob ich sie blitzen sähe und murmeln hörte, wie sie so artig über das kleine Gestein rauschen – da, da haben wir den Mond wieder – wahrhaftig, ich sehe den Bach – seht Ihr ihn auch?«

Waldemar wollte etwas antworten, als ein Ruf Jochens, der auf der Backbordseite im Schnabel der Grille saß, die allgemeine Aufmerksamkeit erregte.

»Herr,« rief er, »ein Schiff, da, dort, seht Ihr die weißen Segel sich blähen und rüstig immer näher steuern?«

»Herum mit dem Steuer, dem Lande zu!« rief Waldemar eifrig, und flugs flog die Grille in die große Bucht ein, dem schmalen Erdgürtel sich nähernd, welchen die Prorer Wiek bespült, und den man die schmale Heide nennt.

Lautlos verstrichen einige Minuten; alle in dem Boote Sitzenden erfaßte eine Art Beklommenheit, als sie die Feinde schon wieder auf ihren Fersen sahen, bis endlich Piesing mit einem tiefen Atemzug leise zu Waldemar sagte: »Das war die rechte Zeit, Granzow, nicht wahr? Nun aber verhülle Gott den Mond und gebe uns lieber einen Sturm, denn wie wir auch rüstig segeln, die großen Schiffe werden früher am Peerd sein als wir und schneiden uns dann den Weg nach Süden oder Osten ab, wohin wir nun wollen.«

»Gott hat Eure Bitte schon erhört,« entgegnete Waldemar mit fester Stimme, »da, der Mond ist weg, und dichte Wolken bedecken jetzt rings den Himmel. Seht Ihr die Schiffe? Ich sehe sie nicht mehr.«

Alle blickten ringsum, aber kein Auge, so gut sie alle waren, konnte die nur wenige Sekunden lang wahrgenommenen Segel wiederfinden.

»Ha!« sagte Piesing, »ich begreife, was das bedeuten sollte. Gott wollte uns nur einen Wink geben, den zu befolgen die höchste Zeit war, und so zog er eine Weile ein Stück Vorhang vom Himmel weg, um uns hinter die Kulissen schauen zu lassen. Das war gut von ihm, und wir erkennen es dankbar an. Nun lustig, Jungen, wir haben einen Beistand, der sich sehen lassen kann – ha, er läßt auch den Wind aufhören, um die großen Schiffe abzuhalten, aber unser kleines hat noch Luft genug, um ruhig weiterzukommen.«

»Ja,« sagte Waldemar, »der Wind läßt ganz nach, und auch ich nehme das als ein günstiges Ereignis auf, denn daß sie in einer dunklen Nacht bei so ungewissen Anzeichen, daß wir Flüchtlinge sind, ihre Boote hinter uns her schicken sollten, kann ich mir kaum vorstellen.«

»Wer denkt daran!« rief Piesing munter. »Ich nicht. Aber bei Gott, wir sind jetzt bald Pulitz gegenüber. Ha! wir haben eine hübsche Rundreise gemacht, und ich würde dafür danken, wenn ich sie jede Woche wiederholen sollte.«

»Das wird niemand verlangen,« sagte Waldemar, »und ich selbst danke Euch herzlich für Eure Bemühungen und werde sie zu belohnen suchen, wenn ich wieder in der Lage dazu bin.«

»Herr,« rief Piesing fast gekränkt, »wer denkt an eine Belohnung! Ich nicht, und mein Bruder nicht, und Gingst und Jochen wahrhaftig auch nicht. Wir sind Männer und Landsleute, das merkt Euch, und da Ihr in Gefahr waret, so halfen wir Euch; könnt Ihr uns einmal wieder helfen, so ist es gut, wo nicht, so schreibe ich es in das Schuldbuch des Himmels, was schon einen ziemlichen Umfang hat, wie ich mir vorstelle.«

»Das ist brav von Euch – gebt mir die Hand!« sagte Magnus ernst. »Ich drücke sie gern einem Wackeren, und Ihr seid es. Aber wenn Ihr mir noch einen Gefallen tun wollt, so bringt mich irgendwo an das Land – ich muß trinken, die Zunge klebt mir am Gaumen.«

»Iß etwas!« ermahnte Waldemar und reichte dem Freunde einen noch vollen Speisekorb hin.

