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Buchschmuck

Drittes Kapitel.
Bruder und Schwester.

Durch den dreistündigen Besuch, das viele Sprechen und die Gemütsbewegungen, welche die eben beendigte Unterhaltung hervorgerufen hatte, fühlte sich Karoline, als sie nun wieder allein in ihrem Zimmer war, bei weitem mehr angegriffen, als sie sich anfangs selbst eingestehen mochte, und so folgte sie einem natürlichen Bedürfnis und legte sich auf ihr Sofa, nicht sowohl um zu ruhen, wie sie sich vorredete, als um so gemächlicher über einzelne Punkte in der beklagenswerten Lage Eddas ihren Eltern gegenüber nachzudenken, die ihr in der Schilderung derselben besonders aufgefallen. Allein, so inniges Mitleid sie auch mit dem Schicksal des lieben Mädchens empfand, das persönliche Interesse, welches der zweite Teil der Unterhaltung in ihr geweckt, überwog jenes Gefühl der Teilnahme an einem fremden Geschick um ein Bedeutendes, und Karolinens Gemüt war von ihren eigenen Erlebnissen zu tief bewegt, als daß sie sich zuletzt und gar den traurigen Erinnerungen hingegeben hätte, die Edda durch ihre lebhaften Fragen aus dem Schlummer zu wecken verstanden hatte. Da war es denn sehr natürlich, daß Karoline mit ihren Gedanken wieder ihre Jugendzeit zurückkehrte und daß ihr Herz noch einmal von den bitteren Empfindungen gepackt wurde, die in ihrer Brust nur tief geschlummert hatten, nie aber ganz daraus vertrieben werden konnten. Alle Gestalten, die jene längst entschwundene Zeit belebt, traten jetzt plötzlich, wie zu neuem Leben erwacht, vor ihre Seele, und der alte Schmerz ward aufgetischt, die alten vernarbten Wunden öffneten sich wieder und bluteten in langsam rinnenden Tropfen nach, deren jedem in ihrem Auge eine heiße Träne folgte, bis diese endlich so reichlich flossen, daß sie notwendig eine Erleichterung für das bedrückte Herz herbeiführen mußten.

Als sie aber, nach einer halben Stunde stillen Weinens, den alten Frieden allmählich wieder in ihr Herz einziehen fühlte, wurde sie, noch immer auf dem Sofa liegend, von ihrem Bruder überrascht, der früher als sie vermutet, von der Wengern-Alp zurückgekehrt und so still vor das Haus geritten war, daß Karoline, die sonst so aufmerksam seiner Ankunft entgegensah, nichts davon gemerkt hatte.

Doktor Marssen, der mit seinem gewöhnlichen ernstheiteren Gesicht in das Zimmer trat, ward von dem unerwarteten Anblick, der sich ihm hier bot, sichtbar betroffen. Im ersten Moment dachte er, Karoline befinde sich unwohl, aber dem entsprach doch ihre selten getragene Kleidung nicht, und als sie sich nun bei seinem Eintritt rasch aufrichtete, ihm mit offenen Armen entgegeneilte und, wieder in leises Weinen ausbrechend, an sein Herz sank, da sagte ihm eine innere Stimme, daß keine körperliche Krankheit, wohl aber ein geistiges Leid die Schwester in seiner Abwesenheit heimgesucht habe.

»Karoline,« redete er sie mit seiner ermutigenden Stimme an, als sie eine Weile an seiner Brust geruht und dann, seiner leitenden Hand folgend, sich neben ihn auf das Sofa gesetzt hatte, »was sehe ich! Ich komme so munter und froh zurück, froh, daß ich wieder bei dir bin, und finde dich in Tränen! Warum das? Was ist vorgefallen? Sprich und laß mich nicht länger in Unruhe darüber.«

Karoline trocknete sich Augen und Wangen und sah dabei ihren Bruder mit wehmütigem Lächeln an, der fast schon erraten hatte, was ihr einmal wieder in die Gedanken gekommen war. »Verzeih,« sagte sie sanft, »daß ich dich so empfange, aber es lag wahrhaftig nicht in meiner Absicht, und ich bin nur durch einen Zufall dazu veranlaßt worden. Habe Geduld, ich will dir ja mitteilen, was mir begegnet ist, aber ich muß mich erst sammeln, es schwirrt mir alles im Kopfe herum, und ich weiß nicht, wo ich den Anfang und das Ende finden soll.«

»So beruhige dich erst ganz,« versetzte der treufeste Bruder mit teilnahmvoller Miene, »ich habe Geduld genug und an Zeit und gutem Willen fehlt es mir auch nicht.«

»Ich weiß es, ich weiß es, und nun kann ich dir wenigstens den Grund meiner Tränen angeben. Ich bin einmal wieder in Schleswig und ein Mädchen von zwanzig Jahren gewesen.«

Doktor Marssen schüttelte, leise vor sich hin murmelnd, den Kopf. »O, o,« sagte er, »ich dachte schon, dir wäre ein neues Unheil begegnet. Also das ist es und weiter nichts? O, laß doch das alte schlafen, Schwester, die Toten erweckt kein Gott zum Leben – auf dieser Welt wenigstens nicht. Aber wer oder was hat denn deine Gedanken wieder nach Schleswig und in deine Jugend zurückgelenkt? Wer es auch gewesen sein mag, es war nicht freundlich von ihm.«

»O doch, o doch, Leo, höre mich nur erst an. Ich habe heute nachmittag einen langen und angenehmen Besuch gehabt, aber was er mir brachte, hatte ich allerdings nicht erwartet. Auch wirst du nicht erraten, welcher – welcher Nation derselbe angehörte.«

