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Buchschmuck

Siebentes Kapitel.
Ein dankbarer Freund und die Laune des Verliebten.

Es war dem guten Doktor Marssen gewiß nicht zu verargen, daß er bei dem heutigen Mittagessen ungewöhnlich heiter gestimmt war. Der fremde Patient, den er vor einigen Wochen in Mürren in einem so beklagenswerten Zustande kennen gelernt, und der nun doch in so kurzer Zeit von seinen vielfachen Verletzungen geheilt worden war, hatte ihn durch seinen Besuch und seine dankbare Anerkennung der ihm geleisteten ärztlichen Hilfe hoch erfreut, und die wohltuende Empfindung, die den anspruchslosen Arzt bei dieser Gelegenheit erfüllte, war ihm mehr wert als goldener Lohn, den ihm der reiche Mann aus warmem Herzenstriebe hatte zukommen lassen wollen. So saß er denn mit seiner Familie heute länger als gewöhnlich bei Tische, und wie er es bei so guter Laune liebte, trank er einige Gläser Weines mehr, als er sonst zu tun pflegte, wobei ihm sowohl seine Schwester wie Franz fast gegen ihre Neigung Gesellschaft leisten mußten, da erstere ihr Gespräch mit dem Bruder am vorigen Abend noch immer nicht ganz vergessen und letzterer an diesem Morgen zu seinen übrigen Sorgen und Aufregungen wieder etwas Neues und Seltsames zu denken bekommen hatte. So waren denn diese beiden gerade heute viel stiller und nachdenklicher als sonst, und Doktor Marssen bestritt fast allein die Kosten der Unterhaltung, die sich meist um den Senator drehte, der an diesem Tage eine so große Bewegung in der stillen Familie hervorgerufen hatte. Doktor Marssen erzählte den Seinigen alles, was er über den reichen Mann in Erfahrung gebracht, unter anderem, daß derselbe früher schon mehrere diplomatische Sendungen an verschiedenen Höfen ausgeführt habe, und daß er in der freien Reichsstadt Frankfurt selbst, wie ihm einige Bewohner der Ruchtischen Pension erzählt, einer großen Achtung und allgemeinen Ansehens genieße.

»Aber auch für deine Kunst,« schloß der Hausherr, seine lange Rede, »ist er nicht ganz ohne Bedeutung, Franz, und du solltest ihn warm halten, da er völlig der Mann ist, einen jungen Künstler in Ruf zu bringen. Er besitzt eine schöne Gemäldesammlung und hat bedeutende Mittel verwandt, um sie reichhaltig und kostbar zu machen, wie er nur selbst gesagt.«

»Das glaube ich wohl,« erwiderte der still zuhörende Maler, »auch ist er gewiß ein Kenner darin, wenigstens haben mich einige seiner Äußerungen überrascht, und im ganzen hat mir sein Kunstenthusiasmus recht wohlgetan.«

»Aber zuerst,« nahm nun Karoline das Wort, »hat er einen fast erschreckenden Eindruck auf mich gemacht. Ich war von der marmorartigen Bleiche seines Gesichts, seinem kleinen kahlen Schädel und dem großen schwarzen Bart so betroffen, daß ich ihm kaum antworten konnte, als er mich so freundlich anredete.«

»So ist es mir auch ergangen,« sagte Franz, »allein ich habe mich bald darin gefunden, und nachher hat sein eigentümlich sicheres, gefälliges und ungeniertes Wesen den ersten augenblicklichen Eindruck schnell und fast vollständig verwischt.«

»Es ist seltsam,« fuhr der Doktor wieder fort, »man hört so häufig die Meinung aussprechen, daß der erste Eindruck, den ein Mensch hervorbringt, der richtige sei, aber er ist es doch nicht immer. Auch ich erschrak, als ich ihn damals blutend und gebrochen vor mir liegen sah, nachdem man ihn aus der Eisspalte gezogen, und ich schrieb die Bleiche zuerst seinem körperlichem Zustande zu, den ich für lebensgefährlich hielt; allein als der arme Mann sein feuriges Auge gegen mich aufschlug und mit mir sprach, erkannte ich, daß ich mich geirrt, und daß diese unnatürliche Bleiche eine Eigentümlichkeit seiner Konstitution sei, wie mir das schon häufig vorgekommen ist. Indessen dieser auf mich zuerst wirkende Eindruck war der eines pathologischen Zustandes und gehört also nicht zu Eurer Betrachtung, die sich nur auf normale Lebensverhältnisse bezog.«

»Ja,« fuhr Franz etwas lebhafter fort, »man darf nach dem ersten Eindruck nie voreilig urteilen, glaube ich. Oft kann man erst nach langer Zeit von einem Menschen bestimmt sagen, ob der erste Eindruck, den er hervorgebracht, gerechtfertigt war oder nicht, und diesen Mann kennen wir ja alle erst seit kurzer Zeit.«

»Er wird sich bewähren, Franz, glaube es mir,« rief der Vater. »Und dafür habe ich noch einen Beweis, oder vielmehr eine praktische Erfahrung zur Seite.«

»Welchen denn?« fragte Karoline gespannt.

»Ein dankbarer Mensch ist fast immer ein guter Mensch, und daß dieser Mann dankbar ist, springt aus jedem seiner Blicke, jedem Worte, ich möchte sagen, aus jeder Pore hervor.«

In diesem Augenblick kam Resi herein und brachte einen Brief an Franz. »Wer hat ihn gebracht?« fragte dieser.