»Ich danke – habt Ihr noch Rotwein?«

»Leider nicht, aber Likör in Fülle.«

»Den mag ich nicht, er verbrennt mir das Gehirn, und ich lechze nach Wasser.«

»Wir alle, Herr, haben Durst, das ist sicher!« rief Piesing. »Aber wo legen wir an?«

Waldemar besann sich, dann sagte er milde: »Magnus, halte es noch eine gute Stunde aus. Sieh, wir segeln noch ziemlich rasch und erreichen den Granitzer Ort bald. Da kann ich dir freilich noch keine Labung anbieten, denn an dem waldigen Ufer kenne ich keinen Brunnen. Aber eine Meile südlich davon liegt Peerd. Das umschiffen wir vorsichtig und landen auf Bakewitz, Hilles Gut, das sie vom alten Lachmann geerbt hat. Da weiß ich Bescheid; dort haben wir einen sicheren Landungsort, und dicht dabei sprudelt eine frische, kühle Quelle: da wollen wir trinken nach Herzenslust und alle unsere Flaschen füllen. Haben wir das getan, so gehen wir wieder an Bord, und können wir dann wegen mangelnden oder konträren Windes nicht nach Colberg gelangen, so rudern wir hinüber in den Greifswalder Bodden und steigen an irgend einer menschenleeren Stelle ans Land.« Dort sucht man uns jetzt nicht, und wir werden uns sicher irgendwo verbergen können. Stimmst du bei?«

»Ja!« erwiderte Magnus matt.

»Da tut Ihr auch sehr recht, Herr,« nahm Piesing wieder das Wort. »Einen besseren Vorschlag könnte wohl niemand jetzt machen, der hat Wissenschaft und Erfahrung in sich. Ach, wie soll uns das süße Wasser der guten Hille schmecken! Vorwärts, Kinder, paßt auf die Segel und nehmt jeden Luftzug mit. Sie ziehen wieder besser, wahrhaftig, seht, und es wird am Lande so dunkel, als wollte sich eine pechschwarze Nacht zusammenbrauen. Lustig, Kinder, lustig, es wird noch alles gut, ich habe eine prächtige Laune mit einem Mal, und daran ist, so wahr ich lebe, die Hoffnung auf die süße Quelle schuld.«

Magnus lächelte still vor sich hin, als er diese Worte hörte; ob derselben Hoffnung wegen oder aus einer anderen Ursache – wir wollen es nicht zu ergründen suchen.

Mit gemäßigter Schnelligkeit und bei immer ruhiger fließenden Wogen setzte man nun ungehindert den weiten Weg fort. Das Mondlicht war vom Himmel gänzlich verschwunden, kein Stern blitzte mehr, und nur düstere Wolken, die jeden Augenblick mit ersehntem Regen drohten und ihn doch nicht herniederließen, bedeckten ihn ringsum. So war denn auch am ganzen östlichen Horizont kein Segel zu sehen, und keines Menschen Auge konnte die müden Flüchtlinge wahrnehmen, die nun schon länger als vierundzwanzig Stunden in ununterbrochener Tätigkeit begriffen und mannigfacher Unruhe preisgegeben waren. Selbst Piesing der Ältere und Waldemar, die stärksten von allen, fühlten eine geringe Anwandlung von Erschöpfung, die der brennende Durst, der sie sämtlich peinigte, wahrscheinlich noch fühlbarer machte.

