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Viertes Kapitel.
Das leere Blatt im Album.

Fünf Minuten, nachdem Baron Grotenburg die Cluus verlassen hatte, klopfte es leise an die Tür von Frau Birkenfelds Wohnzimmer, in das diese wieder getreten war, und an der Art und Weise des Klopfens erkannte sie sogleich, daß Boas sie zu sprechen begehre.

»Komm herein!« rief sie, ihr glühendes Gesicht mit einem Tuche trocknend und ihren grünen Pelz, der sich etwas verschoben hatte, wieder in Ordnung bringend.

Boas trat rasch herein, und auf der Stelle bemerkte die alte Frau an seinem glücklichen Gesicht, daß er der Überbringer einer frohen Botschaft sei.

»Was gibt's?« fragte sie hastig, dem alten Mann freundlich zunickend.

»Der Herr Legationsrat ist da, Frau Birkenfeld, und wartet schon seit einer Viertelstunde auf Sie.«

»Ah!« rief die alte Frau, lebhaft emporfahrend, »das ist doch was! Sieh, wie der liebe Gott mir noch wohl will, Alter, daß er mir gleich den lindesten Balsam auf die schmerzende Wunde träufelt! – Wo ist der Herr?«

»Ich habe ihn in den Garten gelassen und jetzt ist er bei den Bienen.«

»Ha! Daran erkenne ich ihn! Er hat seine Freude an Fleiß und Arbeit, wie ich und andere vernünftige Leute – nun, nun, das ist natürlich. Geh zu ihm, Boas, und sage ihm, daß ich gleich kommen werde, er soll mich im Gartensaal erwarten, ich will mich nur einige Minuten abkühlen. Dann aber sage der Dina, daß sie zwei Couverts auflegt. Der Herr speist bei mir.«

Boas lief, so rasch ihn seine Füße tragen konnten, nach dem Garten, keuchte die Anhöhe nach den Bienenhäusern hinauf und richtete an Bodo seine Bestellung aus, der vor einem der gläsernen Stöcke stand und das Treiben darin eifrig beobachtete. Einige Minuten später aber trat er in den freundlichen Gartensaal, in den er bald auch Frau Birkenfeld kommen sah, die noch immer sehr erregt schien, aber sogleich eine heitere Miene annahm, als sie ihren jungen Gast erblickte.

Bodo trat ihr entgegen und begrüßte sie herzlich, wobei er den linken Arm, womit er unter dem Rock etwas zu halten schien, fest gegen die Brust gepreßt hielt.

»Sie kommen zur günstigen Stunde,« rief die alte Dame freudig aus, »und Sie sind mir heute doppelt willkommen. Nun vergesse ich um so schneller, was ich eben erlebt. Natürlich essen Sie bei mir. Sie wissen wohl schon, daß der Baron Grotenburg hier war?«

»Ja, ich weiß es. Er hat Sie warm gemacht, wie ich sehe.«

»O ja, aber ich habe ihn dafür heiß, oder eigentlich kalt gemacht, was bei dergleichen Leuten freilich ziemlich einerlei ist. Na, das war die Fortsetzung von gestern, und nun wollen wir beide Begegnungen vergessen. Was halten Sie da so fest unter dem Arm?«

Bodo lächelte auf seine freundlichste Art. »Es ist der Grund meines heutigen Besuchs,« sagte er, die Tasche unter dem Rock hervorziehend und sie ihrer Eigentümerin überreichend. »Ich fand sie heute Morgen auf meinem Sofa liegen und hielt es für gerechtfertigt, so eilig wie möglich der Überbringer derselben zu sein.«

Die alte Frau trat unwillkürlich einen Schritt zurück und auf ihrem plötzlich bleich werdenden Gesicht malte sich ein lebhaftes inneres Erschrecken ab. »Das ist seltsam,« versetzte sie mit nachdenklichem Wesen, »das ist mir noch nie passiert! Da sehen Sie, daß ich alt werde – und ich habe sie noch nicht einmal vermißt! Das ist seltsam, sage ich, sehr seltsam! Und doch,« fuhr sie lebhafter und wieder heiter werdend fort, nachdem sie die Tasche flüchtig betrachtet und an ihren Arm gehängt hatte, gleichsam um ihre unverminderte Schwere zu prüfen – »doch können Sie daraus entnehmen, wie wichtige Dinge mich gestern beschäftigt, und wie angenehm ich mich bei Ihnen unterhalten habe. Ha, ja! Kommen Sie nun und setzen wir uns. Aber ich muß erst um Verzeihung bitten, daß ich gestern ohne Ihre Erlaubnis in Ihrem Zimmer Platz nahm – ja, ja, der Verräter schläft nicht – doch – sehen Sie, es kam mir so vor, als müßte es so sein und als würden Sie nichts dagegen haben.«

»Das habe ich auch in der Tat nicht gehabt und ich freue mich sogar, daß Sie diese Voraussetzung hegten. – Ich bringe aber außer dieser Tasche noch etwas anderes,« fügte er lächelnd hinzu, indem er schon mit der Hand nach der Brusttasche griff.

