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Buchschmuck

Zweites Kapitel.
Die Tochter des Diplomaten.

Die schöne Uhr von Bronze auf Karolinens Schreibtisch hatte soeben den Ablauf der dritten Nachmittagsstunde angegeben, und sie selbst ging unruhig in ihrem Stübchen auf und ab, um den angekündigten Besuch zu erwarten, nachdem sie zu dessen Empfange alle Vorbereitungen getroffen hatte.

Trotz ihrer Unruhe aber, die sich von Stunde zu Stunde bis zu der festgesetzten Zeit gesteigert hatte, konnte die gute Tante nicht umhin, ihr sanftes Auge mit stillem Wohlgefallen auf den sie umgebenden Dingen weilen zu lassen, denn nie war ihr kleines geheimes Reich, ihr Wohnzimmer, welches mit den Gemächern ihres Bruders in gleicher Reihe lag, ihr so freundlich und gemütlich erschienen, wie an diesem Tage. Von den etwas schräg hereinfallenden Strahlen der Nachmittagssonne beschienen, blinkten die schönen Möbel von Nußbaumholz in untadelhafter Sauberkeit, so daß kein Stäubchen weder auf ihnen, noch auf den niedlichen Gegenständen, die sie schmückten, zu sehen war. Zum bequemsten Sitzen luden das mit grünem Plüsch bezogene Sofa und die geräumigen Sessel ein, und der mit bunten Blumen von ihren eigenen Händen gestickte Teppich glänzte, als ob seine Blüten frische und natürliche Kinder Floras wären. Auf dem ovalen Tisch vor dem Sofa stand auf einer feinen Damastserviette das moderne Kaffeegeschirr von Britanniametall, die mit dem braunen, eben fertig gewordenen Trank gefüllte Kanne auf kupfernem Kohlenbecken hoch darüber thronend, und ringsherum präsentierten sich zierliche Körbchen von Porzellan, mit wohlschmeckenden Kuchen gefüllt, und daneben auf einem silbernen Handbrett zwei Tassen, die schon bejahrt genug, aber immer noch schön waren, denn sie stammten von dem alten würdigen Baron Juell Wind aus Harup her, der sie dem Liebling seines Herzens einst zum Weihnachtsfeste beschert hatte. Vor den beiden Fenstern des mit einer hellen Tapete bekleideten Zimmers aber, welches die neuen zarten Tüllgardinen nur wenig beschatteten, breitete sich im milden Sonnenschein das schöne Gebirge aus, und die Schneefelder der Jungfrau blitzten und funkelten von dem unnachahmlichen Gold- und Diamantenglanz, den die klare Himmelssonne so wohlwollend und freigebig den ganzen Tag über sie ausstreute.

Ebenso nett und sauber, wie ihre ganze Umgebung, sah Karoline an diesem Tage selber aus. Sie trug ausnahmsweise, da es sehr warm war, nicht ihr gewöhnliches braunwollenes Hauskleid, sondern eins von grün und weiß gestreiftem Sommerstoff, und die helle Farbe desselben verlieh ihrem feinen Gesicht ein frischeres Kolorit, und ihre immer noch hübsche Figur stellte sich stattlicher denn je darin dar. Ihr blondes, einfach gescheiteltes Haar bedeckte nur zum Teil ein kleidsames modernes Häubchen mit offenen, blaßroten Bändern und, mochte nun Freude oder irgend ein anderes wohltuendes Gefühl ihr Antlitz verklären, es sah jünger und lebhafter aus als sonst, wozu freilich der Ausdruck des Auges viel beitrug, das früher immer so wehmütig blickte, heute aber in so heiterem Glanze strahlte, wie man ihn selten darin zu sehen bekam.

Als die Uhr fünf Minuten über Drei zeigte, meldete die aufmerksame Resi Miß Edda an, und rasch eilte Karoline der sehnlich Erwarteten entgegen, begrüßte sie mit einem herzlichen Kuß auf die Stirn und führte sie an der Hand in das Zimmer, wo sie sie erst genauer betrachtete und verwunderungsvoll anblickte, denn die Tochter Sr. Exzellenz des Herrn Baron von Bolton zeigte heute in ihrer ganzen Erscheinung ein völlig anderes Wesen als früher, und auf ihrem reizenden Gesicht lag ein Ausdruck von Gemütstiefe und herzinniglicher Hingebung, den Karoline noch nie darauf bemerkt hatte.

Edda war in ein einfaches, ihr reizend stehendes Gewand von blaßblauem Sommerstoff gekleidet, das durch seinen eigentümlichen Schnitt ihre vollkommen schöne Figur vorteilhaft hervortreten ließ. Aus den weit geöffneten Ärmeln desselben schauten die herrlichen, von durchsichtigem Tüll umhüllten Arme hervor, und als sie erst die Handschuhe abgelegt und den Strohhut vom dunklen Haar genommen, das sie mit ein paar raschen Handstrichen glättete und ordnete, war Karoline von neuem über die Reize betroffen, die sie an jedem Körperteil dieser schönen jungen Dame und in allen ihren Bewegungen wahrnahm. Am meisten jedoch war sie über jenen schon angedeuteten Gesichtsausdruck verwundert. Alle stolze Zurückhaltung, die früher in manchen Momenten noch daraus hervorgeblickt, war verschwunden, und dafür thronte eine sanfte, liebliche Weiblichkeit auf ihren Zügen. Ebenso hatte ihr dunkles Auge jene herrische Schärfe und den feurigen Strahl verloren, vielmehr lag ein eigentümlicher, der Rührung gleichender Schmelz darin, und auch der Blick desselben war viel weicher, inniger und hingebender geworden. So sah man ihr im ganzen an, daß sie sich bei ihrem heutigen Besuche zu keinem Triumphzuge angeschickt, daß sie viel eher einem ernsten Kampfe entgegenzugehen fürchte, über dessen Ausgang sie selbst noch in Zweifel war, und den sie mehr mit still zusammengeraffter Kraft als mit der Zuversicht des Erfolgs und mit lautem Enthusiasmus begann, wie er sonst wohl der Jugend in leidenschaftlichen Momenten eigen ist. Daß aber Edda wirklich innerlich leidenschaftlich erregt war, sah Karoline freilich im Anfang nicht, denn die Tochter des Diplomaten hatte sich so sehr in ihrer Gewalt, daß sie ihr laut pochendes Herz zu bewältigen und ihrer Miene eine Ruhe aufzuzwingen vermochte, die in der Tat nicht in ihrer Brust herrschte; höchstens verriet dann und wann ein tiefer Atemzug, daß sie innerlich bewegt sei, und bisweilen, wenn sie es unbeobachtet vollbringen zu können hoffte, streckte sich ihre linke Hand nach dem widerspenstigen Herzen aus, als wolle sie das lebhafte Schlagen desselben zu beschränken suchen. Aber alles dies waren Anzeichen, die Karoline übersah, sie hatte nur freudige und bewundernde Augen für die persönlichen Reize des jungen Mädchens, und wenn sie dann noch etwas anderes zu bedenken fand, so war es einzig und allein das Resultat, welches der erwarteten Unterredung folgen sollte, und so war sie anfangs nur halb bei ihrer jungen Freundin, bis es dieser gelang, ihre Aufmerksamkeit völlig zu fesseln und sie von ihren ursprünglich gehegten Gedanken und Erwartungen weitab auf ganz andere Dinge zu leiten.