Doktor Marssen hob seinen Kopf in die Höhe und sein scharfblickendes Auge drückte die gespannte Aufmerksamkeit aus, mit der er ihren weiteren Eröffnungen entgegensah. »Welcher Nation?« sagte er, äußerlich zwar ruhig, aber doch mit etwas stärkerer Bewegung seines Herzens. »Du machst mich neugierig. Sprich!«

Karoline sah ihn erst forschend an, senkte dann den Blick vor seinem scharfen Auge und sagte, indem sie ihre Hand auf seinen Arm legte: »Es war eine Dänin aus Kopenhagen.«

»Wie,« rief ihr Bruder, »eine Dänin aus Kopenhagen? Das ist ja seltsam. Wie hängt denn das zusammen? Wer war es?«

Karoline wollte eben weitläufiger zu erzählen beginnen, da führte die natürliche Ideenverbindung ihre Gedanken plötzlich auf Franz zurück. »Ach Gott!« rief sie, »der arme Junge, der Franz, den habe ich ganz vergessen, und nun sitzt er noch immer in seinem Atelier und erwartet mich, da ich ihn selbst daraus abzurufen versprochen habe.«

»Laß ihn warten!« sagte Doktor Marssen ernst, der solche unwillkürlichen Absprünge, wie er eben einen vernahm, nicht leiden mochte und ein Gespräch immer gern in einer Richtung bis zum Ziele verfolgte. »Erst sage mir, was du mich wissen lassen willst, und dann gehe zu Franz, wenn du mit ihm zu tun hast. Ich bitte um die Fortsetzung deiner ersten Mitteilung.«

»Ja, ja doch, Leo, aber Franz steht ja damit in inniger Verbindung.« Und nun erzählte sie dem aufmerksam zuhörenden Bruder, was ihr Franz an diesem Morgen vom Balle berichtet, ohne jedoch seiner Herzensbeichte Erwähnung zu tun, wozu sie den rechten Moment noch nicht gekommen glaubte. So wußte denn der Doktor sehr bald, was der Senator seinem Sohne auf dem Ball enthüllt hatte, und nun wurden ihm plötzlich vielerlei Anspielungen klar, die er selbst aus dem Munde des ersteren vernommen, die er sich aber bis dahin in keiner Weise hatte deuten können.

So ruhig Doktor Marssens Gemüt und so fest seine Entschlossenheit war, er wurde dennoch durch diese unerwartete Mitteilung seiner Schwester einigermaßen bewegt. Allein bald hatte er wieder seine ganze Ruhe erlangt, und so sagte er:

»Also so hat sich das Inkognito der schönen Schottin und Reisegefährtin enthüllt! Mag sein, aber mir will die Art und Weise dieser Enthüllung ebensowenig wie der Ort, wo sie geschah, nicht ganz gefallen, der Senator hätte dem armen Jungen nicht sein Vergnügen stören sollen. Denn es hat ihn doch gewiß stutzig gemacht, nicht wahr?«

»O und wie! Das kannst du dir denken. Er war ganz außer sich, mehr unsertwegen als seiner selbst willen, da er sich ja sagen mußte, daß uns nun sein Verkehr mit jener Dame möglicherweise nicht ganz angenehm sein dürfte.«

Doktor Marssen dachte längere Zeit schweigend nach. »O,« versetzte er endlich, »was das betrifft, Karoline, so darf man nicht voreilig sein und am wenigsten ein vielleicht sehr ungerechtes Vorurteil gegen diese Leute oder gar gegen dieses junge Mädchen fassen. Nein, nein, das dürfen wir nicht,« fuhr er fort, als er Karolinen freundlich und zufrieden lächeln sah, während sie mit dem Kopfe dabei nickte. »Es ist allerdings nicht angenehm, daß wir dadurch an unsere ein für alle Mal überwundene Vergangenheit erinnert werden, aber gegen die junge Dame hast du dich doch dadurch nicht einnehmen lassen, die dir ja so wohl gefiel, nicht wahr?«

»O ganz gewiß nicht, lieber Leo, und sie war ja gerade heute nachmittag hier und legte mir offen und ehrlich ihre traurige persönliche Lage dar, indem sie Trost bei mir suchte, den sie bei ihrer geistesschwachen Mutter nicht finden kann –«

»Du hast ihr doch den Trost gegeben?«

»Ganz gewiß, und da kamen wir eben auf meine Vergangenheit zu sprechen. Sie fragte bald nach diesem, bald nach jenem, und endlich tauschte ich ihr Vertrauen mit dem meinen aus, und da hast du den ganzen Grund der Aufregung, in der du mich vorher fandest.«

»So, so. Also das ist es gewesen! Merkwürdig, was immer vorfällt, wenn man nicht zu Hause ist! Was erzählte dir denn diese Edda von ihrem Vater?«'

»Sie sprach sich nicht ganz klar darüber aus, obgleich sie seine kritische Lage zugestand. Wenn ich aber Franzens Mitteilungen damit zusammenhalte, so ist er auf einer geheimen Mission begriffen, die dazu dienen soll, hier und überall Sympathien für Dänemark zu erwecken und –«

Doktor Marssen ließ sie nicht aussprechen, denn er lachte laut, was bei ihm eine seltene Erscheinung war.

