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Es ist eine eigentümliche Erfahrung im Leben, daß, wenn man auch den festen Willen und die beste Absicht hat, da oder dort, zu diesem oder jenem Zweck, mit einer gewissen Miene und einer streng vorgezeichneten Haltung aufzutreten, um durch die zur Schau getragene Maske gleich von vornherein eine beabsichtigte Wirkung hervorzubringen, man doch nur sehr selten m der beschlossenen Weise an dem Orte und vor der Person eintrifft, wo die klüglich ausgedachte Rolle gespielt werden soll. Mag es sein, was es will, aber es gibt irgend etwas in oder außer uns, was uns schon auf dem Wege dahin umgewandelt, zu anders fühlenden und denkenden Menschen gemacht hat. Schon die bloße Einwirkung der frischen Luft, des hörbar vorübersausenden Windes, der Anblick der in wunderbarem Glanze leuchtenden Sonne scheint einen magischen, fast gewaltsamen Eindruck auf unsere Stimmung zu üben, der um so unbegreiflicher ist, als wir gar keinen sichtbaren Zusammenhang dieser äußeren Naturkräfte mit unseren inneren Plänen und Vorsätzen wahrzunehmen vermögen; und sehen wir nun gar erst die alltägliche Außenwelt um uns her, in der alles seinen ruhigen Gang geht, während es in uns stürmisch hämmert und pocht, fühlen wir oft unbewußt den linden Gottesfrieden, der über Wald und Flur, über Berg und Tal gebreitet ist, so sind wir oft ganz anders gestimmt, wenn wir an dem Ziele unseres Strebens anlangen, und anstatt ein Antlitz voller Würde, eine Haltung voll imponierender Majestät zu zeigen, bieten wir ein ganz gewöhnliches Gesicht dar und treten so still und einfach auf, wie alle übrigen Menschen es tun.
Etwas Ähnliches erlebte am dritten Juli die Familie Grotenburg, als sie zur Generalinspektion nach Sellhausen fuhr, um den verabredeten Überfall, hervorgegangen aus dem weisesten aller Familienräte, daselbst auszuführen. Mit ganz ungeheuer wichtigen Vorsätzen stiegen sie alle in die verschiedenen Wagen, und als sie am Ziele anlangten, hatte die süße Sommerluft, die fröhliche grüne Welt um sie her oder Gott weiß was sonst sie wieder zu ganz denselben Menschen umgestaltet, die sie im Alltagsleben waren, und nur die Neugierde war ihnen gemeinsam geblieben, wie man sie wohl empfangen, was man ihnen vorsetzen und ob sie an dem Orte ihrer Sehnsucht das Rätsel gelöst finden würden, dessen Geheimnis ihnen bisher so bittere Tage und Nächte gekostet hatte.
Laut der am ersten Juli in der Grotenburg getroffenen Verabredung speiste man auf den drei Gütern an jenem wichtigen Tage sehr zeitig, traf sich dann Punkt zwei Uhr an einem bezeichneten Orte, der eine halbe Stunde von Sellhausen entfernt lag, und fuhr nun nach leiser oder lauter ausgetauschten Begrüßungen in langem Zuge und mit vollem Pompe dem mit gespanntester Erwartung entgegengesehenen Ziele zu, jedermann, dem man auf diesem Wege begegnete, durch den seltsamen Aufzug, die Pracht der Kleidung und den ausgeputzten Dienertroß in staunende Verwunderung setzend.
Um auch den Leser an dieser Verwunderung Anteil nehmen zu lassen, so berichten wir, daß zwei Diener des Barons Grotenburg auf weißen Pferden und in voller Galalivree den abenteuerlichen Zug eröffneten. Hinter dem zweiten Wagen ritten wieder zwei Diener, von denen Baron Kranenberg den einen, Baron Haas von Haasencamp den andern gestellt hatte. Letztere beide sahen schon lange nicht so gut und elegant aus, wie die ersten Reiter, denn ihre altmodischen plumpen Livreen, abgeschmackt bunte Farben und erblindete Tressen zeigend, hatten schon jahrelange Kampagnen mitgemacht; indessen sie ritten gut, machten den Zug vollzählig und hatten Gesichter, deren jedes schon von weitem ihre Zugehörigkeit erkennen ließ, denn während das eine wie ein kupferroter Vollmond glänzte, sah das andere bleich, ungeheuer fromm und gottergeben aus, Eigenschaften, die die Frau Baronin von Grotenburg in gleicher Weise anwiderten, weshalb sie sich auch ungnädig abwandte, schon als sie die beiden Leiblakaien ihrer Schwäger von ferne erblickte.
Der Schluß des Zuges dagegen wurde ganz standesgemäß durch einen Bedienten des Herrn von Bökenbrink bezeichnet, der in einer wohlsitzenden blauen Uniform mit silbernen Knöpfen und Borten erschien und den unglücklichen Fuchswallach ritt, der einstweilen noch begnadigt war, um den großen Familienzug verherrlichen zu helfen, obgleich feststand, daß er dennoch so bald wie möglich – totgeschossen werden sollte.
Um nun von den Dienern zu den Herrschaften überzugehen, so zeigten sich im ersten blitzblanken Wagen, einer zurückgeschlagenen Viktoriachaise mit Hintersitz, der Präsident des Familienrats, der Herr Baron von Grotenburg mit seiner Gemahlin. Der Baron fuhr selber, neben dieser sitzend, während den engen Hintersitz der Leibjäger mit hochflatternden schwarzen Hahnenfedern am Dreimaster einnahm.
Der Baron trug wie gewöhnlich einen blauen Frack und einen grauen Filzzylinder auf dem ehrwürdigen Kopfe. Seine Gemahlin aber prangte in einem dunkelblauen Damastkleide, dessen Rock zu beiden Seiten des Wagens weit hinausragte und vom Baron eigentlich nur das Gesicht und den Hut wahrnehmen ließ. Auf dem Kopfe saß der vornehmen Dame ein kleiner koketter runder, an einer Seite aufgeschlagener Strohhut, mit wallenden weißen Straußfedern garniert – Federn als Kopfputz liebte sie über alles – und um die mageren Schultern hing lose ein weiß- und braungestreifter Burnus, der wegen der Hitze vorn aufgeknöpft und in den Sitz des Wagens halb zurückgefallen war, so daß dem hinter ihr sitzenden Jäger der volle Anblick des blendenden gelben Nackens zuteil wurde. Ihr Gesicht aber sah wunderbar blühend und frisch aus, jedoch durch die roten und weißen Farben, die es höchst malerisch bedeckten, drang unaufhaltsam die innere Spannung und Aufregung der Dame durch, die sich auch in ihren zusammengekniffenen Lippen und in der Hast und Unruhe aussprach, mit der sie wiederholt die goldene Lorgnette vor die Augen erhob, um in die Ferne nach dem Schlosse ihrer Träume, dem herrlichen Sellhausen hinüberzuspähen.
Im zweiten Wagen, einer bei weitem weniger glänzenden Chaise von etwas älterem Datum, von zwei mageren, aber edlen braunen Stuten gezogen – Baron Kranenberg fuhr nur mit Stuten, seine sanfte Gemahlin hielt das für gefahrloser – saß die Familie von Kranenberg, jedoch ohne Kinder, die man der Aufsicht des schwindsüchtigen Hofmeisters und der gottergebenen Gouvernante anvertraut. Vorn neben dem Kutscher hatte der Baron ein bescheidenes Plätzchen gefunden, im Fond neben der Baronin aber saß der schmächtige Hauskaplan, Herr Kattengold, der ewige Begleiter der Baronin, der jetzt, in seinem schwarzen Kleide, der wirkliche Schatten der auch heute im weißen Nonnengewande erscheinenden frommen Dame zu sein schien. Beide, mehr der überirdischen als der irdischen Welt angehörend, sahen ungemein mild, oder eigentlich gleichgültig und von dem unternommenen Zuge gelangweilt aus, nur wenn sich ihre Blicke trafen, was von Zeit zu Zeit geschah, glänzte ein himmlischer Strahl der Beseligung in ihren Augen und sie lächelten beide mit göttlicher Ruhe über den irdischen Wahn, dem nachzujagen sie sich ohne Widerrede hatten entschließen müssen.
Im dritten Wagen, einer zweisitzigen und sehr dürftig erscheinenden Kalesche, sah man Baron Haas. Sein dickbackiger Kutscher, glühend rot vor Eifer und innerer Hitze, war fast so korpulent wie der Herr, der behaglich lauernd in seinem grünen Frack – sein einziger, also auch bester Bratenrock – und von einem Panamahut beschattet, auf dem Hintersitze saß, bald seinem Brüderchen vor ihm, bald den hinter ihm Fahrenden ermutigend zunickte, dann und wann gegen Fräulein Klotilde mit dem Finger drohte und leise vor sich hin ein fröhliches Lied durch die Zähne pfiff, insgeheim aber unablässig an den feurigen Griechen oder Türken dachte, den er heute ohne Zweifel kosten würde.
Der vierte und letzte Wagen endlich, von zwei schönen Goldfüchsen gezogen, war das berühmte Gefährt Herrn von Bökenbrinks, ein vierrädriger neumodischer Kasten mit zwei ungeheuer hohen Sitzen ohne Lehne, auf denen ohne Lebensgefahr zu schweben, es eigentlich die Biegsamkeit und Schwindellosigkeit eines Kunstreiters oder Seiltänzers erforderte.
Auf dem kleinen, schmalen aber mit einem entsetzlich hohen Keilkissen versehenen Vordersitz dieses Gefährts saß Pilatus XXII., im blauen, bis an das Kinn zugeknöpften Frack und schwarzen Zylinder, der freilich noch ganz neu, aber in der Mode um zehn Jahre zurückgeblieben war, denn sein Besitzer hatte ihn vor ungefähr so langer Zeit in der Residenz gekauft, als er seine militärische Quälerei mit der bequemeren Stellung eines auf den Tod seines Onkels wartenden Erben vertauschte.
Hinter dem in steifster und nobelster Haltung sitzenden Pilatus aber thronte auf allerhöchstem Sitze, ganz allein in ihrer vollen Schönheit und Jugendfrische, Fräulein Klotilde, schon von ferne wie eine vom Himmel niedergefallene weiße Wolke anzusehen, denn ihre Krinoline ragte nach allen Seiten weit über den Umfang des Wägelchens fort und bauschte sich überall, namentlich aber nach hinten so übermäßig auf, daß es schien, als habe sich der Wind mit impertinenter Frechheit darunter festgesetzt und beabsichtige nächstens das ganze leichte Dämchen wieder mit sich in die luftigen Höhen zu reißen.
Die reizende Klotilde trug ein weißes seidenes Baregekleid, in welches die Liebesgötter selbst mit ihren feinen Fingerchen kleine Rosen hineingewebt zu haben schienen, so zierlich und duftig sahen sie aus. Wie gewöhnlich war es so weit ausgeschnitten, »wie es eben ging«, aber die dadurch sichtbar werdenden alabasternen Schultern deckte ein keuscher Burnus von durchsichtigem Mull zu. Auf ihrem Kopfe – saß, kann man nicht sagen, sondern schwebte, wogte, nur mit kühner einfacher Nadel befestigt, ein kleidsames Strohhütchen, mit weithin wehendem Spitzenschleier und rosenroten Bändern garniert, mit denen ebenfalls der leichtfertige Wind sein kosendes Spiel trieb. Ihr zartes Gesicht, von blaßblonden Löckchen umwogt, war etwas bleicher als gewöhnlich, denn die Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, hatte sie unzweifelhaft angegriffen, obgleich sie sich auf keine Weise beklommen zeigen mochte, und die heute noch auffallendere Stummheit Pilatus' XXII. war durchaus nicht dazu angetan, ihr Mut und Vertrauen einzuflößen, was derselbe auch keineswegs beabsichtigte, da sein Herz selbst durch die Folterqualen begründetster Eifersucht fast zersplittert war.
So haben wir denn den stolzen Zug im allgemeinen und besonderen genau genug geschildert und wollen nur noch hinzufügen, daß die fahrenden Herrschaften anfangs nach dem Zusammentreffen am Rendezvousorte ziemlich munter plauderten und ganz vergnügt schienen, als sie aber auf das Gebiet von Sellhausen gelangten, ringsum die herrlichen Äcker voll wogender Frucht und endlich das schöne Schloß mit seinen langen Fensterreihen im goldensten Sonnenschein vor sich liegen sahen, wurden sie stiller und stiller und überließen sich ihren geheimen Betrachtungen, die bei den meisten von ihnen hauptsächlich den Gedanken betrafen, daß es doch eine ganz andere Sache sei, schon in faktischem Besitz eines begehrenswerten Gegenstandes zu sein, als ihn erst in der Einbildung sein eigen zu nennen, ein Gedanke, der auch schon manchem andern Sterblichen bei ähnlichen Verhältnissen in den Kopf gefahren sein und keine zu angenehme Empfindung in ihm hervorgerufen haben mag.
Auf Sellhausen hatte man natürlich keine Ahnung von dem bevorstehenden zahlreichen Besuch, war aber doch, wie das bei einem so großen ländlichen Haushalt Regel ist, auf jeden möglichen Fall vorbereitet; an diesem Tage um so mehr, da der Meier zu Allerdissen schon gegen Mittag einen großen Korb frischer Forellen gesandt und die vorläufige Meldung hinzugefügt hatte, wenn Herr von Sellhausen zu Hause bleibe, werde er sich die Freiheit nehmen, gegen Abend vorzusprechen und das leckere Gericht dem Freunde verzehren helfen.
Bodo war über diese Aussicht auf einen fröhlichen Abend in munterster Stimmung und hatte gegen Fräulein Treuhold und Gertrud schon wiederholt seine Freude geäußert. Überhaupt war er seit dem Besuch auf der Cluus ungemein heiter und geistig erfrischt und die seitdem verlebten Tage hatten das Ihrige beigetragen, diese Heiterkeit zu erhalten und ihn sich in seiner häuslichen Lage vollkommen glücklich und zufrieden fühlen zu lassen.
Im ganzen war ihm das Leben seitdem äußerst einfach und still, aber gerade darum um so angenehmer verflossen. Die frühen Morgenstunden pflegte er allein, bei gutem Wetter mit Lesen im Garten, bei trübem im Zimmer mit Schreiben und Studien allerlei Art zuzubringen. Erst das zweite Frühstück führte ihn mit den Frauen zusammen und hier gab es jetzt reichlicheren Stoff denn je zu den interessantesten Unterhaltungen und Gesprächen. Bei letzteren zeigte er sich in natürlichster Einfachheit, teilnehmend an allem, was des Meiers wißbegierige Tochter kennen zu lernen begehrte, doch auch ebenso gern auf der älteren Dame Absichten und Wünsche eingehend. Hatte er so ein Stündchen behaglich zugebracht, so ging oder ritt er mit Herrn Hinz über die Felder, oder fuhr über die Weser, um in den Bergen drüben den Wald in Augenschein zu nehmen und dabei auf jede Weise seine Kenntnisse in der Land- und Forstwirtschaft zu bereichern.
Kamen die Herren von ihrem Morgentreiben ermüdet nach Hause, so schmeckte ihnen das vortrefflich zubereitete Mittagessen köstlich, und wieder blieb man danach ein Stündchen beisammen, um im Garten Erdbeeren oder andere Früchte zu pflücken, oder sonst irgend etwas zu beraten und zu treiben. Am späteren Nachmittag ging man spazieren, unternahm eine Wasserfahrt, oder fuhr auch nach Allerdissen hinüber, um den Meier zu besuchen, oder dieser kam selbst und brachte stets ein heiteres, vom reinsten Wohlwollen strahlendes Gesicht mit, wobei sein klarer Geist an jedem guten Dinge, mochte es die Landwirtschaft, die Kunst oder das alltägliche Leben betreffen, stets den größten Gefallen fand, vor allem aber durch den belehrenden Umgang mit Herrn von Sellhausen eines Genusses teilhaftig wurde, wie er ihn kaum in dem vormaligen Verkehr mit dem ihm vertrauteren Vater desselben gefunden hatte.
Zu dieser Gesellschaft kamen aber noch manche andere Leute, aus näherer und weiterer Ferne, mit denen der Legationsrat allmählich bekannt geworden war, und so verflossen auch die schönen Sommerabende in heiterem Genuß der reichen Natur und wohltuender Unterhaltung auf das angenehmste.
Bei diesem, durch keine äußere Störung behinderten Stillleben schien dem Legationsrat das Verhältnis, in welchem er augenblicklich noch zu der Grotenburgschen Familie stand, ganz aus dem Sinn gekommen zu sein, wenigstens ließ er es nie merken, daß er sich, was dennoch gewiß bisweilen geschah, mit der ihm nun bald bevorstehenden Testamentseröffnung beschäftigte, und niemals sah man eine Wolke der Sorge auf seiner Stirn schweben, wenn er in der Gesellschaft der Frauen sich befand, die so oft wie möglich in seiner Nähe waren, ihn mit tausend Fragen erfreuten und seine stets gleiche Stimmung bewunderten, denn er gehörte zu den wenigen Männern, die in Gesellschaft anderer nie empfinden oder durchblicken lassen, daß es in ihrem reiferen oder gebildeteren Geiste noch eine besondere verschlossene kleine Welt gebe, die nur für sie selbst geschaffen ist, und daß in dieser geheimnisvollen Welt nicht immer alles in harmonischer Glätte und vollkommener innerer Befriedigung verlaufe, was auch ein Zustand der Glückseligkeit wäre, der in den geistig aufgeregten Zeiten der Gegenwart wohl bei keinem Menschen mehr angetroffen wird, mag er dem Brenn- und Mittelpunkt des großen Ganzen so fern stehen, wie er will.