Nach den ersten Worten, welche die beiden Frauen gewechselt, sehen wir sie bald dicht nebeneinander auf dem Sofa sitzen und den Kaffee trinken, den die Wirtin mit ruhiger Freundlichkeit dargeboten hatte. Bald dies, bald jenes dabei sprechend, bemerkte die gute Karoline nicht, daß Edda weniger gesprächig als sonst erschien und mit auffallender Hast ihre zweite Tasse Kaffee leerte, als könne sie nicht rasch genug über die materiellen Dinge hinwegkommen, um zu einer anderen, gewichtigeren Aufgabe zu eilen. Als nun aber auch Karoline ihren Kaffee getrunken hatte und Edda immer noch ziemlich schweigsam neben ihr saß, als könne sie den Eingang in die ernstere Unterhaltung nicht finden, wurde erstere etwas betreten und blickte ihren Besuch wiederholt mit still fragenden Augen an. Edda bemühte sich, diesen Blicken mit einem freundlichen Lächeln zu begegnen, und daraus schöpfte Karoline endlich Mut zu der lauten Frage:

»Und nun, meine Liebe, werde ich gewiß bald hören, warum Sie mich gerade heute so sehnlich zu sprechen verlangten. Sie wollen mir gewiß erzählen, wie es Ihnen gestern auf dem Balle ergangen ist und ob Sie das Vergnügen gefunden haben, welches Sie davon erwarten konnten?«

Hiermit war das erste Wort gesprochen, welches die gemütliche Szene für einen Augenblick unterbrechen sollte. Kaum hatte Karoline das Wort »Ball« über die Lippen gebracht, so blickte Edda sie mit ihren großen Augen forschend an und sagte dann mit ernsterer Miene, in der eine gewisse Feierlichkeit lag:

»Mein liebes Fräulein, Sie bringen mich rasch zu dem Zweck meines Besuchs, und das ist mir lieb. Ich muß ja doch einmal mit dem heraus, was ich auf dem Herzen trage. In Bezug auf den gestrigen Abend aber habe ich zuerst eine Frage an Sie zu stellen, und zwar die: Hat Ihr Herr Neffe Ihnen im Vertrauen gesagt, was für eine Entdeckung er in Bezug auf meine Person – verstehen Sie mich recht,« verbesserte sie sich mit leichtem Erröten – »in Bezug auf meine Heimat gemacht hat?«

Karoline bebte zusammen, aber sie ergriff lebhaft die Hand der Redenden, die dicht neben ihr auf dem Sofa ruhte, hob sie zu ihren Lippen empor und drückte einen langen Kuß darauf. »Das ist meine Antwort,« sagte sie mit leise hervorbrechender Wehmut, »und Sie mögen daraus erkennen, daß diese Entdeckung, die er mir mitgeteilt, den Gefühlen meines Herzens für Sie keinen Abbruch getan hat.«

Edda hob ihr Auge rasch empor und schaute Karolinen mit einer an Erstaunen grenzenden Verwunderung an, der eine heimliche, noch in Schranken gehaltene Freude beigemischt war. »Dann hat diese Entdeckung also geringeren Eindruck auf Sie als auf Ihren Neffen gemacht?« fragte sie zögernd.

»O nein!« erwiderte Karoline, sanft und wehmütig den Kopf schüttelnd, »sie hat gewiß nicht geringer auf mich gewirkt, als auf Franz, aber meine Gefühle wickeln sich mehr in meinem Innern ab, während sie bei ihm leicht nach außen sprudeln. Er ist jung, und ich bin alt, das ist der Unterschied zwischen uns.«

»So,« fuhr Edda mit einem glücklichen Lächeln fort, »also Ihren Gefühlen gegen mich hat das keinen Abbruch getan? Sagen Sie mir das noch einmal.«

Karoline ergriff noch einmal die schöne Hand und küßte sie noch zärtlicher und länger als vorher, worauf Edda auch Karolinens Hand nahm, sie gegen ihren Busen und dann an ihre Lippen preßte und leise seufzend sagte: »Ich danke Ihnen, das ist eine größere Freude und auch eine bedeutsamere Wohltat für mich, als Sie sich vorstellen können.«

Als sie diese Worte aber gesprochen, schienen ihre Empfindungen sie für einen Augenblick zu übermannen. Sie stand von ihrem Platze hinter dem Tisch auf, trat mitten in das Zimmer und schritt hier schweigend und mit nachdenklich gesenktem Kopfe ein paar Mal auf und nieder.

Karoline stand auf und ging der in sichtbarer Gemütsbewegung mit sich selbst Kämpfenden nach. Als sie sie mitten auf ihrem kurzen Wege erreichte, blieb Edda plötzlich stehen, und mit beiden Armen Karolinens Hals umschlingend, drückte sie sie sanft an sich und leitete sie so an den großen Sessel hin, der dicht am Fenster und zu dessen Füßen eine mit Samt überzogene Fußbank stand.

Wider ihren Willen fast, aber geduldig dem Wunsche Eddas folgend, fand sich Karoline bald in dem Sessel sitzen, und ehe sie wußte, wie es geschah, kniete Edda bereits auf der Fußbank vor ihr, stützte ihre Arme auf die Knie der Sitzenden und sah ihr nun mit unaussprechlicher Milde und Herzlichkeit in das sanfte und jetzt nur von stiller Verwunderung glänzende Auge.