»Derselbe Diener, der den fremden Herrn heute morgen hierher gefahren hat.«

Alle sahen sich verwundert an, und die Verwunderung des Doktors und seiner Schwester nahmen nicht ab, als sie die Miene des Sohnes betrachteten, der den Brief sogleich erbrochen und zu lesen begonnen hatte. Je länger er aber las, um so größeres Staunen malte sich auf seinem Gesicht, wobei es eine dunkle Röte überflog, und als er mit Lesen fertig, war er so betroffen, daß er außer einem Ausruf des Staunens kein Wort hervorbringen konnte, welches den Anwesenden seine Empfindung verraten hätte.

»Was schreibt er? Was enthält der Brief, Franz?« rief Karoline hastig. »Denn ich sehe, daß es von Wichtigkeit ist, sonst wärest du nicht so erschrocken.«

»Ja,« sagte Franz, nachdem er sich gefaßt, »ich bin wirklich erschrocken, da – leset den Brief selbst. Wenn ich dem Manne vorher mit meiner Meinung, daß seine Erscheinung nichts Gutes verkünde, Unrecht getan, so nehme ich es gern zurück. Wenigstens was er so bald nach seinem ersten Besuche tut, bestätigt jene Meinung nicht.«

Doktor Marssen streckte die Hand nach dem ihm hingereichten Brief aus und las ihn laut vor; die mit flüchtiger und kräftiger Hand auf das Papier geworfenen Zeilen aber lauteten folgendermaßen:

»Mein lieber junger Freund! Nicht ein Unglück, wie ich zuerst dachte, hat mich in die Hände Ihres Herrn Vaters und dadurch in die Mitte seiner Familie gebracht, in der ich so edelgesinnte, liebenswürdige und talentvolle Personen gefunden habe, nein, jetzt betrachte ich es geradezu als einen Glücksfall, der mich auf so sonderbare Weise mit Ihnen in Interlaken bekannt gemacht hat. Doch ich muß rasch zur Sache schreiten, damit Sie nicht denken, ich habe bloß die Feder ergriffen, um Ihnen Schmeicheleien zu sagen, was, offen gesprochen, keine meiner starken Seiten ist. Also vorwärts!

Als ich heute morgen Ihre drei fertigen Bilder sah, habe ich ein zwiefaches Bedauern empfunden, nämlich erstens, daß mir so lange die Existenz eines so namhaften Künstlers, wie Sie einer sind, verborgen bleiben, und zweitens, daß ich jene drei herrlichen Bilder noch nicht mein nennen konnte. Jedoch will ich das Versäumte dadurch nachzuholen suchen, daß ich die Bekanntschaft dieses Künstlers hege und pflege, und ferner, daß ich mich meinerseits bemühe, diese drei Bilder so bald wie möglich mir zu eigen zu machen.

Sie sagten mir, lieber Freund, daß dieselben zu verkaufen seien, und daß Sie sich noch keinen Preis dafür festgestellt hätten, um nicht in dem Schein zu verfallen, als taxierten Sie Ihre Arbeiten höher als andere. Nun denn, um Ihrem Zartgefühl hierin entgegenzukommen, habe ich mich entschlossen, den Preis selbst zu bestimmen, für den ich sie kaufen will. Wenn Ihnen für jedes hundert Louisd'or genügen, so können Sie beiliegenden Wechsel, lautend auf dreihundert Louisd'or, zu jeder beliebigen Zeit in Bern realisieren – ist Ihnen aber der Preis zu niedrig, so sagen Sie es mir aufrichtig, und ich werde mich keinen Augenblick besinnen, Ihrer weiteren Forderung gerecht zu werden. Sollten Sie jedoch auf meinen innigsten Wunsch, mich den Besitzer jener wertvollen Gemälde werden und Sie meiner Sammlung einverleiben zu lassen, eingehen, so bitte ich Sie, dieselben noch so lange in Ihrem Atelier aufbewahren zu wollen, bis ich Interlaken verlasse, was wahrscheinlich erst in einigen Wochen geschehen wird.

Wenn ich auf meine bescheidene Anfrage, die ich so rasch wie möglich stelle, damit mir kein anderer Liebhaber zuvorkomme, nicht früher eine Antwort erhalte, so werde ich sie mir morgen vormittag bei Ihnen persönlich holen, und vielleicht ist mir das Schicksal günstig, daß ich dann meine Augen auf meinem eigenen Territorium spazieren führen kann, was ich heute leider nur auf einem fremden vermochte. Grüßen Sie Ihren Herrn Vater und dessen Fräulein Schwester, und seien Sie überzeugt, daß Sie einen warmen Verehrer Ihres schönen Talents gefunden haben in Ihrem

ergebenen von Dannecker.«

Als Doktor Marssen den Brief zu Ende gelesen hatte, sahen sich die drei Personen noch lange schweigend, fragend und erwartungsvoll an, und endlich war es diesmal Karoline, die ihren Empfindungen zuerst Worte leihen konnte.

»Dreihundert Louisd'or!« rief sie. »Ist es möglich! O Franz, Franz, der Mann hat dir kein Unheil gebracht, denn nun kannst du ja deinen Lieblingswunsch ausführen und schon in diesem Herbst nach Italien gehen!«

»Es ist wahr,« sagte Doktor Marssen, »daran habe ich noch gar nicht gedacht. Das war ein guter Anfang mit deinen fertigen Bildern. Wenn es so fortgeht, wirst du bald ein reicher Mann sein.«

»Aber mein Gott, du sprichst ja gar nicht?« rief Karoline, stand auf und fuhr dem Liebling mit ihren weichen Händen durch Bart und Haar. »Bist du so erschrocken über dein Glück oder plagt dich ein anderes Gefühl? Du bist auch ganz blaß geworden.«

In der Tat, Franz, dessen Gesicht vorher eine so lebhafte Farbe gezeigt, war auffallend blaß geworden, aber erst nachdem Karoline gesagt, daß er nun nach Italien gehen könne, was früher sein sehnlichster Wunsch gewesen, den jedoch seine jetzige Gemütsstimmung und die frisch aufquellende Leidenschaft für ein anderes Wesen tief in den Hintergrund gedrängt hatte.