Es mochte Mitternacht sein, als sie an dem steilen Waldufer der Granitz entlang segelten, das einen tiefen, undurchdringlichen Schatten auf das immer stiller brandende Meer warf, dessen Rauschen, indem es die hohen Ufer bespülte, hohl und klagend herübertönte, als ließen die Geister der Wellen Seufzer und Stöhnen vernehmen, daß ihr Übermut keinen Spielraum mehr hatte und ihr donnerndes Gelärm gebändigt war.

Magnus war in einen leichten, aber häufig unterbrochenen Schlummer verfallen, aus dem ihm immer wieder sein zunehmender Durst weckte, und jedesmal riß er dann die Augen auf und starrte nach dem Lande hinüber, als wollte er untersuchen, ob man noch nicht bald der ersehnten Quelle näher gekommen wäre. Seine Stirn war trotz der kühlen Abendluft heiß, und seine Schläfe klopften, als tobte ein Fieber in seinen Adern, und seine Zunge war so trocken, daß es ihm schwer ward, nur ein verständliches Wort hervorzubringen. Auf Waldemars Zureden hatte er sich entschlossen, einen Schluck Branntwein zu nehmen, aber kaum hatte er ihn auf der lechzenden Zunge, so spie er ihn wieder aus, denn er schien Feuer zu sein, das seine brennenden Eingeweide noch mehr in Flammen setzte.

Waldemar, kaum minder angegriffen, aber mit größerer körperlicher Kraft und zugleich energischerer Willensstärke begabt, bezwang männlich den peinlichen Drang nach einem labenden Getränk und nahm von Zeit zu Zeit, wie auch die anderen es taten, einige Tropfen Likör auf die Lippen, um sie wenigstens anzufeuchten. Essen mochte niemand mehr, dazu war der Durst zu quälend, und da man die nahe Labung in Aussicht hatte, so bezwang man sich und hoffte im stillen.

Aber der Zeitpunkt dieser Labung wurde immer länger und länger hinausgerückt. Südlich vom Quitzlaser Ort, wo die Granitz endet, ließ der Wind mehr und mehr nach, die Wellen beruhigten sich wunderbar schnell, und endlich hingen die Segel schlaff von Rae und Stag herab.

»Da haben wir's,« sagte Piesing am Steuer, »Der Wind geht uns aus, wie der Lampe das Öl, und das ist jetzt sehr unangenehm. Will einer hier das Steuer führen, so greife ich allein zu den Rudern, ich bin der Stärkste von Euch und denke es eine Weile auszuhalten.«

»O nein, o nein!« riefen sein Bruder und Jochen von ihrer Bank her, »wir können dasselbe tun!« Gleich darauf tauchten ihre Riemenblätter ins Wasser, der Lotse Gingst und Waldemar griffen ebenfalls zu den ihrigen, und so ging die »Grille« wieder bald rascher vorwärts.

Eine Viertelmeile vom Göhrenschen Höwt entfernt, schienen die Flügel des Windes sich wieder entfalten zu wollen, und die wackeren Ruderer konnten eine Weile ruhen, was ihnen sehr notwendig war, aber die Freude dauerte etwa nur zehn Minuten, und endlich mußte man sich abermals zur Arbeit anschicken, die allen mit jedem Augenblick schwerer wurde. Endlich aber sah man von ferne das wilde Peerd mit seinen schroffen Abhängen aus dem Wasser steigen, und mit neuem Mute umfuhren es die erlahmten Flüchtlinge, aber mit der größten Vorsicht, um die etwa darauf postierten Wachen nicht aufmerksam zu machen. Noch konnten sie das Feuer auf dem Vorgebirge, wenn man eins angezündet, nicht sehen, Bäume und Gesträuch benahmen den Überblick, als sie aber gerade vor der Stirn des Kolosses waren, sahen sie es emporflackern, und sogar einige hin- und hergehende Gestalten konnten sie durch ihr Nachtrohr erkennen.