»Wie, noch etwas? Was denn?«

»Diesen Brief. Fräulein Gertrud hat mich gebeten, ihn mit ihrem herzlichsten Gruße zu überreichen. Das tue ich jetzt.«

Frau Birkenfeld machte abermals ein etwas verwundertes Gesicht, dann aber lächelte sie vergnügt vor sich hin, nahm den Brief und legte ihn vor sich auf den Tisch. »Ei, ei,« sagte sie, »das ist hübsch. Die Kleine ist pünktlich und nimmt es sehr ernst. Man kann sich auf sie verlassen. Und sieh, was für einen sicheren Boten sie zu finden weiß. Haha! Aber, mein lieber Herr Legationsrat, da muß ich Sie schon gleich mit einer Bitte plagen. Ich bin nämlich in manchen Dingen sehr neugierig. Was wollen Sie! Das liegt in der Natur des Weibes und im Alter erst recht. Ich möchte am Ende der Kleinen eine Antwort zu sagen haben, und da will ich den Brief lieber gleich lesen. Erlauben Sie das?«

»Ich bitte sehr darum, tun Sie sich meinetwegen keinen Zwang an. Soll ich mich so lange entfernen?«

»O nein, bleiben Sie und verhalten Sie sich nur etwas ruhig.«

Sie erbrach darauf den Brief und las ihn sogleich. Er war ziemlich lang und Bodo hatte Gelegenheit genug, in dem sprechenden Mienenspiel der Frau ihre Freude und den offenbaren Genuß wahrzunehmen, den sie während des Lesens empfand. Bisweilen hielt sie inne, warf einen raschen, kurzen Blick auf Bodo und nickte dann befriedigt mit dem Kopfe. Endlich war sie fertig, faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in ihre Rocktasche.

»So,« sagte sie, »nun weiß ich, was darin steht, und ich bin zufrieden damit. Sagen Sie der Trude das. Sie soll fortfahren, wie sie begonnen, ich wünsche es. Wollen Sie ihr das sagen?«

»Gewiß, sobald ich nach Hause gekommen bin, falls ich sie schon daheim finde.«

»Wo ist sie denn?«

»Sie ist mit Fräulein Treuhold nach der Stadt gefahren.«

Die alte Frau riß beide Augen weit auf. »O,« sagte sie, »nach der Stadt? Was macht sie denn da?«

»Sie mag wohl Einkäufe zu besorgen haben.«

»Richtig, richtig, das ist natürlich. Morgen fahre ich auch hin, ich habe ebenfalls Einkäufe zu besorgen. Haha! – Doch, was ist jetzt die Uhr?«

Bodo sah nach und fand, daß es zwölf Uhr sei.

»Gut,« sagte die kleine Frau und stand auf. »So kommen Sie. Wir wollen jetzt essen und nachher weiter plaudern. Sie müssen sich schon nach meiner Gewohnheit zu einem frühen und bescheidenen Mahle bequemen, aber schmecken wird es doch. So, bitte, führen Sie mich, ich gehe gern an Ihrem Arm.«

Bodo reichte höflich seinen Arm dar und beide gingen nach dem Zimmer, in welches er an diesem Tage zuerst eingetreten war und wo er den Tisch jetzt mit zwei Couverts belegt fand. Das Essen war allerdings einfach, aber kräftig und gut, und nachdem die Speisenden ziemlich eine Flasche von dem schönen Johannisberger geleert, begaben sie sich wieder in den Garten zurück, wo Frau Birkenfeld ihren Gast aufforderte, ihr noch Verschiedenes aus seinem Leben zu erzählen, indem sie durch reichliche Fragen die betreffenden Punkte selbst angab.

Eine Weile hörte sie ganz aufmerksam zu, allmählich aber glaubte Bodo einige Zerstreutheit an ihr wahrzunehmen. »Sie sind doch nicht müde?« fragte er teilnehmend. »Oder ich langweile Sie doch nicht?«

»O bewahre, was denken Sie. Ich schlafe nie nach Tische und heute bin ich doppelt munter. Sie haben mir da recht was Hübsches und Merkwürdiges erzählt, aber wissen Sie, wovon Sie mir noch gar nichts gesagt?«

Bodo blickte sie fragend an und lächelte dabei. »Wovon denn noch nicht?«

»Nun, es ist freilich ein etwas delikater Punkt, aber ich bin ja eine alte Frau. – Ihre Liebesaffären kenne ich noch gar nicht und doch – doch möchte ich wohl einiges – nur einiges davon wissen.«

Bodo wurde ernst, blickte vor sich nieder, hob aber dann sein dunkles Auge wieder empor und richtete es so klar und ehrlich auf die ihn scharf beobachtende Frau, daß diese augenblicklich erkannte, daß das, was er jetzt sagen wolle, eine unumstößliche Wahrheit sei.

»Sie werden mir kaum glauben,« versetzte er, »daß ich die Wahrheit spreche, wenn ich Ihnen folgendes sage, und doch ist es so. Es hat mir schon oft so geschienen, als ob mir von der Natur der rechte Sinn für das weibliche Geschlecht – wenn nicht versagt, doch sehr kärglich zugeteilt oder wenigstens verschlossen sei. In meiner Jugend habe ich fast gar keine sogenannte Leidenschaft für ein junges Mädchen gekannt und später zogen mich die Unterhaltungen gereifter, geistig und herzlich gebildeter Frauen viel mehr an, als das in der Regel langweilige und oberflächliche Gespräch mit jüngeren Evastöchtern. Ich habe aber stets sehr gern den Umgang mit den Frauen gesucht, sie haben mich in manchem belehrt, ich habe mich in ihrer Nähe oft wohl gefühlt, aber gewaltsam, leidenschaftlich, sehnsuchtsvoll zu der einen oder andern hingezogen hat mich nichts.«

Er schwieg und auch Frau Birkenfeld schwieg eine Weile. Dann aber sagte sie: »Ich glaube Ihnen das – so mag es in Ihrer frühen Jugend gewesen sein. Später aber, als Sie in die große Welt eintraten – wie war es da?«