»O, was tun Sie, meine Liebe,« sagte endlich Karoline, mit beiden Händen die Hände Eddas umfassend, »dahin gehören Sie nicht. Kommen Sie, setzen Sie sich hier dicht neben mich auf diesen Stuhl!«

»O nein, o nein, lassen Sie mich hier,« bat Edda, »ich gehöre wohl hierher, denn ich komme heute zu Ihnen mit einer demütigen Bitte.«

»Mit einer demütigen Bitte? O, ich glaubte vielmehr, Sie wollten mir erzählen, was gestern abend zwischen Ihnen und meinem Neffen vorgefallen ist?« sagte Karoline mit einer Art zaghafter Scheu, die bewies, daß sie das eigentümliche Verhalten des jungen Mädchens nicht ganz begriff.

»Zwischen Ihrem Neffen und mir?« fragte Edda erstaunt. »O nein, darin irren Sie sich. Ich bin heute aus einem ganz anderen Grunde gekommen. Ich kam allein Ihretwegen und zum Teil auch meinetwegen – von Ihrem Neffen habe ich kein Wort mit Ihnen zu sprechen.«

Karoline sah die Redende mit großen Augen an. Sie wurde ganz irre in ihren Gedanken, die mit einem Mal weit von dem heutigen Ziele, der so sicher erwarteten Beichte abwichen. »Meinetwegen kommen Sie zu mir?« fragte sie mit immer wachsendem Erstaunen.

»Ja, liebe Karoline, Ihretwegen zuerst und dann meinetwegen, wie ich sagte. Doch nun lassen Sie mich ungehindert sprechen, wie es mir ums Herz ist, denn dies übervolle Herz muß sich endlich öffnen und ergießen, nachdem es so lange, von Kindesbeinen an, verschlossen gewesen ist. Ach, und da sage ich Ihnen zuerst, daß ich Sie im stillen beobachtet und daß ich, nachdem ich so viel von Ihnen gehört, Sie endlich recht, recht liebgewonnen habe. Und sehen Sie, da ich ein unabweisbares Bedürfnis nach einem liebevollen Herzen fühle, so habe ich mich zu Ihnen geflüchtet, denn Sie haben ein warmes Herz in der Brust, und nach solchem trage ich schon lange ein unwiderstehliches Verlangen. Ach, meine liebe Freundin, ich habe in meinem ganzen Leben niemanden gehabt, dem ich so recht mit voller Seele vertrauen und dem ich so recht tief in die eigene Seele blicken konnte. In den letzten Jahren, als ich erwachsen war, stand freilich Miß Rosy Bruce, die Gesellschafterin meiner Mutter, mir zur Seite, der ich hatte vertrauen können, aber sie stand mir doch noch lange nicht nahe genug, und sie hatte wohl auch nicht die Gabe, mein volles, überflutendes, vielfach gequältes Herz zu verstehen. In den letzten Wochen mag sie freilich vieles erraten haben, was in mir vorgegangen ist, aber mitgeteilt habe ich ihr in Worten nichts, wie ich es jetzt mit Ihnen im Sinne habe. Ihnen nun will ich mich ganz enthüllen, denn Sie haben mein ganzes Vertrauen gewonnen. Ich will Ihnen die Hauptzüge aus meinem Leben erzählen, wie es bisher an mir vorübergerollt ist. Sie sollen dabei in alle Falten meines Innern und in die Geheimnisse meiner Familie blicken, mich und die Meinigen kennen lernen, und dann werden Sie mich vielleicht, wenn Sie mich liebenswert finden, auch ein wenig liebgewinnen und mir manche üble Angewohnheit und Unart verzeihen, die ich, auch beim besten Willen dazu, noch nicht ganz habe ablegen können. Ach ja, in meinem Wesen liegt manche Härte und manches Gebrechen, vor allen Dingen aber ein übermäßiges, zu stolzes Selbstvertrauen, das mich schon in manche Gefahr gebracht hat. Aber dafür kann ich nicht allein, man hat mich so gemacht, man hat mich verzogen und vielleicht – vielleicht hat man sich weniger um mich bekümmert, als es hätte, geschehen sollen, und so bin ich wild und zügellos aufgewachsen, weil die rechte Aufsicht, die rechten Hände und die rechte Liebe fehlten, die allein ein junges Mädchen zügeln, regeln und zu dem machen können, was es sein soll und muß, wenn es seinen Standpunkt in der Welt vollkommen ausfüllen will.

Was zuerst meine Erziehung im besonderen betrifft, so ist sie ganz gewiß nicht so gewesen, wie sie hätte sein sollen, noch viel weniger, wie sie hätte sein können. Man ließ mich zwar alles mögliche lernen: Sprachen, Zeichnen, Malen und die gewöhnlichen Schulwissenschaften, aber es fehlt in allem, wie gesagt, die rechte Liebe, die sanfte weibliche Hand, der weibliche Sinn, der, wie die Sonne die Keime aus der Erde lockt, so die guten Keime in einer kindlichen Brust weckt. So wuchs ich in dem schalen Dünkel auf, daß ich etwas Großes und Mächtiges sei, weil mein Vater ein angesehener Mann, ein hochgestellter Beamter und meine Mutter die Tochter eines schottischen Lords war. So lernte und sah ich mancherlei, aber meinem verlangenden Herzen ward keine labende Speise geboten, und mein strebsamer Geist mußte sich ohne Nachhilfe auf seine eigene Schwungkraft verlassen. Leider aber zügelte man meinen Eigenwillen dabei nicht, der oft genug über die Schranken sprang, die um die Existenz und das Wirken eines jungen Mädchens gezogen sind. Ich wurde eingebildet auf Vorzüge, die ich mir nicht selbst erworben, sondern die mir der blinde Zufall zugeworfen, und mein Charakter hätte darunter leiden können, wenn meine Natur mich nicht davor bewahrt und immer wieder auf die richtige Bahn geleitet hätte, sobald ich ein gutes Beispiel vor Augen bekam oder eine starke Hand meinen Starrsinn zu beugen unternahm.