»Es ist kein Wunder, wenn ich blaß geworden bin,« sagte er endlich. »Ich habe mich wirklich erschrocken, wie das erste Mal, als mir Herr von Dannecker vor Augen trat; der Mann scheint mir mit jedem Schritt, den er tut, von Bedeutung zu sein. Sein Angebot kommt mir so unerwartet und plötzlich, daß ich mich nicht gleich darein finden kann, und ich muß völlig zur Überlegung kommen, ehe mir das Glück, welches er mir bietet, wirklich begreiflich wird. Erlaubt, daß ich mich ein wenig im Freien bewege, es ist mir zu warm hier, und wenn ich wieder zu Euch komme, werde ich imstande sein, Euch meine Meinung zu sagen.«

Kaum war er nach diesen Worten in den Garten hinausgetreten und hatte die Richtung nach seinem kleinen Hause genommen, wo er sich einen raschen Blick über den leider noch immer leeren Nachbargarten vergönnte, so wandte sich Karoline zu ihrem Bruder und flüsterte:

»Leo, du siehst mich völlig verdutzt durch diesen Brief. Sage mir aufrichtig, sind denn diese drei Bilder wirklich eine so hohe Summe wert? Ich verstehe mich freilich nicht darauf. Oder will der reiche Mann dir auf diese Weise seinen Dank aussprechen, da du denselben, wie du mir vorher sagtest, auf jede andere Weise abgelehnt hast?«

»Um Gotteswillen. Karoline, was sprichst du da?« versetzte Doktor Marssen, sich scheu nach dem Garten umblickend. »Laß solche Worte deinen Liebling nicht hören, sonst raubst du ihm die ganze Freude und machst ihn auf lange Zeit unglücklich. Gewiß hat der Senator mit dem Ankaufe jener Bilder seine Dankbarkeit gegen mich an den Tag legen wollen, aber die Bilder sind darum nicht weniger wert, als er geboten hat. Ich habe kleinere und unbedeutendere Gemälde für einen noch höheren Preis verkaufen sehen, und auch hierin wird häufig mehr der Name des Künstlers als sein Kunstwerk bezahlt. Wollte der Mann dagegen mich mit diesem Kauf belohnen, so wäre jener Preis als Honorar für ärztliche Behandlung, mag sie auch noch so glücklich gewesen sein, jedenfalls viel zu hoch, und er muß also allein unserm Franz gutgeschrieben werden. Siehst du, wie recht ich hatte, wenn ich immer predigte, er solle seine Arbeiten dem Auge der Welt vorstellen? Kaum ist es geschehen, so haben wir den Beweis davon in Händen.«

»Noch hat er ihn nicht. Wer weiß, ob er die Summe nimmt!«

»Wie du so sprechen kannst! Natürlich wird er sie nehmen, mit herzlichem Danke, und wird rasch noch einige Bilder dazu malen und dann getrost einige Jahre in Italien verbringen.«

»Aber mein Gott, also wirklich – wir sollen ihn verlieren? Das ist am Ende doch ein Unglück für uns, welches nur die Maske des Glücks trägt.«

»Wenn du so sprichst, habe ich freilich nichts mehr zu sagen,« erwiderte Doktor Marssen und stand auf, um zu Franz zu gehen, der eben den Weingang herabkam, um sich in sein Glück, das nach Karolinens Meinung am Ende nur eine Maske war, gefunden zu haben schien. Wenigstens lächelte er dem Vater freudig entgegen und reichte ihm die Hand.

»Ich danke dir, Vater,« sagte er, »daß du mir deinen genesenen Patienten zugeführt hast; der neue Freund erweist sich auch zugleich gegen dich dankbar, wenn er mir meine Bilder so rasch und gut bezahlt.«

»Aha,« dachte der Doktor, »der faßt die Sache vernünftig auf. – Nun ja,« sagte er laut, »aber du mußt deshalb den Wert deiner Arbeit nicht geringer schätzen. Ich habe bloß die Gelegenheit zum Verkauf geboten, und deine Leistungen allein haben ihn zustande gebracht. So verhält sich die Sache – du nimmst das Geld also an?«

»Natürlich, und ich werde mich nachher umkleiden und dem Senator meinen Besuch machen. Das scheint mir in der Ordnung zu sein, damit er nicht nötig hat, bis morgen auf meine Entscheidung zu warten.«

»Das ist recht, Franz, das lobe ich. Erfreue den Mann mit dem kleinen Geschenk der Höflichkeit, der dich mit der großen Gabe der Würdigung deines Talents erfreut hat, und nun erst statte ich dir meinen Glückwunsch ab.«

*

Zwei Stunden später befand sich Franz auf dem Wege nach Beausite in Unterseen, um Herrn von Dannecker einen Besuch zu machen und ihm seine Beistimmung zu dem Verkauf der Bilder auszusprechen. Er traf die Familie in Gesellschaft mehrerer anderer Personen zu Hause und ward auf die freundlichste, ja herzlichste Weise ausgenommen. Nicht allein der Senator selbst, auch seine Frau, eine unterhaltende und ganz den Neigungen ihres Gemahls ergebene Dame, beeiferte sich, dem Gaste es bei sich bequem und behaglich zu machen, und Franz hatte die angenehme Empfindung dabei, die wohltätigste, die uns bei einem ersten Besuch zu Teil werden kann, als sei die Familie, in die er soeben getreten, nicht eine ihm bisher völlig unbekannte, sondern als habe er schon jahrelang mit ihr in Verbindung gestanden und sei nur durch zufällige Umstände von ihr ferngehalten worden.