»Haha! Die Toren und Blinden in Kopenhagen,« rief er, »was bilden die sich nicht alles zu vermögen ein! Ja freilich, die Herren Dänen können Quellen in der Wüste nach Gutdünken ersprießen lassen und gewappnete Heerscharen vom Himmel herunterholen! Aber in der Schweiz durch einen Mann, wie Franz ihn uns geschildert, der so hochmütig wie stumm und so kalt wie spröde ist, Sympathien für den Danebrog wecken zu wollen, das ist zu lächerlich. Haha! Karoline, nimm es mir nicht übel, daß ich dich auslache, aber ich kann nicht anders.«

»Du hast mich nicht richtig verstanden, oder ich habe mich vielleicht auch nicht richtig ausgedrückt,« entgegnete Karoline mit Eifer. »So, wie du es aufnimmst, habe ich es nicht gemeint. Nicht die Schweizer selber soll er für Dänemark gewinnen, sondern nur auf der Reise durch die Schweiz und während seines Aufenthaltes daselbst mit einflußreichen Männern aus aller Welt zusammentreffen. Und diese soll er sondieren und vielleicht für ein Ziel gewinnen, das man in Kopenhagen jetzt verfolgt.«

Doktor Marssens Gesicht nahm einen ernsteren Ausdruck an, und er seufzte laut. »Ach ja,« sagte er, »ich weiß das schon lange, Liebe, aber es wird nicht gelingen. Ich habe über diese Dinge bisher noch nicht mit dir gesprochen, denn du kümmerst dich ja um die leidige Politik nicht sonderlich, was ich auch billigen muß. Aber da einmal die Rede darauf kommt, so will ich dir sagen, was ich in den Zeitungen gelesen und vom Senator Dannecker und von anderen einsichtsvollen Männern gehört habe. Friedrich VII. von Dänemark, vom Kopenhagener Pöbel und dessen überweisen Stimmführern gedrängt, von seiner nächsten Umgebung, die Dänemark für das einzige vom Himmel gefallene und von Gott beschützte Land hält, beherrscht und aus einer Klemme in die andere, aus einer fanatischen Leidenschaft in die andere getrieben, hat in seinem rauschartigen Übermut beschlossen, eine Verfassung vom Stapel laufen zu lassen, durch welche Schleswig ein für allemal in das dänische Reich einverleibt werden soll. Daß diese Gewalttat, die eben alle Rechte und Gesetze Schleswigs umstößt, nicht gutwillig von dem Lande, von dem deutschen Volke und den deutschen Fürsten hingenommen werden wird, wissen die Herren da oben recht gut und daher fürchten sie sich und treffen alle möglichen Vorkehrungen, die Stimmung in Deutschland zu sänftigen und den übrigen Ländern Europas Dänemarks tugendhafte Genügsamkeit vor Augen zu führen, vor allen Dingen aber jene Gewalttat als ein überaus gnädiges und sanftes Beruhigungsmittel für das ganze Reich erscheinen zu lassen. So hat man denn wirklich Männer nach allen Orten der Welt ausgeschickt, die nicht allein jenes dänische Evangelium predigen, sondern auch horchen sollen, was die Welt darüber denkt, und die bei günstiger Gelegenheit unter der Hand ein goldenes Gewicht in die Wagschale zu legen angewiesen sind, wenn sie sich nicht schnell genug zu Dänemarks Gunsten senkt. Aber, meine Liebe, ich will dir vorhersagen, was geschieht, denn das leuchtet dem einfachsten Menschenverstand schon im Voraus ein. Mögen diese klugen und reichbegabten Abgesandten horchen und spionieren, auf die Presse wirken und Sympathien erregen, so viel sie wollen, der Zweck, um dessen willen das alles geschieht, wird nie und nimmer erreicht werden. Jene in der Luft schwebende Verfassung, die Schleswig Dänemark einverleiben, das heißt, die geborene Deutsche zu Dänen machen soll, wird nie eine Wahrheit werden und aus der Luft wie eine flüchtige Seifenblase auf die Erde fallen und zerplatzen. Dänemark hat sich diesmal in dem deutschen Geist und Willen verrechnet. Die Jahre 1848 und 49 werden ein Kinderspiel sein gegen das, was kommt; ganz Deutschland wird sich erheben, und Dänemark wird zu spät einsehen, daß es einen Kampf heraufbeschworen, dem es nicht gewachsen ist, trotz aller Sympathien der Welt, und daß es die Schmach, die es anderen bereiten will, allein hinunterwürgen muß.«

Doktor Marssen, der selbst fühlte, daß er warm geworden war, hielt plötzlich im Reden inne und lächelte seine Schwester mit unendlich freundlicher Miene an. »Doch sieh,« fuhr er ruhiger redend fort, »wohin wir da mit einem Male gekommen sind! Wir politisieren, Schwester, und das liegt uns doch beiden sehr fern. Ja, mag Dänemark tun, was es will und für ersprießlich hält, was haben wir damit zu schaffen? Was geht uns die Politik der ganzen Welt an? Über diesen häklichen Berg voller Klippen und Abgründe sind wir lange gestiegen und leben in Ruhe und Frieden im Bödeli, nicht wahr? Ja freilich – doch nun sage mir, was hat das alles mit unserm Franz zu tun? Hat jener Mann etwa auch die Absicht gehabt, in unsers Jungen Brust den Samen seiner dänischen Sympathien zu pflanzen und ihn für den Danebrog zu begeistern, indem er ihn von der Hand seiner schönen Tochter schwingen läßt?«

Karoline wurde bei diesen Worten feuerrot und wandte ihr Gesicht von dem des Bruders ab. Plötzlich aber richtete sie es wieder zu ihm hin, und mit ihrer Hand die seine ergreifend, sagte sie mit ihrer sanftesten und eindringlichsten Stimme: »O, lieber Leo, mische doch nichts Scherzhaftes mit Ernstem. Es liegt wirklich etwas Wahres in deinen Worten, obgleich von dänischen Sympathien bei Franz gar keine Rede sein kann.«

»Nun, nun,« versetzte der Doktor, da sie tief aufatmend schwieg, »sprich dich nur aus – es ist also wirklich etwas Ernsthaftes im Werke?«