An jenem Tage nun hatte man wie gewöhnlich um ein Uhr zu Mittag gespeist und war gleich darauf in den Garten gegangen, wo man sich bei den Himbeersträuchern zu schaffen machte, da die Frauen zum Abend die ersten dieser köstlichen Früchte auf den Tisch bringen wollten. Als man hier trotz der heißen Tageszeit und bei fast senkrecht fallenden Sonnenstrahlen sich im kühleren Schatten der hohen Hecken ganz behaglich einer mühelosen Arbeit unterzog und munter miteinander scherzte, erschien plötzlich Herr Hinz sehr eilig und berichtete, er sei rasch vom Felde hereingeritten, um anzuzeigen, daß eine große Gesellschaft zu Wagen und zu Pferde von der Grotenburg her im Anzuge sei, um wahrscheinlich auf Sellhausen einen Besuch abzustatten.
Fräulein Treuhold und Gertrud waren die ersten, die sogleich ihre Beschäftigung einstellten und in das Haus eilten, um darin ohne Aufenthalt ihre Vorkehrungen zum Empfang der Gäste zu treffen. Bodo dagegen blieb ungestört bei den Himbeeren sitzen, lächelte nur still vor sich hin und erst, als er das laute Gebell der Hofhunde vernahm, die den eingetroffenen Besuch verkündeten, ging er durch das Haus nach der vorderen Rampe, wo er gerade zur rechten Zeit ankam, um den stolzen Zug anlangen zu sehen, den vorläufig zu empfangen die aufmerksame Rieke bereit stand.
Als nun die Barone mit ihren Damen und ihrer übrigen Begleitung das unbefangene, ruhige und, wenn nicht erfreute, doch freundliche Gesicht ihres Wirtes sahen, der wie ein gebildeter und stets gefaßter Mann seine Miene nach jeder Lebenslage zu beherrschen wußte, wurden sie plötzlich von einer Art zutraulicher Ungeniertheit ergriffen und umringten mit lauten, mehr oder weniger freudigen Zurufen, Händedrücken und den süßesten Blicken den Legationsrat, der sie nach der Reihe, wie sie ihm nahe kamen, mit bewillkommnenden Worten begrüßte, dabei aber nicht die geringste Befangenheit zeigte, daß sie so zahlreich und in so überraschender Weise seine Gastfreundschaft in Anspruch nahmen.
Nachdem die ersten Begrüßungen ausgetauscht, namentlich aber die lauten Ergüsse des Barons Haas und die salbungsvollen Worte der frommen Baronin erwidert waren, wandte sich Bodo zu der Baronin Grotenburg und ihrer Tochter, die sich ziemlich ruhig verhielten, und hieß auch sie auf die höflichste Weise willkommen, indem er sich nach ihrem Befinden erkundigte, seitdem er nicht, sie zu sehen, die Ehre gehabt. Als auch diese Pflicht erfüllt, kamen die ihm fremderen Gäste an die Reihe, die von den Beteiligten als mit zur Familie gehörig vorgestellt wurden. Selbst der steife und vor Verlegenheit abwechselnd mit beiden Händen den Schnurbart streichende Pilatus war von dem ruhigen und würdigen Benehmen des Wirts leidlich befriedigt und folgte mit gemäßigter Grandezza seiner Angebeteten, die mit ihrer Mutter neben Bodo herrauschte und diesen selbst auf dem kurzen Gange nach dem Garten, wohin man sich auf seine Einladung begab, gleich von Anfang an in ein lebhaftes Gespräch zu verflechten begann.
Am stillsten, aufmerksamsten, gleichsam am wachsamsten zeigte sich Baron Grotenburg. Er merkte auf jede Bewegung, jeden Blick, jedes Wort seines Schwiegersohnes » in spe«, aber es war durchaus nichts, gar nichts in dem Benehmen desselben vorhanden, was seine im stillen schlummernde Sorge und Unruhe auch nur im mindesten angefacht hätte.
Während die Herrschaften nun im Garten irgendwo Platz nahmen, die Aussicht »reizend«, die Blumenanlagen »himmlisch« und alles, alles, im ganzen und einzelnen, »wunderschön« zu finden versicherten, blieben Fräulein Treuhold und Gertrud im Hause nicht untätig. Für den Fall, daß man sich später vielleicht irgendwo im Hause niederlassen würde, öffnete Herr Hinz, der sogleich seine Hilfe angeboten, mit einer Magd einige große Zimmer, zog die Vorhänge und Fenster auf und brachte alles in die gehörige Ordnung, wozu wenig Zeit und Mühe gehörte, da ja fast alles schon in bestem Zustande und höchster Sauberkeit sich befand.
Während dieser Zeit wurde nun auch der Kaffee fertig; der stets vorrätige Kuchen ward von den flinken Händen der Frauen auf zierliche Weise zurecht gelegt und zwei Mägde, mit neuen Kleidern und schneeweißen Schürzen geschmückt, erschienen im Garten, wo sie alsbald einige Tische in der großen Laube deckten, das Erforderliche laut Anordnung auftrugen und dann in bescheidener Ferne des Winkes ihres Herrn warteten, der sein Auge überall hatte, bald mit diesem, bald mit jenem Gaste sprach und dennoch das Treiben der Dienstboten überwachte, so lange er Fräulein Treuhold noch nicht erscheinen sah.
Alles dies ging so ruhig und schnell, ohne jede Hast und Übereilung von statten, daß selbst der krittlichste Sinn nichts daran auszusetzen finden konnte, obgleich die Abwesenheit betreßter Livreebedienten fast allen Gästen gleich anfangs über die Maßen auffiel und schon im stillen einiges Naserümpfen veranlaßt hatte.
Jedoch diese Ruhe, die bei der allgemeinen, bis jetzt noch glücklich im Zaum gehaltenen Aufregung dem verhängnisvollen Schweigen glich, welches auf friedlicher, über einem Vulkan gelegener Landschaft ruht, dessen Ausbruch man jeden Augenblick gewärtig sein muß, sollte mit einem Male für alle Versammelten, den Hausherrn selbst nicht ausgenommen, der vielleicht gerade innerlich am meisten dadurch betroffen wurde, ein rasches Ende nehmen und damit eine Reihenfolge unerwarteter Szenen eingeleitet werden, die diesen Tag zu einem sehr bedeutungsvollen zu stempeln bestimmt waren.
Man saß eben in verschiedenen Gruppen nicht weit von der großen Laube auf der obersten Terrasse im Schatten einiger schönen Kastanienbäume auf Stühlen und Bänken, wie man sie eilfertig herbeigetragen, ergoß sich in wiederholten Lobpreisungen des herrlichen Naturbildes, welches sich vor den Blicken der Anwesenden ausbreitete, und begann schon hie und da eine gewisse Sehnsucht nach einer guten Tasse Kaffee zu empfinden, als sich plötzlich von der großen Laube her drei Gestalten zu gleicher Zeit heranbewegten, die sämtlich Präsentierbretter in den Händen hielten und die gewünschte Erquickung nebst Zubehör herbeitrugen.
Die erste dieser Personen war Fräulein Treuhold selber, die sich ihr Recht als Haushälterin nicht wollte nehmen lassen. Um ihrer ersten Pflicht, für jeden Gast auf das Beste zu sorgen, zu genügen, wies sie mit lebhaft gerötetem Gesicht der nachfolgenden Rieke – die anderen Mägde schienen ihr zu persönlicher Aufwartung nicht geeignet – den Weg, ging mit freundlichen Grüßen und Winken nach allen Seiten auf die ihr zunächst sitzende Baronin von Kranenberg zu und präsentierte ihr mit den Worten: »Bitte, gnädige Frau!« eine Tasse Kaffee. Unmittelbar hinter ihr trat nun, wie gesagt, Rieke heran, Backwerk in Fülle tragend, und das alles fand man ganz natürlich und kein Mensch hätte irgend etwas Staunenwertes entdecken können.
Allein es war auch noch eine andere Person im Hause, die nicht untätig bei dieser ersten Pflichterfüllung im Hintergrunde bleiben wollte und, sich nichts Arges dabei denkend und allein dem Antriebe ihres guten Herzens folgend, der überhitzten Tante hilfreiche Hand zu leisten sich bemühte. Es war natürlich keine andere als Gertrud, die jetzt hinter Rieke ebenfalls aus der Laube hervortrat, ein kleines Brett mit Tassen in ihren mit blaßgelben Handschuhen bedeckten Händen hielt und auf die Baronin Grotenburg zutrat, um dieser eine derselben freundlich darzubieten.
Aber die Erscheinung dieses jungen, schönen, gänzlich unbekannten und bisher von niemanden bemerkten Mädchens rief in allen Anwesenden eine Art Sturmgefühl hervor, welches Gertrud, in ihrer schwarzseidenen ländlichen Tracht völlig unbefangen einherschreitend, am wenigsten vorausgesehen hatte. Denn kaum war sie vor die Augen der vornehmen Gesellschaft getreten, so stellte sich plötzlich ein allgemeines Stillschweigen ein, alle Gesichter starrten verwundert und gleichsam halb versteinert auf die edle blühende Gestalt hin und niemand war da, der sich die Anwesenheit oder das Verhältnis erklären konnte, in welchem die wunderbare Erscheinung zu dem Haushalt in Sellhausen stand.
Am allermeisten von allen aber, wie schon angedeutet, war Bodo selbst betroffen. Er verlor sogar auf einen Augenblick seine ruhige Haltung, stockte mitten im Gespräch mit der Baronin und richtete sein leuchtendes Auge mit einem seltsam fragenden Ausdruck auf Gertrud hin, die noch immer vollkommen unbefangen und die sanften Augen kaum erhebend, jetzt dicht vor der Baronin von Grotenburg stand.
Allein sein Erstaunen, vielleicht mit einem ihm selbst nur halb bewußten oder noch unklaren Schmerz gemischt, wich schnell; er faßte und bemühte sich sein plötzlich schlagendes Herz zur Ruhe zu zwingen, das indessen von diesem Augenblick an im Laufe dieses Tages noch öfter beunruhigt werden sollte.
Nur einen Blick warf er auf Fräulein Treuhold, den diese, als habe sie ihn schon erwartet, auch richtig auffing, und in diesem Blick lag eine so verständliche Frage und ein so bitterer Vorwurf, daß die alte Dame dadurch tief erschüttert wurde. Da sie aber den Vorgang nicht mehr hindern und auch kein Wort darüber zu ihrer Entschuldigung sprechen konnte, so schüttelte sie, nur dem Legationsrat bemerklich, leise den Kopf, und dieser hatte sogleich begriffen, daß sie selbst keine aktive Schuld an Gertruds Auftreten auf dieser Bühne trug.
Gleich dem Wirte, wurzelten aber die Blicke nicht allein der Damen, sondern auch die der Herren, fast mit stürmischer Begier nach dem so schönen Ziele jagend, auf der fremden Erscheinung, und es wäre vielleicht höchst ergötzlich gewesen, hätte man den einen oder andern dieser Blicke entziffern und bis in das Herz der Zuschauer verfolgen können.
Indessen kein Wort wurde laut und wenn die seltsamen Blicke auch ununterbrochen fortgesetzt, hier sogar noch geschärft und dort insofern gewandelt wurden, als sie aus der ersten jähen Erstarrung in Staunen, dann in Verwunderung und zuletzt in ein auffälliges Wohlgefallen übergingen, so trat doch keine besondere Störung ein, die Bodos kaum beschwichtigtes Herz zu neuen heftigeren Schlägen veranlaßt hätte.
Jedoch – diese von seinem feinfühlenden Herzen fast befürchtete Störung sollte leider nicht ganz ausbleiben, und zwar sollte sie in einer Weise vor sich gehen, die nicht allein Gertrud selbst empfindlich berühren mußte, sondern die wiederum den am ganzen Vorgange so unschuldigen Wirt in eine ihm ganz neue Stimmung versetzte, eine Stimmung von so bedeutungsvoller Einwirkung auf sein ganzes innerstes Wesen, wie er sie an diesem unwillkommenen Tage zu erleben am wenigsten vermuten konnte.
Die Baronin Grotenburg hatte mit unheimlich lächelndem Beben ihrer dünnen Lippen und einem bitteren Aufblick in das sanfte Gesicht der ihr sich jetzt dienstbar erweisenden Gertrud eine Tasse Kaffee und den dazu gehörigen Kuchen von Rieke genommen und saß nun still beobachtend und in grübelndes Nachsinnen versunken da. Gertrud war von ihr fort und zu Fräulein Klotilde getreten, die nicht weit von ihr und zwar so saß, daß Bodo den vollen Anblick ihres Gesichts wie auch den Gertruds hatte, die ihr jetzt den Kaffee darbot.
Da aber geschah etwas von allen Seiten Unerwartetes. Fräulein Klotilde hatte kaum den Blick auf die ihr nahende Tochter des Meiers geworfen, die sie offenbar für keine gewöhnliche Dienerin halten konnte, so nahm ihr hochmütiges Gesicht einen an Verzerrung grenzenden Ausdruck an. Sie zuckte zusammen, lehnte sich so weit in ihren Stuhl zurück, wie es ging, riß ungestüm ihre Lorgnette hervor, hielt sie vor die Augen und starrte das jetzt dicht vor ihr stehende, bescheiden wartende Mädchen in einer Art und Weise an, die gegen dieses etwas eben so Verletzendes, wie für jeden rechtlich Denkenden und edel Fühlenden etwas Empörendes haben mußte.
Es war ein eigentümliches und höchst interessantes Bild, diese beiden, jede in ihrer Art von der Natur so wohlgebildeten Frauen einander sich so nahe gegenüberstehen zu sehen. Gertrud in der einfachen, schwarzen Landtracht, die ihr so reizend stand, bescheiden und geduldig, sich ruhig unterordnend, in der ganzen Fülle ihrer natürlichen Anmut, das liebliche Gesicht etwas emporgehoben und das sinnige dunkelblaue Auge fragend und fast halb bittend auf die vor ihr sitzende Dame gerichtet; diese, im prunkenden Putze, die weite Robe heftig an sich reißend, damit der Fuß »der Magd« sie nicht berühre, in ihrem ganzen unerträglichen Hochmut, den halbnackten Oberkörper hintenübergeworfen, den Kopf steif zurückgeworfen und mit den affektiert zusammengekniffenen Augen durch die blitzende Lorgnette die überraschende Schönheit dieses wie aus den Wolken gefallenen Mädchens betrachtend! O, wer hatte hier nicht Augen, zu sehen, auf welche der beiden Gestalten Gott seinen edelsten, schönsten Adel ausgegossen, und wer konnte nicht durch diese jetzt so sprechenden Augen in die Seele beider blicken, um darin zu lesen, was auf dem Grunde derselben vorging, und um danach zu bemessen, welche von beiden den gerechtesten Anspruch auf die Achtung und Liebe ihrer Mitmenschen machen durfte?
Der Leser verzeihe, daß wir den Schleier vor dieser charakteristischen Szene nicht fallen lassen, ohne vorher noch einen schärferen Blick auf den dadurch tief erschütterten und wunderbar bewegten Bodo von Sellhausen geworfen zu haben. Ihn durchrieselte in diesem für ihn so schrecklichen Moment ein seltsamer Schauer, als ob einerseits eine nie gefühlte, fast feindselige Bitterkeit ihn erfüllte, andrerseits aber auch ein wonniges Beben durch sein ganzes Wesen liefe, beides jedoch in so rascher blitzähnlicher Aufeinanderfolge, daß es ihm nur wie ein kurzer Herzschlag vorkam, der aber dennoch so stark und mächtig war daß er ihn bis in die kleinsten Fibern seines Wesens zu fühlen glaubte.
Anfangs war ihm dabei zu Mute, als senke sich eine dunkle Wolke auf ihn nieder und erdrücke ihn fast mit ihrer schweren Wucht; aber die Wolke verschwand vor einem warmen Lichtstrahl, der die Welt rings um ihn her blendend hell erleuchtete, tausend unbekannte, geheimnisvolle Empfindungen sproßten in seinem Innern auf und gleich darauf erfüllte ihn eine wunderbare Glückseligkeit, für die er keinen Namen wußte, so daß ihm seine ganze Umgebung, selbst die ihm so widerwärtigen Menschen in einem fast rosigen Lichte und wie zur besonderen Teilnahme seiner Freuden hierhergekommen schienen.
Von diesem leider zu schnell vorüberrauschenden Momente an kam an diesem Tage kein bitteres Gefühl mehr in ihm auf; das Schwerste und Unangenehmste dünkte ihm nur eine leichte Last zu sein; er fand seine ganze unbefangene Heiterkeit und Gesprächigkeit wieder und gab sich endlich der lästigen Gegenwart mit einer Art freudiger Aufwallung hin, die ihn sowohl als Mann wie als Wirt nur noch liebenswürdiger als bisher erscheinen ließ. Rasch in sich gefaßt, verschloß er die Erinnerung an das eben empfundene Wonnegefühl in die tiefste Falte seiner Brust, sparte die Eröffnung derselben einer späteren Zeit auf und fühlte sich nun ganz wieder der ruhige klare Mann, der er immer gewesen war.