Bodo sann nur einen Augenblick nach, dann sagte er ruhig und mit fast gleichgültigem Tone: »Später war es kaum anders, nur bei weitem nicht so interessant. Als ich die Frauen der sogenannten großen Welt näher kennen lernte, hat sich sogar meine Achtung vor Ihrem Geschlecht – verzeihen Sie mir das, aber ich spreche gern wie ich fühle und denke – vermindert. Ich fand es nicht so, wie ich manchmal geträumt, daß es sein müßte. Die eine war mir zu glänzend, die andere zu wenig geistig gebildet, die dritte zu vorlaut, die vierte zu dünkelhaft, die fünfte zu eitel, die sechste – o, was soll ich noch weiter an dem schönen Geschlecht kritisieren – mit einem Wort, ich könnte auf diese Weise bis hundert zählen und Sie würden nichts Befriedigendes von mir vernehmen.«

»Ei, das ist seltsam. Also eine wahre Leidenschaft, eine wirkliche Liebe haben Sie nie gefühlt?«

Bodos lebenswarmes Gesicht erwärmte sich noch mehr. Er blickte nachdenklich vor sich hin und schwieg abermals.

»Aha,« sagte die kleine Frau mit schelmischem Gesichtsausdruck, »ich merke schon – ich dringe etwas zu tief in Ihr Gewissen. Aber das schadet nichts. Sie sind mir aber noch eine Antwort schuldig.«

»Ach ja! Und ich will mich bemühen, Ihnen klar zu werden – so weit ich es mir selbst bin. Eine sogenannte Leidenschaft, stürmisch und gewaltig, die alle Schranken zu Boden reißt, wie man sie so oft geschildert findet, habe ich nie kennen gelernt« – die alte Frau seufzte hierbei laut auf – »nein! Eine wirkliche, sanfte, freundliche, das ganze Wesen wie mit Licht und Wärme erfüllende Liebe aber, die kann sich vielleicht doch noch in mir entwickeln – wenigstens zweifle ich nicht mehr daran, wie ich es früher so oft getan.«

Er sprach dies etwas beklommen und langsam, und Frau Birkenfeld merkte mit ihren scharfen Sinnen auf die leiseste seiner Regungen. Sie dachte sich gleichsam in die Seele des jungen Mannes hinein und fand ganz natürlich, was er ihr gestand. Doch brach sie plötzlich ab und sagte, als ob sie sich selbst Vorwürfe über ihr bisheriges Verfahren mache: »So. Jedoch, Herr Legationsrat, es ist eigentlich unverantwortlich von mir, daß ich zu neugierig bin und Sie so lange mit Gewissensfragen belästige. Lassen wir also dies Gespräch, wir wollen lieber von alltäglichen Dingen reden. Also die Treuhold ist mit der Trude in die Stadt gefahren?«

Bodos Auge leuchtete plötzlich auf. »Ja,« sagte er heiter.

»Die Trude ist ein braves Mädchen und hat einen eben so braven Vater. Ich liebe den Mann sehr.«

»Ich auch!« versetzte Bodo mit voller Hingebung.

»Haben Sie schon mit seiner Tochter ein ernsthaftes Gespräch geführt? Der Meier meint, sie habe viel gelernt und einen offenen Kopf. Ob das wohl wahr sein mag?«

Bodos Brust dehnte sich weit aus. Sein Auge leuchtete noch einmal so hell auf und sein Gesicht nahm einen wunderbar belebten Ausdruck an, wobei es ihm gar nicht einfiel, an den luchsartigen Blick zu denken, den die alte Frau in diesem Augenblick auf ihn heftete. »Das ist gewiß wahr,« bestätigte er. »Ich habe es an hundert verschiedenen Dingen bemerkt, und ich rede sehr – sehr gern mit ihr, selbst über Gegenstände, die ihr vollkommen fremd sind und deren Wesen, Inhalt und Form sie sich wie im Fluge zu eigen macht.«

»Ei, das ist hübsch, das habe ich nicht gedacht. Das freut mich, des Meiers wegen. Sie ist seine einzige Tochter. Sie wird einst ein recht hübsches Vermögen erhalten.«

»O, das ist eine Eigenschaft, die ich ihr nicht am höchsten anrechne,« rief Bodo lebhaft aus – »sie hat bessere, schönere, wertvollere –«

»Welche zum Beispiel denn?«

Bodo lehnte sich in seinen Stuhl zurück, faßte wie bewußtlos nach seiner Stirn, strich mit der Hand über die Augen, als wollte er einen unsichtbaren und doch fühlbaren Schleier davon wegwischen, und sagte dann mit ganz eigentümlich leiser Stimme, wie halb zu sich selbst sprechend: »Es geht mir ganz eigen mit diesem Mädchen und dergleichen ist mir eigentlich noch nie vorgekommen. Ich habe schon darüber nachgedacht, aber alles Denken hilft nichts, ich kann nie so recht auf den Grund meiner Empfindung kommen. Ja, Empfindung, denn das ist wohl hier das rechte Wort.«

Frau Birkenfeld rückte auf ihrem Sofa hin und her, wie in eine große Unruhe versetzt. Sie blickte dabei links und rechts, als suche sie etwas, und sah dann wieder ihren Gast an, der dies alles gar nicht zu bemerken schien, sondern sich unbewußt in die ihn jetzt erfüllenden Gedanken vertiefte. »Was sind denn das für Empfindungen?« fragte endlich die alte Frau, gleichsam ganz zufällig.