Natürlich war in diesem Kreise sehr viel von den Schönheiten der Natur und den gelungenen Nachbildungen derselben durch die Kunst die Rede, und der Senator wie seine Frau holten mehrere Albumbände hervor, die sie auf der Reise begleitet hatten und sehr hübsche Zeichnungen und Aquarellen enthielten. Mit der Betrachtung und Besprechung derselben gingen rasch einige Stunden hin, und Franz erschien erst spät im väterlichen Hause wieder, als die beiden älteren Personen schon am Abendtisch saßen und nun durch seine Mitteilungen über die Frankfurter Familie abermals zu einem beifälligen Gespräch über dieselbe veranlaßt wurden.

Am nächsten Tage gegen Mittag, als Doktor Marssen gerade vom Hause abwesend war, stattete der Senator auch mit seiner Frau Karolinen einen freundschaftlichen Besuch ab, und während die Damen sehr bald in eifrige Unterhaltung gerieten, begab sich der Kunstfreund nach dem Atelier des Malers, wo er etwa eine Stunde verweilte und sich sein neues Eigentum mit vollem Behagen betrachtete.

Am nächstfolgenden Tage machte Karoline, die an der Frau des Senators ein fast noch größeres Wohlgefallen als an ihm selber gefunden hatte, in Begleitung des Doktors ihren pflichtschuldigen Gegenbesuch, und somit war die nähere Bekanntschaft und das häufigere Beisammensein der beiden Familien festgestellt, obwohl Doktor Marssens Schwester öfter die fremde Dame bei sich sah, als sie dieselbe in der Pension besuchte, denn die gute Karoline war etwas schwerfällig in ihren Beziehungen zur Außenwelt geworden, sie liebte zu sehr ihr behagliches Hauswesen und war damit so innig verwachsen, daß sie eigentlich nur zu leben glaubte, wenn sie in den engen Grenzen desselben in gewohnter Weise beschäftigt war. Ihr Bruder dagegen setzte noch immer seine Morgenbesuche bei dem Senator fort, im übrigen hielt er sich nach wie vor möglichst seine Zeit frei, denn auch er war an ein stilles, beschauliches Leben gewöhnt und, wenn er auch bisweilen gern mit gleichgesinnten Menschen verkehrte, sein eigentümlich begabter Geist zog die ungestörte Einsamkeit allen übrigen Zerstreuungen vor, und so blieb er wie in früheren Tagen seinen Spaziergängen und Ritten in die Berge treu, ohne sich von den Wünschen des Senators bestimmen zu lassen, der den Mann, den er so lieb gewonnen, gern den ganzen Tag um sich gehabt hätte.

Franz dagegen, so gern er es auch bisweilen getan hätte, vermochte sich der schnell wachsenden Freundschaft und Zuneigung des edlen Mannes am wenigsten zu entziehen, und in sein bisher so stilles Leben griff die neue Bekanntschaft daher am tiefsten ein. Tagtäglich, oft schon in ganz frühen Morgenstunden, kam Herr von Dannecker, wenn er den Doktor nicht mehr zu Hause gefunden, zu ihm ins Atelier, brachte lange Zeit darin zu, freute sich über den Fortschritt in den Arbeiten und beobachtete dabei die Art und Weise der Arbeit selbst, die Farbenmischung und die Technik des Künstlers mit einem stets wachsenden Eifer und der ungeteiltesten Aufmerksamkeit. Dabei verhielt er sich, nur seine Zigarre rauchend, in der Regel still, um den jungen Mann nicht in seinen Kombinationen zu stören; oft aber knüpfte er interessante Gespräche über die Kunst und die Künstler selbst an, von denen ihm viele persönlich bekannt waren, wie er denn auch höchst ergötzliche Dinge von ihnen mitzuteilen wußte.

Infolge dieses häufigen Verkehrs, der sich bisweilen auch auf abendliche Spaziergänge ausdehnte, da der Senator seinen Fuß bald wieder vollkommen gebrauchen konnte, gewann Franz den neuen Freund in kurzer Zeit sehr lieb, ohne jedoch ein so heißes Verlangen nach der Gesellschaft desselben kundzugeben, wie dieser nach der seinigen es an den Tag legte. Aber der Frankfurter Herr besaß nicht nur einen feinen Blick bei Beurteilung künstlerischer Erzeugnisse, er war auch ein erfahrener und mit scharfem Verstande begabter Menschenkenner, und wie er sehr bald den hohen Wert des gediegenen und in allen menschlichen Dingen bewanderten Vaters erprobt, so hatte er auch ebenso rasch den gebildeten Geist, das edle Herz und den lauteren Sinn des Sohnes erkannt, und es war daher kein Wunder, daß er sich zu der harmlos lebenden Familie des verbannten Schleswigers hingezogen fühlte, zumal die meisten seiner übrigen Bekanntschaften in Interlaken, das so oft seine Bewohner wechselte, nur oberflächliche und in der Regel schnell vorübergehende waren.