»O Leo, guter Leo, merkst da denn das nicht?« rief Karoline aus, »du hast mir immer nicht glauben wollen, als ich dir sagte: mit dem Herzen unsers Jungen sei es nicht richtig, das Bild auf der Staffelei sei in seiner Brust lebendig geworden, und sein ganzes Leben habe dadurch eine andere Gestaltung und Färbung angenommen. Das hast du mir bisher nicht geglaubt und bist mit meiner Ansicht der Dinge wie ein triumphierender Sieger umgegangen. Aber nun, was ist jetzt geschehen? Da kommt er heute morgen nach dem Balle selbst zu mir – er wäre auch zu dir gekommen, wenn du hier gewesen wärst – und gesteht mir mit edlem Freimut ein, was ich vorausgesehen habe. Ja, er liebt, Leo, nicht blos ein wenig aus Laune, zur Unterhaltung – nein, mit seinem ganzen, vollen, warmen Herzen, die Tochter dieses dänischen Missionärs; die Sonne der Liebe ist in seinem Innern aufgegangen und hat einen großen Brand angefacht, den du nun löschen magst mit deiner väterlichen Autorität, denn ich, ich kann es nicht mehr, und, aufrichtig, ich habe auch gar keine Lust dazu, denn dieses Mädchen, diese Edda, gefällt mir über alle Maßen, sie hat sich mich meines ganzen Herzens bemächtigt, und wenn du – ja, wenn du dagegen Einspruch erhebst, aus Gott weiß welchen Gründen, ich kann es nicht, wahrhaftig, ich kann es nicht, denn dieses Mädchen ist seiner Liebe wert, und wenn eins auf dieser Welt für ihn geschaffen ist, so ist es dieses und kein anderes.«

Doktor Marssen war schon lange vom Sofa aufgestanden und ging, den Kopf tief auf die Brust gesenkt, die Arme davor gekreuzt, langsam im Zimmer auf und nieder. In seiner Brust gärte, in seiner Seele flutete es, aber sein Kopf war dabei klar, und sein nur einen Augenblick trübes Auge belebte sich rasch mit neuem Glanz, bis endlich auch seine Lippen sich öffneten und er zu sich selbst sprach, als wolle er einen in ihm tobenden Zwiespalt niederwerfen, den zu besiegen der ehrliche Mann immer Kraft und Mut in sich fühlte:

»Es geht seltsam, höchst seltsam in der Welt her,« sagte er, »wer kann es leugnen, der aufmerksam die menschlichen Erlebnisse erwägt und sie von ihrem Ursprung bis zu ihrem Ende verfolgt. Immer und überall dreht und bewegt sich alles, alles, großes und kleines, in einem ewigen Kreislauf, und wir kommen am Ende unserer Tage immer wieder auf Dinge und Gegenstände zurück, mit denen wir uns in unserer Jugend am meisten beschäftigt haben. Ich verlasse Dänemark, kehre ihm den Rücken, um es nie wiederzusehen, nie wieder mit jenen beutelustigen und ränkesüchtigen Männern zu verkehren – und hier, in meinem letzten Asyl, meinem friedlichen Hause, in meinem einzigen Sohn verfolgt mich der böse Feind meines Vaterlandes, um mit mir ein neues und unverhofftes Bündnis zu schließen. Das ist seltsam, Karoline, seltsam, fürwahr! und es begreife den inneren, unerklärlichen Zusammenhang, wer kann! – Nein, Liebe!« wandte er sich plötzlich mit ruhigerer Miene und wie aus einem tiefen Traume aufwachend, zu seiner Schwester, »angenehm ist es nicht, daß mein einziger Sohn eine so verhängnisvolle Neigung zu einer Tochter jenes auch uns so verhängnisvoll gewordenen Landes hegt, aber für ein Unglück – ein wirkliches Unglück, Karoline, kann ich es nicht halten, ebenso wenig, wie ich mich gedrungen fühle und den Mut besitze, diese Neigung zu verdammen und den Wünschen meines Sohnes mit gebieterischer Stirn feindlich entgegenzutreten. Nein – in einem solchen Verhängnis überlasse ich der Vorsehung, ihre Rolle zu spielen – ich, ich bin nur ein schwacher Mensch und begreife ihr rätselhaftes Walten nicht.«

Er schwieg wieder und ging mit langsamen Schritten weiter, nachdem er einen Augenblick stillgestanden hatte, während Karoline ihn mit haarscharfen Blicken beobachtete und sich schon im stillen des Triumphes ihres Lieblings freute, den sie nicht mehr in so weiter Ferne wie vorher zu erkennen glaubte.

»Karoline,« fing der Bruder nach einer Weile wieder zu reden an, »wer weiß, zu welchen Zwecken die Vorsehung da oben ihre Fäden spinnt und was sie mit ihren geheimnisvollen Bündnissen und Feindschaften beabsichtigt! Wenn zwei Menschen durch einen Herzensbund glücklich werden, dann ist es einerlei, ob der eine ein Deutscher und die andere eine Dänin ist, nicht wahr? Mir gilt das wenigstens ganz gleich. Und da dein Urteil über jenes junge Mädchen so günstig lautet, so fühle ich mich umsomehr beruhigt und weiß eigentlich nicht, warum mir das Herz so klopft und was mich abhält, geradezu zu sagen: Franz, ich gratuliere dir, mein Junge! Sieh, wie du mit dem Vater deiner Auserwählten fertig wirst! Aber eben, es ist etwas in mir, was mich noch nicht zur Freude, noch nicht ganz zur Ruhe kommen läßt. Vielleicht ist es das, daß ich überrascht bin, denn es ist mir das alles sehr schnell gekommen. Nun, mag es sein, was es will. Ist diese Liebe sein Ernst, so mag er sein Heil bei und mit ihr versuchen; entsteht Glück daraus, so soll es mir gleich sein, ob das junge Herz, welches es ihm bringt, aus dem Lande meiner Feinde stammt. Mag er sich also über die Hindernisse, die ihm drohen, hinweghelfen, er ist Mann genug dazu. Vor der Hand mische ich mich in nichts ein. Ich hatte mir zwar vorgenommen, schon neulich, als ich ihn schlafend in seinem Malerzimmer fand, mit ihm über jene Leute zu reden, aber nun werde ich es unterlassen. Wenn er das Bedürfnis fühlt, meine Meinung zu hören, so mag er kommen, und ich werde mich finden lassen.«