»Es sind ganz seltsame Empfindungen, Frau Birkenfeld, und ich kann nur hinzufügen, daß sie vom ersten Augenblick an, wo ich Gertrud in der Spinnstube zu Allerdissen sah, im Wachsen und Zunehmen begriffen sind, was bei mir stets nur dann der Fall ist, wenn ich die zuerst empfangenen Eindrücke späterhin begründet und bestätigt finde. Als ich das schöne Mädchen zum ersten Mal sah, ward mir ganz eigentümlich zu Mute. Es war mir, als sei sie kein Mädchen, kein Weib, keine bestimmte Person, nein, vielmehr etwas ganz Unbestimmtes, Rätselhaftes, Geheimnisvolles, was dennoch sehr lieblich, anziehend und heiter stimmend ist. Etwa wie der Frühling, wenn er eben erwacht, die ganze Natur um uns her plötzlich verändert, sie belebt, verjüngt und uns mit, indem er unsere Brust mit einem seltsamen Schauer – ich möchte sagen – der Andacht erfüllt. Es lag etwas ungemein Anziehendes in ihrer Persönlichkeit. Ihr wundervoller Wuchs, das sanfte, sinnige Gesicht, die ruhige, verständige Miene, die leichte milde Geberde – kurz alles, alles an ihr schien mir etwas Fremdartiges zu haben, etwas, was einst in guter alter Zeit gelebt und gewesen und wonach wir noch heute sehnsuchtsvoll unsere Blicke zurückwenden, da wir es vergeblich in unserer Umgebung suchen. Das romantische Mittelalter, die Poesie längst vergangener Zeiten schien mir in irgend einer Weise hier verkörpert zu sein, und wenn ich mir dabei dachte, daß sie die Tochter eines Mannes sei, dessen Vorfahren einst Helden und wirkliche Männer der Tat gewesen, so war ich ihrem Wesen schon näher gerückt, denn dieser Meier mußte eine solche Tochter haben, wie sie nur einen solchen Vater haben konnte. Wenn ich daher den Meier sah, dachte ich an seine Tochter, und wenn ich diese sah, dachte ich an ihren Vater, und wenn ich daher den einen lieb und wert hielt, so mußte das bei der andern ebenso der Fall sein, oder – ich müßte lügen, wollte ich anders sprechen.«

Frau Birkenfeld lächelte und war schon wieder ruhiger geworden. »Sie wird einst eine treffliche Hausfrau werden,« sagte sie fast gleichgültig.

»Ganz gewiß, und sie ist es sogar schon, trotzdem sie sich gewiß mehr mit Lesen und Schreiben beschäftigt hat, als mit der Wirtschaft. Aber so will ich die Frau haben. Sie soll im Hause, nicht wie eine Magd, aber doch wie ein ordnender Geist arbeitsam und fleißig sein und dabei durch allmähliche Fortbildung ihren Geist dem Geist des Mannes anzupassen suchen, denn beides gehört eng zusammen, wenn man ein Weib für gut, schön und begehrenswert halten will.«

»Sie haben sehr recht, das ist auch meine Meinung. Na, ich danke Ihnen für diese Unterhaltung. Sie war hübsch. Sie hat mir Freude gemacht. O ja. Und jetzt soll uns der Kaffee schmecken! – Entschuldigen Sie einen Augenblick.«

Die kleine Frau ging rasch nach dem Treibhause und kam erst nach einigen Minuten zurück. Bald darauf brachte Dina den Kaffee, den beide gemütlich miteinander tranken. Dann spazierten sie, bei heiterer gewordenem Wetter, durch den Garten, wie das erste Mal und um sechs Uhr endlich beurlaubte sich Bodo, da er die Leute von Sellhausen unten im Boote, wie er sagte, nicht gern länger wollte warten lassen.

Frau Birkenfeld hielt ihn diesmal nicht auf, sie war vielleicht müde. Dennoch begleitete sie ihn selbst nach der Weser hinab, nahm einen herzlichen Abschied von ihm, und als er auf dem Flusse rasch mit der Strömung dahinfuhr, deren Hast und Eile die beiden Ruderer noch beflügelten, sah sie dem jungen Manne heimlich lächelnd lange nach, nickte wiederholt mit dem Kopfe und sagte im stillen zu sich: »Sein Schiff geht mit dem Strome lustig talwärts. Das ist gut. Er wird bald an seinem Ziele sein. Das ist noch besser. Am Ufer auf seinem Wege liegen zwar scharfe Steine und drohen starre Felsen – aber das schadet nichts. Über ihm ist der Himmel blau und in ihm – leuchten Gottes heilige Sterne. Das ist das Beste. Gott segne ihn! Ich aber, ich – nun ich freue mich und denke, ich habe trotz dieser Grotenburgs wohl Grund genug dazu!«

*

Als Bodo an diesem Abend mit seinem Boote am Fuße des Parks anlangte, neigte sich die Sonne eben dem Untergange zu, allein sie überstrahlte mit ihrem Abschiedsblick freundlich genug die stufenweise über einander getürmten Terrassen und die Gebüsche und Blumen, um sie einem aufmerksamen Auge in ihrer ganzen Schönheit erscheinen zu lassen. Bodos Auge indessen war diesmal weniger hierauf gerichtet als sonst, denn sein Gemüt war vollauf in Anspruch genommen und sein Geist mehr mit Menschen als mit Dingen beschäftigt. Er stieg daher rasch und auf den kürzesten Wegen die Anhöhe hinan, warf nur hie und da einen Blick um sich her, ob er noch keinen bekannten Menschen wahrnähme, aber er erreichte das Haus, ohne irgend jemandem begegnet zu sein. Auch der Hof selbst lag ungewöhnlich still, und als er das Haus betrat, erschien es ihm so öde und leer wie noch nie zuvor. Die beiden Frauen waren noch nicht von ihrem weiten Ausfluge zurückgekehrt, wie er sogleich von Rieke erfuhr, Herr Hinz war auf die Felder geritten, und so fand sich niemand, mit dem er einige Worte hätte wechseln können.