Wenn Franz, als er die freundschaftlichen Beziehungen zwischen sich und dem neuen Freunde so rasch wachsen sah, anfangs befürchtet hatte, derselbe würde noch einmal zu seinen früheren Fragen und Erkundigungen nach der Dame zurückkehren, mit deren Porträt er anhaltend beschäftigt war, so hatte er sich in dem diplomatischen Kunstkenner sehr geirrt. Allerdings betrachtete dieser oft mit stillem Vergnügen und geheimer Freude das sich immer mehr der Vollendung nähernde Gesicht der schönen Dame, auch blickte er nicht selten, wenn Franz die Richtung seiner Augen nicht beobachten konnte, durch das offene Fenster in den benachbarten Garten hinaus, nie aber kam ein Wort mehr über seine Lippen, das die Familie des Barons Bolton betroffen hätte, und aus diesem beharrlichen Schweigen entnahm Franz, daß die verheißenen Nachforschungen demselben wohl noch nicht stattgefunden haben müßten, oder daß er sie vielleicht gar vergessen habe und sich mehr mit seinen eigenen Angelegenheiten, als denen anderer beschäftigte.

Was nun die eigentliche Gemütsstimmung unseres Freundes in dieser äußerlich so belebten, innerlich aber so wenig befriedigenden Übergangsperiode seines Lebens betrifft, so haben wir darüber eben nicht viel Erfreuliches zu melden. Wie es schien, ging er auf die heiteren Unterhaltungen des neuen Freundes anfangs mit lächelnder Miene ein, und auch an den Zerstreuungen, die derselbe außer dem Hause veranlagte, nahm er nicht gerade ungern Teil, allein eine wahre Herzensbefriedigung fand er darin keineswegs. Er war jedoch im ganzen von jeher so gewohnt, sich zu beherrschen, daß er selten jemanden in sein Inneres blicken ließ, noch viel weniger aber erschloß er seine Empfindungen in jetziger Zeit, und nur wenn er gänzlich ungestört und unbeobachtet war, gab er sich ihnen mit der ganzen leidenschaftlichen Energie seines zum ersten Mal so tief ergriffenen Herzens hin. In diesen einsamen Stunden prägte sich der ganze Schmerz seines Wesens auf seinen sonst so ruhigen Gesichtszügen aus; dabei grübelte und quälte er sich ab, um eine Entschuldigung oder nur eine Erklärung des seltsamen Verhaltens jener Bewohnerin der stillen Pension aufzufinden, und je länger ihm der Anblick derselben entzogen blieb, um so heller loderte das Verlangen nach ihr in seinem Herzen auf und um so dichter gestaltete sich der trübe Schleier, der ihm die ganze Außenwelt allmählich zu verhüllen und zu verdüstern begann.

Aber so viel sich Franz auch zergrübeln und quälen mochte, er konnte das eigentümliche Verhalten Miß Eddas nicht recht begreifen. Sonst war sie so oft, täglich sogar mehrmals, in den Garten gekommen und hatte sich ihm genähert, um mit ihm eine Unterhaltung zu pflegen oder irgend eine Verabredung zu treffen. Seit jener Reise aber, die der Hoffnung auf Fortsetzung der Bekanntschaft erst recht freien Spielraum ließ, und seitdem sie der Tante den letzten Besuch gemacht und diese bei sich empfangen hatte, war sie gleichsam aus der sie umgebenden Welt verschwunden, und keine Spur von ihrem Verbleiben, ihrem Handeln und Wandeln war zu erspähen, so oft auch Franz nach einer solchen trachtete und seine Aufmerksamkeit nach allen Seiten richtete.

In ihres Vaters Haus zu gehen und ihr jetzt noch einen verspäteten Besuch abzustatten, obwohl er daran häufig gedacht, wagte er nicht; seit jener für ihn so wichtigen und ereignisvollen Reise waren zu viele Tage verstrichen, und man hätte sich vielleicht über seine endlich an den Tag tretende Höflichkeit wundern können. Aber nicht allein an dem Mut zu diesem immer noch möglichen Besuch fehlte es ihm, es war noch ein anderer, innerer schwer zu bezeichnender Grund vorhanden, der ihn von jeder freiwilligen näheren Berührung mit der Familie des Barons zurückhielt. Gerade durch die Äußerung des Herrn von Dannecker, daß der Name Bolton ein künstlicher, angenommener sein und daß sich hinter demselben eine ganz andere Persönlichkeit verbergen könne, hatte sich das alte, vom ersten Tage der Bekanntschaft an begonnene und jetzt wieder aufgefrischte Geheimnis, welches diesen Mann umgab, vergrößert und verdichtet, und Franz empfand ein fast schmerzliches Pochen in der Brust, wenn er an die leicht mögliche Aufklärung dachte, die ihm der Senator an jenem ersten Morgen seines Besuches verheißen hatte.

Auch von anderer Seite her konnte er nichts über die Bewohner der stillen Pension erfahren, denn er traf niemals mit einem ihrer Bekannten zusammen. Die holländische Familie hatte er zu besuchen unterlassen, teils aus Lässigkeit, die aus angeborener Abneigung gegen solche Besuche entsprang, teils aus Scheu, seine kostbare Zeit durch so viele neue Bekanntschaften zersplittert zu sehen. Auch der stille und auf der Reise so wehmütig gestimmte Ungar, der ihm unter so seltsamen Lamentationen in jener Nacht in Grindelwald einen Besuch versprochen hatte, ließ sich nicht blicken, und so gern Franz ihm in den letzten Tagen zufällig begegnet wäre, er traf ihn nirgends, obwohl unser Freund jetzt häufiger als sonst auf den Straßen und in den Umgebungen Interlakens zu finden war.