Doch nun müssen wir zu jener Szene zurückkehren, die, beiden Mitspielenden gewiß unbewußt, obige Wirkung in einem der anwesenden Herzen hervorgebracht hatte. Nachdem Fräulein Klotilde die geduldig vor ihr stehende Gertrud lange genug vom Kopfe bis zu Fuß gemustert hatte, ließ sie plötzlich ihr goldenes Glas sinken, lächelte eben so spöttisch wie verächtlich und machte mit dem stolz erhobenen Haupte eine ablehnende Bewegung. Getrud verstand dieselbe auf der Stelle; ohne sich einen Augenblick länger aufzuhalten, trat sie von ihr fort zu Baron Grotenburg, der sogar von seinem Stuhle aufstand, ehe er eine Tasse ergriff, – eine unwillkürliche, der Schönheit und Jugend dargebrachte Huldigung, die ihm einen zornigen Aufblick seiner teuren Amalie zuzog, die sich fast den Kopf zerbrach, wer diese reizende »Bauerndirne« sei.
Als Gertrud aber auch diesen Dienst verrichtete, sah sie sich pflichtig im Kreise um, und da sie bemerkte, daß jeder Gast seine Tasse bereits in der Hand hielt, trat sie auf Bodo zu, um auch ihm eine anzubieten.
Bodos Hand zitterte unmerklich, als er eine Tasse ergriff, und ohne seinen Blick zu erheben, dem er nicht recht trauen mochte, lächelte er auf seine gewohnte Weise, wenn er für etwas danken wollte, und sagte dann mit überraschend lauter und verständlicher Stimme: »Ich danke Ihnen, Fräulein!«
Damit war Gertruds sichtbarer Dienst für heute zu Ende. Sie verließ den Garten, nachdem ihre Tante sie darum gebeten, wobei sie ihr einige Worte zuflüsterte, die Bodo allein zu verstehen glaubte, trotzdem sie sechs Schritte von ihm entfernt nur leise hingehaucht wurden.
Gleich darauf stand er auf, trat zu Fräulein Treuhold nach der großen Laube hin, während die anderen wieder zu ihren lauten Gesprächen zurückkehrten, und sagte rasch zu ihr: »Warum das, Fräulein? Was hat die Taube unter den Krähen zu suchen? Das habe ich nicht gewünscht, nicht erwartet. Zu solchem Zwecke ist doch Ihre Nichte nicht hier?«
»Ich habe es auch nicht gewünscht,« erwiderte die alte Treuhold eben so schnell. »Aber das gute Kind glaubte, wir würden nicht fertig werden, und ließ sich nicht abhalten. Doch ich bitte um Entschuldigung.«
»Still – das wollt' ich von Ihnen nicht hören. Aber nur ruhig, Beste, es wird alles gehen – richten Sie sich jedenfalls zum Abend ein!« –
Unterdessen waren die fremden Herren beiseite getreten und indem sie ihr Biscuit gemächlich in den Kaffee tauchten, flüsterten sie sich Fragen voll brennender Neugierde zu, die leider keiner von ihnen dem andern beantworten konnte und die man daher bei passenderer Gelegenheit an den rechten Mann zu bringen den festen Vorsatz faßte.
*
Nach einiger Zeit hatten die Herrschaften ihren Kaffee getrunken; selbst Fräulein Klotilde war so gnädig gewesen, von der Treuhold, die ihr nochmals eine Tasse angeboten, ihn anzunehmen und so erhob man sich, um eine kleine Promenade durch den Garten und das daranstoßende Gehölz, welches nach der Weser hinabführte, anzutreten.
Bodo bot den Herren Zigarren an, diese aber, die bereits ihren Plan festgestellt, dankten und baten sich dafür die Vergünstigung aus, in aller Ruhe den Hof mit Ställen und Zubehör besichtigen zu dürfen.
»Sie dürfen natürlich nicht mit uns gehen,« sagte dabei Baron Haas, den freundlich blickenden Wirt vertraulich auf die Schulter klopfend, »sondern müssen bei den Damen bleiben. Aber wir finden uns schon allein zurecht und werden Sie später im Garten wieder aufsuchen.«
»Ich will den Verwalter rufen lassen, damit er Sie geleiten kann,« erwiderte Bodo höflich.
»Nein, nein, mein lieber Vetter,« nahm nun Baron Grotenburg etwas hastig das Wort, »wir bedürfen seiner nicht. Ich weiß ja Bescheid und habe oft genug mit Ihrem guten Vater, meinem besten Freunde, einen traulichen Rundgang hier gemacht. Den will ich nun wiederholen und mich einmal so recht in die Erinnerung an den alten Knaben versenken – ja, das will ich – auf Ehre!«
»So gehen Sie, meine Herren, mich aber bitte ich zu entschuldigen.«
Während Bodo nun zu den Damen trat, begaben sich die drei Barone, denen Pilatus sich anschloß, weil er nicht gern in des Wirtes Nähe sein mochte und dieser gewiß jetzt bei den Damen »Hahn im Korbe« war, nach dem Hofe, schlenderten langsam darüber hin, traten gemächlich von einem Gebäude zum andern und unterwarfen deren Inhalt einer höchst oberflächlichen Musterung, da sie alle Vier den äußeren Anstrich für den Kern der Sache zu nehmen gewohnt waren.
»Das ist ganz hübsch hier,« sagte Herr von Bökenbrink, nachdem man die großen Pferde- und Kuhställe betrachtet und überall eine sehr angenehm in die Augen fallende Reinlichkeit und Ordnung beobachtet hatte, »das Ding möchte ich schon besitzen. Sehen Sie, meine Herren, wie prächtig sich das Schloß da oben ausnimmt!«
Baron Grotenburg drehte sich seufzend um und nickte zustimmend mit dem Kopfe, ohne ein Wort zu sprechen. Ebenso der in der Regel etwas schweigsame Baron Kranenberg. Baron Haas aber, immer zum Schwatzen aufgelegt, sagte: »O, ja, hübsch ist es, Bruder Herz, meinst du nicht auch? Donnerwetter, das dürfen wir uns nicht entschlüpfen lassen! Aber es hat doch alles nicht so den rechten Anstrich wie bei uns, obgleich es beinahe nach etwas aussieht. Diese von Hause aus bürgerlichen Leute, wie der alte Sellhausen einer war, die vom Adel nur den Namen, aber weder das reine Blut noch das Geschick besitzen, ihn geltend zu machen, bauen sich solch ein prachtvolles Chateau, wie nur ein Edelmann vom reinsten Wasser, und haben nicht 'mal guill – guillotinierte Bediente, um ihre Gäste mit Anstand empfangen zu lassen. Kommt uns da heute so eine vollbusige Magd mit einer weißen Küchenschürze entgegen und knixt und grinst wie ein blaunasiger Pavian – Himmel, ich denke, mich soll der Schlag rühren, wie ich das sehe – doch was ist das da?«
Er stand still und deutete in die Ferne durch das Hoftor hinaus, vor welchem man gerade angekommen war, um nach den Scheunen und Ställen der anderen Hofseite hinüber zu gehen. Ungefähr dreihundert Schritte noch entfernt, kam ein eleganter Jagdwagen angerollt, von zwei Grauschimmeln gezogen, die man für vollblütige Abkömmlinge von Pegasus selber hätte halten können, wenn sie Flügel gehabt, so feurig, so stolz, so siegesmutig trabten sie heran, die schönen Köpfe mit den langen schneeweißen Mähnen auf und niederwerfend und sich, ihr schönes Geschirr und sogar die Insassen des Wagens mit den Schaumflocken benetzend, die sich um ihre stählernen Gebisse fort und fort bildeten.
Es war der Meier zu Allerdissen, der in aller Gemütlichkeit angefahren kam, um, wie er versprochen, die am Mittag gesandten Forellen abends dem Herrn von Sellhausen verspeisen zu helfen. Er fuhr selbst und hatte hinter sich den Kutscher sitzen, der einen grünen Livreerock mit silbernen Knöpfen und eine steife Mütze mit Silbertressen trug. Der Meier sah in seinem dunklen modernen Sommerrock und Panamahut aus wie ein vornehmer Mann, wenigstens war unter den vier Edelleuten keiner, der an Gestalt, Gesichtsausdruck, Benehmen und Sprache ihm hätte zum Muster dienen können.
Die vier adligen Herren standen ganz verwundert im Torwege, als sie das leichte Gefährt wie im brausenden Sturmwind herankommen sahen. »Wer ist das?« fragte Baron Haas noch einmal.
In demselben Augenblick hatten sowohl Baron Kranenberg wie Herr von Bökenbrink den Fremden erkannt und beide riefen fast in einem Atem aus: »Ha! Es ist der Meier zu Allerdissen!«
»Was?« rief Baron Grotenburg, »der Bauer von da drüben? Und so ein Kerl erlaubt sich mit solchen Pferden zu fahren?«
Weiter konnte man nicht sprechen; der Meier hatte den Torweg erreicht, grüßte die Herren freundlich und besaß so viel Gewalt über sich, durchaus nicht verwundert auszusehen, sie so unerwartet auf Sellhausen zu treffen.
»Guten Tag, meine Herren!« sagte er, mit dem Kopfe nickend und die Peitsche beugend, fuhr aber ohne anzuhalten im kurzen Galopp durch sie hindurch, auf diese Weise seine prachtvollen Hengste im vollen Glanze zeigend.
Die Barone grüßten äußerst höflich, ja so vertraulich, stießen sich aber hinter dem Rücken des biederen Meiers mit den Ellbogen an und lächelten höhnisch, zögerten indessen keinen Augenblick, ihre Schritte nach dem Schlosse zurückzulenken, dessen Rampe die flüchtigen Hengste so eben hinaufgaloppierten.
»Na, das muß ich sagen!« rief Pilatus XXII. halb wütend. »So muß es kommen! Die ganze Welt ist verrückt geworden. So ein Bauer, solches Gefährt und solche Pferde!«
»Und die Miene des Herrn Kutschers dabei!« sprudelte Baron Haas hervor. »Sollte man nicht beinahe glauben, es käme A – Apollum selber dahergebraust?«
»Kommt rasch!« rief Baron Grotenburg. »Wir wollen nach dem Stall gehen, da werden sie eingestellt. Ich muß die Pferde in der Nähe sehen – es sind echte Vollblutrenner, ich kenne sie!«
Wenige Minuten später standen die vier Herren um die beiden mutig wiehernden Hengste, betrachteten und betasteten sie von allen Seiten, und in ihren Augen blitzte das Verlangen, auch solche Tiere zu besitzen, namentlich wenn sie sie halb geschenkt bekommen könnten.
Der Meier war zu ihnen herabgekommen und begrüßte sie noch einmal, indem er jetzt den Hut zog, was mit einem Mal viel freundlicher erwidert wurde, als wäre der Ankommende plötzlich in ihren Augen gestiegen.
»Die Hengste gefallen Ihnen?« fragte er dann den Baron Grotenburg, der unter den vier Herren die lauteste Bewunderung und Teilnahme zeigte.
»Ich bedaure bloß, daß sie nicht mir gehören,« erwiderte der Gefragte. »Wo haben Sie sie her? Seht mal diese feinen Knochen an, Kinder, und diese Hälse und diese Mähnen und Schweife, – es ist wahrhaftig eine Pracht!«
Der Meier lächelte seelenvergnügt. »Eigene Zucht, Herr Baron,« erwiderte er, »und ich habe noch zwei davon zu Hause, die diesen ganz gleich und fast nicht davon zu unterscheiden sind.«
»Was wollen Sie dafür haben?« fragte Pilatus, mehr grob als höflich.
Der Meier antwortete ihm gar nicht. Erst als Baron Haas die Frage etwas freundlicher wiederholte, lächelte er und sagte: »Ich will nichts dafür haben.«
»Wie? Was? Wollen Sie sie uns etwa schenken?«
»Sie würden sie ebensowenig von mir geschenkt nehmen als bezahlen können,« erwiderte der Meier ernst, den Hals des einen Hengstes liebevoll streichelnd.
»Wie – was meinen Sie damit?« fuhr Herr von Bökenbrink noch heftiger als vorher auf.
»Wie ich es sage, meine Herren. Sie alle vier zusammen haben nicht so viel Geld, um sie mir bezahlen zu können. Das heißt mit anderen Worten, daß sie mir gar nicht feil sind und daß ich meine selbstgezogenen Pferde nie verkaufe, da ich sie selbst am besten gebrauchen und verwerten kann.«
Damit war der Pferdehandel kurz abgebrochen. Die kluge Art und Weise des Meiers, mit den vier Herren zu sprechen, hatte eine gewisse Wirkung gehabt, und ihr Mangel an barem Gelde, dem Überflusse des Meiers daran gegenüber, ließ ihren angeborenen Stolz ein wenig zu Kreuze kriechen, wie man sagt. Alle fünf schlugen jetzt langsam den Weg nach dem Schlosse ein, blieben aber von Zeit zu Zeit im Gespräche stehen und unterhielten sich über dies und jenes. Plötzlich wandte sich der Meier zu Pilatus, sah ihn fragend an und sagte: »Nun, Herr von Bökenbrink, wie sind Sie neulich auf Ihrem Fuchswallach nach Hause gekommen?«
»Ah!« rief Baron Haas und warf dem Meier einen vertraulich scherzhaften Blick zu – »das war wohl eine schöne Geschichte, wie?«
Der Meier lachte herzlich und nickte mit dem Kopfe dazu.
»Mein Herr,« sagte Pilatus XXII. da mit drolligem Zorne, indem er seine fahlen Backen aufblies und eine womöglich noch steifere Haltung annahm, »das ist nicht zum Lachen!«
»Nun, zum Weinen doch auch nicht!« lautete die ruhig gesprochene Antwort. »Wenn es weiter keine Halsstarrigkeit und keinen bösen Willen auf der Welt gäbe, als den, den die Pferde zeigen, könnte man sehr zufrieden sein. Sie haben das sonst sehr hübsche Tier aber nachher tüchtig zusammen genommen.«
Jetzt lachten auch die Barone laut, so daß Pilatus vor Ärger sich auf die Lippen biß und wütende Blicke umherschleuderte, die jedoch kein Mensch zu bemerken schien.
»Sie sollen auch sehr schöne Hammel haben!« stichelte Baron Haas etwas boshaft, wie er immer war, wenn er sich in guter Laune befand, und stieß seine beiden Schwäger, zwischen denen er ging, mit den Ellbogen an.
»Aha!« dachte der Meier. »Nun kenne ich den Grund seines Besuches. Die hat er neulich sehen wollen. – O ja,« sagte er laut, »die Hammel sind dies Jahr gut gewachsen und tüchtig genährt schon jetzt. Meine Mitbewerber werden einen noch schwereren Stand haben, als voriges Jahr.«
Die vier Herren schwiegen wieder; was sollten sie auch ferner mit dem Bauer sprechen, der viel Geld, schöne Pferde und die dicksten Hammel besaß – doch da fiel dem Baron Grotenburg noch zu gelegener Zeit etwas Interessantes ein. »Apropos, lieber Meier,« sagte er, still stehend und den Arm des großen Mannes berührend, der ihn fast um einen Fuß überragte und mit seinem ehrlichen blauen Auge voll und fragend aufschaute, »da fällt mir ein – Sie kommen wohl öfter nach Sellhausen?«
»Ei ja, Herr Baron; warum?«
»Sie kennen also auch die Personen im Hause?« Der Meier überlegte schnell und hatte im Geiste fast schon das richtige Ziel der kommenden Frage getroffen. »Gewiß kenne ich sie, warum? frage ich noch einmal.«
»Sagen Sie mir, Bester, da habe ich vorher ein schönes – auf Ehre! ein sehr schönes Mädchen im Garten gesehen – groß – voll – blühend – dabei sanft wie eine Taube, schwarz gekleidet, in Seide –«
»Mit einem Wort,« unterbrach ihn der Meier mit ruhiger, doch wärmerer Stimme als vorher, »Sie können sich die weitere Schilderung ersparen, Herr Baron. Sie verstehen es, ein junges Mädchen kenntlich zu beschreiben, sehe ich. Diesmal hat meine Tochter die Ehre gehabt, Ihr Auge auf sich zu ziehen. Ja, meine Herren, warum blicken Sie mich alle so verwundert an? Kann ein Mensch, wie ich, der schöne Tiere im Stalle und auf der Weide hat, nicht auch eine schöne Tochter im Hause haben?«
»Aber hier ist ja nicht Ihr Haus?« warf Herr Pilatus etwas keck und fast naseweis ein. »Dies ist ja ein fremdes!«
Der Meier ließ einen lächelnden Blick auf den kleinen Mann fallen, der ihm so wenig gewogen war, und sagte: »Eigentlich, Herr von Bökenbrink, geht Sie das nichts an; da Sie es aber gern wissen zu wollen scheinen, will ich Ihnen mitteilen, daß meine Tochter zum Besuch bei ihrer Tante, meiner Cousine Treuhold, der Oberwirtschafterin des Herrn von Sellhausen ist. So, nun wissen Sie es. Und nun, meine Herren, haben wir genug geplaudert. – Sie bleiben wohl noch ein Weilchen hier draußen, ich aber habe im Hause einiges auszurichten. Auf Wiedersehen!«
Er lüftete höflich den Hut und stieg mit straffem Schritt die Rampe hinauf, um seine Cousine zu sprechen, ehe er den Legationsrat aufsuchte.