Der einsame Hausherr kam sich unter diesen Umständen fast wie von aller Welt verlassen vor und ein eigentümliches Gefühl des Sehnens nach Mitteilung und Gedankenaustausch bemächtigte sich seiner, obwohl er sich nicht gestand, wen er am liebsten in seiner Nähe gehabt hätte. Dergleichen Empfindungen hatte er noch nie im Leben kennen gelernt und sie schienen ihm, als er ihnen jetzt zum ersten Mal zur Beute fiel, keineswegs angenehm zu sein. Um sie daher so rasch wie möglich los zu werden, suchte er sein Zimmer auf, um sich die Zeit mit Lesen zu vertreiben, aber auch dazu fehlte ihm die notwendige Spannkraft und Aufmerksamkeit, sein Geist flatterte zerstreut bald hier, bald da herum und beim besten Willen von der Welt konnte er nicht seiner Herr werden und ihn wie sonst in irgend eine bestimmte Richtung treiben.

So legte er auch bald das ergriffene Buch wieder beiseite, lehnte sich aus dem Fenster und blickte, so weit er ihn überschauen konnte, nach dem Wege zur Rechten hinaus, auf dem die nach der Stadt gefahrenen Hausgenossinnen zurückkehren mußten.

Die Chaussee, die man von den hochgelegenen Fenstern von Sellhausen aus bis zum Meierhofe nur zum Teil übersah, hinter demselben aber wohl eine halbe Meile weit genau verfolgen konnte, lag unbelebt und still vor den Augen des Schauenden, wie der Garten und das weite liebliche Tal unter ihm. Selbst ein zu Hilfe genommenes Fernrohr zauberte keinen Wagen, keinen Menschen vor ihn hin, und sich nun in sein Schicksal ergebend, wollte er eben wieder ein Buch ergreifen, als ihm plötzlich der Gedanke kam, Fräulein Treuhold und ihre Nichte seien am Ende im Vorüberfahren beim Meier eingekehrt. Schon hatte er Lust, sich seinen Braunen satteln zu lassen und auch nach Allerdissen zu reiten, als ihm seine Ungeduld selbst auffällig wurde, er darüber den Kopf schüttelte und sich nun zum ruhigen Ausharren verurteilte, um durch festen Willen dem ungestümen Verlangen seines Innern einen Damm entgegenzusetzen.

Während er diesen kleinen Kampf mit sich selbst bestand, wie er ähnliche in den letzten Tagen schon öfter zu bestehen gehabt, bald aber noch viel größere zu bestehen haben sollte, ging er langsam, mit auf dem Rücken verschlungenen Händen im Zimmer auf und nieder, und dabei fiel sein Blick zufällig auf ein umfangreiches Album, das, wie auch sonst, auf seinem Büchertische lag, diesmal aber, gleichsam von hastiger Hand und in einer Weise von seinem gewöhnlichen Platze fortgerückt war, daß die Änderung, so unbedeutend sie sein mochte, seinem scharfen Auge dennoch nicht entgehen konnte.

Dies Album war eins jener jetzt so häufig gefundenen und beliebten Erinnerungsbücher, deren Seiten keine geschriebenen Angedenken, wohl aber die Züge bekannter und geliebter Personen in photographischer Abbildung enthalten. Das Album in Rede war damit überaus reich ausgestattet und enthielt eine Menge bedeutender Personen, denen Bodo auf seinem Lebensgange begegnet war. Er hatte dasselbe lange nicht zur Hand gehabt, jetzt aber, einer ableitenden Zerstreuung bedürftig, ergriff er es und fing anfangs mechanisch darin zu blättern an. Allmählich aber, je lauter die wohlgetroffenen Physiognomien zu seinem Herzen sprachen und je lebhafter die Vergangenheit selbst vor seinen Augen auftauchte, um so mehr nahm ihn die Betrachtung derselben in Anspruch, und zuletzt studierte er aufmerksam die verschiedenen Züge der Menschen, rief sich ihren Geist, ihr Wesen, alle ihre äußeren Verhältnisse ins Gedächtnis zurück und brachte so eine halbe Stunde auf die angenehmste Weise zu, wie es gewiß schon recht vielen Lesern ähnlich ergangen ist.

Da, ein neues Blatt umschlagend, hielt er plötzlich in seiner Betrachtung inne und starrte verwundert in die leere Luft vor sich hin. Denn das Blatt, worauf soeben sein Auge gefallen, war weiß, das kleine Bild selbst fehlte – ein Umstand, den er sich auf keine Weise zu erklären vermochte, da er bestimmt wußte, daß das Album früher gänzlich gefüllt gewesen und kein leeres Blatt enthalten hatte.

Bei dieser an und für sich unbedeutenden Entdeckung fühlte er sich, er wußte selbst nicht warum, eigentümlich bewegt, umsomehr, da er durchaus nicht ergründen konnte, welches Bild an der leeren Stelle früher gehaftet habe. Alle vorhergehenden, wie alle bis zur letzten Seite folgenden Blätter zeigten irgend ein Porträt, nur dies eine allein zeigte keins.

Er fing noch einmal von vorn zu blättern an und blätterte bis ans Ende durch, um die Gestalten seiner Freunde zu zählen und vielleicht doch noch auf die fehlende zu geraten, aber so viel er sich bemühte, er fand nicht, was er suchte, was schon wegen der großen Anzahl der vorhandenen leicht erklärlich war.

Endlich schlug er das Buch zu und legte es vor sich hin auf den Schreibtisch. Wieder auf- und niedergehend, suchte er sich zu besinnen, wann er es zum letzten Mal in der Hand gehabt und ob er nicht vielleicht selbst das fehlende Bild, mochte es sein, welches es wolle, irgendwo anders hingetan habe. Allein, so viel er auch denken mochte, er erreichte seinen Zweck nicht und konnte auf keine Weise auf irgend eine Spur geraten, die ihm das kleine Rätsel gelöst hätte.