Endlich schien auch Tante Karoline in ein, ihm freilich unerklärliches, im ganzen aber sehr natürliches Schweigen über die junge Dame verfallen zu sein, von der sie mit dem Neffen doch früher so oft und gern gesprochen hatte. Seit ihrem Besuche im Nachbarhause hatte sie über Miß Edda kein Wort mehr gegen Franz fallen lassen, denn sie fürchtete sich, den in dem jungen Manne schlafenden Vulkan durch vielfaches Sprechen über den betreffenden Gegenstand zu einem Ausbruch zu reizen, und so sehr Karoline ihren Liebling auch alles mögliche Glück und allen Segen, selbst durch eine glückliche Liebe wünschte, so sehr starrte sie doch vor einer verhängnisvollen Leidenschaft bei ihm zurück, deren Ende nach ihrer Ansicht der Sachlage kein günstiges und wünschenswertes sein konnte.

So war denn also Franz auf sich selbst angewiesen, und da ihm von keiner Seite von außen her die geringste Handhabe zur Bewältigung seiner Neigung geboten wurde, so versank er allmählich, wovon er früher so weit entfernt gewesen, in eine stille Träumerei, der er sich in einsamen Stunden mit vollem Bewußtsein hingab und deren mit Wonne durchwebte Schmerzen er mit der ganzen jugendlichen Kraft und Frische seines bisher unangetastet gebliebenen Herzens wie den ihm vom Verhängnis dargereichten Trank unvermeidlicher Notwendigkeit genoß.

Schon war es ihm zur unabweislichen Gewohnheit geworden, den ihm so naheliegenden Obstgarten als Tummelplatz seiner geheimsten Gedanken zu betrachten, und am frühen Morgen, den Tag über, so oft er nur im Atelier allein war, bis zum Abend hin, lauschte er in die stillen Schatten unter den Apfelbäumen hinüber, aber niemals bewegte sich ein menschlicher Fuß darin auf und ab, und zu seinem größten Schmerze waren endlich eines Morgens auch der Tisch und die beiden Gartenstühle verschwunden, die bisher noch immer in der Nähe seines Fensters gestanden, und eine endliche Rückkehr der früheren Besucherinnen hatten erwarten lassen.

Als Franz etwa acht Tage nach seiner Rückkehr von der Reise diese letzte Beobachtung machte, da wogte ein nie empfundener Schmerz durch seine Brust, und mit trüben Augen stand er am Fenster und schaute in den Garten wie in eine Welt hinein, die mit einemmal leer, kalt und öde für ihn geworden war und ihm nichts von dem bot, was sie ihm früher so freigebig und fast prahlerisch verheißen hatte. Allein wie ein wirklich tiefer Schmerz einen energischen Geist nicht immer bloß entmutigt, sondern ihn auch oft aus seiner stillen Verzweiflung reißt und mit mächtiger Elastizität zu seiner ursprünglichen Klarheit und Größe wieder erhebt, so war gerade diese letzte Wahrnehmung, die, an sich so unbedeutend, dennoch eine so große Revolution in seinem Innern erzeugte, dazu angetan, seinen Geist aus dem trägen Schlummer zu wecken, in den er so unvermutet gefallen war. Mit fester Hand griff er in die Saiten seiner Brust, und indem er seinem Herzen Ruhe gebot, rief er seine ganze Willenskraft auf, auch den wehmütigen Empfindungen, die es durchzogen, Stillstand zu gebieten, und indem er das verräterische Fenster mit leise bebender Hand schloß, sagte er sich:

»Er ist vorbei, Franz, der schöne Traum, der hier begonnen hat und so schnell den hohen Berg der kühnsten Hoffnung erstieg. Es ist bitter, schmerzlich, und dein Herz blutet dabei, aber sei ein Mann und ertrage, was sich mit dem besten Willen nicht ändern läßt. Vielleicht war alles ein Irrtum, eine Täuschung, was du dir gedacht, ausgemalt und also auch empfunden hast, und dann ist es gut, daß du auf den Weg der Wahrheit und so zu dem notwendigen Ziele, zu dir selbst wieder zurückgelangst. Auf, raffe deine Kräfte zusammen und gebrauche sie – diese Edda ist ein schönes, herrliches, verführerisches Weib – ach ja, das ist sie, aber ob sie dir von der Vorsehung gesandt war, um dich wahrhaft zu beglücken, das steht dahin, und die Zweifel und Bedenken, die ich von Anfang an über die geheimnisvolle Bedeutung ihrer Erscheinung gehabt, sind am Ende doch gerechtfertigt gewesen, und die Vorsehung hat sie mir gerade als Warnung vor der Gefahr geschickt. So lebe denn wohl, du schöner kurzer Traum, ich muß mich zum nüchternen Erwachen anschicken, denn ich habe ein großes und schweres Tagewerk vor mir, das du mir nicht länger stören darfst. Ja, ja, ich preise das Geschick, das mich mit diesem Manne zusammengeführt, er hat mir die Mittel gegeben, in das gelobte heilige Künstlerland zu pilgern, und nur da, nur da werde ich vergessen und genesen können, von der Krankheit genesen und sie vergessen, die in diesem Zimmer begonnen hat und nun darin enden soll!« –

Der törichte junge Mann! Er sprach davon, daß ihn bisher ein Traum umfangen gehalten und daß er erwachen müsse, um an sein schweres Tagewerk zu gehen. Ach, und er ahnte nicht, daß in demselben Augenblick, als er dieses in qualvoller Selbstschau zu sich sprach, nicht ein geträumtes Glück, sondern das Leben selbst mit allen seinen göttlichen Impulsen an ihn herantrat, um ihn auf seine Weise zu diesem Tagewerke zu führen, und daß dieses eine ganz andere Gestaltung erhalten sollte, als er sich in seiner Befangenheit und Kurzsichtigkeit vorgestellt hatte.

*

Als Franz an diesem Morgen zeitiger denn sonst sein Atelier verließ und nach dem Vorderhause ging, fand er Herrn von Dannecker unter der Veranda, der soeben gekommen war und im Begriff stand, dem Doktor und seiner Schwester eine Bitte vorzutragen, die er nun zugleich auch auf Franz ausdehnen konnte, wie er sagte, nachdem er denselben mit einigen Worten begrüßt hatte.