»Ach, lieber Leo,« nahm Karoline wieder ihre Rede auf, deren Herz jetzt laut vor Freude und süßer Hoffnung schlug, »das Bedürfnis, mit dir zu reden, hat er schon, das ist gewiß, aber er ist sich nur noch nicht vollkommen klar, es ist immer noch etwas vorhanden, was ihm den Mund verschließt.«

»Aber was ist denn das? So nenne es doch, wenn du es weißt!« fuhr Doktor Marssen fast heftig auf, dessen Seele in allen Dingen nach der lautersten Klarheit strebte.

»Ruhig, mein Freund, ruhig! Wie kann ich wissen, was ihm gegen dich den Mund verschließt – aber Mangel an Vertrauen ist es gewiß nicht.«

»Um so besser, wenn er Vertrauen zu mir hat, dann mag er nur kommen. Aber du hast recht, Karoline, man muß dabei ruhig sein. Hast und Eile führt nicht immer zum Ziel. Wer weiß, was ihm die Lippen gebunden hat. Soll er vielleicht kommen und mir winselnd seine Liebe klagen? Nein, das wäre mir selbst nicht recht und würde meinem Sohn in meinen Augen nicht zum Vorteil gereichen. Ha, da fällt mir ein – ja, das wird das wahre, das Rechte sein – er wird seine Liebe der Dame seines Herzens noch nicht erklärt und sie wird sie ihm also auch noch nicht gestanden haben – das ist es, und so wird er erst kommen, wenn er mit sich und ihr im Reinen ist. Ja, ja! – Doch nun genug davon! Das war eine unerwartete Unterhaltung, Karoline. Und doch muß sie mir nicht schädlich gewesen sein,« setzte er mit einem heiteren Lächeln hinzu, »denn, nimm es mir nicht übel, wenn ich dich aus deinen Himmeln reiße, – ich habe einen verteufelt irdischen Hunger und Durst. Laß anrichten, Schwester und Hausfrau, ich habe heute nur gefrühstückt und sehne mich nach etwas Kräftigem und Wohlschmeckendem.«

»Du wirst dich doch noch gedulden müssen,« sagte da Karoline ernst, die sich nicht so leicht in den heiteren Übergang des Bruders finden konnte. »Länger kann ich den armen Jungen in seinem Häuschen nicht warten lassen. Ich muß endlich zu ihm gehen und ihm Rechenschaft ablegen, was hier vorgefallen ist.«

»Wie, du willst ihm doch nicht sagen, was wir eben über ihn gesprochen haben?«

»Gott bewahre, Leo, was du heut' eilig und hastig bist! Ich habe ihn ja nur ganz in kurzem zu unterrichten, weshalb die schöne Edda hier gewesen ist; denn um uns in unserer Unterredung nicht zu stören, mußte er mir versprechen, in seiner Malerstube zu bleiben, bis ich selbst ihn abriefe. Das ist alles.«

»So geh und hole ihn aus seinem Gefängnis, und ich werde so lange meinen Appetit bemeistern. Aber, Karoline, dann flüstert nicht mehr lange miteinander – du weißt, ich liebe das Seufzen und Stöhnen nicht, und gerade bei Tische sehe ich nur heitere Gesichter gern.«

Karoline flog auf ihn zu, umarmte ihn und drückte einen raschen Kuß auf seine braune Wange. »Du bist ein guter Mann, Leo,« sagte sie, »ich habe es wohl gewußt, und daß du den Jungen nicht verurteilen würdest, ehe du ihn gehört hast, wußte ich auch. Nun will ich ihn aber holen, und versprich mir, deine Miene im Zaum zu halten, denn er ist scharfblickend, wie er weich und mild ist, und ich will nicht, daß er noch mehr geängstigt werde, als er es so schon ist.«

»Geh, geh!« rief der Bruder und drängte sie zur Tür. »Laß ihn nicht länger warten: denn um so länger muß ich meinen Appetit bezwingen. Mit meinem Gesicht aber sollt Ihr beide zufrieden sein, denn ich sehe wahrhaftig kein Verbrechen darin, daß ein junger Mann ein Auge und ein Herz für ein schönes und braves Weib hat.«

Karoline verließ hastig das Zimmer und das Haus, und als ob sie dreißig Jahre jünger wäre, flog sie wie ein Sturmwind den Weingang hinab, um so rasch wie möglich den armen Gefangenen aus seiner Haft zu erlösen.

*

In ruhiger und hoffnungsvoller Stimmung hatte sich Franz schon vor drei Uhr in sein Atelier begeben. Das Vertrauen und die Erwartung der Tante teilend, war er der festen Überzeugung, daß der Besuch Eddas bei letzterer allein auf ihn Bezug habe und daß daraus nur eine vorteilhafte Wendung seines eigenen Schicksals folgen könne. Daß Edda mit Tante Karoline noch etwas anderes zu verhandeln haben könne, und daß dies etwas Wichtiges sei, fiel ihm nicht ein, und es konnte ihm auch nicht einfallen, da er noch lange nicht ganz und tief genug in das wunderbar begabte Herz dieses edlen Mädchens geschaut hatte. So begab er sich denn mit hoffnungsvollem Gemüt an seine Arbeit, aber an Eddas Porträt wagte er keinen Pinselstrich mehr anzubringen, denn seit einigen Tagen war ihm das Gesicht des geliebten Wesens als ein ganz anderes vorgekommen, und er fürchtete, ihm einen Zug oder Ausdruck hinzuzufügen, der dem früheren Charakter des Bildes durchaus nicht entsprach und ihm leicht ein falsches Gepräge aufdrücken konnte. So hatte er es denn nur in seiner Nähe aufgestellt und warf von Zeit zu Zeit einen bewundernden und herzlichen Blick darauf; seine Hand aber beschäftigte sich mit einem neuen Entwurf, den er zu zeichnen begonnen und der einen Teil des Chamouny-Tales darstellte, den er einer der Skizzen entnommen, die er als Ausbeute seiner letzten südlichen Reise mit heim gebracht hatte.