Doch jetzt will ich Ihnen von meinen Eltern und zuerst von meiner Mutter erzählen, die leider ebenso durch Schicksalsprüfungen wie durch Kränklichkeit und ihr phlegmatisches Temperament verhindert wurde, mir eben mehr als meine Mutter, das heißt die Person zu sein, die mir das Leben gegeben hat. Hiermit, war sie überzeugt, gegen mich ein für alle Mal ihre Schuldigkeit erfüllt zu haben, und nie hat sie die Neigung oder das Bedürfnis gefühlt, mir eine Freundin oder Führerin zu sein, wie es andere Mütter ihren Töchtern sind, da sie an nichts auf der Welt Anteil nahm, an nichts Interesse fand, als eben an ihrem Schmerz und ihrem Leid, auf das ich sogleich näher eingehen werde. Sie ist, wie gesagt, die Tochter eines reichen und völlig unabhängigen schottischen Edelmanns, der seine Kinder ebensowenig zu lieben und zu leiten verstand, wie es meine Mutter versteht. Er war so stolz auf seinen Namen, sein Herkommen, auf seinen großen Besitz und seine uralte Familie, daß er jedes in der Gegenwart erworbene Verdienst leugnete oder wenigstens nicht erkannte und daher nicht im geringsten die Neigung besaß, meine Mutter einem Ausländer zur Gattin zu geben. Ich weiß das von meiner Mutter selbst, die es mir einst in einer mitteilsamen Stunde erzählt und gerade diesen Umstand als die Hauptquelle ihres ganzen späteren Unglücks angegeben hat – eine Mitteilung, die ich nur Ihnen im herzlichsten Vertrauen wiederhole. So hat sie sich denn gegen ihres Vaters Willen – eine Mutter hatte sie nicht mehr – mit meinem Vater verheiratet und sich dadurch den Zorn und die Feindschaft ihrer ganzen Familie für ewige Zeiten zugezogen. Sie verließ das Land ihrer Geburt, nur von den guten Wünschen eines Oheims begleitet – Miß Rosy Bruce ist die Tochter eines Pächters desselben und ward ihr nach Kopenhagen nachgesandt – eines Oheims, der mit seinem älteren Bruder, meinem Großvater, in Zwiespalt lebte und der meine Mutter zu ihrem Unternehmen ermutigt hatte, weil sie sein Liebling und jener Bruder der bitterste Feind seines Lebens war. Ach, aus dieser von ihrer eigenen Familie nie anerkannten Ehe ist leider auch kein Glück ersprossen. Weder meine Mutter paßte zu meinem Vater, noch dieser zu meiner Mutter, denn beide waren auf ganz verschiedene Lebensbasis gegründete Naturen und vielleicht nur ein augenblickliches leidenschaftliches Wohlgefallen hatte sie aneinander gekettet, das ja so selten den Stürmen des ehelichen Lebens gewachsen ist. In ihren Anschauungen vom Leben, in ihren Urteilen und Ansichten über Menschen und Dinge, kurz in allem verschieden, haben sie in nichts Übereinstimmung gefunden als allein in ihrem Schmerz, den sie bis auf den letzten Tropfen miteinander haben auskosten müssen. Meine Mutter war nicht geschmeidig genug, um sich wie der Efeu um den starken Eichstamm, meinen Vater, hinaufzuranken, und dieser war in seiner selbstbewußten Stärke zu starr und ungelenkig, um sich voll Mitleid auf das arme schwache Rohr an seiner Seite niederzubeugen. In den ersten Jahren ihres Zusammenlebens haben sie sich geliebt – auf ihre Weise, denn meine Mutter kann eigentlich nicht lieben, da sie nicht das warme Herz des Weibes besitzt, welches allein das wahre Nest für die Liebe ist, und mein Vater konnte nur ein Weib gebrauchen, das eine Überfülle von dieser Liebe in sich schloß, um seine Härten zu schmelzen und sie immer wieder von neuem an ihn zu verschwenden, da er alle Liebe um sich her gern einsog, aber nie wieder einen Teil derselben von sich gab. Denn auch er besitzt eine kalte, doch der Wärme bedürftige Natur und findet höchstens nur in Dingen seine Befriedigung, die allein für den männlichen Geist geschaffen sind, die seinen Ehrgeiz befriedigen und seinem Trieb nach den scheinbaren Gütern der Welt schmeicheln, da er für die wirklichen weder Sinn noch Auge hat.

So gingen diese beiden Menschen, die sich lieber nie auf Erden hätten begegnen sollen, jahrlang mit- und nebeneinander her, ohne sich auch nur auf eine Stunde innig zu vereinen und geistig zu verschmelzen; nur das äußere Interesse der gegenseitigen Erhaltung verband sie, und darum ist ihre Ehe ebenso unselig für sie selber, wie kummervoll und traurig für mich, ihr einziges Kind, gewesen.

Ach, daß ich das sagen muß, ist sehr schmerzlich für mich, aber ich will Ihnen ja die Wahrheit enthüllen und Sie sollen mich richtig beurteilen und meine Schwächen nicht allein in mir selber suchen, sondern als ein Resultat des Zusammenflusses von äußeren Umständen und Verhältnissen betrachten lernen, die an meiner Erziehung und der Ausbildung meines Herzens vieles verschuldet haben.

Meine Mutter habe ich übrigens nie anders, das heißt gesunder, tatkräftiger und teilnahmsvoller gekannt, als sie jetzt ist. Daher bin ich an ihr Leiden gewöhnt, das ich beklage, aber leider nicht ändern kann, denn ich bin nicht imstande, den tiefen Schmerz zu verbannen, der seit Jahren an ihrem gemarterten Herzen nagt und vielleicht die Reue ist, in ihrer Jugend wider den Willen ihrer Familie sich ihrem Vaterlande und damit zugleich ihrem Vermögen entzogen zu haben, vielleicht aber auch die Sehnsucht, diese Heimat noch einmal wiederzusehen, aus der sie auf ewig verbannt ist, seitdem auch vor kurzem ihr Oheim gestorben, und leider so plötzlich, daß er ihr nicht einmal das Erbteil hat verschreiben können, welches er ihr einst auszusetzen versprochen hatte.«

Hier machte Edda eine Pause und sah Karolinen mit ihren großen Augen, die sich schon lange mit klaren Tropfen gefüllt hatten, schmerzlich bewegt an. Karoline weinte ebenfalls schon eine Weile im stillen mit, und wiederholt hatte sie die vor ihr Kniende herzlich an sich gedrückt und ihr damit ihre Liebe versichert, so daß Edda zuletzt ohne alle Scheu und Zurückhaltung die tiefsten Geheimnisse ihrer Familie vor ihr enthüllte.

Als sie jetzt aber schwieg, beugte sich Karoline zu ihr nieder und küßte ihre Augen und ihre Stirn wiederholt, bis Edda ihre Lippen erhob und auch diese sich mit denen der Freundin zu einem langen Kusse vereinigten.

»Weiter, weiter, mein Kind!« drängte Karoline, die vor Begierde brannte, das Ende der Mitteilung Eddas zu hören, die sie unendlich zu interessieren und zu ergreifen schien.