»Jetzt sind wir bald an der Quelle,« sagte Waldemar. »Da ist schon das Göhrensche Höwt. Sieh, Magnus, hier bin ich den lieben deutschen Reichstruppen, die sich einein Napoleon hingegeben haben, um ihre Brüder totzuschlagen, als Gespenst erschienen – ich habe es dir ja erzählt – und dort liegen ihre Gewehre im Wasser. Nun, damit wenigstens werden sie hoffentlich keinen Brudermord mehr begehen! Aber ha, was ist das! Das Peerd sieht mir ja heute ganz anders aus als sonst, und das Feuer der Wachen brennt ja ganz im Freien – wo ist der Wald geblieben – o!«

Alle blickten erstaunt nach dem Bergvorsprung hinüber, dessen Umrisse ihnen so genau bekannt waren; aber was sie am lebhaftesten mit ihren Augen suchten, fanden sie leider nicht mehr vor, der schöne alte Fichtenwald war bis auf einige wenige Stämme ein für allemal von der romantischen Höhe verschwunden.

»Daß der Blitz Gottes die Übeltäter erschlage!« rief Pasing mit wütendem Drohen der Faust. »Haben sie uns auch die schönen Bäume auf dem Rücken unseres Peerdes gestohlen, und es steht nun da wie ein nackter Gaul ohne Mähne und Schweif! Hunde, die Ihr seid, Ihr werdet hart dafür gestraft werden, gebet acht! Die Rache des Himmels kommt, wenn auch spät, doch gewiß über Euch!«

»Ja, sie kommt,« murmelte Magnus und nickte beistimmend mit dem matten Haupte, »aber wer wird es erleben?«

Die Ruderer, die, während obiges gesprochen wurde, mit ihrer Arbeit inne gehalten hatten, griffen wieder zu den Riemen und ließen sie emsig durch das Wasser gleiten. Bald war daher das Vorgebirge in ziemlich weitem Bogen umschifft, und die Grille glitt nun südlich davon in leidlich ebenem Wasser der Stelle zu, wo der Bakewitzer Hof lag, den sie alle genau kannten, sowie die Fahrstraße, auf der man sich zwischen den Baken durch zu Lande bewegen mußte.

Als das Ufer nun sichtbar immer näher trat, gebot Waldemar, die Riemen so leise wie möglich zu handhaben, und die übrigen standen, um einen besseren Überblick zu gewinnen, aufrecht im Boote und schauten mit der schärfsten Aufmerksamkeit nach dem Lande, ob sich nicht irgendwo ein bedenkliches Geräusch hören oder irgend ein verdächtiger Gegenstand blicken ließe. Alles aber war still in der lautlosen Nacht, und nur bisweilen noch strich ein ächzender Windstoß, der vergeblich seine Vorgänger einzuholen suchte, durch die Lüfte, um in den fernen Wäldern zu ersterben, denen er zunächst auf seinem Wege begegnete. Es war längst Mitternacht vorbei, das abgelegene Bakewitz war von den Franzosen oder ihren Helfershelfern vor kurzem nicht besetzt gewesen, wer sollte also wohl die Flüchtlinge hindern, das Land zu betreten und ihren Durst zu stillen, der mit der Zeit eine peinliche Höhe erreicht hatte.

»Fahrt so geräuschlos wie möglich,« flüsterte Waldemar den beiden Ruderern an der Spitze des Bootes zu, die es allein noch bewegten, »damit wir keinen Schläfer, nicht einmal einen Hund wecken. Doch das haben wir kaum zu befürchten. Die Hunde wenigstens liegen innerhalb des Gehöftes, und wir betreten nur den Garten, der nach der See hin liegt. Wer geht zunächst an das Land, denn zwei wenigstens müssen doch das Boot hüten?«

»Laßt mich einen Rat geben,« nahm der besonnene Piesing das Wort. »Geht Ihr selbst, Herr Granzow, mit dem Grafen ans Land, und mein Bruder kann Euch begleiten. Habt Ihr getrunken, so füllt Ihr die Flaschen und kommt dann zurück und bleibt im Boot, bis auch Jochen, Gingst und ich unsern Durst gelöscht haben.«