Mit ziemlicher Ruhe zeichnete er eine gute Stunde lang, obgleich von Zeit zu Zeit seine Neugierde auf das, was bei Tante Karoline vorging, einen allmählich heftigen Anlauf nahm. In der zweiten Stunde glaubte er mit jedem Augenblick die Tante kommen zu hören, und er unterbrach oft seine Arbeit, um ans Fenster zu treten und nach der sehnlichst Erwarteten auszuschauen. Allein sie kam noch immer nicht, und seine Neugierde ging in ernste Erwägung über, die endlich zur Unruhe anwuchs, als auch die dritte Stunde begann und noch immer keine freudige Botschaft an ihn gelangen wollte. Als nun aber mit dem Ablauf der dritten Stunde schon die Abnahme günstigen Lichts in seinem Atelier zu spüren war, verging ihm alle Lust, weiter zu arbeiten, als wäre der Faden seiner Geduld plötzlich wie mit einem scharfen Messer abgeschnitten. Er legte seine Zeichenmaterialien beiseite, wusch sich die Hände und lief nun mit klopfendem Herzen im Zimmer auf und nieder. Von Minute zu Minute nahm dabei seine Ungeduld zu, und als es endlich sechs Uhr schlug, war sie bereits mit einer stillen Angst gemischt, weil er nicht begreifen konnte, was die beiden Frauen so übermäßig lange zu besprechen haben könnten. Endlich, nachdem er sich auf verschiedene Weise vergeblich bemüht, seiner Besorgnis Meister zu werden, entschloß er sich, eine Zigarre zu rauchen, aber es geschah dies mit so geringer Aufmerksamkeit, daß sie ihm wohl zehnmal ausging und er sie immer wieder von neuem anzünden mußte, ohne daß er sich seines Tuns eigentlich bewußt war.

Als nun aber gar seine Uhr den Ablauf der vierten Stunde anzeigte, nahm seine innere Aufregung, in die er sich durch tausend verschiedene Gedanken und Möglichkeitserwägungen selbst versetzt, die Gestalt einer ernsthaften Besorgnis an, daß nämlich die Mitteilung Eddas alle seine und Tante Karolinens Hoffnungen vernichtet habe; und als sich nun auch nach sieben Uhr das Zimmer mit tieferem Schatten bedeckte, stand er eben im Begriff, das Atelier zu verlassen, als ihm noch zu rechter Zeit einfiel, daß er damit seinem Versprechen untreu werde und daß am Ende doch noch nicht alle Hoffnung vorüber sei, jene Unterhaltung könne zu einem günstigen Resultat führen. Dennoch öffnete er leise die Treppentür und horchte mit angehaltenem Atem in den Garten hinaus, ob sich denn noch kein Schritt, kein Ruf vom Vorderhause her vernehmen lasse. Allein alles war und blieb still, so scharf und lange er auch lauschen mochte, selbst kein Blatt im Weingange regte sich, denn es herrschte bei schwüler Luft eine völlige Windstille. Eben wollte er, mit seiner letzten Selbstbeherrschung den dumpfen Schlag seines Herzens bewältigend, in das Zimmer zurückkehren, um sich in sein Schicksal zu ergeben, da glaubte er in der Ferne einen Schritt zu vernehmen, und nun trat er einige Treppenstufen hinunter und horchte noch einmal gespannt nach dem Vordergarten hin. Diesmal hatte er sich nicht getäuscht, es kam wirklich jemand heran. Noch einen Augenblick lauschte er, und dann – dann war er überzeugt, daß jemand nach dem Atelier komme, um ihn aus seiner qualvollen Gefangenschaft zu erlösen.

Er hatte sich wirklich nicht geirrt, aber leider war es nicht Tante Karoline, sondern nur Resi, die Magd, die nach dem entfernteren Gemüsegarten ging, um irgend ein Küchenbedürfnis daraus zu holen. Als sie den jungen Mann mit einer so aufgeregten und fragenden Miene auf der Treppe stehen sah, grüßte sie lächelnd hinauf und sagte: »Guten Abend, Herr!«

»Resi!« rief ihr Franz entgegen, »sprich, weißt du vielleicht, wo meine Tante ist?«

»O ja,« erwiderte die freundliche Magd, »die sitzt im Hause auf ihrem Zimmer und spricht mit dem Herrn Doktor, der schon früh von seiner Reise zurückgekommen ist.«

»Mit meinem Vater? So. Ist denn die junge Dame schon fort?«

»Die ist schon um sechs Uhr gegangen, Herr!«

Ohne ein Wort zu erwidern, kehrte Franz in einer Art dumpfer Bestürzung in sein Zimmer zurück. »Was hat denn das zu bedeuten?« fragte er sich. »Um sechs Uhr ist Edda gegangen, und Tante Karoline wollte mich doch rufen, sobald ihr Besuch sie verlassen habe? Ach,« fügte er, sich wieder beruhigend, hinzu, »als sie hat kommen und mich rufen wollen, wird der Vater angelangt sein und sie abgehalten haben. Aber wie, die Tante sollte sich abhalten lassen, wenn sie mir eine freudige Botschaft zu überbringen hätte?«

Diese Frage, auf die er keine Antwort wußte, barg wieder einen neuen Grund zum Nachdenken, zur Sorge. Endlich aber suchte er sich auch ihrer zu entledigen, indem er sich sagte: »Sie werden über mich zu sprechen haben – ha! jetzt merke ich es. Tante Karoline wird die Gelegenheit wahrnehmen und meinem Vater das Geständnis und das Resultat ihrer heutigen Unterhaltung mit Edda vertrauen. Ja, das ist es gewiß, und nun brauche ich keine so große Sorge zu haben.«

Einigermaßen beruhigt und doch bald wieder in einen ganz neuen aufregenden Gedankengang in Betreff des Vaters verfallend, setzte er sich auf seinen Stuhl, um sich in Geduld zu fügen, als er plötzlich, und darüber heftig erschreckend, laut seinen Namen rufen hörte.