»Ja,« fuhr Edda mit heller flammenden Augen fort, »ich will weiter reden und ich muß es sogar, denn Sie wissen ja noch gar nichts von meinem Vater, der mein Haupterzieher und Lehrer war, da er wohl empfinden mochte, wie sehr ich eines mich beschützenden Leiters bedurfte. Aber ach, auch ihm wurden bald durch äußere Verhältnisse darin Schranken gesetzt, und da er selbst in großes Leid geriet, so hielt ich mich für verpflichtet, allmählich seine Trösterin und Beraterin zu werden, und so ward ich schon in frühen Jahren in das ernste Leben des Mannes eingeweiht, ohne das heitere meiner eigenen Jugend jemals kennen gelernt zu haben.

Hören Sie also. Mein Vater hatte sich von Jugend an der Diplomatie gewidmet, eine Laufbahn, die auf ihren verschlungenen Wegen mehr Schwierigkeiten bietet, als der große blinde Menschentroß in der Welt sich vorzustellen pflegt. Hat ein auf so weithin und allgemein sichtbarer Höhe stehender Mann, während sein Tun in geheimnisvollem Dunkel vor sich gehen muß, in großen Zeiten und unter glücklichen Umständen Erfolg, so staunt man ihn als etwas Großes an, streut ihm duftenden Weihrauch und setzt ihm eherne und marmorne Säulen. Hat er aber Unglück, flutet die Strömung der Welt gegen ihn, schlägt sie sogar über seinem Kopf zusammen, so hohnlächelt man über ihn und beschimpft ihn, als hätte er nicht zur rechten Zeit den Winden und Wellen Stillstand geboten, die um das große Staatsschiff toben und seinen Organismus ins Schwanken bringen. Im ganzen glaubt man, daß die Diplomaten auf Rosen gebettet seien und vor den übrigen Menschen zuerst alle Süßigkeiten von dem Kelch des Lebens abschlürfen; wie man sich aber in so vielen Dingen irrt, die man nicht genau kennt, so auch hier. Meinem Vater lächelte von Anfang an das Glück zu sehr, als daß es ihm auf die Dauer hätte hold bleiben können. Die Schmeicheleien des Glückes sind die trügerischsten und mein Vater gab sich leider schrankenlos diesen Schmeicheleien hin. Der Keim seines späteren Unglücks aber lag darin, daß er sich zu frühzeitig dem künstlichen und ränkesüchtigen Triebwerk der Parteien überließ und anfangs zu stolz und hoffnungsvoll auf den hochgehenden Wogen einer scheinbar glücklichen Politik dahinfuhr. Wenn zwei verschiedene Parteien sich aber bekämpfen, so kann nur eine die Oberhand behalten und die andere muß sich ihr unterwerfen. Die unterliegende hat immer unrecht und die herrschende immer recht, weil sie die Gewalt in Händen behält; so ist es leider stets und überall in der Welt. Mein Vater stand lange Zeit an der Spitze der einen siegreichen Partei und galt für deren kühnsten Vorkämpfer. Aber da kam ein noch kühnerer, ehrgeizigerer Kämpe und überflügelte ihn mit seinen Plänen, seinen Absichten und Neuerungen. Weiter als mein Vater bisher gegangen war, konnte er als ehrlicher Mann nicht gehen, und da er mit jenem Ehrgeizigen, Kühnen nicht den Himmel stürmen wollte, ward er als ein Lauer, Halber, Schwacher verschrien und die Woge, die ihn bisher getragen, begann zu sinken und er hatte die goldene Zeit seines Ruhmes hinter sich.

Die fanatischen Politiker Dänemarks sind die Totengräber meines armen Vaters gewesen, wie sie einst die ihres armen Vaterlandes werden können, und hatten ihm bald mit eifrigen Händen seine Grube gegraben. Da regte sich auch der Widerspruchsgeist meines stolzen Vaters und er begann mit seinen Feinden auf ehrliche Weise zu kämpfen. Wohin dieser Kampf bei den bestehenden Verhältnissen führen würde, war klar. Man warf meinem Vater einen Wechsel seiner Gesinnung, Nachlaß in seiner Vaterlandsliebe, Trägheit in seiner amtlichen Tätigkeit vor und – er war gestürzt und gerade zu einer Zeit, wo meine Mutter die Beihilfe ihres Oheims in Schottland verlor. Noch einmal versuchte mein Vater aus dem Wust und Schlamm der über ihn hereinbrechenden Unglückswege emporzutauchen und wieder das Steuer zu ergreifen, das seiner Hand eigentlich schon entglitten war. Aber da geriet er in arge Konflikte mit sich selber, sein Herz konnte nicht zugeben, was von seinem Patriotismus verlangt wurde, den Weg der Vermittlung und Verständigung schnitt man ihm schnöde ab und, ehe er sich dessen klar bewußt ward, war er in die Ungnade seines Königs gefallen, dessen Ohr und Herz sich den Bestrebungen der siegreichen Partei geöffnet hatte.

Um meinen Vater aber doch nicht ganz sinken zu lassen oder vielleicht auch noch einigen Nutzen von seiner Arbeitskraft zu ziehen, gab man ihm einen Posten im Auslande, den man ihm in Kopenhagen mit glänzenden Farben schilderte; als er aber diese Farben mit nüchternen Augen bewundern wollte, waren sie ausgeblaßt, trüb und fleckig, und wie die geheime politische Mission, die man ihm anvertraut, ebenso seinen Gefühlen wie seinen Ansichten widersprach, erkannte er erst die Tragweite und Mißlichkeit derselben, als er schon mitten in seiner neuen Wirksamkeit stand, die man ihm, als den letzten Gnadenrest, noch als das einzige Mittel hingestellt, um in einem Amte zu bleiben, was für ihn eine Lebensbedingung war, da er kein eigenes Vermögen besitzt.