Als der Meier die vier Herren verlassen hatte und ihren Augen entschwunden war, standen sie eine Weile wie verblüfft und starrten mit seltsamen Blicken einander an. Dann wandten sie sich wieder vom Hause ab und schlugen den Weg nach der noch nicht besichtigten Hofseite ein. Das allgemeine Stillschweigen aber unterbrach der redelustige Haas zuerst, indem er, als der aufrichtigste von den drei Schwägern, das Bedürfnis empfand, seinen Empfindungen die entsprechenden Worte zu leihen.
»Es gefällt mir nicht, Grotenburg,« sagte er, »daß dein Schwiegersohn eine so genaue Bekanntschaft mit diesem Meier unterhält, und noch viel weniger, daß dessen Tochter hier im Hause lebt. Das darfst du nicht zugeben, und so sage ich: der Kerl muß fort und die Dirne hinaus!«
Baron Grotenburg nickte beifällig mit dem Kopfe, sagte aber nichts, sondern schritt, in unbehagliche Gedanken verloren, weiter zur Besichtigung der noch übrigen Ställe und Scheunen. Als sie aber damit fertig waren, kehrten sie nach dem Schlosse zurück, und auf dem Wege dahin sagte Baron Grotenburg, der durch alles, was er in Augenschein genommen, wieder etwas aufgeheitert war:
»Hm, ja! Es ist doch alles hier sehr hübsch und trefflich im stande. Der alte Knabe hat mit seinem Gelde zu wirtschaften gewußt. Wie gefällt es dir, Haas?«
»Herrlich, prächtig!« rief dieser entzückt. »Ganz deiner Meinung! Na, gratulabo mein Brüderchen! Nur noch vier lumpige Wochen, und ich nenne dich vielleicht Baron Grotenburg-Sellhausen. Haha! Dann kannst du hier machen, was du willst, einladen und hinausschicken, wen es dir beliebt. Also lustig, vergnügt, mein alter Bursche!«
»Stille, stille, lieber Haas!« erwiderte der Schwager mit bedenklicher Miene. »So weit sind wir noch nicht. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber ich fühle mich hier merkwürdig bedrückt, trotzdem ich an dem Benehmen des Legationsrates heute nicht das Geringste zu tadeln finde. Er ist höflich, aufmerksam und hat, zwar keine süßen, aber doch sehr achtungsvolle Blicke für Klotilde, was viel natürlicher und mir auch viel lieber ist. Bei alledem aber ist mir zu Mute, als ob ich hier jeden Schritt auf Glatteis täte.«
»Ei warum nicht gar,« rief Baron Haas, indem er die Rampe hinauf ging. »Du wirst immer etwas hypochondrisch, wenn es zur Hauptaktion geht, ich kenne das schon. Mir ist ganz anders zu Mute. Ich fühle mich hier merkwürdig fidel und schon ganz wie zu Hause. Haha! Das kommt vielleicht daher, daß ich den Griechen schon wittre. O, wie der schmecken soll! Doch nun kommt, jetzt wollen wir die Damen aufsuchen und sehen, mit welchen reizenden Aussichten sie sich beschäftigten.« –
Als der Meier eine halbe Stunde zuvor ins Haus getreten war, kam ihm zufällig seine Cousine entgegen, die ganz außer Atem war und übermäßig erhitzt aussah. Nachdem er sie freundlich begrüßt, betrachtete er sie aufmerksam und fragte dann heiter: »Aber was gibts denn so hastig, meine Liebe, du siehst ja aus, als ob Feuer im Hause wäre?«
»Ach, mein Gott, lieber Fritz,« erwiderte Fräulein Treuhold rasch, »es ist ja großer Besuch hier, die Barone –«
»Ich weiß, ich weiß, liebe Alte, aber das wird dich doch nicht gleich aus dem Häuschen bringen? Tu alles ganz ruhig, fertig wirst du doch, und wenn nicht, so mögen die Herrschaften sich gedulden. – Doch vor allen Dingen, wo ist Gertrud?«
»In der Küche, lieber Vetter, und das brave Mädchen hilft mir trefflich. Es ist ein wahres Glück, daß sie hier ist.«
Der Meier blickte seine Verwandte seltsam lächelnd an. »Rufe sie einmal in deine Stube, Alte,« sagte er, »und dann komm selbst mit hinein, ich habe Euch beiden etwas zu sagen.«
Fräulein Treuhold hob neugierig ihre Augen zu denen des Meiers empor. Seine Worte klangen ganz eigen, und seine Miene sah auch nicht ganz gewöhnlich, sondern fast verschlagen und dabei ungemein heiter aus. »Was gibts denn?« fragte sie hastig.
»Rufe Gertrud herbei! Ihr sollt es beide zusammen hören.«
Die Haushälterin eilte schleunigst fort, und nach wenigen Minuten trat sie mit Gertrud in ihr Zimmer, wo der Meier schon behaglich auf dem Sofa Platz genommen hatte. Als seine Tochter mit der Alten hereintrat, stand er auf und ging ihr freudig entgegen, indem er ihr die Hand hinstreckte und sie herzlich begrüßte.
»Kinder,« sagte er mit leiserer Stimme als vorher, »ich habe etwas ganz Neues für Euch. Ich wollte Euch zu Eurer Freude damit überraschen, aber nun ist der leidige Besuch gekommen, und unsere Freude ist hin. Na, dafür aber werden wir eine andere erleben, die auch nicht zu verachten ist.«
»Aber was ist es denn?« fragte Fräulein Treuholds Mund und Gertruds Auge.
Der Meier neigte sich lächelnd zu ihnen hinab und flüsterte ihnen etwas zu. Gertrud blieb ganz still dabei und nickte nur herzlich mit dem Kopfe, ihre Tante aber erschrak heftig und rief: »Wie? Heute? Ist es denn möglich?«
»Es ist sogar wahr, Liebe. Die Reise hierher wird zu Wasser gemacht und zurück mit mir zu Lande. So ist es verabredet! Aber still! Wenn ich nicht irre, geht der Tanz bald los, und ich muß dabei sein und sehen, wie sich die Komödie entwickelt. Es wird eine große allgemeine Überraschung geben, so viel ist gewiß. Wo ist der Legationsrat mit den Damen?«
»Im Garten, lieber Vater, und sie sind alle nach der Weser hinuntergestiegen.«
Der Meier lachte herzlich auf. »Haha!« sagte er, »da führt sie ihr Instinkt. Nun sage mir noch einer, daß der Mensch keine glücklichen Ahnungen haben soll! Adieu, Trude, adieu, Cousine. Wir sehen uns hoffentlich bald wieder.«
Bodo hatte wirklich mit den Damen den Gang nach den tiefer gelegenen Teilen des Gartens angetreten. Zwischen der Baronin Grotenburg und ihrer Tochter gehend, während weit hinter ihnen die Baronin Kranenberg mit ihrem Schatten wandelte, fand er sich in ein lebhaftes Gespräch verstrickt, das jedoch mehr die Mutter als die Tochter führte. Beide Damen hatten alle Ursache, mit dem Wesen und Benehmen ihres Wirtes zufrieden zu sein, denn so heiter und unbefangen gesprächig, wie er mit einem Male geworden, hatten sie ihn noch nie gesehen, und natürlich schrieben sie diesen Umstand ganz allein der angenehmen Überraschung zu, die sie ihm hatten zu teil werden lassen, und der Freude, in die ihre reizende persönliche Erscheinung ihn versetzt.
Bodo seinerseits glaubte, als man diesen Weg antrat, eine der ersten Fragen der Damen würde sich auf Gertrud beziehen, allein darin hatte er sich geirrt, obgleich sein scharfes Auge, das schon lange in ihren Herzen gelesen, alle Vorgänge darin ziemlich genau entziffert hatte. Allein bis zur lauten hörbaren Frage kam die innere Spannung und Neugierde der Damen nicht, dazu schien ihnen der Gegenstand derselben zu unwichtig, zu nichtssagend zu sein. Ein dienstbarer Geist, der Kaffee präsentiert! was war denn in ihren Augen das? Nein, nach solcher unbedeutenden Persönlichkeit zu fragen, wo es so viel Bedeutendes zu sehen, zu hören, zu belauern gab, konnte der stolzen Baronin und ihrer vielleicht noch stolzeren Tochter nicht einfallen.
So war man allmählich dem Spiegel des Flusses nahe und an eine Stelle gekommen, wo in dem kleinen Birkengehölz, welches sich bis zum Leinpfade an der Weser erstreckte, eine liebliche Kühle herrschte. Die drei Damen fanden es hier so überaus schön und frisch, und dabei »so pittoresque«, daß sie daselbst eine Weile zu rasten gedachten und, da auch hier unten an einem dunkel beschatteten Fleck einige Bänke standen, so ließ man sich ganz behaglich darauf nieder.
Die Gesellschaft mochte etwa eine kleine Stunde hier gesessen, sich an der schönen Aussicht gelabt und in ihrer Weise gemütlich geplaudert haben, als sie den festen Schritt eines Mannes den Abhang herunter kommen hörte, und als Bodo zuerst sich nach demselben umwandte, gewahrte er den Meier, der langsam herangewandelt kam und schon aus der Ferne ein lächelndes Gesicht wahrnehmen ließ, wahrscheinlich vor Freude, daß er die überall Gesuchten endlich gefunden habe.
Als auch gleich darauf die Damen einen fremden Herrn kommen sahen, blickten sie vornehm und doch etwas neugierig auf; sobald aber Herr von Sellhausen, der dem Nahenden lebhaft entgegengetreten war, ihnen denselben als den Meier zu Allerdissen vorgestellt und sich dann zu diesem selbst gewendet und gesagt hatte: »Ich freue mich herzlich, mein lieber Freund, daß Sie gekommen sind, und nun können Sie gleich an unserer neuesten Forschung teil nehmen!« – da machten die Damen erschrecklich lange Gesichter, rümpften die Nasen, ließen die erhobenen Lorgnetten, überflüssig zu näherer Betrachtung, rasch fallen und wandten sich, so weit es ging, von dem neuen Gesellschafter ab, indem sie ganz ungeniert und unzweideutig auf verschiedene Weise ihre Mißstimmung über die unliebsame Störung zu erkennen gaben.
»Was für eine Forschung treiben Sie denn hier?« fragte der Meier in höflichster Weise, wobei seine Augen scharf über den Wasserspiegel nach den südlicheren Krümmungen der Weser schauten.
»Für was halten Sie das da, was dort unten, oder vielmehr dort oben geschwommen kommt?« fragte Bodo, der das Benehmen der Damen keiner Beachtung zu würdigen schien.
Der Meier richtete sein Auge ruhig auf die angedeutete Stelle, winkte seinem Freunde verstohlen zu und sagte dann laut: »So viel ich erkennen kann, ist es ein Boot, ein ziemlich großes Boot, von vier Ruderern fortbewegt. Und in der Mitte desselben sitzt – eine Dame, die einen großen Regenschirm gegen die Sonnenstrahlen aufgespannt hat.«
»Wie? Wer? Was?« schrie plötzlich die Baronin Grotenburg auf und sprang von ihrem Sitze in die Höhe, um näher an das Ufer zu treten. »Was sagen Sie da? Sollte es möglich sein?«
»Wer mag das sein?« fragte Bodo in ruhigster Weise.
»Auch das kann ich Ihnen und zwar sehr bestimmt beantworten,« fuhr der Meier langsam zu sprechen fort, indem er die ängstlichen Ausrufungen der Baronin ganz unbeachtet ließ. »Es ist Frau Birkenfeld von der Cluus, die da mit dem Strome in vollem Sonnenschein geschwommen kommt.«
»Der grüne Pelz! Meine Tante!« rang es sich aus dem Herzen der Baronin los. »Aber wo fährt sie hin? – das ist ja eigentümlich!«
»Auch das, Frau Baronin, kann ich Ihnen sagen,« versetzte der Meier, obgleich er nicht direkt gefragt worden war. »Sie kommt hierher und hat Herrn von Sellhausen einen Besuch zugedacht. Das hat sie mir schon heute morgen sagen lassen, und ich sehe, die alte Dame hat Wort gehalten. Sie ist pünktlich in allem.«
»Großer Gott!« rief die Baronin in lebhaftester Bewegung und sich, gleichsam Hilfe suchend, nach allen vier Weltgegenden umblickend. »Wie ist das möglich! Was will sie hier – und gerade heute? Ah, das ist schrecklich, und umsomehr, da wir noch nicht bei ihr gewesen sind! Ach, wenn nur mein Mann wenigstens hier wäre!«
»Da kommt er eben mit den anderen Herren die Stufen herunter,« sagte Bodo, sich gleichgültig umdrehend und dem Meier dabei herzlich und dankbar zunickend.
Die Baronin, von Klotilde gefolgt, während die fromme Schwägerin im Schutze ihres Schattens geduldig sitzen blieb, flog ungeachtet der Hitze ihrem Gemahl wie ein Pfeil entgegen und verkündete mit vor Aufregung heiserem Stimmton die allerneueste Neuigkeit.
»Wie? Was? Der grüne Pelz?« rief Baron Haas, der sich von den drei Schwägern zuerst gefaßt hatte. »Nun, das ist eine schöne Geschichte! Gratulabo Brüderchen!« setzte er mit einem sarkastischen Blick auf Baron Grotenburg hinzu.
Dieser zitterte wie Espenlaub, wurde blässer und blässer und stand noch immer auf derselben Stelle, wo er die schreckliche Kunde vernommen. Baron Kranenberg half ihm getreulich in seiner Augst, Pilatus XXII. aber, sonst stets wie Holz, war von der neuen Überraschung starr wie Stein geworden, nur daß sein Auge, im Kreise rollend, bald den einen, bald den anderen Baron fragend anblickte.
» Eh bien!« sagte der Baron endlich seufzend, nahm seinen Hut ab und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. »Man muß sich darein fügen. Ich hatte ihr erst auf morgen meinen Besuch zugedacht, und nun kommt sie heute schon! Gott gebe, daß sie guter Laune ist, sonst kann es eine vergnügliche Szene geben! – Ah, nun weiß ich auch, warum mir heute so beklommen zu Mute gewesen ist!« setzte er in leiserem Tone, wie zu sich selbst sprechend, hinzu.
Bodo, als ob er von allem Vorstehenden nicht die geringste Notiz nähme, war unterdes wieder zu Fräulein Klotilde getreten und bemerkte mit einem unendlich gleichgültigen Gesicht, daß der Kahn schnell näher zu kommen scheine.
»Wie ein Gespenst!« röchelte Baron Haas und schneuzte sich über die Maßen. »Da – jetzt hebt sie den Schirm – wahrhaftig, sie ist es – ich sehe den grünen Pelz in der Sonne schimmern!«
*
Nicht lange darauf war der Kahn ganz nahe gekommen, die Ruderer zogen ihre Riemen ein, und bald glitt er langsam ans Ufer heran. Frau Birkenfeld – denn sie war es wirklich – hatte schon den Schirm geschlossen und schaute durch ihre blaue Brille scharf nach den am Ufer so zahlreich versammelten Leuten hin. Sie sah dabei ganz gemütlich und ruhig aus, und das kam daher, weil sie trotz der ihr zuteil werdenden Überraschung ihren Entschluß bereits gefaßt und die Richtschnur ihres Handelns sich vorgezeichnet hatte.
Sobald sie die Grotenburgs und ihren Anhang erblickt, hatte sie mit ihrem scharfen Geiste erkannt, was an diesem Tage auf Sellhausen vorging, und so lächelte sie auf eine eigene bittere Weise, als sie die Vorbereitungen gewahrte, mit denen man sie am Ufer zu empfangen sich anschickte. Die drei Barone waren nämlich allen zuvorgeeilt, standen hart am Rande des Wassers und streckten schon im Geiste die Arme aus, um die liebe Tante sicher und sanft zu empfangen und sie vorsichtig zu Lande zu heben. Bescheiden stand auf der einen Seite dieser undurchdringlichen Phalanx Bodo von Sellhausen, auf der andern, schelmisch lächelnd, der Meier, schon von weitem der alten Freundin mit seinem mächtigen Arme einen Gruß zuwinkend, in dem eine so sprechende Geberde lag, daß Frau Birkenfeld sie auf der Stelle verstand.
»Teuerste Frau Tante!« rief oder stammelte da Baron Grotenburg mit einem Gesicht, das in Entzücken getaucht schien, während sein Herz ungestüm hämmerte, »kommen Sie her, vertrauen Sie meinem Arm, – ich werde Sie glücklich zu Lande bringen.«
Da stieß der Kahn leise auf den Kies des sandigen Ufers und stand leise schwankend still. Jetzt erst erhob sich Frau Birkenfeld von ihrem Sitze, warf einen spähenden Blick über die fünf Männer hin und rief mit klarer, weithin verständlicher Stimme:
»Zurück da, meine Herren Barone, ich bedarf Ihrer nicht. Ich will nicht von Ihnen angefaßt sein. Lieber Meier – geben Sie mir Ihre Hand, und auch Sie, Herr Legationsrat – denn Sie will ich besuchen und niemanden sonst.«
Die drei Barone wichen auf der Stelle ziemlich verstört zurück, und jetzt hatte Baron Grotenburg das sichere Bewußtsein, daß seine Beklommenheit gerechtfertigt gewesen sei und daß es »eine vergnügliche Szene« geben werde, ja, daß sie jeden Augenblick beginnen könne.
Dagegen traten Bodo und der Meier nun dicht an den Kahn, boten ihre Hände und Arme dar und rasch war die kleine gebrechliche Frau von der vereinigten Kraft der beiden Männer, wo eine mehr als genügend gewesen wäre, sicher und leicht auf den Boden gesetzt.