»Franz! Franz!« tönte es vom Garten herauf – ach, und es lag ein wohltuender Klang in diesem Ruf, wie in dem Klange einer Freude verheißenden Glocke, denn er lautete frisch und froh, wenn die Brust, die ihn ausstieß, auch sicher an einiger Beklommenheit litt.

Wie von einer Feder emporgeschnellt, sprang er vom Stuhle auf und stürzte nach der Tür. Da kam die gute Tante eben atemlos an der untersten Treppenstufe an und streckte ihm schon aus der Ferne verlangend die Hand entgegen. Er flog die Treppe hinunter, umschlang sie mit den Armen, und sein Auge bohrte sich erwartungsvoll in die ihren, die er zu seiner Verwunderung von Tränen gerötet sah, wie auch ihr erhitztes Gesicht die Spuren einer großen inneren Bewegung an sich trug.

»Tante,« rief er ihr mit sanftem Vorwurf zu, »was geht vor? Warum hast du mich so lange warten lassen?«

»Mein armer Junge,« erwiderte die noch halb Atemlose, »ich kann nichts dafür. Edda ist drei Stunden bei mir gewesen!«

»Ja, ja, ich weiß – was hat sie dir gesagt?«

Karoline schwieg und besann sich; auf diese Frage war sie nicht sogleich vorbereitet. Endlich sagte sie: »Beruhige dich, Franz, du siehst ja ganz elend aus. Das liebe Kind hat mir sehr viel gesagt – aber nichts – gar nichts, was auf dich Bezug hätte.«

»Nichts? Gar nichts? Keinen Bezug auf mich? Ei, das ist ja seltsam,« erwiderte Franz, mit einem Mal seine frühere Ruhe wieder erlangend und sich schon im stillen Vorwürfe machend, daß er sein leidenschaftliches Herz nicht stärker im Zaume gehalten. »Aber was hat sie denn von dir gewollt?« fragte er weiter.

»Sie hat mir ihre Lebensgeschichte erzählt, Franz, und dann mußte ich ihr die meine erzählen.«

»Ihre Lebensgeschichte? Was enthält denn die?«

»Lieber Junge, das kann ich dir jetzt nicht sagen, und das ist vor der Hand auch gleichgültig für dich – ein andermal sollst du alles genau von mir hören, doch jetzt ist keine Zeit dazu. Mit dem Vater dagegen, der früher zurückgekehrt, als ich vermutet, habe ich viel Wichtiges gesprochen. –«

»Was denn?« unterbrach sie der junge Mann mit wieder wachsender Ungeduld.

»Still, nicht so laut, Franz. Du darfst, wenn du vor sein Auge trittst, nicht die Miene annehmen, als hättest du von mir gehört, was ich dir jetzt sagen will. Rede nicht mit ihm über Edda, bis du – mag es lange dauern oder nicht – ihr Jawort in Händen hast. Verstehst du? Es steht alles gut, aber du mußt mit etwas Sicherem kommen, wenn du bei ihm Erfolg haben willst. So viel für jetzt, mehr kann ich nicht sagen, und er erwartet uns jeden Augenblick. Aber nun sei vernünftig und ruhig, dein Vater hat ein scharfes Auge – du weißt es.«

Franz schloß in stiller Verwunderung sein Zimmer zu und folgte der Tante nach dem Vorderhause, indem er in tiefes Schweigen verfiel, da er Karolinen angemerkt, daß sie ihm für jetzt kein Wort weiter mitteilen werde. Er fand den Abendtisch, was ziemlich ungewöhnlich war, in der Eckstube des Hauses gedeckt, und sein Vater saß schon auf seinem Platze davor, mit Ungeduld den Beginn des Mahles erwartend.

Franz trat mit einer an ihm seltenen und um so merklicheren Befangenheit vor den Vater hin, dieser jedoch empfing ihn mit seiner gewöhnlichen Ruhe, die sich mehr zur Heiterkeit als zur ernsten Bedachtsamkeit neigte.

»Bist du so lange fleißig gewesen?« fragte Doktor Marssen, nachdem er ihn mit herzlichen Worten begrüßt.

»Nein, mein Vater, ich habe schon seit halb sechs Uhr nicht mehr gearbeitet.«

»So, das ist gut. Der Mensch muß auch ruhen. Nun, Karoline, kommt das Essen bald?«

In demselben Augenblick trug Resi die erste dampfende Schüssel herein, und der Hausherr legte sich sogleich eine starke Portion vor, die er schweigend verzehrte, da die Stillung seines Hungers in diesem Augenblick wirklich das vorherrschende Bedürfnis in ihm war. Indessen beobachtete er doch im stillen die ihm gegenübersitzenden Gesichter, und da er sowohl seine Schwester wie Franz sehr still fand, sagte er plötzlich, indem er seine Gabel neben den Teller legte:

»Ich weiß gar nicht, warum Ihr so schweigsam seid. Das liebe ich nicht. Es ist gar kein Leben mehr in Euch, aber das kommt von dem vielen Streichen und Pinseln und dem Brüten und Grübeln darüber. Resi!«

Resi trat rasch heran und fragte nach des Herrn Doktors Befehl.