Auf dieser Mission, meine liebe, liebe Karoline,« fügte Edda mit schmelzendem Blick und unbeschreiblicher Innigkeit hinzu, indem sie fest die Hände der Freundin erfaßte, »ist mein armer Vater jetzt begriffen, und wie ich glaube, ja glauben muß, ist er nicht imstande gewesen, seinen jetzigen Empfindungen und Gesinnungen zu widersprechen, das heißt, diese Mission so zu vollziehen, wie man in Kopenhagen es von ihm forderte und erwartete. So ist denn das Glücksschiff meines Vaters augenblicklich im Begriff, an dieser Missionsklippe, auf die man ihn vielleicht absichtlich lossteuern ließ, völlig zu scheitern. Ich sehe das mit jedem Tage klarer ein, wie er es auch schon lange vorausgesehen und mir im Geheimen verkündet hat. An meiner Mutter findet er keinen Trost, keinen Anhalt, und so bin ich seine einzige Stütze bisher gewesen. Mir allein hat er seine Kümmernisse anvertraut, und ich bin von allem unterrichtet, da er die Überzeugung hegt, daß mein Herz wie ein stummer Sarg ist, in dem alle seine Sorgen schlafen. Ich bin, da ich meinen Vater kenne und trotz seines rauhen, kalten und abstoßenden Wesens ein warmes, nur erstarrtes Herz in ihm wohnen weiß, die einzige, die ihn nie verurteilt hat, wie es die öffentliche Meinung und seine guten Freunde, die in der Regel unsere bittersten Feinde sind, oft genug getan haben. Wahrlich, nicht wahr, er ist in keiner beneidenswerten Lage, und nun sagen Sie mir, befinde ich mich nicht auch in einer drückenden Stellung zwischen diesem Vater und dieser Mutter? Aber – warten Sie noch einen Augenblick mit Ihrer Antwort – wie meine Stellung auch sein mag, ich werde unter allen Umständen meinem Vater zur Seite bleiben und ihn zu stützen und zu trösten suchen, und wenn ich auch kein mächtiger Stab sein kann, so will ich wenigstens der liebende Efeu sein, der sich um seinen sinkenden Stamm klammert und ihn den harten und tiefen Fall nicht allein tun läßt. Das ist meine Aufgabe, meine gute Karoline, und nun sagen Sie mir, ob Sie dieselbe billigen?«

Vom tiefsten Mitgefühl durchdrungen und voll inniger Liebe und Bewunderung sich immer näher und näher zu Edda neigend, hatte Karoline die letzten Sätze der Erzählerin mit angehört. Als diese aber geendet, konnte sie erst keine Worte finden, um ihre Empfindungen auszudrücken; sie umschlang sie daher nur mit beiden Armen und drückte sie fest und liebevoll an ihre Brust. Endlich aber faßte sie sich und, sich im Sessel aufrichtend und ihre sanften blauen Augen in die ihr fragend entgegenblickenden Eddas senkend, rief sie:

»O Sie armes, gutes Kind! Wie sehr beklage ich Sie und wie nehme ich so recht aus vollem Herzen den innigsten Anteil an Ihrem Schicksal! O ja, ja, ich sehe und erkenne es, es gibt noch andere Leiden und Schmerzen, als ich sie in meinem Leben erduldet, und ich bin nicht die einzige gewesen, die in ihrer Jugend traurige Erfahrungen gemacht hat. Aber ob ich Ihre Aufgabe billige? O, wie sollte ich nicht! Es ist ja etwas Edles, was Sie tun, indem Sie Ihrem Vater der einzige Trost auf Erden zu sein sich bemühen!«

»Meinen Sie?« rief Edda frohlockend. »Nun, dann bin ich zufrieden! O, ich habe mir wohl gedacht, daß Sie mich verstehen und trösten würden, und so bin ich also nicht vergeblich zu Ihnen gekommen. Doch nun kennen Sie mich ganz, ich habe Ihnen nichts Wichtiges aus meinem früheren Leben verhehlt. Bin ich denn nun ein so stolzes und hochmütiges Weltkind, für welches mich viele oft gehalten haben, oder hat die Natur recht an mir gehandelt, daß sie mir einen festen Sinn und Willen gab, damit ich den Feindseligkeiten des Lebens um so stärkeren Widerstand entgegensetzen könnte?«

»Nein, liebe Edda, ich halte Sie nicht für stolz und hochmütig, nachdem ich Sie besser kennen gelernt, obwohl ich früher der Meinung war, daß Sie die vornehme Dame wohl ein bißchen zu stark zutage treten ließen. Ihren festen Sinn und Willen aber erkenne ich an, der ist unter Umständen sogar ein Schild gegen manche Gefahr und kann eine Tugend werden, wenn er von der rechten Einsicht und Vernunft gemäßigt wird. Ihnen wenigstens ist er ein starkes Bollwerk gegen manche stürmische Lebenswoge gewesen.«

Karoline schwieg, und beide Frauen nickten sich herzlich und wie zwei Freundinnen zu, die vollkommen miteinander einverstanden sind. Da aber nahm Eddas Antlitz plötzlich einen ganz anderen Ausdruck an, und ihr Wesen schien von einem neuen Impulse befeuert und gehoben zu werden. Ihre Wangen färbten sich mit purpurner Glut, und indem sie sich fest an Karolinens Brust schmiegte, flüsterte sie mehr als sie sprach mit fast unwiderstehlicher Innigkeit:

»Ich danke Ihnen für Ihre Liebe und bin jeden Augenblick bereit, Ihnen mit gleicher Liebe entgegenzukommen, aber – eine Bitte habe ich nun doch noch, und Sie selbst haben mich darauf gebracht. Sie sagten vorher zu mir, Sie hätten in Ihrer Jugend auch Leiden ertragen und bittere Erfahrungen gemacht. O, seien Sie ebenso aufrichtig gegen mich, wie ich es gegen Sie war, und wie ich Ihnen meine Lebensgeschichte in allgemeinen Umrissen erzählt habe, so erzählen Sie mir die Ihrige mit allen Leiden und Freuden, vielleicht kann ich Ihnen als Fremde besserer Trost als alle die Ihrigen sein!«

Karoline befreite sich mit sanfter Gewalt aus den sie umschlingenden Armen Eddas und lehnte sich schweratmend in ihren Sessel zurück. Überrascht sah sie die schöne Bittende an, deren Brust wogte und deren dunkles Auge noch immer mit überredender Innigkeit an den ihrigen hing. Nach einigem Besinnen aber sagte sie:

»O nein, mein Kind, das können Sie nicht, wenn Sie es auch recht ernstlich wollten. Ich habe den besten Tröster schon in der Zeit gefunden, und die Meinigen sprechen über das Leid, welches hinter mir liegt, gar nicht mehr, da sie es als ein von mir längst überwundenes betrachten, was es auch ist. Überdies ist es ein ganz anderes als das Ihre, ein viel gewöhnlicheres und fast alltägliches, und daher dürfte es nur wenig Interesse für Sie bieten.«

»O, Sie wissen ja nicht, wie ich mit Ihnen empfinde!« rief Edda in viel belebterer Weise als vorher. »Ich möchte es doch gar zu gern wissen. Schließt es denn ein schwereres Geheimnis ein als das, was ich Ihnen anvertraut?«

»O nein, mein liebes Kind, ein Geheimnis liegt durchaus nicht darin, und es betrifft mich nur ganz allein.«