Das Durchblättern des Buches, das Nachdenken über das verloren gegangene Bild mochte mehr Zeit in Anspruch genommen haben, als er selbst wußte; so viel aber ist gewiß, daß es ihm die vorher so träge vorüberrauschende Zeit rasch vertreiben half, denn plötzlich hörte er Bewegung im Hofe, durch das offene Fenster drang das freudige Gebell der Hofhunde herein, die einen Bekannten begrüßten, und als er bald darauf die Treppe hinabschritt, sah er durch die geöffnete Haustür eben wieder den Wagen von der Rampe fahren, der die beiden Damen von ihrer kleinen Reise zurückgebracht haben mußte.

Schnell trat er an Fräulein Treuholds Tür, klopfte bescheiden an, und siehe da, ein lebhaftes »Herein!« drang ihm entgegen, und gleich darauf sah er die Treuhold und Gertrud vor sich stehen, die erst vor wenigen Augenblicken eingetreten waren.

Bei diesem Anblick war es dem bisher so einsamen Mann zu Mute, als ob plötzlich ein warmer Hauch gleich einem belebenden Luftzug durch sein kaltes Dasein strömte. Der Himmel, trotzdem die Sonne schon längst untergegangen, schien ihm mit einem Male heiterer, lichter zu glänzen, und ein neues Leben pulsierte in Geist und Herz, wie er es noch bei keiner ähnlichen Gelegenheit jemals empfunden zu haben glaubte.

Aber noch einen anderen Vorgang in seinem Innern sollte er sich später zu erklären haben, da er sich im ersten Augenblick keine Rechenschaft darüber abzulegen im stande war. Als er jetzt Fräulein Treuholds Nichte vor sich stehen sah – sie hatte auch auf diesem kurzen Ausfluge ihre ländliche Tracht beibehalten – fiel ihm durch eine leicht erklärliche Ideenverbindung das Gespräch ein, welches er vor wenigen Stunden mit Frau Birkenfeld über sie geführt hatte. Dabei wollte es ihn bedünken, als ob er sich gegen die alte Frau nur sehr matter Ausdrücke und Vergleiche bedient, denn die ebenso anmutsvolle wie frische Schönheit Gertruds, wie er sie jetzt vor Augen sah, schien ihm von so ergreifender Art, daß er sich selbst wunderte, vor kurzer Zeit über sie so wortarm gewesen und ohne allen Schwung des Ausdrucks zu Werke gegangen zu sein. »O,« flüsterte er sich im stillen zu, »was wollen hier alle armseligen Worte besagen! Sehen muß man diese Gestalt, dies Gesicht, hören den warmen, milden, aus dem Herzen kommenden Stimmlaut, wenn man einen richtigen Begriff von dem schönen Ganzen haben will!«

»Nun,« sagte Fräulein Treuhold nach der ersten kurzen Begrüßung von beiden Seiten, »Sie sehen uns ja so erstaunt und nachdenklich an, Herr Legationsrat. Ist irgend etwas vorgefallen? Sind Sie schon lange von der Cluus zurückgekehrt?«

Diese einfachen Worte gaben dem Legationsrat seine ganze Ruhe und damit auch seinen Gleichmut wieder. »Nein,« erwiderte er lächelnd, »es ist nichts vorgefallen, und ich bin seit einer Stunde etwa wieder hier. Ich freue mich nur, daß auch Sie wieder da sind. Haben Sie Ihre Einkäufe glücklich besorgt, Fräulein Gertrud?«

»Ganz glücklich, hoffe ich, Herr Legationsrat!« lautete die freundliche Antwort. »Und haben Sie selbst Vergnügen an Ihrer Fahrt gehabt?«

»O gewiß, sehr großes Vergnügen. Auch habe ich sowohl die Tasche wie Ihren Brief richtig abgeliefert und hoffe, für letzteres auf einigen Dank Anspruch machen zu dürfen.«

Gertrud sah ihn verwundert an. In seiner Miene lag – so kam es ihr wenigstens vor – etwas Geheimnisvolles, und doch bezogen sich die Gedanken, die Bodo jetzt hegte und die vielleicht einen leichten Abdruck auf seinen sprechenden Gesichtszügen hervorriefen, auf etwas ganz anderes, als Gertrud besorgen mochte.

»Ich bin Ihnen auch in der Tat dankbar für Ihre freundliche Besorgung,« entgegnete sie, in der Verlegenheit irgend eine weibliche Handarbeit ergreifend. »Hat Tante Grete nichts darauf erwidert, oder – hat sie den Brief gar nicht gelesen, so lange Sie bei ihr waren?«

»Sie hat ihn auf der Stelle gelesen,« erwiderte Bodo lächelnd, der sich an dem Ausdruck der Befangenheit des lieblichen Gesichts vor ihm weidete, »und sie hat mir auch eine Bestellung aufgetragen.«

»Nun?« hauchte Gertrud kaum hörbar und fast beklommen hervor.