»Hole uns eine Flasche von dem alten Burgunder herauf, der in Papier gewickelt ist, du weißt.«

In wenigen Minuten stand die ehrwürdig bestäubte Flasche auf dem Tisch, Doktor Marssen entkorkte sie selbst und goß die drei Gläser voll, die Karoline unterdessen herbeigeholt hatte. Dann hob er das seine empor, und es dem Sohne entgegenhaltend und ihm zunickend, sagte er mit seiner mächtigen Stimme laut und froh:

»Das erste Glas bringe ich immer gern dem guten Geiste dar, meine Lieben. Möge er über uns schalten und walten nach seiner Liebe und nach seiner Weisheit. Uns aber, mein Sohn, gebührt es, mit frohen Blicken in das uns so gütig geschenkte Leben zu schauen und ihm schon dadurch unsere endlose Dankbarkeit zu beweisen. Also heiter, mein Freund, du bist jung, und die ganze große Welt liegt offen vor dir. So. Das schmeckt! Ja, heiter, mein Junge! Deine Bilder sind verkauft, und du kannst nun nach Italien gehen, wohin dich ja von jeher deine Sehnsucht zog. Mögen dir viele deiner Herzenswünsche so bald erfüllt werden – und darauf, sieh – trinke ich mein zweites Glas.«

Alle drei Gläser stießen laut und fröhlich erklingend aneinander, und Karolinens wie ihres Neffen Gesicht heiterten sich merklich bei des Vaters wohlgemeintem Trinkspruch auf. Dennoch blieb Franz stiller als sonst, und nur wenige Worte kamen über seine Lippen, was auch den beiden älteren Personen nicht auffiel, da sie ja seine Stimmung und die Ursache derselben kannten.

Als man aber an das Ende des Mahles gelangt, und schon die zweite Flasche halb geleert war, trat Resi zu Franz heran und flüsterte ihm etwas zu.

»Jürgen will mich sprechen?« fragte der Maler.

»Ja, Herr, und er steht draußen vor der Tür.«

»Ei, so laß den dummen Jungen doch hereinkommen, wenn er nicht warten kann,« rief der Hausherr. »Was wird er denn so Geheimnisvolles zu sagen haben!«

Resi ging hinaus, und einen Augenblick später trat der krausköpfige Jürgen mit verschmitztem und heiterem Gesicht hinter Franzens Stuhl, nachdem er sich vor seiner Herrschaft mehrmals verneigt und ihr einen guten Abend geboten hatte.

»Herr,« sagte Jürgen so leise, daß es selbst die neben ihm sitzende Tante nicht hören konnte, »eine Dame ist draußen im Weingang neben dem Stall, die Sie augenblicklich sprechen will.«

Über des Malers Gesicht ergoß sich eine so tiefe Röte, daß Karoline fast erschrak, zumal er sogleich aufstand und sagte: »Entschuldigt mich einen Augenblick, es will mich jemand draußen auf der Stelle sprechen.« –

»Na, wer mag denn das sein!« sagte Doktor Marssen zu seiner Schwester, als sowohl Franz wie Jürgen das Zimmer verlassen hatten. »Und warum wurde der Junge denn so rot? Hast du es auch bemerkt?«

Karoline nickte mit dem Kopfe. »Man muß sich jetzt nicht darum bekümmern und noch weniger ängstigen,« sagte sie. »Ich finde seinen Zustand sehr natürlich, wenn ich seine Verhältnisse bedenke.«

»Ich auch,« erwiderte der Doktor lächelnd. »Na – aber er bleibt lange draußen.«

Der Vater sollte sich noch länger gedulden müssen, denn Franz blieb fast eine Viertelstunde aus, und als er endlich hereinkam, trug sein Gesicht einen so strahlenden Ausdruck, und sein Auge leuchtete in so heller Freude auf, daß beide Verwandten nun doch etwas taten, was sie nicht tun zu wollen sich eben erst vorgenommen, das heißt, sie wunderten sich über die Maßen und umsomehr, da Franz plötzlich sein leeres Glas dem Vater hinhielt und sagte:

»Schenk' ein, lieber Vater, jetzt habe ich Lust bekommen, dem guten Geist auch ein Glas darzubringen. So, ich danke dir!«

Er trank das ganze Glas auf einmal aus, und Vater wie Tante taten ihm mit stillem Lächeln Bescheid. Als aber eine Stunde später die Familie sich trennte, die Älteren, um jedes für sich zu bleiben, Franz, um noch ein wenig spazieren zu gehen, blieb Doktor Marssen einen Augenblick bei seiner Schwester allein und sagte leise:

»Nun, Karoline, was ist denn mit einem Male passiert? Das ist ja seltsam! Ihm hat gewiß eine Taube ein frisches Ölblatt gebracht, und jetzt sieht er die grüne Welt wieder mit lachenden Augen an.«

»Du brauchst ja nur Jürgen zu fragen, wenn du es durchaus wissen mußt, da Franz uns jede Botschaft, wie es schien, absichtlich verschwieg.«

»O nein, Karoline, ich habe in meinem ganzen Leben nie einen Diener gefragt, wenn ich etwas wissen wollte, was ein Mitglied meiner Familie betraf. Ich weiß mich zu bescheiden, und was wir erfahren sollen, bleibt uns nie verborgen. Dafür sorgt das Verhängnis schon. Na, gute Nacht, Karoline, ich bin müde vom Reiten und Bergklettern und werde einen sanften Schlaf haben. Laß es dir gut gehen bis morgen!«

»Gute Nacht, Leo, und habe Dank für deine brüderliche Liebe – heute, wie immer, gute Nacht!«


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