Die Damen waren unterdes natürlich auch aufgestanden und an den äußersten Rand des Schlagschattens der Birken getreten. Hätten sie in diesem Augenblick ihre Gesichter im Spiegel gesehen, sie würden über sich selbst erschrocken gewesen sein, denn die eine sah trotz der Schminke fast so bleich wie die andere aus und Furcht, Sorge, Neid und Gott weiß welche bitteren Empfindungen machten sich, nicht allein in ihren Herzen, sondern auch auf ihren Zügen zum Sprechen deutlich bemerkbar.
Frau Birkenfeld aber, sobald sie ihren Fuß auf den Boden gesetzt und dem Waldesschatten näher getreten war, ließ ihre Blicke über die ganze Versammlung schweifen. Es lag etwas Durchbohrendes, im Geiste Triumphierendes darin, als ob sie in den Mienen und Herzen aller, die hier voller Spannung sie umstanden, zugleich lesen könne. »Ja,« sagte sie, nach allen Seiten hin mit dem kleinen Kopfe ironisch nickend und dabei bitter lächelnd, »ja, ja, meine Herren und Damen, Sie irren sich nicht. Reißen Sie Ihre Augen nicht noch weiter auf: es ist »der grüne Pelz«, der hier kommt und den Sie jetzt vor sich sehen. Schauen Sie – er hält immer noch und sitzt mollig und warm, Winter und Sommer, haha! O, ich weiß, was Sie denken, ich lese jeden Gedanken auf Ihren edlen Gesichtern. Aber bitte, bemühen Sie sich nicht weiter, gedulden Sie sich lieber, meine Herren Barone, ich werde sogleich die Ehre haben, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen. – Ah,« fuhr sie, sich in dem schattigen Gehölz umblickend, fort, »hier ist es hübsch, hier werde ich ein wenig ruhen. Und nun guten Tag, mein lieber Herr Legationsrat!«
Dabei bot sie ihm traulich die Hand und trat mit ihm auf eine der Bänke zu, wo sie sogleich Platz nahm und mit viel weniger scharfer Stimme, als womit sie vorher gesprochen, fortfuhr: »Ja, Sie wundern sich, daß ich so plötzlich komme! Nun ja, ich hatte einmal Lust, Sie und Ihr Gut zu besuchen, und da bin ich.«
Nachdem sie diese Worte zu allgemeinem Erstaunen ungewöhnlich milde und freundlich an den Herrn des Hauses gerichtet, wandte sie sich zum Meier, der lächelnd und ruhig wartend beiseite stand und sich fast eben so sehr über den seinem jungen Freunde zu Teil werdenden Empfang, wie über die verdutzten Gesichter der übrigen freute.
»Guten Tag, lieber Meier!« rief die alte Frau, hob einen Augenblick ihre Brille auf und nickte ihm vertraulich zu. »Kommen Sie her und geben Sie mir Ihre brave Hand. So. Ist auch Ihre Trude hier? Ja? Oben wohl? Nun, das ist recht, ich werde sie schon nachher sehen und sprechen. – Doch jetzt habe ich die Damen und Herren lange genug warten lassen und sie könnten es mir am Ende übelnehmen,« fügte sie mit wieder bitterer werdendem Ausdruck der Miene und schriller Stimme hinzu. Verzeihen Sie also, daß ich zuerst mit »dem Pöbel« sprach – jetzt kommen »die Herrschaften« an die Reihe!«
Mit diesen Worten wandte sie sich kühl lächelnd zu ihren Verwandten und nach der Reihe, wie dieselben sich zufällig um sie gruppiert hatten, sprach sie zu ihnen rasch und wie einstudiert folgende, allen Anwesenden wie Messerstiche ins Herz dringenden Worte:
»Ah,« begann sie, »da bist du ja, vornehme Nichte, guten Tag –«
»Liebe Tante!« wollte die Baronin zu sprechen anfangen.
»Still!« rief die Besitzerin der Cluus. »Erst sprechen die alten Leute, dann die jüngeren, so ist es Sitte bei mir. Und dann, mein Kind, nimm gleich einen Rat von mir an: Laß das liebe fort und sage bloß Tante. So wird es richtiger sein und du belastest dein Gewissen nicht. Nicht wahr, habe ich nicht recht? Nun ja – keine Umstände, unter uns, nein, keine Umstände, wir kennen uns ja! Ei, ei,« fuhr sie fort, »du siehst ja recht blühend aus – recht schöne frische Farben das! Du weißt dir eine ewige Jugend zu bewahren – das lobe ich. Und ja, deinen neuen Burnus sehe ich auch – er ist prächtig! Du hast einen freigebigen Gemahl. Ha, wer es so haben kann! – Ach, und Sie, mein Herr Neffe, verzeihen Sie, daß ich nicht gleich Baron sage, auch Sie haben sich gut konserviert und sehen ungeheuer unternehmend mit Ihrer vornehmen Miene aus. Wohl bekomme es Ihnen! – Ach, und da ist ja auch die liebe Klotilde. Ei, mein Kind, du gleichst ja einer Modepuppe auf ein Haar! Recht hübsch gedrechselt und wie eine Biene zusammengeschnürt! Aber höre, mein Kind, was dein Kleid unten zu lang, ist es oben zu kurz geraten. Pfui, wer wird alle Schönheiten, die man hat, der ganzen Welt auf einmal zeigen! Ach, und wie schön du duftest! Aber weißt du, meine Rosen duften doch noch besser und viel natürlicher. – Ah, und da haben wir ja auch die fromme Dulderin – immer noch dieselbe keusche Nonne mit dem Magdalenenauge? Guten Tag, meine Liebe! Beten Sie auch hübsch fleißig? Das ist recht, tun Sie das ja! Wenn man nicht arbeiten will, kann man die Zeit mit nichts leichter als mit gedankenlosen Worten verbringen. Haben Sie denn auch Ihren Beichtvater bei sich? Ach ja, da ist er, hinter Ihrem Nonnengewande – das ist recht, Liebe, da können Sie jeden Augenblick absolviert werden – es mag Ihnen wohl oft nötig sein, haha! – Und Sie, Herr Baron,« wandte sie sich zu dem Gemahl dieser Dame, »ich begrüße auch Sie. Sind Sie noch so geduldig wie sonst und sehen mit Ihren Karten in der Tasche durch die Finger auf alles, was die fromme Frau tut? Gewiß, na, bleiben Sie dabei, Geduld und Nachsicht sind zwei sehr christliche Tugenden! – Aber da ist ja auch Baron Haas! Mein Gott, Mann, Sie erschrecken mich fast. Ihre Nase ist noch dicker und röter geworden, seitdem Sie mir zum letzten Mal vor Augen gekommen. Sie werden am Ende noch in Brand geraten, wenn Sie nicht bald Wasser zu trinken anfangen. – Aber wer ist denn das – der kleine hölzerne Mann da? Ah, Herr Pontius der Vierundzwanzigste, nicht wahr?«
»Pardon, meine Gnädigste,« rief Herr von Bökenbrink empfindlich, » Pilatus ist mein Vorname, von Bökenbrink mein Familienname und ich bin nicht der Vierundzwanzigste, sondern erst der Zweiundzwanzigste meines Geschlechts.«
»So, so, Pilatus also, recht, recht! Und der Zweiundzwanzigste? Nun, auf einen mehr oder weniger kommt es dabei nicht an.«
»Sie nennen aber zwei mehr, meine Gnädigste!« schnarrte der jetzt vor Wut glühende und seine ganze Haltung verlierende Pilatus.
»Meinetwegen auch drei, Herr. Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen. Sie sind mir heute zu redselig – ich höre Sie lieber, wenn Sie schweigen.«
Frau Birkenfeld schwieg und holte tief Atem. Dann nahm sie die Brille ab, sah sich lächelnd im Kreise um und nickte bald diesem, bald jenem zu, als hätte sie allen die süßesten Worte gesagt.
Die Barone und ihre Damen aber standen wie niedergedonnert im Kreise um die kleine Frau, die allein saß. In ihren Herzen kochte eine unbeschreibliche Wut und ihre Mienen zerarbeiteten sich fast, um sie nicht hervortreten zu lassen, denn diese kleine Frau war für sie alle ein mächtiges Wesen, hielt Segen und Fluch in ihrer Hand, und ähnlicher Ausbrüche ihrer giftigen Laune waren sie schon zu sehr gewohnt, um sie als wirkliche Beleidigungen zu nehmen. Nur daß sie in Gegenwart des Legationsrates und des gemeinen Meiers so gedemütigt wurden, war ein Schmerz, den sie nicht verwinden konnten, und dafür gelobte ein jeder im stillen eine – leider nur sehr ohnmächtige Rache.
»Mein lieber Herr Legationsrat,« fuhr Frau Birkenfeld plötzlich fort, »nun will ich Ihnen meine Meinung sagen. Sie haben Besuch und können sich also heute wenig um mich bekümmern, und das brauchen Sie auch nicht. Lassen Sie sich also durch mich nicht stören, ich komme ein ander Mal wieder, wenn Sie allein sind. Ich wollte mir einmal das alte Sellhausen betrachten, wo ich so lange nicht gewesen bin – aber da der Meier und seine Tochter da sind, so sollen die, mit Ihrer Erlaubnis, mich umherführen. Ich will aber alles in Augenschein nehmen, das sage ich Ihnen gleich. Ich werde also einige Stunden hier bleiben. Ehe ich aber – vor dem Abendessen, meine Herrschaften, trösten Sie sich, abfahre, spreche ich Sie wohl noch. Und jetzt leben Sie wohl, meine Herrschaften! Amüsieren Sie sich und tun Sie, als ob ich für Sie gar nicht auf der Welt wäre.« –
Mit diesen Worten nickte sie rings im Kreise umher und trat dann an den Rand des Flusses, wo die Schiffer noch immer mit ihrem Boote hielten.
»Fahrt zurück, Kinder,« sagte sie zu ihnen, »ich komme zu Lande heim. Guten Abend! – Lieber Meier, darf ich um Ihren Arm bitten? Es wird freilich langsam mit mir gehen, aber mit Geduld gelangt man auch auf den höchsten Berg.«
Der Meier bot ihr zugleich den Arm, grüßte die Zurückbleibenden höflich und nun wandelte das seltsame Paar, der große Mann und die kleine Frau, langsam durch das Birkenwäldchen die Anhöhe hinauf, wo es den Augen der ihm starr Nachblickenden bald hinter den weißen Stämmen verschwand.
Die Zurückbleibenden aber standen mit gerungenen Händen, glühenden Gesichtern und wütend rollenden Augen da, warfen sich gegenseitig tödliche Blicke zu, als wollten sie übereinander herfallen und sich selbst erwürgen, da sie keinen anderen erwürgen konnten, hatten aber in der Tat nicht diese verwerfliche Absicht und suchten dadurch nur den gepreßten Gefühlen, die ihre Brust durchwühlten, einige Luft zu machen.
Die Baronin von Grotenburg war die erste, die sich wieder in Worten ausdrücken konnte, und sich zu Bodo wendend, der mit bewunderungswürdiger Ruhe dagestanden und dem »vergnüglichen Auftritt« ohne eine Miene zu verziehen beigewohnt, rief sie, ergebungsvoll nach den Wolken blickend: »Es ist himmelschreiend, Herr von Sellhausen, nicht wahr? Und das will meine Tante, die leibliche Schwester meiner Mutter sein? Nein, es ist kaum erträglich – ist es nicht?«
»Frau Baronin,« erwiderte Bodo ernst und mit unbeweglicher Miene, aber einer wunderbar weich klingenden Stimme, »es ist eine alte Frau, die mit einem Fuß im Grabe steht, die dies gesprochen. Ich hin überzeugt, sie meint es nicht so bös.«
Kaum aber waren diese wohlgemeinten Worte aus seinem Munde, so änderte sich die ganze Szene. Die drei Damen brachen in einen jämmerlichen Weinkrampf aus, worin eine die andere durch lautes Schluchzen und Keuchen befeuerte; Baron Grotenburg setzte sich wie gebrochen auf eine Bank und starrte brütend vor sich hin, als ob die Neigung, sich zu ersäufen, in ihm zum Durchbruch komme. Baron Kranenberg war zum Kaplan getreten, der betend die Hände faltete, als wolle er Trost und Hilfe bei ihm suchen; Baron Haas stieß schreckliche Flüche aus, raufte sich dabei in den starr emporstehenden Haaren und hätte, wenn er einen Stock zur Hand gehabt, vielleicht die Luft geprügelt, da er keinen andern zum Sündenbock seiner Wut machen konnte. Pilatus endlich war in Fräulein Klotildens Nähe getreten, sah ihren Schmerz mit blutendem Herzen und gelobte eine schreckliche Rache an allen Barbaren zu nehmen, die diese zarte Blume so tief beugen und knicken konnten.
Bodo allein zeigte, was ein starkes Herz und ein freier Kopf in einem solchen Momente vermag. Er blickte ruhig von einem zum andern, wartete geduldig den Nachlaß des ersten Schmerzes aller so tief Gekränkten ab und als die Tränen zu fließen aufgehört und auch die Wut und der Rachedurst der Männer sich gelegt, fragte er mit gelassener Miene, wohin die Damen nun zu gehen beabsichtigten.
»Am liebsten nach Hause!« schrie die Baronin Grotenburg auf.
»Nein,« rief Fräulein Klotilde, » den Triumph wollen wir ihr nicht gönnen! Wir sind ebensogut Herrn von Sellhausens Gäste, wie sie, und nun bleiben wir erst recht, wenn der Papa noch auf meine Wünsche hört.«
»Ich stimme dir bei, Kind« sagte Baron Grotenburg nach einer Weile. »Nein, wir dürfen uns nicht schwach zeigen, und uns noch weniger getroffen fühlen – wir bleiben also, wenn Sie uns noch behalten wollen, lieber Vetter?«
»Ich bitte darum!« erwiderte dieser höflich, und so setzte man sich in Bewegung, ohne Plan und Willen bald da, bald dorthin gehend, gleichsam nur um den Sturm sich ganz legen zu lassen, der mehr oder minder stark noch in allen Adern pulsierte.
*
Und in der Tat, dieser Sturm legte sich allmählich; sei es nun, daß er die erhabenen Gefühle dieser stolzen Herzen nicht berührt und die geheimnisvollen Tiefen der Seele dieser seltsam organisierten Personen nicht erreicht, oder sei es, daß die ungewohnte Bewegung in freier Luft, die reizende Natur um sie her und schließlich die bald freier fließende Unterhaltung die Gemüter auf wunderbar schnelle Weise besänftigt hatte. Jedenfalls trug das unbeschreiblich ruhige Wesen des Wirtes hierzu nicht das Wenigste bei. Er schien es sich angelegen sein zu lassen, die auf seinem Territorium vorgefallene Szene sobald wie möglich durch Vorführung freundlicherer Bilder zu verwischen, er war noch gesprächiger, unterhaltender geworden als vorher, leitete die Aufmerksamkeit seiner Gäste bald auf dieses, bald auf jenes hin, und so geschah es, daß sowohl die Damen wie die Herren sich im stillen das Bekenntnis ablegten: der Herr Legationsrat von Sellhausen, obgleich nicht von altem Adel, sei doch ein höchst gewandter und gefälliger Mann und es werde sich in Zukunft noch viel besser mit ihm leben lassen, wenn er nur erst den kleinen goldenen Reif am Finger trüge, der, als ein so mächtiges Symbol menschlicher Einigkeit und Zusammengehörigkeit, auch hier die alte glorreiche Familie der Grotenburgs mit der frischen der Sellhausen zu einem neuen blühenden Geschlechte verknüpfen sollte.
So war man länger herumspaziert, als man eigentlich anfangs gewollt, der Nachmittag war den Gästen wie im Fluge verstrichen und die Sonne senkte sich schon stark den Spitzen der westlichen Berge zu, als die Damen endlich einige Ermüdung zu spüren begannen und das Verlangen nach Ruhe auf verschiedene Weise bemerkbar werden ließen. Baron Haas war wieder der erste, der seinen Empfindungen darüber Luft machte und endlich seinem Wirt die naive Frage vorlegte, ob man nicht bald einige Aussicht auf eine längere Rast und eine sich daran knüpfende Herzstärkung habe.
»Ei gewiß,« erwiderte Bodo höflich, »Sie haben ja nur zu befehlen. Wenn es Ihnen gefällig ist, wollen wir nach dem Hause zurückkehren, und ich bin fest überzeugt, daß die Anstalten zu einem herzstärkenden Abendbrot getroffen sein werden.«
Über Baron Haas' dunkelrotes Gesicht flog ein freudiger Schimmer; die Aussicht auf den sorgenbrechenden Griechen war näher gerückt und das längst ersehnte Labsal eines unzweifelhaft leckeren Abendessens, nach so ungewohnten Anstrengungen und so peinvollen Erlebnissen doppelt willkommen, winkte schon mit lachender Miene ihm aus der Ferne entgegen.
Bei den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft dagegen erregte diese frohe Aussicht kein gleiches Behagen, denn die Sorge, noch einmal dem grünen Pelz zu begegnen und eine neue Auflage der eben erduldeten Demütigungen zu erleben, minderte ihren Appetit um ein bedeutendes und ließ nur in einer vorsichtigen Verzögerung ihrer Rückkehr die Abwehr einer abermaligen Niederlage erkennen.