»Ihre Tante ist sehr zufrieden mit Ihrer Aufmerksamkeit und bittet Sie, fleißig in dem Begonnenen fortzufahren. Das ist alles, was ich Ihnen sagen soll; was aber ferner geschehen, will ich Ihnen nachher erzählen. Jetzt muß ich Sie noch allein lassen,« fuhr er, ans Fenster tretend fort, »ich habe noch mit Herrn Hinz zu sprechen, den ich da eben kommen sehe, nach dem Essen aber können wir plaudern, wenn es Ihnen recht ist.«

Damit grüßte er die leiden Damen und verließ sie. Kaum aber hatte er die Tür hinter sich zugemacht, so gab die Treuhold ihrer Nichte einen bedeutsamen Wink und legte einen Finger auf ihre Lippen. »Still,« sagte sie flüsternd, »sprich nicht laut, er hat scharfe Ohren. Na, das ist überstanden,« setzte sie lauter hinzu, da man den Legationsrat schon auf dem Hofe sah, »und wir haben uns vergebens vor der ersten Begegnung gefürchtet. Er hat nichts gemerkt, und alles geht gut. Sieh, da nimmt ihn Hinz mit nach der Scheune. Jetzt haben wir die beste Zeit. Komm schnell, damit das Werk bald vollbracht werde.«

Und wie das erste Mal an diesem Tage huschten beide schnell zur Tür hinaus und die Treppe hinauf. Bodos Zimmer nahm sie nochmals auf, und nach wenigen Minuten, nachdem sie geheimnisvoll darin irgend etwas zu stande gebracht, kamen sie mit überglücklichen Gesichtern und heiter scherzend wieder die Treppe herunter und traten in die Küche, um nach der Anordnung des schon vorher befohlenen Abendessens zu sehen.

Allein Fräulein Treuhold sowohl wie Gertrud hatten sich geirrt, wenn sie nur vor der ersten Begegnung mit dem scharfsichtigen Legationsrat Besorgnis hegen zu müssen geglaubt, das sollten sie zu ihrem größten Schrecken und Staunen erfahren, als er später in das Speisezimmer trat und in der Hand das Album hielt, das ihm kurz vorher ein so seltsames Rätsel zu lösen gegeben.

Indessen, da er es vorläufig auf einen Nebentisch legte und sich in seiner gemütlichen Weise zu ihnen setzte, faßten sie sich herzhaft, indem sie so viel wie möglich ihre Mienen beherrschten; ihre innere Besorgnis dagegen so weit zu bezwingen, daß sie sich ermutigend anblickten, gelang ihnen nicht, denn dieselbe war so groß, daß sie fast starr vor sich niedersahen, am wenigsten aber Bodos Augen begegnen konnten, der wiederum nicht zu begreifen vermochte, welche eigentümliche Stille und Befangenheit sich plötzlich um ihn her kundgab, und seinerseits bemüht war, das Gespräch in lebhafteren Gang zu bringen, was ihm auch nach einiger Zeit so ziemlich gelang.

So ging das Essen ungestört vorüber; Herr Hinz stellte sich auch auf eine halbe Stunde ein und berichtete, er habe die Felder beritten und bereits die Schläge bezeichnet, auf denen man in den nächsten Tagen die Ernte beginnen könne. Herr von Sellhausen möge ihn morgen begleiten, und wenn er es für ersprießlich halte, wolle man die guten Tage emsig benutzen, um so rasch wie möglich vorzuschreiten, da das Wetter sich seiner Meinung nach zu dem so wichtigen landwirtschaftlichen Vorhaben nicht allzu günstig anlasse. Nachdem Bodo ihm beigestimmt und seine Begleitung für den folgenden Tag zugesagt, entfernte sich der bescheidene Mann, um seinen weiteren Geschäften nachzugehen.

Gleich darauf war man vom Tische aufgestanden und hatte sich in Fräulein Treuholds trauliches Zimmer zurückbegeben, in dem man in der Regel abends verweilte, wenn das Wetter den Aufenthalt im Freien nicht gestattete. Diesen Abend war es nun wieder windig und sehr kühl geworden, und so zog man es vor, im Hause zu bleiben.

Bevor aber Bodo das Speisezimmer verließ, nahm er das Album wieder auf, trug es mit sich und legte es dann vor sich auf den Tisch, zum Entsetzen der beiden Frauen, die sein Vorhaben zu durchschauen glaubten und sich schon auf eine fürchterliche Niederlage im stillen gefaßt machten. Allein davor sollten sie, dank seinem Zartgefühl, diesmal noch bewahrt bleiben, und infolge des eigentümlich gefaßten und herzhaften Benehmens von seiten Gertruds, das seine Wirkung nicht verfehlte, sollte der kurze Abend sogar leidlicher hingebracht werden, als die beiden Frauen in ihrer geheimen Angst befürchtet hatten.

Kaum hatte man um den Tisch vor dem Sofa Platz genommen, den eine große Lampe hell erleuchtete, so nahm Bodo das Album vor und legte es dicht vor sich hin. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht,« sagte er unbefangen, »was Ihnen neu und hoffentlich auch etwas interessant sein wird. Ich habe hier die Photographien meiner Freunde hervorgeholt, die mir auf meinem letzten Lebensgange begegnet sind, und will sie Ihnen ihrem Namen und ihrer Stellung nach näher bezeichnen, wenn Ihnen diese Unterhaltung einigermaßen zusagt.«

Er hatte, während er dies sprach, ruhig vor sich hingeblickt; da er aber keine Antwort erhielt, sah er auf und schaute wechselsweise die Treuhold und des Meiers Tochter an. Aber da hielt er betroffen inne, denn er bemerkte etwas, was er nicht im entferntesten zu finden erwartet.

Die Treuhold bebte sichtbar vor innerer Angst und Besorgnis, hielt ihr Strickzeug krampfhaft mit den Händen umfaßt und starrte wie eine Bildsäule, und fast ebenso blaß wie sie, auf Gertrud hin. Diese dagegen hatte gleichfalls die Farbe gewechselt, eine auffallende Blässe bedeckte ihre sonst so lebenswarmen Wangen, ihr Busen hob und senkte sich stürmisch, trotzdem sie sich die größte Mühe gab, ihre innere Aufregung in mäßigen Schranken zu halten, und ihr großes blaues Auge hatte sich mit einer milden, schimmernden Feuchtigkeit gefüllt, den Vorboten von Tränen, die schon im Hintergrunde zu wogen schienen.