»Ja,« sagte Magnus, beinahe taumelnd vor Erschöpfung, »laßt mich diesmal der erste sein. Wenn ich getrunken habe, will ich Euch vom Rudern ablösen, meinetwegen über den ganzen Meeresarm fort, denn wenn mein Durst gelöscht ist, werde ich die Kräfte eines Riesen haben, ich fühle es.«

»Gemach, das wird sich finden!« flüsterte Waldemar. »Jetzt setze dich, Magnus; noch sind wir nicht so weit. Du sollst am Lande der erste sein, der mir folgt, denn ich muß Euch führen, da Ihr nicht so gut wie ich die Lage der Quelle kennt.«

Langsam strich die »Grille« auf das Land zu, bis man, um alles Geräusch zu meiden, zu rudern aufhörte und sich durch Bootshaken zu Lande half. Aber Magnus befolgte Waldemars Rat nicht, sondern blieb stehen, indem er sich am Mast festhielt, denn das Verlangen, festen Grund zu betreten und das Murmeln der Quelle zu hören, war der einzige Trieb, der ihn jetzt beseelte.

»Können wir bis dicht an den Strand heran?« fragte Piesing den hier bekannteren Granzow.

»Ja, nur vorwärts! Zwischen dem Schilf vor uns liegt ein Balken am Lande in einer kleinen Bucht, da laufen wir ein und an. Gebt mir 'mal das Steuer. So!«

Man war dem Ufer immer näher und endlich ganz nahe gekommen. Schon strich die »Grille« an dem Schilfe vorbei und bewegte einige hochragende Büschel desselben. Endlich stieß sie mit ihrem Vordersteven auf den Grund und, nur auf ihrem scharfen Kiele ruhend, schwankte sie hin und her, als zittere und schüttele sie sich ob der überstandenen langen Anstrengung.

»Pst!« flüsterte Waldemar, »laßt mich voran. Still! Ist alles ruhig vor uns?«

»Ja, ja,« lispelte Magnus, »nur vorwärts!«

»Habt Ihr auch die Flaschen?« rief ihnen Piesing leise nach, während sein Bruder schon den beiden Freunden dicht auf dem Fuße folgte und hinter ihnen auf dem starken Balken her dem Ufer zuschritt.

»Ja, ja,« tönte es zurück, und die drei Männer entschwanden bald im Schatten der Nacht den Augen des älteren Piesing, Gingsts und Jochens, die alle drei sie mit ihren besten Wünschen begleiteten.

Waldemar schritt vorsichtig den ihm Folgenden voran. Er betrat mit eigentümlicher Gemütsbewegung den kleinen Garten, den Hille hatte herstellen helfen, und dann den freundlichen Platz unter den Nußbäumen, wo er vor acht Wochen so harmlos mit ihr auf der Bank gesessen und ihr seine jüngsten Erlebnisse erzählt hatte. Aber er hielt sich nicht lange mit seinen Gedanken dabei auf, es war keine Zeit zu versäumen. Ebenso rasch wie geräuschlos durchschritt er den Garten, wandte sich dann zur Linken von dem Gehöfte ab, wo der Boden sich bald wieder etwas hob, und erreichte einen glatten Rasenfleck, der zum Bleichen der Wäsche benutzt wurde. Nachdem er auch ihn überschritten, gelangte er an eine Vertiefung des Bodens, die mit einem bretternen Verschlage umgeben war, um das Vieh abzuhalten, die darin sprudelnde Quelle, eine der wenigen auf ganz Rügen, zu verunreinigen. Er wußte, wie der an der kleinen Tür befestigte Riegel zu öffnen war, und so stand dieselbe bald auf. Als er in den inneren Raum getreten war, hörte er schon das Murmeln des frischen Wassers, das aus einem gehöhlten Baumstamm, den man horizontal in den Boden getrieben, hervorsprudelte.