»Ja, meine lieben Freunde,« begann der Senator seine Anrede, »ich komme heute mit einer Bitte auf dem Herzen, die Sie alle drei zugleich betrifft und die ich im Namen meiner Frau und in meinem eigenen an Sie richte, in der Hoffnung, keines von Ihnen werde sich von der Erfüllung derselben ausschließen wollen.«

»Oho!« unterbrach ihn der Doktor scherzend, »das ist ja eine wahrhaft feierliche Einleitung. Was für eine Bitte könnten wir Ihnen denn wohl nicht erfüllen wollen?«

»Sie sind sehr gütig, lieber Freund, und sprechen da eben ein Wort aus, welches mich die Befriedigung meines heutigen Wunsches sicher erwarten läßt. Mit einem Wort: Morgen abend um acht Uhr findet im Gesellschaftshause ein gutes Konzert statt, dem ein Ball für die jungen Leute und ein Abendessen in Familie folgen soll. Es sind ein paar tüchtige Virtuosen angekommen, und nun hat sich ein Komitee gebildet und die Anordnung der hier so seltenen Festlichkeit in die Hand genommen. Alles, was zur guten Gesellschaft gehörig in Interlaken ist, wird daran Teil nehmen, und so lautet meine ergebenste Bitte dahin, daß auch Sie drei unsere Gäste seien und uns und der Gesellschaft ein paar Stunden zum Opfer bringen, die Sie sonst im friedlichsten Schlaf zu verträumen pflegen.«

Karoline, den Schluß im voraus erratend, hatte schon während der Rede des Senators ihrem Bruder einen geheimen Wink zukommen lassen und dieser hatte ihn wohl verstanden, wie er seine Schwester immer verstand. »Mein lieber Freund,« sagte er, als der Senator seine Rede beendigt, »daß Sie eine solche Bitte an uns beide, das heißt, an meine Schwester und mich richten könnten, ist mir nicht im Traume eingefallen, sonst würde ich meine letzten Worte vorher nicht gesprochen haben. Leider sind wir beide nicht imstande, Ihrer gütigen Einladung Folge zu leisten, denn wir haben uns schon seit vielen Jahren von solchen Lustbarkeiten fern gehalten und unser Sinn ist so ganz anderer als moderner Art, daß Sie es uns schon zu gute halten werden, wenn wir mit Ihrer Erlaubnis auch diesmal zu Hause bleiben.«

»Ja, mein lieber Herr Senator,« nahm nun auch Karoline das Wort, »mein Bruder hat ganz nach meiner Empfindung gesprochen. Aufrichtig gesagt, wir beide taugen für dergleichen Fröhlichkeiten nicht und befinden uns am wohlsten, wenn wir in ungestörter Ruhe in unserm Hause nach alter Gewohnheit fortleben können.«

Der Senator sah den Doktor wie seine Schwester nach einander bedächtig an und er fand auf ihren ernsten Gesichtern den festen Entschluß ausgeprägt, ihre Worte in Ausführung zu bringen. »So,« sagte er scherzend, »also ich bin vollkommen abgeblitzt. Nun, das habe ich kaum erwartet; aber wenn Sie mit so ernstem Wesen Ihre Neigung oder Abneigung kund tun, würde es mir nicht ziemen, Sie überreden zu wollen. So wende ich mich denn an Sie, mein junger Freund,« sagte er zu Franz, der mit niedergeschlagenen Augen und mit schon im voraus nicht viel versprechender Miene daneben stand, »und hoffe, daß Sie dann Ihre Lebensgeister dreifach potenzieren werden, um die Lücke auszufüllen, die Ihr Vater und Ihre Tante mir zu reißen belieben. Nun natürlich, auf Sie kann ich bestimmt rechnen, nicht wahr?«

»Herr Senator,« sagte Franz so ernst wie vorher sein Vater, »auch ich muß diesmal leider Ihre gütige Einladung ablehnen.«

»Wie?« riefen der Senator, Doktor Marssen und Karoline zugleich.

»Warum denn das?« fragte darauf der erstere, den jungen Mann mit einem seiner schärfsten Blicke fixierend.

»Ganz einfach darum, weil ich nicht in der Stimmung bin, ein Vergnügen, wie Sie es uns so freundlich zugedacht haben, auf mich wirken zu lassen und selbst zum Vergnügen anderer beizutragen.«

»Sie tun nicht recht,« sprach jetzt der Senator mit einer beinahe mentorartigen Miene, »daß Sie diese Einladung so apodiktisch von der Hand weisen. Sie, gerade Sie, sollen und müssen sich zerstreuen, das ist Ihnen wohltätig, notwendig, wie das liebe Brot und der goldene Sonnenschein. Sie sitzen und pinseln und grübeln dabei zu viel und sind viel zu viel allein. Es ist nicht gut und heilsam, wenn ein junger Mann von Ihren Verhältnissen und Talenten sich so früh den Einwirkungen der großen Welt verschließt. Nein, er erst recht muß hinaus und mitten in die lärmvollste Welt; auf ihren Wogen schwimmt und flutet ein reicher, üppiger Stoff, und diesen Stoff muß man sich nicht verflüchtigen und ungenützt verdampfen lassen. So muß ich denn also eine entschiedene Sprache gegen Sie führen, etwa so: Ihre Ablehnung nehme ich als nichtgesprochen an. Sie werden mit uns und einer alten Dame, die meine Frau begleitet, das Konzert und den Ball besuchen und brauchen nicht zu fürchten, von meinen Damen in irgend eine Ecke gepreßt oder zum Tanzen im voraus verurteilt zu werden. Meine Frau tanzt nämlich gar nicht. Nein, Sie sollen sich nach Belieben ganz frei überall hin bewegen, sollen alle schönen Frauen und Mädchen, an denen Interlaken in diesem Jahre so reich ist, betrachten und bewundern können, und wenn Sie genug getanzt, gesehen und bewundert haben, dann speisen und trinken wir wie sehr materielle Menschen, das heißt, das Beste, was es gibt, und gehen endlich vergnügt nach Hause, um morgen noch einmal so munter als gewöhnlich an unsre Arbeit zurückzukehren.«