Die Baronin Grotenburg teilte diese ihre unmaßgebliche Ansicht ihrem Gemahl mit und dieser ließ sich sogleich herbei, die Bedenklichkeit der Seinigen dem so überaus freundlichen Wirte vor Augen zu führen. Bodo indessen beruhigte sie auch darüber, indem er sagte:
»Seien Sie um die Ungestörtheit Ihres Abends ganz unbekümmert. Ich möchte dafür stehen, daß Frau Birkenfeld Ihnen nicht mehr in den Weg treten wird. Was sie hat sagen wollen, scheint sie mir vollständig ausgesprochen zu haben, und an eine Fortsetzung jener Uferszene ist nicht zu denken. Am Abendessen nimmt sie bestimmt keinen Teil, da sie stets Punkt sechs Uhr eine Kleinigkeit zu genießen pflegt, und diese Stunde ist längst vorüber. So wird sie sich, wenn ich nicht sehr irre, bereits zur Abfahrt rüsten, da sie nicht gern spät nach Hause kommt. Indessen möchte ich Sie alle auch darüber beruhigt sehen, und wenn Sie es erlauben, will ich vorangehen und ausschauen, wie die Sachen stehen. Nehmen Sie einstweilen wieder auf der obersten Terrasse Platz und erwarten Sie in aller Ruhe meine Rückkehr.«
»Sie sind ein herrlicher Mensch!« rief Baron Haas, in neues Entzücken ausbrechend. »Mehr können wir nicht verlangen – meinen Sie nicht, meine Damen? Ja, gehen und sehen Sie in Gottes Namen, ob der alte Drache noch im Neste sitzt, und sobald er davon geflogen, geben Sie uns einen Wink und Sie sollen dann nur frohe Gesichter um sich erblicken.«
Bodo grüßte die Gesellschaft höflich und erstieg rasch den letzten Abhang, um den übernommenen Auftrag nach besten Kräften auszurichten.
Im Hause oben war unterdessen alles in bester Ruhe und Ordnung vor sich gegangen. Fräulein Treuhold hatte mit Hilfe der flinken Mägde die Abendtafel in einem der schönsten Zimmer des bisher verschlossenen Stockwerks aufgeschlagen und alles dazu Gehörige in Bereitschaft setzen lassen. Frau Birkenfeld hatte sie nur wenige Minuten aufgehalten, indem sie sie freundlichst begrüßt und den Wunsch ausgesprochen, sie möge sich in ihren Geschäften durch sie in keiner Weise stören lassen. Sie wisse, was einer Wirtschafterin an einem solchen Tage obliege, und Fräulein Treuhold möge bei den verwöhnten Gästen mit ihrem Mahle Ehre einlegen, damit werde auch ihr junger Herr zufrieden sein. Sie selbst werde ungeniert mit dem Meier und Gertrud ihre Wege gehen und kein Mensch solle tun, als ob sie im Hause sei; so liebe sie es und so wolle sie es auch künftig gehalten wissen, da sie nächstens ihren Besuch zu günstigerer Zeit zu wiederholen gedenke.
Diese Mitteilung hatte der guten Treuhold, die von der für so böse gehaltenen Frau etwas ganz anderes befürchtet, neuen Mut eingeflößt und ihr ihre ganze Ruhe wiedergegeben. Die alte Frau hatte überdies einen unerwartet günstigen Eindruck auf sie gemacht und sie fühlte dadurch plötzlich alle Besorgnisse schwinden, die sie noch vor kurzem heimgesucht.
Während sie nun in der Küche und im Speisezimmer alle nötigen Anordnungen traf, war Frau Birkenfeld mit dem Meier und dessen Tochter zuerst durch den Hof gewandelt, hatte in alle Ecken und Winkel geschaut und war dann höchst befriedigt in das Haus zurückgekehrt, wo sie sich nur ein Butterbrot und ein Glas Wein ausgebeten und dann die Besichtigung des Hauses und Haushalts fortgesetzt hatte.
Auf diesem Rundgange wollen wir sie nicht begleiten; nur am Ende desselben treten wir wieder zu ihr und finden sie ganz behaglich in des Legationsrats Zimmer sitzen, das sie in genauesten Augenschein genommen und in dem sie sich von der mit seinem Inhalt vertrauteren Gertrud über vieles ihr Fremde hatte belehren lassen. Ausdrücklich hatte sie in diesem Zimmer ihren längeren Aufenthalt zu nehmen gewünscht und niemand war ihr darin entgegengetreten, da es im Interesse des Meiers selbst zu liegen schien, daß sie sich mit seines jungen Freundes nächster Umgebung bekannt und darin heimisch zu machen suche.
So finden wir sie denn jetzt auf Bodos Lehnstuhl am Tische sitzen und behaglich ihr Glas Wein leeren. Neben ihr saß der Meier und vor beiden stand Gertrud, aufmerksam und nicht ohne Spannung das Gesicht der Tante Grete beobachtend, da die Miene desselben außer einer sichtbaren inneren Befriedigung noch etwas anderes, Geheimnisvolles zu verschließen schien.
»Trude,« sagte da plötzlich die alte Frau, die jetzt wie umgewandelt erschien, Hut und Brille abgelegt hatte und in ihrem ganzen Äußern keine Spur von dem stürmischen Wesen am Nachmittag verriet, »Trude, verlaß uns jetzt, ich habe mit deinem Vater allein zu sprechen. Nachher spreche ich auch noch mit dir, dein Vater wird dich rufen, wenn es Zeit ist. Wenn ich aber mit Euch beiden fertig bin, will ich nach Hause fahren, lieber Meier, und Sie können unverweilt dazu die Anstalten treffen, sobald Sie nachher die Trude zu mir geschickt. Adieu, mein Kind, auf baldiges Wiedersehen!«
Gertrud nickte herzlich der Tante Grete und dem Vater zu und glitt sanft aus dem Zimmer, wie sie immer ging. Frau Birkenfeld schaute ihr mit fast ebenso zärtlichem Auge wie der eigene Vater nach, dann aber verfiel sie in ein kurzes Nachdenken, wobei sie den Kopf auf die Brust sinken ließ, während der Meier, voller Spannung dem nun folgenden Gespräch entgegensehend, sein klares Auge unverwandt auf dem Gesicht der rätselhaften alten Frau ruhen ließ.
Da schaute sie plötzlich aus ihrem Nachsinnen auf, nickte dem Meier fast heiter zu und sagte: »Na, lieber Meier, da sitzen wir ja ganz traulich in dem Zimmer des Legationsrats von Sellhausen und lassen es uns bei ihm wohlgefallen, nicht? Ja, ja, lieber Freund, Sie sehen, ich bin hier in ganz kurzer Zeit wie zu Hause und nun sagen Sie mir aufrichtig, wundert Sie das nicht?«
»Nein, Frau Birkenfeld,« entgegnete der Meier aufrichtig und seine breite Brust durch einen tiefen Atemzug kräftig aufschwellen machend, »das wundert mich gar nicht – ich finde es im Gegenteil, was Sie auch darüber denken mögen, ganz natürlich.«
»So, so, ganz natürlich finden Sie das! Nun, das ist es denn doch wohl nicht. Indessen wir wollen keine Silben stechen und dem natürlichen Wunderwerke einmal ganz ehrlich ins Angesicht sehen. So sagen Sie mir denn, was schließen Sie daraus, daß Sie mich hier und noch dazu in dieser guten Stimmung finden?«
Über des Meiers ehrliches Gesicht flog ein lebhafter Schimmer wahrhafter Freude, der unmittelbar aus dem Herzen zu kommen schien. »Was ich daraus schließe?« fragte er. »Nun, vor der Hand noch gar nichts, aber das können Sie mir nicht verdenken, daß ich einen großen Triumph feiere, denn ich erkenne, daß ich neulich recht hatte, als ich Ihnen sagte: Sie sollten erst sehen und dann erst wollten wir über den Mann weiter sprechen.«
»Ha! Ja, Sie hatten damals und haben auch jetzt wieder recht. Man muß seine Fehler bekennen, wenn man welche begangen hat, erst dann kann man ihnen für die Zukunft abhelfen, und ich möchte mir gern eine fehlerfreie und freudenreiche Zukunft bereiten, so kurz sie auch nur noch sein mag. So sage ich Ihnen denn: ich bin ein albernes, dummes Weib gewesen, habe mich von meinem Vorurteil leiten lassen, wie so viele sich klug und weise dünkende Menschen, und bin nur dem Drange meines blinden Hasses, nicht aber den in der Tiefe schlummernden Gefühlen des nachsichtigen und in sein Schicksal ergebenen Weibes gefolgt. Aber, mein lieber Meier,« fuhr sie mit sanfterer Stimme fort und legte ihre kleine welke Hand auf die große und kräftige Hand des Meiers, »ich habe meinen furchtbaren Irrtum zur rechten Zeit erkannt. Ach, Meier, es gab einen harten, heißen und schweren Kampf – aber er war kurz. Es lag ja alles so klar wie die Sonne am Tage, daß der Mann, den ich so haßte, derselbe, in dessen Zimmer wir hier beide sitzen, diesen Haß am wenigsten verschuldete und ebensowenig verdiente. Was kann er dafür, daß andere – gerade heraus gesagt, denn es läßt sich ja nicht vertuschen – eine Schandtat an dem Herzen eines alternden Weibes begingen, was kann er dafür, daß – doch, das ist abgemacht – lassen wir die traurige Sache für jetzt ruhen und – das ist jetzt die Hauptsache – kommen wir auf unser Geschäft zurück – das Geschäft, das Sie – damals vielleicht mit Recht und weil Sie weiter sahen als ich – so kurz von der Hand wiesen. Ich aber bin Ihnen im Sehen schnell nachgeeilt und da ich alles schnell zu tun liebe, was man tun muß, so will ich auch diesmal schnell handeln und nur Sie allein können mir darin helfen. Wollen Sie?«
Der Meier schwieg einen Augenblick, aber sah mit seinem ehrlichen Auge fest und tief in das graue Auge der alten Frau, das voller Spannung auf ihm haftete.
»Was wünschen Sie, daß ich tue?« fragte er. »Sprechen Sie deutlich.«
»So deutlich, wie es geht. Wohlan denn! Sind Sie heute geneigt, jenes Geschäft mit mir abzuschließen, um welches wir schon so lange und so oft, früher aber aus ganz anderen Gründen und in ganz anderer Absicht, gemäkelt haben?«
Der Meier hielt der alten Frau seine offene Hand hin. »Frau Birkenfeld,« sagte er mit seiner tiefen klangreichen Stimme, »fast brauche ich Sie nicht mehr zu fragen, was Sie bezwecken, denn ich kenne Sie – ja, ich kenne Sie und verstehe in Ihrem Herzen zu lesen. Aber dennoch, in so wichtigen Dingen muß man nicht nur Blicken trauen, man muß auch Worte haben. Geben Sie mir also Ihr Wort, daß Sie dies Geschäft, wenn ich es nach Ihrem Wunsche endlich abschließe, nicht zum Nachteile meines und jetzt auch Ihres jungen Freundes benutzen, dann – dann schlage ich ein und sage: Ja, ja, ja, Gott gebe seinen Segen!«
Die alte Frau zuckte bei diesen Worten zusammen. Es tat ihr weh, daß der Meier noch immer – nicht an ihr zweifelte, aber nicht unbedingt in ihren Vorschlag willigte. Doch sie bezwang sich bald, kämpfte ihr Wehgefühl nieder und indem sie ihre offene Hand in die des Meiers legte, sagte sie: »Ja, ich gebe mein Wort – aber nun spreche ich keine Silbe mehr darüber.«
»Gut,« versetzte der Meier, »dann bin ich entschlossen, das Geschäft abzuschließen. Wann?«
Über das runzlige Gesicht der Frau Birkenfeld flog ein Blitzstrahl warmer Freude. »Brav!« sagte sie, »so wollte ich es haben. Morgen nicht, morgen will ich mich von den Anstrengungen des heutigen Tages ausruhen, denn ich werde heute abend, wenn ich nach Hause komme, sehr müde sein. Übermorgen, um zehn Uhr aber wollen wir uns bei Backhaus in B... treffen, mit ihm eine Konferenz halten und dann ist die ganze Geschichte bald abgemacht. Wollen Sie das?«
»Ja, ich will es.«
Frau Birkenfeld klatschte vor Freuden in die Hände. »Das ist schön, das ist schön,« rief sie frohlockend. »Ja, Meier, nun kann ich jemanden einen Streich spielen, wenn die Not drängen sollte, und geben Sie acht, sie wird drängen. Und jetzt fürchte ich mich nicht einmal vor jenem Testamente mehr, das man am ersten August eröffnen wird. Hahaha! Ja, die Not wird bald genug drängen, denn umsonst sind diese Grotenburgs mit ihrer Sippschaft heute nicht hier. Oder hat sie etwa der Legationsrat zu sich eingeladen?« fragte sie mit einem wetterleuchtenden Blick.
»Nein, nein doch, er hat nicht daran gedacht,« entgegnete der Meier. »Sie sind von selbst gekommen, und wie ich das Ding ansehe, nehmen sie schon im voraus mit den gierigen Augen und den noch gierigeren Herzen Besitz von dem, was ihnen zufallen wird, zufallen muß, wenn – Sie nicht helfen. Und das werden Sie, nach dem Empfang zu urteilen, den Sie ihnen heute zuteil werden ließen. Der Tausend, liebe Freundin, das war ein wenig hart. Ich bin ein starker Mann, aber mir hat doch das Herz in der Brust dabei gezittert und der Legationsrat hat sich mit Mühe bewältigt, ich habe es ihm angemerkt.«
»Ha ja! Aber er hat es wacker überstanden und das läßt mich mein Vertrauen ganz auf ihn setzen. Aber Sie sagen, es wäre hart gewesen? Nicht doch, Mann. Sie wollen milde sagen.«
»Nun, nun, die Milde mag ich auf mich nicht angewendet wissen.«
»Auf Sie! Was ist das für ein Vergleich! Nein, nein, ich bin wahrhaftig noch milde zu Werke gegangen. O, machen Sie doch Ihre Augen auf. Sind Sie denn so ganz blind für das, was in den Herzen dieser Leute vorgeht? Sehen Sie denn die Dämonen nicht, die in ihrer Seele schlafen und aus den Falten ihrer Lippen, ihrer Augen, ihres ganzen Gesichts hervorblitzen? Ha! Geben Sie diesen Dämonen Raum und Macht, so stürzen sie hervor, wüten dämonisch und treten uns, alle, die redlich gearbeitet und redlich verdient haben, zu Boden – mit ihren Füßen. Mann! Denn Hände haben Sie für uns nicht, nur Füße, und noch dazu mit Sporen bewaffnet. Darum, ja darum müssen sie gedemütigt werden, wo es geht, jeder muß gegen sie die Hand aufheben, der es kann, und ich kann es, ich habe die Mittel, die Kraft und den Willen dazu, und umsomehr habe ich auch das Recht, da diese Brut sich zu den Meinigen zählt, wofür mich der liebe Gott einst nicht verantwortlich machen kann, denn mit meinem Willen und auf meinen Wunsch sind sie es nicht geworden. Doch still davon. Noch kämpfen wir nicht mit ihnen, das kommt erst noch – jetzt spielen wir bloß. – Nun sind wir fertig, Meier, nicht wahr?«
»Ja, wir sind fertig!« sagte dieser und stand auf.
»So ist es gut und ich danke Ihnen. Nun gehen Sie und rufen mir die Trude. Mit der habe ich auch noch ein ernstes Wort in meiner Eigenschaft als Pate zu reden.«
Der Meier reichte ihr die Hand und entfernte sich. Die alte Frau stand leicht von ihrem Stuhle auf, trat ans Fenster und schaute hinaus. Sie freute sich offenbar über den ihr zuteil werdenden schönen Anblick, hielt sich aber nicht lange dabei auf, sondern lauschte nach allen Seiten in den Garten hinab. Sie bemerkte aber noch niemanden darin, denn Bodo befand sich mit seinen Gästen in diesem Augenblick noch in den tiefer gelegenen Teilen des Parkes. Da ging die Tür leise hinter ihr auf und Gertruds hohe Gestalt wurde wieder sichtbar.
Frau Birkenfeld wandte sich augenblicklich um, betrachtete das schöne Mädchen mit freudestrahlenden Augen und sagte: »Nun, Trude, da bist du ja, so, jetzt wollen wir eine Sitzung halten. Komm, Kind, da, setz dich dahin, da kann ich am besten in deinen Augen und in deiner Seele lesen, denn Gottes warmes Licht muß hineinfallen, wenn das schönste Buch der Welt offen vor uns liegen soll. So. Jetzt aber, mein Kind, antworte mir kurz und bündig, und vor allen Dingen habe Vertrauen zu mir. Zuerst aber will ich einen Wunsch aussprechen. Tritt heute nicht mehr mit den Leuten dort in Berührung. Von ihnen kannst du nichts lernen. Sie müssen immer meilenweit von dir entfernt bleiben – jetzt und auch künftig. Nun aber will ich fragen. Sage mir also kurz, du bist jetzt über fünf Wochen hier im Hause, nicht wahr?«
Gertrud schlug die großen dunkelblauen Augen voll gegen die Sprechende auf und antwortete kurz und rasch: »Ja, Tante Grete!«
»Gut. Wie hat es dir hier gefallen in dieser Zeit?«
»Sehr gut, liebe Tante, und ich habe viel gelernt.«
»So? Recht viel wohl? Du Närrin, das kannst du alle Tage und überall lernen, was du hier gelernt.«
Gertrud senkte die Augen einen Moment zur Erde, erhob sie aber sogleich wieder und sagte: »Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.«
»So. Na, das wollen wir einmal etwas näher betrachten. Du bist deiner Tante Treuhold wohl recht viel zur Hand gegangen, wie?«
»Soviel in meinen Kräften stand.«
»Gut. Sprich immer so kurz, ich bin damit zufrieden, und wir kommen um so schneller zum Zweck. Hast du sonst noch etwas anderes gelernt?«
Über Gertruds rosige Wangen ergoß sich eine warme purpurne Glut. Ihr Herz pochte stürmisch und die Gedanken oder Empfindungen desselben quollen ihr in so reicher Fülle zu, daß sie sie mit kurzen Worten nicht aussprechen konnte. Sie nickte daher bloß bejahend mit dem Kopfe.