»Hier ist Wasser, Magnus, da, labe dich, aber trinke langsam, es ist kalt.«

Magnus hatte sich niedergebückt und fing schon mit den hohlen Händen das plätschernde Wasser auf. Während er daraus trank, füllte Waldemar rasch eine Flasche und reichte sie zuerst dem jüngeren Piesing, der bescheiden hinter den beiden stehen geblieben war. Dann, sobald ihn Magnus wieder heranließ, füllte er die zweite und trank sie langsam leer, worauf er sie noch einmal voll laufen ließ und seinem Freunde reichte, der gar nicht satt werden konnte. Die Pausen füllten sie damit aus, daß sie sich die Gesichter wuschen, eine Erfrischung, die ihnen ein außerordentliches Labsal gewährte.

»Nun,« sagte Waldemar freudig bewegt zu Magnus, »habe ich dir Wort gehalten und dich zur Quelle geführt?«

»Ja, ich danke dir, aber ich bin noch nicht halb satt!«

»So trinke nur zu, die Quelle gibt Wasser genug.«

Während Magnus wiederholt trank, füllten die beiden anderen sämtliche Flaschen und Kruken, die sie in einem Korbe bei sich trugen, wobei sie jegliches Geräusch zu vermeiden suchten.

Endlich hatten sie sich alle gesättigt und auch die Flaschen versehen, selbst Magnus fühlte keinen Durst mehr und gab seine Befriedigung durch laute Erleichterungsseufzer zu erkennen.

»Seid Ihr fertig?« fragte Waldemar. »Gut, so laßt uns aufbrechen und zu dem Boot zurückkehren, damit ich auch die anderen herführe, sie werden uns schon lange mit Sehnsucht erwarten.«

»Ja,« sagte Magnus, »ich bin fertig, und mein Durst ist völlig gelöscht. Ich bin wie neu geboren und fühle mich jetzt jeder neuen Gefahr gewachsen.«

Waldemar trat zuerst aus der Umzäunung in das Freie zurück und wollte eben dem Rasenplatz zuschreiten, als er einige dunkle Schatten über denselben sich ihm entgegen bewegen sah. Zuerst dachte er, es wäre Piesing mit seinen Gefährten, die der Durst und die Ungeduld herbeigeführt, aber bald sollte er eines anderen belehrt werden, denn das Rasseln von Waffen schreckte ihn aus seinen behaglichen Gedanken auf, und augenblicklich waren er sowohl wie seine Gefährten von einer so großen Menge bewaffneter Soldaten umringt, daß jeder Widerstand vergeblich gewesen, wenn er versucht worden wäre.

Plötzlich hielt ihm jemand eine bisher verborgen gehaltene Laterne vors Gesicht, und eine Stimme fragte in einem Deutsch, das seine südliche Abstammung nicht verleugnen konnte: »Halt, wer da? Wer seid Ihr und was wollt Ihr hier?«

»Wir haben getrunken,« erwiderte Waldemar, der augenblicklich seine Fassung wiederfand, »und daran werden Sie uns hoffentlich nicht hindern wollen.«

»Aber wer sind Sie?«

»Wir sind Deutsche, das hören Sie, wie ich es Ihnen anhöre, daß Sie einer sind.«

»Antworten Sie bündig, mein Herr; ich bin ein kaiserlicher Offizier, wie Sie sehen, und habe das Recht, Sie zu fragen. Wo kommen Sie her?«

»Von Schweden, und wir sind hier nur einen Augenblick gelandet, um unsern Durst zu löschen.«

»Von Schweden? Das tut mir leid – wir führen mit Schweden Krieg, kein Schwede darf hier landen, und so sind Sie meine Gefangenen. Geschwind, faßt sie und bindet sie!«

Dieser Befehl wurde mit einer Schnelligkeit vollstreckt, die bewies, daß er lange vorbereitet war. Man hatte das Boot schon von der Göhrenschen Küste aus bemerkt und es bis Bakewitz am Strande verfolgt. Alsbald war der Verdacht rege geworden, das es die auf ganz Rügen in diesen Tagen gesuchten Flüchtlinge trage, und eine starke Mannschaft war aufgeboten worden, den herrlichen Fang zu vollführen, der nun wahrscheinlich so über alle Erwartung geglückt war.