Eddas verführerische Augen drangen mit noch größerer Innigkeit in Karolinens Augen, und ihre Lippen legten sich sanft auf die ihren, gerade so, wie Karoline sie vorher geküßt. Als sie aber bei dieser schweigenden Liebkosung bemerkte, daß Karoline allmählich weicher wurde, und daß ihre Wimpern sich bereits mit kleinen heißen Tropfen füllten, rief sie:

»O, Sie haben nur kein Vertrauen zu mir, liebe Freundin, und ich habe Ihnen doch mein ganzes Herz aufgeschlossen!«

Karoline war dergestalt von dem Gegenstande hingerissen, den Edda so klüglich in das Gespräch gezogen, daß sie über die Wahrheit der letzten Behauptung des jungen Mädchens nicht weiter nachdachte. »O ja, meine Liebe, auch ich habe Vertrauen zu Ihnen,« sagte sie, »und – und – wenn Sie es durchaus verlangen, will ich es Ihnen dadurch beweisen, daß ich Ihren Wunsch erfülle. Aber mein liebes Kind, meine Geschichte ist überaus kurz und mit wenigen Worten zu erzählen. Mein Mißgeschick bestand allein in einem Irrtum meines Herzens. Mein Leben war dadurch verfehlt, daß ich eine Neigung, eine Liebe empfand, wo ich sie nicht hätte empfinden sollen. Ach, Edda, ich liebte, nicht heftig und leidenschaftlich, aber innig und dauerhaft, und wenn diese Liebe bei mir auch für eine Ewigkeit Stand gehalten hätte, mir – mir wurde sie nicht bewahrt – der schöne Traum in mir zerrann, noch ehe ich einen Tropfen Wirklichkeit gekostet, und es blieb mir weiter nichts übrig, als meine Liebe mit Gewalt aus dem Herzen zu reißen.«

»O, das ist ja schrecklich! Wie kam denn das? Drängte sich ein Unberufener zwischen Sie und Ihren Geliebten und störte den schönen Bund?«

»Ach nein, mein Kind, kein Unberufener störte ihn. Der Mann, der mich zu lieben vorgegeben hatte, und den ich so unbeschreiblich innig wieder liebte, er selbst zog sich von mir zurück und ließ mich in der großen, übervollen Welt allein, denn ohne ihn war ich ja nichts!«

»Ah, ich verstehe!« rief Edda. »Sie liebten einen Mann, der Ihrer Liebe nicht wert war, der Ihre unschuldigen reinen Gefühle nicht nach ihrem ganzen Umfang erkannte und würdigte und Sie vielleicht für etwas Anderes hingab, was mehr sein Auge bestach als sein Herz erwärmte, wie?«

Karoline sah die Redende mit verwunderungsvollen Augen an. »Wie kommen Sie auf diese Gedanken, Edda?« rief sie voller Staunen.

»O, ich vermute es nur,« sagte diese, ihre Hast etwas mäßigend, und dabei die verräterisch glühenden Augen niederschlagend. »Das kommt ja so häufig vor, und der Schmerz, der in so sanften Linien auf Ihrem Gesicht ausgeprägt liegt, weil er wahrscheinlich auch in Ihrem Herzen sanft nachschwingt, hat mich auf diese Gedanken gebracht.«

»Sie sind eine scharfe Beobachterin, Liebe, ich hätte das kaum gedacht. Aber Sie haben recht, in ähnlicher Weise verhält es sich bei mir.«

»Waren Sie noch sehr jung, als Ihnen dies Unglück begegnete?«

»Ach, mein Kind, ich war nicht viel älter, als Sie es jetzt sind.«

»O, das ist bitter. Und wo ist es geschehen? Darf ich den Ort nicht wissen?«

»Es geschah zu Harup, einem Gute in Schleswig in der Nähe von Apenrade.«

Edda schlug die Augen nieder. »So,« sagte sie leise, »den Namen des Mannes mag ich nicht wissen, aber er war ein Schleswiger, nicht wahr?«

Karoline umfaßte Edda, zog sie an ihre Brust und ließ bei dieser Umarmung die kaum verständlichen Worte hören: »Nein, Edda, er war kein Schleswiger, es war vielmehr ein Landsmann von Ihnen – ein Däne!«

Edda seufzte und küßte Karolinens Hände. »Haben Sie Ihren Geliebten nie wiedergesehen?« fragte sie, das Auge nur mit Mühe erhebend, nach einer Weile.

»Nun, nein, und das war sehr gut, denn bei seinem zufälligen Anblick würde der überwundene furchtbare Schmerz noch einmal mein Herz ergriffen und mich in einen neuen Kampf gestürzt haben. Gehört habe ich später freilich von ihm, und so oft seiner in meiner Gegenwart Erwähnung geschah, krampfte sich mir die Brust zusammen, und ich war unglücklich, wie nur ein Weib es sein kann, das nie, nie die Liebe zu einem Manne aus dem Herzen reißen kann, wenn es sein Bild einmal als Ideal für sein ganzes Leben darin aufgenommen hat.«

Eddas Augen strahlten, wie vom innigsten Mitgefühl. »Lebt denn dieser Ihr ehemaliger Geliebter noch?« fragte sie nach einigem Besinnen, »und ist er wohl ohne Sie glücklich geworden?«

»Daß er lebt, glaube ich, und Gott erhalte ihm sein Leben lange, lange. Ob er aber glücklich geworden, das weiß ich nicht, doch hoffe und wünsche ich es, denn ich habe Gott alle Tage gebeten, ihm Freude zu geben.«

Edda drückte sich fest an Karolinens Busen, und so liegend, sagte sie sanft: »Wir wollen annehmen, daß Ihr Gebet erhört worden ist, dann ist doch wenigstens eines von Ihnen glücklich geworden!«

»Wieso, mein liebes Kind?« fragte Karoline verwundert. »Sie halten mich doch etwa nicht für unglücklich, weil ich bisweilen still und trübe bin? O nein, das bin ich nicht, und ich wäre undankbar, wenn ich mich beklagen wollte. Freilich bin ich auf meine eigene Weise glücklich geworden, denn Ruhe und Zufriedenheit wohnen in meiner Brust, und ich habe einen Bruder, und dieser Bruder hat einen Sohn, die beide herrliche und vortreffliche Menschen sind und mir das Leben auf jede Weise versüßen.«

»Das ist ein großes Glück, und Sie sind in der Tat nicht zu beklagen! Wer weiß, ob Ihr ehemaliger Geliebter nicht weit mehr zu leiden hat.«

»Wie meinen Sie das?« fuhr Karoline fast erschrocken auf.