Bodo wandte erstaunt den Blick von der einen zur andern und konnte sich die so deutlich erkennbare Veränderung in dem Wesen beider Frauen gar nicht erklären. Vielleicht hätte er es gekonnt, wenn er das Buch, seitdem beide Frauen zum letzten Male auf seinem Zimmer gewesen, wieder geöffnet hätte, allein das hatte er nicht getan, er hatte es vielmehr in keiner andern Absicht mit heruntergebracht, als um es, wie jetzt geschah, seinen Gefährtinnen zu zeigen und ihnen damit eine neue Unterhaltung zu gewähren.

»Was haben Sie denn nur?« fragte er plötzlich, als er noch einmal die Treuhold angeblickt und dann mit seinem Auge auf Gertrud haften geblieben war, deren Aussehen ihm peinlich zu werden begann.

Da faßte sich diese ein Herz, legte ihre Stickerei beiseite und sagte mit aufrichtig warmem Tone: »Herr von Sellhausen, ich will Ihnen die Wahrheit sagen, denn ich sehe nicht ein, was das schaden kann. Das Album, welches Sie uns zeigen zu wollen die Güte haben, kennen wir schon. Als wir gestern mit Tante Grete auf Ihrem Zimmer waren, sah dieselbe es liegen, und wie sie alles um sich her genau zu betrachten pflegt, was ihr neu und fremd ist, so nahm sie es zur Hand und durchblätterte es mit großem Interesse. Auf diese Weise finden Sie uns mit einer Unterhaltung bekannt, die Sie für uns fremd erachten, und da haben Sie mein Bekenntnis. Mehr aber kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Ah,« erwiderte Bodo freundlich und augenblicklich zufriedengestellt, denn er wollte auf keine Weise dem lieben offenherzigen Mädchen eine Pein bereiten, »so also ist es! Nun, dann brauche ich Ihnen mein Album nicht mehr zu zeigen. Lassen Sie uns von etwas anderem reden, ich habe noch Stoff genug in Vorrat.«

Nach diesen Worten stand er auf und legte das Buch rasch beiseite, was den beiden Frauen augenblicklich eine ungeheure Erleichterung gewährte. Allmählich beruhigten sie sich ganz, ein munteres Gespräch über die Vorfälle des Tages kam in Gang, und als sie nach zehn Uhr voneinander schieden, war kein einziger unter ihnen, der sich mit dem verlebten Abend nicht zufrieden erklärt hätte, trotzdem er so ängstlich begonnen.

Als Bodo aber auf seinem Zimmer wieder allein war, dachte er noch einmal über den letzten Vorfall und die damit verbundenen Erscheinungen nach. Er fühlte sich dabei nur halb befriedigt, und manches war ihm vollkommen dunkel geblieben. Dieses Dunkel aber sollte noch viel tiefer und unergründlicher werden, als er das Album wie zufällig noch einmal aufschlug und abermals über das fehlende Porträt nachzudenken begann. Denn sobald er die Reihen der aufeinander folgenden Bilder aufmerksam betrachtete und endlich zu dem vorher leeren Blatte kam – fehlte das Porträt desselben nicht mehr, wie nun kein einziges mehr fehlte. Mit dem höchsten Erstaunen blickte er darauf hin, und dazu lag auch wohl einiger Grund vor. Es war sein eigenes Porträt, welches sich unter denen seiner Freunde befand, was vorher seinem Gedächtnis ganz und gar entfallen gewesen war.

»Was ist das, und was hat es zu bedeuten?« fragte er sich, langsam wie vor einigen Stunden durch sein einsames Zimmer hin- und hergehend. »Mein eigenes Bild ist es, welches fehlte? Wer hat es genommen, und wer hat es wieder hineingefügt? Ah, ein artiges Rätsel, fürwahr! Es kann nur die Treuhold oder Gertrud gewesen sein, die hier eine kleine Komödie gespielt, und Tante Grete scheint aus dem Hintergrunde ihre Rolle geleitet zu haben! Haha! Das ist hübsch – wie sie sagt – das ist neu, das ist interessant! Nun gut – sie haben also alle zusammen ein kleines Komplott gegen mich geschmiedet, und ich muß vor so schlauen Spielerinnen auf meiner Hut sein. Aber wie löse ich mir das Rätsel?«

Diese Frage indes sollte zur Zeit noch unbeantwortet bleiben, denn wie des Herrn Legationsrats kluger Kopf auch sinnen und grübeln mochte, er fand die Antwort nicht, und bald auch sollten so wichtige Dinge in sein Leben greifen, daß er die Wiederholung der Frage vergaß, und als ihm endlich die Antwort von selbst gegeben ward, war alles in und um ihn so verändert und gewandelt, daß das kleine Interesse an dem verschwundenen und nun wieder erschienenen Bilde von viel größeren ganz in den Hintergrund gedrängt wurde.

Was für wichtige Ereignisse es aber waren, die sein Leben so seltsam umwandeln und seine ganze Existenz anders gestalten sollten, wollen wir in den nächsten Kapiteln zu enthüllen versuchen; bevor wir indessen zu der allmählichen Entwicklung unserer Erzählung schreiten, müssen wir zunächst im Fluge einen Blick auf die Zeit werfen, die noch vor den beiden wichtigen Tagen lag, die auf das gegenwärtige und künftige Geschick unseres Helden einen ungeahnten Einfluß zu üben bestimmt waren – wir meinen den 30. Juli und den 1. August – zwei Tage, die so wichtig und bedeutungsvoll für ihn sind, daß wir sie der Reihe nach in genauester Beschreibung dem Leser vorführen müssen.


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