Magnus, Waldemar und der jüngere Piesing wurden an Händen und Füßen so fest gebunden, daß sie erstere gar nicht, letztere nur zu mäßigen Schritten bewegen konnten. Von einem Dutzend bärtiger Scharfschützen umgeben, standen jetzt die Flüchtlinge mit klopfendem Herzen da und blickten, zwar bewegten Gemüts, aber mit ruhiger Ergebung ihr Schicksal ertragend, da sie sich nicht anders helfen konnten, ihre siegreichen Feinde an.

»Jetzt folgen Sie mir, meine Herren,« sagte der Offizier, indem er einen Blick der Befriedigung auf den Grafen Brahe und Waldemar Granzow fallen ließ, die er nach ihrem überall hin verbreiteten Signalement wohl schon erkannt haben mochte. Er selbst schritt dem Zuge voran und auf das Gehöft zu, während seine Leute die drei Opfer umgaben, die gegen alle Erwartung an einem Orte gefangen worden waren, wo sie sich nur eine so notwendig Labung versprochen hatten.

Während sie aber den Rasenplatz überschritten, kehrte Waldemar die volle Besinnung und das Bewußtsein der Gegenwart zurück. An seine Gefährten im Boote denkend, von denen namentlich Piesing Vater einer zahlreichen Familie war, faßte er einen heroischen Entschluß. Er blieb einen Augenblick stehen, wandte sein Gesicht nach der See und rief mit weithin schallender Stimme: »Landsleute! – Verrat! – Wir sind gefangen!– Stoßt ab!«

»Ha!« schrie der Offizier, »Sie haben noch so viel Courage? Ich habe meine Pflicht also noch nicht vollständig erfüllt. Rasch, stopft ihnen den Mund, Leute, und legt ihnen das Gebiß eines widerspenstigen Hengstes an.«

Auch dieser Befehl ward sogleich vollstreckt, und nachdem man allen dreien einen Knebel vor den Mund gelegt, führte man sie in das Gehöft und hier wurde wenigstens Waldemar sehr bald von einem dummen Knecht als der gesuchte Seemann rekognosziert, worauf man in weniger als einer Viertelstunde einen Strohwagen kommen ließ und die Gefangenen darauf setzte, um sie, wohl gefesselt und von einem Schwarme bewaffneter Soldaten umgeben, landeinwärts zu fahren und den ihrer harrenden Gerichten zu überliefern.

»Ach,« dachte Waldemar, als er sich in seinen Banden außerstande sah, auch nur ein Wort zu seinen Unglücksgefährten zu reden, »meine Gedanken wenigstens sind mir, Gott sei Dank! geblieben. So bin ich also Gefangener und Magnus Brahe, der Erbe von Spyker, auch. Man führt uns nach Bergen, ich erkenne es wohl. Dort werden Franzosen über uns zu Gericht sitzen und was sie über uns urteilen, weiß ich voraus. Doch wer kann gegen das Schicksal streiten, das uns auf Erden verfolgt? Magnus hat doch nicht ganz unrecht gehabt. Aber daß ich gerade aus Hilles Grund und Boden und noch dazu von den deutschen Soldaten, die meine Brüder im ehrlichen Kampfe gegen den fremdländischen Unterdrücker sein sollten, gefangen und gefesselt bin, das frißt mir am meisten am Herzen, denn das hatte ich am wenigsten erwartet.«


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