»Oho! Ich will keinen Nickkopf haben, ich will Worte hören. Aber ich will dir helfen. Hast du von dem Legationsrat auch etwas gelernt?«
»Ja, Tante!« lautete die kurze, ehrlich gesprochene Antwort.
»Na, das ist gut, du bist offen. Das liebe ich. Ich will auch nicht tiefer in dich dringen und fragen, was du gelernt hast, denn das ist allein deine Sache – aber sage mir einmal ebenso offen: hat sich dieser Mann, ich meine den Legationsrat – anständig gegen dich benommen?«
Gertruds rasch pulsierendes Blut wich aus ihrem glühenden Gesicht nach dem Herzen zurück, sie wurde bleich.
»Ah, du erschrickst – er hat sich nicht anständig benommen?« fragte Frau Birkenfeld mit einem Blick, der Flammen zu sprühen schien.
»Tante Grete,« klang es tief aus der Brust des holden Mädchens hervor, »davon kann gar keine Rede sein. Ich erschrak wirklich, aber nur über deine sonderbare Frage. Herr von Sellhausen –«
»Still! Nenne ihn nicht so, nenne ihn, wie ich – Legationsrat. Das ist er wahr und gewiß. Aber was willst du mir von ihm sagen?«
»Der Legationsrat,« fuhr Gertrud mit leichtem Beben ihrer aufatmenden Brust fort, »hat sich gegen mich wie ein Mann benommen –«
»Nun, fahre fort – wie ein Mann?«
»Der – der – o, liebe Tante, sieh mich nicht so durchdringend an, du nimmst mir allen Mut.«
»Wie, Kind, sitzt dein Mut nicht fester?«
»O ja, er sitzt fest, aber mich schüchtert dein Blick ein.«
»Na, das soll er nicht. Sieh so – ich blicke dich gar nicht an. Nun sprich. Wie hat sich der Legationsrat gegen dich benommen?«
»Wie ein wackrer, braver, rechtschaffner Mann von ausgezeichneter Bildung, von Charakter und Gemüt, dem ich meine ganze Achtung schenken muß.«
»Na, das war doch ein Wort. Also Achtung! Gut. Wie gefällt er dir sonst?«
Gertrud bebte zusammen. Ihre Augen senkten sich wieder, aber ihr Busen hob sich doch.
»Ich wünsche eine Antwort!« sagte Frau Birkenfeld ungewöhnlich sanft.
»Ich habe mir darüber noch keine Rechenschaft abgelegt!« versetzte Gertrud ebenso.
»Na!« rief die alte Frau, »das ist auch ein Wort und ein vernünftiges. Es ist gut, wenn sich junge Mädchen, wie du, nicht so bald Rechenschaft über den Eindruck ablegen, den ein Mann, wie der Legationsrat, auf sie gemacht hat. Aber da wir doch einmal von ihm sprechen, so muß ich dir sagen, daß er ein – ein gefährlicher Mann für junge, schöne und auch brave Mädchen ist.«
Gertrud hob ihr Auge schnell und fast vorwurfsvoll wieder empor. »Gefährlich?« fragte sie naiv. »Wie meinst du das?«
»Nun, ich meine nur, weil ähnliche Männer so leicht – die Achtung dieser jungen Mädchen erwerben. Doch zur Sache. Du weißt doch, daß er diese – diese Klotilde heiraten soll, wie?«
»Ja, ich weiß es, liebe Tante.«
»Ah, du sagst das mit einem gewissen Ton, der mich überzeugt, daß du damit nicht ganz einverstanden bist. Wie?«
»Davon habe ich mir auch noch keine Rechenschaft abgelegt,« sagte Gertrud zögernd.
»Wie? Du sagst das und mir? Das ist nicht wahr, Trude.«
Gertrud senkte wieder das Auge, aber sie atmete schneller und fast gewaltsam auf.
»Sprich wahr!« rief die kleine Frau heftig. »Ich will deine Meinung darüber hören.«
»Nun denn,« sagte Gertrud fest, »ich teile die Meinung meines Vaters in diesem Punkt.«
»Ach so, das ist etwas anderes. Nun sind wir einverstanden und weiter will ich fürs erste nichts von dir hören. Ich habe genug gehört und – gesehen. Ich sehe rasch. Jetzt will ich dir aber noch etwas sagen. Sieh, mein Kind, es war eigentlich meine Absicht, dich mit mir heute nach der Cluus zu nehmen, aber ich habe mich, seitdem ich hier Umschau gehalten und seitdem du ehrlich mit mir gesprochen und versichert, daß du dem Legationsrat deine Achtung schenken kannst, anders besonnen. Du sollst also hier bleiben.«
Über Gertruds Antlitz zuckte wieder ein Freudenstrahl, ein fast unsichtbarer und rasch wie ein Blitz vorüberfahrend, aber Frau Birkenfelds scharfes Auge hatte ihn doch wahrgenommen. »Ja, du sollst hier bleiben,« fuhr sie liebevoll fort, »aber ich habe eine Bitte an dich.«
»O sprich, liebe Tante,« bat Gertrud warm, »ich will sie dir gern erfüllen.«
»Willst du? Das ist gut. Aber es ist eine närrische Bitte, das heißt, sie erscheint dir vielleicht so.«
»Sprich sie dreist aus, ich erfülle sie gewiß.«
Frau Birkenfeld lächelte herzlich. »Nun gut,« sagte sie langsam, »ich will mich kurz fassen. Du sollst mein Spion hier im Hause sein.«
»Dein Spion? Wie meinst du das?«
»Mit einem Wort, du sollst deine Augen scharf aufmachen und alles sehen, was vorgeht. Zum Beispiel in bezug auf die Grotenburgs – wie oft sie kommen – wie oft der Legationsrat zu ihnen geht und was sonst vorfällt.«
Jetzt lächelte Gertrud.
»Ich verstehe deine Miene,« fuhr die Alte schlau fort. »Du meinst, das tust du schon von selbst und es wird dir nicht schwer. Das glaube ich, denn du bist, was du auch sonst bist, ein Frauenzimmer. Haha! Aber du sollst nicht allein deine Augen aufmachen und damit sehen, sondern du sollst mir auch berichten was du siehst.«
»Mündlich?« fragte Gertrud, wieder tiefer errötend.
»Mündlich auch, wenn es geht, sonst aber schriftlich. Und wenn es drängt, mußt du mir, wann es auch sei, gleich einen sicheren Boten mit deinem Briefe senden.«
Getrud legte die heiße Stirn in die kleine weiche Hand und besann sich.
»Hast du ein Bedenken?« fragte die alte Frau scharf. »Das brauchst du nicht. Ich werde dir nichts Verfängliches aufbürden. Was du mir sagst, sagst du mir allein und ich, denke ich, kann ja wohl deine Beichte entgegennehmen, da ich dein Vertrauen besitze. Sieh, mein Kind, ich will dir auch den Kommentar liefern. Ich meine es mit dem Legationsrat gut und habe das eben mit deinem Vater besprochen. Er sitzt, du weißt es, in einer argen Klemme. Ich möchte ihm helfen. Ich kann aber nur helfen, wenn ich von allem Kenntnis erhalte, was hier vielleicht vorgeht.«
»Ich will es dir schreiben!« sagte Gertrud rasch.
Frau Birkenfelds Gesicht zeigte einen triumphierenden Ausdruck. Sie nickte beifällig. »Aha,« sagte sie, »ich sehe, du tust es gern.«
»Sehr gern, Tante Grete!«
»So bin ich auch mit dir fertig. Doch nein, noch eins. Komm 'mal her!«
Gertrud stand auf und stellte sich mit ihrem schönen Körper dicht an die alte Frau. Diese umschlang ihre feine Taille, drückte sie liebevoll an sich und flüsterte ihr in leisen Tönen einige Worte zu.
Gertrud blickte erstaunt auf und sah die alte Frau fragend an. »Darf ich das, Tante?« fragte sie, indem eine glühende Röte ihre Wangen färbte.
»Wenn ich es dir zumute oder vielmehr dich damit beauftrage, gewiß. Und du mußt es tun, mir zu Liebe. Mein Herz hängt daran.«
»Dann tue ich es!« sagte Gertrud mit einem tiefen Seufzer.
»Ja, tue es – vielleicht geht es morgen schon. Sage geradezu, du willst nach der Stadt fahren, du hättest eine Besorgung – und dann führe meinen Wunsch aus. Du kannst ja die Treuhold mitnehmen. Einen Tag wird er ja wohl ohne euch leben können!«
»Darf ich denn Tante Treuhold sagen, zu welchem Zweck wir nach der Stadt fahren?«
»Ohne alles Bedenken, aber sie muß schweigen.«
»Dafür bürge ich.«
»Dann komm her und küsse mich. So. Und jetzt wollen wir hinuntergehen, ich will fort.« –
Als die beiden Frauen vor die Haustür traten, stand der Meier mit seiner schönen Equipage, zur Abfahrt bereit, schon vor der Tür. Ebenso die Treuhold. In demselben Augenblick kam der Legationsrat vom Garten herein und sah mit Verwunderung, was vorging.
»Wie,« rief er, »wollen Sie schon fort?«
»Mein lieber Herr Legationsrat,« sagte die alte Dame ihm rasch entgegentretend, »machen Sie kein Aufhebens davon. Ja, ich will fort. Mein heutiger Besuch war nur der erste und der zweite soll bald zu gelegener Zeit nachfolgen. Kommen Sie auch bald zu mir?«
»Von Herzen gern. Ich bin vollkommen Herr meiner Zeit und meines Willens.«
»Das ist gut. Und nun leben Sie wohl. Amüsieren Sie sich recht mit Ihren lieben Gästen und sagen Sie ihnen: die Luft hier oben sei rein, nun könnten sie frei aufatmen, der grüne Pelz, der alte Drache, sei über alle Berge. Haha! Das wird ihnen besser schmecken als die schönen Gerichte, die die Treuhold bereitet hat und die ich schon, dank meiner guten Nase, bis hierher errate. Haha! Da, geben Sie mir Ihre Hand – auf Wiedersehen!«
»Und Sie haben mich entschuldigt?« fragte Bodo, indem er sie nach dem Wagen geleitete.
»O, kein Wort darüber. Das versteht sich zwischen Freunden von selbst. Adieu, Fräulein Treuhold. Adieu, Trude. Adieu, Herr Legationsrat!«
Sie saß schon im Fond. Der Meier küßte rasch seine Tochter, drückte Bodo und der Treuhold die Hand und mit einem verständlichen Winke nach dem Garten hin stieg er ein, neben der alten Dame Platz nehmend, während der Kutscher diesmal fuhr. Eine Sekunde später galoppierten die prächtigen Hengste die Rampe hinunter und bald darauf hatten sie das Tor hinter sich gelassen, um im feurigen Lauf die Chaussee zu erreichen und von da in gestrecktem Trabe ihrem noch weiten Ziele zuzustreben.
*
Die lange ersehnte Stunde der Erquickung, der Ruhe und der so notwendigen Herzstärkung für die halbverhungerten und durch andere Leiden stark mitgenommenen Gäste hatte endlich geschlagen: der Legationsrat war, nachdem er nur flüchtig mit Fräulein Treuhold einige Worte gewechselt, in den Garten zurückgekehrt, hatte das oft so magisch wirkende Wort: »die Luft ist rein!« wie er dazu den Auftrag erhalten, und »die Tafel erwartet die Gäste!« gesprochen und damit einen so allgemeinen Beifallssturm erregt, daß alle kurz vorher abgespannten Gesichter jetzt vor Freude glänzten und Baron Haas dem Berichterstatter beinahe um den Hals gefallen wäre.
Der Wirt bot nun der Baronin Grotenburg den Arm, der Gemahl derselben der frommen Schwägerin; so ward Fräulein Klotilde glücklich frei und Herr von Bökenbrink schoß wie ein Pfeil auf seine zarte Blume los, um sie den beiden vorangehenden Paaren nach in das gastliche Haus zu führen. Baron Haas seinerseits faßte nun sein Brüderchen Ambrosius unter den Arm und folgte mehr springend als gehend den anderen, während der arme Kaplan Kattengold freundlos und verlassen seinen Weg allein suchte, der aber dafür auch einst direkt in den Himmel führen mußte, in welchen der übrige große Haufe nach langen Irrfahrten erst durch das läuternde Fegefeuer eingelassen wird – worüber er, beiläufig gesagt, die untrüglichsten Beweise – sich ausgedacht hatte.
Im zweiten Stockwerk des Hauses hatte man unterdes, da der Abend schon sichtbar hereingebrochen war, die Rouleaux niedergelassen und eine Menge Lampen und Lichter angezündet; so fanden die in das Speisezimmer Tretenden dasselbe gefällig erleuchtet und auch ihre lüstern spähenden Augen wurden durch die zierliche Anordnung der Tafel, die vielen Teller und Gläser – und, o Wunder! durch silberne Messer und Gabeln – namentlich aber durch eine reichliche Anzahl verschieden gestalteter Flaschen beglückt, wobei wiederum Baron Haas der eifrigste war, die schon lange im Traum erblickte Flasche des wunderbaren Griechen ausfindig zu machen, was ihm indessen, trotz seiner zunehmenden Begier danach, nicht gelingen wollte, da derselbe wirklich nicht auf der Tafel vorhanden war.
In derselben Reihenfolge, wie man gekommen, nahm man auf die Einladung des Wirtes Platz und so kam Bodo zufällig zwischen Mutter und Tochter zu sitzen, was Pilatus XXII., der seine Angebetete für sich allein zu behalten die kühne Hoffnung gehegt hatte, ein grimmiges Leid verursachte. Als die Herrschaften aber die Stühle eingenommen, die »anständigerweise« drei Fuß breit auseinander standen, kam Fräulein Treuhold, mit einem höchst zierlichen Knix nach allen Seiten hin, herein und nahm dann ihren Platz am Büffet, obgleich ihr ein Couvert an der Tafel vorbehalten blieb, welches zu beanspruchen sie jedoch, weniger aus Bescheidenheit als wegen ihrer vielen Geschäfte, Anstand nahm. Auf dem Fuße hinter ihr traten dann Rieke und, um mit Baron Haas' Ausdruck zu reden, noch eine andere »vollbusige und mit weißer Küchenschürze« bekleidete Magd herein, die erste Bouillon in Tassen, und die zweite geröstete Semmelschnittchen tragend und mit meisterhaft einstudiertem Geschick herumreichend, was sogar die Baronin Grotenburg, zum Beweise ihrer vollen Zufriedenheit, mit beifälligem Lächeln anerkannte.
Doch der Leser erwarte nicht die Speisekarte dieses improvisierten Nachtessens zu erfahren. Ein solches Unternehmen liegt nicht in unserer Absicht und haben wir nur noch einiges andere bei Tische Vorgehende zu berichten, obgleich wir zugestehen müssen, daß die Schüsseln in reicher Zahl und untadliger Fülle anlangten und daß sich namentlich die blauen Forellen bei ihrem unerwarteten Erscheinen eines allgemeinen Willkommenrufes und des lebhaftesten Beifalls der feinschmeckerischen Zungen erfreuten.
Was den Appetit der Gäste betrifft, so langten sie gleich von Anfang an sehr eifrig zu und verzehrten namentlich die heiße kräftige Brühe mit einer Hast, die das wahrhafte Bedürfnis nach einer materiellen Stärkung verriet. Der erste, der sie unbeschadet seiner verbrennbaren Mundteile fast gierig niederschluckte, war Baron Haas, und als er gleich hinterher, wahrscheinlich um die allzu erhitzte Zunge wieder abzukühlen, ein Glas sehr guten Rheinweins und zur Gesellschaft desselben noch ein zweites hinuntergestürzt, lehnte er sich in seinen Stuhl zurück, klopfte behaglich auf seinen runden Bauch und sagte, vor Befriedigung laut stöhnend und seinem Vis-à-vis, dem stillen Ambrosius zunickend:
»Ah, nun wird man wieder Mensch! Eine solche Rennbahn mit Hindernissen wie heute habe ich lange nicht durchlaufen!«
Es ist wunderbar, wie ein wohlbesetzter Tisch oft gleichsam elektrisch auf eben noch tief niedergedrückte Gemüter wirkt. In den zierlich servierten Speisen und besonders in den eleganten Gläsern und Flaschen liegt eine, Kummer und Sorgen bezwingende Allgewalt, so daß schon halb im Geiste gesättigt und beglückt ist, wer sich mit hungrigem Magen an einen so trostreich bestellten Tisch setzt. Auch hier war diese elektrisch wirkende Gewalt vorhanden. Alle, Damen und Herren, wurden gleich von Anfang, gewissermaßen vom ersten Überblick an sehr munter, und wenn einer unter ihnen fast ganz still blieb, so war es Baron Grotenburg, dem der Kummer noch zu tief im Herzen saß und der noch nicht klar genug auf den Grund der Zukunft blicken konnte, die den Leichtfertigeren und nur mit ihren leiblichen Bedürfnissen Beschäftigten doch für den Augenblick ziemlich hell zu leuchten schien.