»O, ich denke es mir nur so. Wer weiß, ob er glücklich geworden ist! Stellen Sie sich nur vor, er sei es nicht und habe längst das bittere Unrecht, welches er Ihnen einst getan, eingesehen. Stellen Sie sich ferner vor, das Gefühl dieses Unrechts, was ihm erst allmählich zum Bewußtsein gekommen, habe ihm das ganze Leben verbittert, er habe erkannt, daß er gerade dadurch, daß er Sie verließ, sein Lebensglück verfehlt, und daß es vielleicht nicht die Liebe, sondern eine Art Verzweiflung an sich selber war, was ihn in seine spätere Lage brachte. –«

»Halten Sie ein!« unterbrach Karoline die langsam und mit Bedacht Redende. »Sie erschrecken mich, Kind! Wie kommen Sie auf solche Gedanken?«

»Ganz einfach dadurch, daß ich Ihr Schicksal aus Ihrem eigenen Munde höre und dabei an das des Mannes denke, den Sie einst geliebt. O wie schrecklich muß in diesem Fall das Schicksal dieses Mannes sein, nicht wahr?«

»O gewiß, gewiß, mein liebes Kind!«

»Sehen Sie wohl! Er verdiente wirklich Mitleid, wie ich die Sache ansehe. Aber Sie hassen ihn wohl immer noch?«

»Hassen? Ich? Wie könnte ich das? Ich habe ihn ja nie gehaßt, ihm im Gegenteil seinen Fehltritt gegen mich schon lange verziehen.«

»Wirklich? So großmütig wären Sie gewesen?«

»Ist denn das Großmut, meine Liebe? Das ist ja nur ein natürliches weibliches Gefühl, und ich konnte nicht anders als nach meinem Gefühl handeln.«

»O, dann sind Sie ein gutes, edles Weib! So, gerade so habe ich Sie mir gedacht, und darum auch Ihnen meine Liebe und mein Vertrauen geschenkt. Ja, Sie taten recht, daß Sie dem Manne Ihrer Liebe verziehen. Wer weiß, was er für sein Unrecht gelitten hat! Vielleicht ist er von anderen ebenso getäuscht worden, wie er Sie getäuscht hat, denn das Schicksal, sagt man, sei gerecht, und wenn es seine Strafe auch spät verhänge, einmal verhängt es sie doch. Wenn Sie aber Ihrem Geliebten noch einmal im Leben begegneten, würden Sie ihm dann die Verzeihung, die Sie bis jetzt bloß empfinden, auch in Wahrheit angedeihen lassen und zu erkennen geben?«

»O mein Gott, mein Kind, das hoffe ich nicht nötig zu haben. Unsere Wege sind weit auseinander gegangen und treffen sich wohl niemals wieder.«

»Wenn er Ihnen nun aber doch noch einmal begegnete?«

»O, dann, dann wäre er meiner Verzeihung immer gewiß!«

»Das ist edel von Ihnen!« sagte Edda mit fester und ausdrucksvoller Stimme, »und nun danke ich Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit. Wir sind jetzt Vertraute fürs ganze Leben geworden, nicht wahr?«

Sie hatte sich bei den letzten Worten erhoben und ihre Arme gegen Karoline ausgebreitet, die sich nun auch langsam erhob. Karoline breitete die ihrigen ebenfalls aus, und beide Frauen schlossen sich fest aneinander, und ihre Lippen begegneten sich wiederholt.

Nach einer Weile aber machte sich Edda sanft aus der festen Umschließung Karolinens los und ließ wie zufällig ihren Blick auf die Uhr fallen.

»O Gott!« rief sie, »es ist schon beinahe sechs Uhr, und ich habe ganz und gar meine arme Mutter vergessen!«

»So gehen Sie zu ihr, Liebe, und trösten Sie sie, wie wir uns getröstet haben.«

»Ja, das will ich. Wir aber sind Freundinnen, nicht wahr? Und daß ich mich in Ihr Vertrauen gedrängt, verzeihen Sie mir. Ich stelle mich immer gern zwischen zwei feindliche Parteien und spiele die Vermittlerin. Das ist ein herrliches und echt weibliches Geschäft. Und in diesem Fall war ich besonders dazu verpflichtet, denn Ihr treuloser Geliebter war ja mein Landsmann, und man muß immer und überall für die Seinen kämpfen.«

Karoline sah das junge Mädchen wieder erstaunt an. »Aber was wollten Sie denn hier vermitteln?« fragte sie. »Wo sind denn hier zwei feindliche Parteien?«

»In Wirklichkeit sind sie nicht vorhanden,« versetzte Edda lächelnd, »aber sie konnten doch in Ihrem Herzen sein. Nun weiß ich aber, daß auch Ihr Herz nicht zürnt, daß Sie wenigstens den Frieden und die Versöhnung in sich tragen, und das genügt mir – ich bin mit meinem Besuche bei Ihnen sehr zufrieden.«

Karoline versuchte ebenfalls zu lächeln, und obwohl es ihr nicht recht gelang, sagte sie: »Ich denke es auch sein zu können.«

Da aber sagte ihr Edda schon Lebewohl, und hastig ihren Hut aufsetzend und sich kaum Zeit nehmend, die Handschuhe anzuziehen, hatte sie sie noch einmal geküßt und war dann rasch aus der Tür getreten, während Karoline, die von innerer Aufregung und dem Gespräch erhitzt war, im Zimmer zurückblieb. Kaum aber war sie wieder allein, so fiel ihr ein, daß diese Beichte einen ganz anderen Gegenstand gehabt und einen durchaus anderen Verlauf genommen habe, als sie vermutet hatte.

»O mein Gott!« sagte sie zu sich, »ich habe ja an meinen armen Franz gar nicht gedacht!«

Einen Augenblick blieb sie mitten im Zimmer stehen und dachte, die Stirn an die Hand gelegt, über irgend etwas nach. »Nein, nein,« sagte sie dann, »und wenn ich sie auch nicht nach ihrer Liebe zu Franz gefragt und sie mir nicht ihre Liebe zu ihm gestanden hat – sie kann weder mich noch ihn täuschen, und sie wird sich erst von unseren Verhältnissen haben unterrichten wollen, ehe sie ihm und mir ein Bekenntnis ablegt. Das aber ist eigentlich mehr seine Sache als meine, und am Ende ist es recht gut, daß es gerade so und nicht anders gekommen ist.«


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