Das bewies vor allen Baron Haas. Diesen Mann essen zu sehen, war allein schon ein Genuß. Er aß nicht nur mit dem Munde, den Lippen, Zähnen, der Zunge und dem Gaumen, die er sämtlich, eins nach dem andern, hörbare Bewegungen, gleichsam unwillkürliche Freudensprünge ausführen ließ, sondern sein ganzer Mensch nahm daran teil, vor allem seine zitternden Hände, seine Schultern, sein Hals, die er nach allen Seiten drehte und wendete, mit denen er zuckte, wie etwa ein Fisch sich mit allen Gelenken zappelnd über die Oberfläche des Wassers schnellt, wenn er so recht wohlig, lustig und seelenvergnügt, also mitten in seinem Elemente ist.
»Es schmeckt mir prächtig bei Ihnen,« rief er einmal über den Tisch seinem ihm lächelnd zuschauenden Wirte zu und hob, zum Trinken einladend, das Glas gegen ihn auf, »und ich empfinde einen wahren Jubel von Freude, daß ich Sie endlich auch einmal trinken sehe. Ich hatte mir schon gedacht, Sie könnten nur Wasser schlucken. Aber Sie haben vortrefflichen Winkler-Haasensprung! Ha, der Wein ist wie für mich gemacht und sogar getauft, denn er trägt beinahe meinen Namen und springt, um seine Blutsverwandtschaft vollständig zu machen, wie von selbst in meinen Magen. Aber eins, mein lieber Vetter, fehlt mir doch auf Ihrem Tische. Hoho! Sie kommen mir nicht davon los. Kosten muß ich ihn wenigstens. Mein Schwager da hat mir so viel Wunderdinge von ihm erzählt, daß ich zum ersten Mal – nun ja, Ihr braucht nicht zu lachen – das erste Mal in meinem Leben neidisch geworden bin.«
Baron Grotenburg warf ihm einen warnenden Blick zu, indem er mit Zagen auf seine ihren Schwager mit den Augen bewachende Frau deutete.
»Welchen Wein meinen Sie und was für Wunderdinge hat er denn bewirkt?« fragte Bodo ruhig lachend, obschon er die verständliche Anspielung sehr wohl begriffen hatte.
»Ei, wen denn anders, als den feurigen Griechen?! Und was für Wunderdinge er bewirkt hat? Nun, er hat ja meinen Schwager geköpft, der doch sonst ein ziemlich hartes Genick hat – halb so wie ich wenigstens, und da hat er neulich Dinge mit nach Hause gebracht, die –«
»Haas!« rief die Baronin Grotenburg ängstlich, »ich bitte dich dringend, zu schweigen!«
»Dann muß ich wieder trinken!« sagte der unverbesserliche Haas, »denn still halten kann ich einmal meinen losen Mund nicht.«
Und er trank überaus rasch und wie ein Mann, der befürchtet, der vorhandene Vorrat könne plötzlich ein Ende nehmen, und er müsse sich daher beeilen, die ihm zugehörige Portion niederzuschlucken.
»So, so,« sagte der Wirt in seiner stillen Weise. »Ah, Sie meinen den Wein aus Cypern, den mir ein Freund gesandt. Ja, ja, aber das ist ein schwerer Frühstückswein.«
»Schwer? Was heißt schwer? Was man nicht heben kann oder was zu heben einem Mühe macht. Nicht wahr? Gut! Lassen Sie mich einmal versuchen, was ich leisten kann und wie schwer er ist. Ich bin zwar nicht Bacchus selbst, aber doch gewiß eines seiner Lieblingskinder und habe schon manchen schweren Oxhoft im Leben bezwungen. Und Frühstückswein, sagen Sie? Was heißt Frühstück? Pah! Das ist ja nur so ein Nennwort – Sub – Substancium , glaube ich, sagt der Lateiner. Nun, so nennen wir dies Abendbrot Frühstück, und dann paßt er hierher, wie für mich alles zur guten Stunde paßt, und dies ist eine sehr gute Stunde!«
Bodo winkte Fräulein Treuhold herbei und gab ihr den Auftrag, einige Flaschen von dem betreffenden Wein holen zu lassen. Baron Haas, welcher begriff, was vorging, beeilte sich, mit der zweiten Flasche seines halben Namensvetters zu Ende zu kommen, und beinahe hatte er sie bezwungen, da wurde schon an ihre Stelle eine fremdartig aussehende, dicke und kurzhalsige Bouteille gesetzt, deren Erscheinen mit einem allgemeinen und erwartungsvollen Schweigen begrüßt ward. Baron Haas aber betrachtete sie mit glitzernden Augen und schnalzender Zunge von allen Seiten wie ein merkwürdiges Wundertier, das ihm noch nie vor Augen gekommen. Dann hob er sie auf, hielt sie gegen ein Licht, und mit den Worten: »So. Kosten will ich ihn!« zog er mit bebenden Händen ein Messer mit einem Korkzieher aus der Tasche, entkorkte die Flasche selbst und goß dann mit verwunderungsvoll aufgerissenen Augen die ölige dunkelgelbe Flüssigkeit in ein prächtiges Kristallglas. Nachdem er dann den goldfarbigen Inhalt abermals bei Lichte betrachtet und das Glas hin und her gewendet, setzte er es mit bedeutsamen Mienen an die Lippen, und als er davon genippt, legte er den Kopf hintenüber, kniff die kleinen Augen wie ein tief Nachdenkender oder in Wollust Versunkener zu und ließ mittels der schlürfenden Lippen ein lang gedehntes Tremulo ertönen, was gar kein Ende nehmen wollte. Endlich aber, wie aus einem verzückten Traume erwachend, öffnete er die Augen wieder, schnalzte laut und rief, wie galvanisiert emporfahrend:
»Tausend Donner Element! Das ist ein wahrer Göttertrank – Nectar und Ambrosius nennt man ihn. Aber damit bist du nicht gemeint, Brüderchen, nein, das hängt auf keine Weise mit dir zusammen. Vetter von Sellhausen, ja, Sie sind mein Mann, und dieser Wein ist mein Wein!« Und indem er den Rest seines Rheinweins verächtlich beiseite schob, fuhr er fort: »Da, weg mit dem Namensvetter, ich danke für ihn, und von jetzt an bekenne ich mich zur griechisch-katholischen Religion. – Ah, um Verzeihung, Herr Kaplan, ich dachte nicht daran, daß Sie auch hier sind. Na, es tut nichts, aber wo es solchen Wein gibt, bin ich alles, was man will, und ich würde sogar vor dem Heidentum nicht zittern. Haha!« Und er trank mit raschem Zug das erste volle Glas leer und goß sich gleich darauf das zweite ein.
Auf diese Weise bestritt der kleine Mann fast allein die Kosten der Unterhaltung, und nur im stillen und in abgebrochenen Sätzen sprachen die benachbarten Tischgäste von Zeit zu Zeit miteinander.
»Willst du nicht auch ein Glas Cy – Cyprian trinken?« fragte Baron Haas seinen Schwager Grotenburg plötzlich.
Dieser schüttelte hypochondrisch den Kopf. »Nein, nein,« sagte er, »ich nicht. Aber laß meiner Frau eine Probe davon zukommen – ich gäbe was darum, wenn sie seine Wirkung an sich selbst kennen lernte.«
Auf diesen so laut ausgesprochenen Wunsch bekamen die Damen alle ein halbes Glas voll, zum geheimen Entsetzen des Kolkhofer Barons, der den edlen Stoff für vergeudet hielt, wenn ihn keine kennerische Zunge schmeckte. Der Wirt indessen, der diese Qual bemerkte, tröstete ihn mit einigen freundlichen Worten und erklärte seinen Vorrat davon für noch reichlich genug, was er auch durch die Tat bewies, indem er sogleich noch einige Flaschen herbeischaffen ließ.
Auch auf die Damen äußerte dieser eben so lieblich schmeckende wie rasch berauschende Wein eine ungemein belebende Wirkung. Ihre Blicke wurden allgemach feuriger, ihr Gespräch lauter, ihr Lachen kräftiger, und es dauerte nicht lange, so hatte der Grieche seine Schuldigkeit erfüllt, mit Ausnahme derer, die ihn nicht gekostet, wozu allein Baron Grotenburg, Bodo und der Kaplan gehörte, welcher letztere ein zu guter römischer Katholik war, um auf irgend eine Weise mit den Griechen anzubinden. –
Es ging allmählich gegen das Ende der Tafel, wenigstens hatte man schon den Käse hinter sich, da erhob sich der nach und nach völlig enthusiasmierte Baron Haas, um, wie es seine allbekannte Gewohnheit war, einen heiteren Toast auszubringen. Ohne sich an die von den Grotenburgs kommenden Winke zu kehren und allein seinem inneren Triebe folgend, der ihn das früher besprochene Ziel fest im Auge behalten ließ, sprach er mit bisweilen stockender Stimme und dabei bald auf den einen bald auf den andern Fuß tretend, was ihn in eine Art wiegender Bewegung versetzte:
»Meine Herren und Damen! Oder nein, meine Damen und Herren! Nun, es ist ganz einerlei, einer muß doch der erste sein und Adam ist ja auch vor der Eva geboren – wollt' ich sagen – geschaffen. Doch – doch, nun ja, ich stehe hier in echter griechischer Begeisterung, obgleich ich kein De – Da – Damokles – nun, wie hieß denn die Canaille, der Redner, der bei Philippi siegte? He? Na, einerlei, wie er hieß. Also ich stehe hier in wahrer griechischer Begeisterung und bringe unsern Dank und den Wunsch ewigen Wohlergehens für unsern – unsern Wirt aus. Er lebe hoch! Aber still, bleibt noch sitzen, ich bin noch nicht fertig. Mit unserm Dank aber, lieber Vetter, verbinden wir alle, vor allen meine reizende kleine Nichte, Klotilde da, eine untertänigste Bitte.«
Alle sahen ihn bei diesen Worten verwundert und fast ängstlich an. Bodos Miene wurde ernster als vorher und er richtete sich stolz auf. Der Redner aber, der nur eine Kunstpause gemacht, nickte beschwichtigend seinem Bruder Herz zu, als wollte er sagen: »Paß auf, nun kommt's! Du wirst mich begreifen und kennen lernen.« Dann fuhr er laut fort:
»Am 30. Juli ist bei uns ein großer Feiertag, der größte Feiertag des ganzen Jahres in unsrer – nicht Kirche, sondern Küche. – O, um Entschuldigung, Herr Kaplan, ich hatte Sie schon wieder vergessen – rücken Sie doch etwas vor, Mann, damit man Sie sieht. So. Ja. Wo war ich denn? Ach ja! Also wir feiern da den zweiundzwanzigsten Geburtstag –«
»O, o!« schrieen alle Damen zugleich.
»Na, was wollt Ihr denn?« fuhr der Redner unerschüttert fort. »Man muß doch die Wahrheit sprechen – in vino veritus! sagt der Lateiner. Zu diesem ihrem Geburtstage ladet sie, laden wir alle unsern teuren lieben Wirt und Vetter nach der herrlichen Grotenburg ein, und wenn er jetzt sein Wort als Edelmann gibt, daß er kommen will, dann erkenne ich ihn für meinesgleichen, ich, Haas von Haasencamp vom Ko – Kolkhof – und verspreche ihm – verspreche ihm – seid doch ein wenig ruhig, Kinder – daß er sich ennuyieren – wollt' ich sagen, amüsieren soll. – So wahr ich lebe,« setzte er leiser hinzu, »der Grieche ist stark, Herr von Sellhausen! Mein Schwager hat recht – mir wackeln die Kniee!«
Er setzte sich, jedoch so schwer, daß der Stuhl unter ihm krachte. Alle aber sahen erwartungsvoll Bodo an, der ruhig und nachdenklich da saß und sich eben ein Glas Rheinwein eingoß. Dann stand er auf, hob sein Glas und sagte mit freundlicher Miene und sanftem Tone: »Ich danke für die Gefälligkeit meiner geehrten Gäste und für die gütige Einladung. Ich nehme sie an und – –«
»Weiter nichts, weiter nichts!« schrie Haas überlaut und schnellte sich wieder empor. »Weiter wollen wir ja nichts – Sie kommen und – nun gesegnete Mahlzeit, meine lieben Brüderchen!«
Er verließ seinen Platz, taumelte auf Baron Grotenburg zu, der ebenfalls wie alle übrigen aufgestanden war, und schmatzte ihn ab, oder vielmehr wischte sein schwitzendes Gesicht an ihm ab, wobei er ihm zuraunte: »Na, wer ist denn nun der Klügste von uns? Wer versteht es, den Hund aus dem Ofen zu locken, he?«
Man ging jetzt um den Tisch herum und tauschte, wie es so Gebrauch ist, die »gesegnete Mahlzeit« aus. Die Baronin Grotenburg reichte Bodo die Hand, in der Hoffnung, er werde die »schwiegermütterliche Hand« küssen, aber darin täuschte sie sich. Bodo war kein Freund von dergleichen Anstandszärtlichkeiten, und so mußte die erhabene Frau ohne Handkuß von ihm scheiden, was ihr wieder einen bitteren Stich versetzte.
Alle Gäste rüsteten sich nun mehr oder minder rasch zum Abschiede, nur Haas dachte noch nicht daran, aufzubrechen, denn die Nachsitzung sollte, seiner Meinung nach, erst angehen, als plötzlich der Jäger des Barons Grotenburg in der Tür erschien und verständlich rief: »Es ist angespannt, Herr Baron, die Equipagen sind vorgefahren!«
»Angespannt? Aber wer hat denn das befohlen, dummer Kerl?« rief Baron Haas verblüfft.
»Der Herr Baron hat gesagt: Punkt halb zehn Uhr soll gefahren werden, und so viel ist es jetzt!« versetzte der Jäger mit untertäniger Verbeugung.
»Ah, ah, dann gebt mir noch ein Glas griechischen Wein!« rief der nimmersatte Baron. »Ich muß noch von ihm Abschied nehmen!« Er holte sich das Glas selbst, bis an den Rand gefüllt, wackelte dabei hin und her, und da ihm gerade der unglückliche Kaplan in den Weg kam, rief er stammelnd: »Gute Nacht, Herr Katten – Kattengold! Ich trinke auf das Wohl Ihrer allein selig –«
Da stieß ihn Baron Grotenburg heftig an. »Sein kein Esel!« raunte er ihm ziemlich verständlich zu. »Du bist selbst selig, und der Wein spricht aus dir – aber lauter Unsinn!«
Mit diesen Worten ihn fest am Arme greifend, schleppte er ihn halb mit Gewalt fort, aus Furcht, das echt verkupferte Brüderchen werde noch den bisher so herrlich verlaufenen Abend durch irgend einen vorlauten Witz verderben, was in der Tat nur zu möglich war.
Zehn Minuten später waren die Damen in ihre Mantillen und Tücher gehüllt, und die Abschiedszeremonien begannen. Bodo hatte sich schon den Damen empfohlen und stand bei den Herren.
»Ich habe Ihr Wort,« sagte Baron Grotenburg zu ihm, »am dreißigsten Juli kommen Sie. Es ist ein einfaches Abendessen, und die Stunde kennen Sie.«
»Ich werde mein Wort halten!« erwiderte der Legationsrat mit seiner gewöhnlichen Ruhe.
»Aber Sie werden doch noch vorher einmal die Grotenburg besuchen?«
»Ganz gewiß. So leben Sie denn wohl!«
Endlich war man nach vielen hin und wieder ausgerufenen Worten, Grüßen und Danksagungen vor die Tür gekommen und nach und nach in die hintereinander vorgefahrenen Wagen geklettert, was einige Mühe machte, da die widerspenstigen Kleider der Damen schwieriger auf ihre engen Plätze zu zwängen waren, als die Personen selber. Endlich aber war es mit vereinigter Hilfe aller Anwesenden gelungen, und da die reitenden Lakaien schon im Sattel saßen und in der vorgeschriebenen Reihe abtrabten, so ward die Rampe allmählich leer. Als Baron Haas aber erst saß, was auch einige Hilfe nötig machte, brüllte er laut:
»Vorwärts, Fritze! Donnerwetter, das war ein Tag – ein Allerseelentag! Um Entschuldigung, Herr Kaplan da vorn, ich habe Sie schon wieder vergessen. Hurrah, es lebe der Grieche Cyprian!«
»Gute Nacht, gute Nacht!« erklang es dann noch im Baß und Diskant, dann folgte wiederholtes Peitschengeknall, Hundegebell, und die ganze Gesellschaft, Rosse, Wagen und Menschen, verschwand wie eine Phantasmagorie, die sich nur dadurch von andern Phantasmagorien unterschied, daß denen, welchen sie zu teil wurde, das heißt den Zurückbleibenden, nicht allein die Augen geblendet wurden, sondern auch die Ohren gellten, was allerdings keine Sinnestäuschung, sondern ein ganz natürlicher Vorgang war, den sich jedermann mit leichter Mühe erklären konnte.