»Ihre Malerei ist sehr ausführlich,« erwiderte Franz lächelnd, »und Ihre Worte klingen verlockend. Dennoch aber fühle ich mich außerstande, mich sogleich als flotter Tänzer zu melden – ich bin in Wahrheit in keiner geselligen Stimmung.«

»Das findet sich, das findet sich, vertrauen Sie meiner Erfahrung. Also Sie halten sich gegen acht Uhr bereit, wir holen Sie mit unserm Wagen ab.«

Franz erhob seine redlichen Augen mit einer stummen, aber so eindringlichen Bitte gegen den Freund, daß dieser fast schon im stillen von seiner Hoffnung Abschied nahm. Da besann er sich noch einmal und sagte:

»Halten Sie ein, lieber Freund, und sagen Sie weder bestimmt zu, noch ab. Überlegen Sie sich lieber meinen Vorschlag bis heute abend, und wenn Sie dann Lust haben, mit uns zu gehen, so wird es immer noch Zeit sein, daß ich meine Anordnung treffe. Damit sind Sie doch einverstanden?«

»Ja,« erwiderte Franz, dem festen Willen des Senators halb und halb nachgebend, »damit bin ich einverstanden.«

»Nun, dann bin ich mit meinem heutigen Morgenbesuche zu Ende und ich habe das Vergnügen, mich Ihnen allerseits bestens zu empfehlen. Kommen Sie, junger Mann, und begleiten Sie mich noch ein Stückchen; ich lege einen Weg nicht gern allein zurück, wenn ich einige Körbe empfangen habe.«

Als Franz mit dem Senator fortgegangen war, sahen sich die beiden zurückbleibenden Geschwister befremdet an.

»Der Junge machte einen seltsamen Eindruck auf mich, als er so fest mit seiner Ablehnung hervorkam,« sagte der Doktor zuerst. »Dem scheint wirklich etwas anderes im Sinne zu stecken als seine Malerei allein – was meinst du dazu?«

Karoline wiegte bedeutsam und fast bitter vor sich hin lächelnd den Kopf. »Ich habe es ja gesagt,« murmelte sie, »doch Ihr Männer seid immer die Sieger mit Eurer Meinung. Im ganzen aber, Leo, kann ich ihm seinen Entschluß, zu Hause bleiben zu wollen, nicht übel nehmen. Bedenke es recht, guter Bruder. Er war nie ein großer Freund von Bällen und prunkvollen Gesellschaften, am wenigsten an einem Badeorte, wo der Flitter und Schimmer die Hauptsache ist. Er ist nun einmal ein ernsterer Mensch als andere junge Leute, und eigentlich – verdenke ich ihm nicht, daß er so vernünftig ist wie wir.«

»Gut, wenn du so sprichst, bin ich zufrieden. Rede nicht, mit ihm darüber, wenn er zu Tisch kommt. Erörterungen über Gegenstände, deren Beurteilung persönlichen Neigungen unterliegt, sind mir peinlich, und so laß ihm seinen Willen, ohne ihm weder zu- noch abzureden, wie wir es auch in anderen Dingen uns zur Richtschnur gemacht haben.«

»Ich stimme dir bei, Leo, und diesmal erkläre ich mich nicht für besiegt, sondern für überzeugt. Und nun will ich gehen und sehen daß der Braten seine rechte Farbe erhält. Guten Morgen, mein Lieber!«

*

Franz kam gegen ein Uhr nach Hause und man aß, ohne des Besuches des Senators und seiner Einladung auch nur mit einer Silbe zu erwähnen. Nach Tische suchten die beiden Geschwister ihre stillen Zimmer auf und Franz begab sich in sein Atelier, diesmal aber keine besondere Lust zum Malen empfindend. Er setzte sich auf sein kleines Sofa und nahm ein Buch vor, worin er eine Weile las, bis er plötzlich, von der Wärme des heißen Tages überwältigt, eine leichte Müdigkeit fühlte, daß er rasch erlag und länger als eine volle Stunde schlief. Ja, er schlief so fest, daß er selbst nicht erwachte, als sein Vater die Treppe heraufkam, die Tür des Ateliers öffnete und, da er den Sohn schlafend fand, leise wieder davonging und nun allein einen Spaziergang in die schattigen Berge antrat, zu dem er den Maler hatte auffordern wollen.

Als Franz endlich erwachte, wunderte er sich über sich selber, denn selten schlief er bei Tage, und noch dazu so lange, wie er jetzt an seiner Uhr sah. Rasch erhob er sich von dem Sofa und trat an die Staffelei, auf der die fast ganz vollendete schottische Landschaft stand. Als er aber eben einen kurzen Blick darauf geworfen, kam es ihm drückend heiß in dem eingeschlossenen Raume vor, und er ging hastig nach dem Fenster, um es zu öffnen. Kaum aber hatte er einen Blick in den Garten geworfen, so fuhr er fast erschrocken zurück, denn unter dem bekannten Apfelbaum stand Miß Rosy und warf einen neugierig fragenden Blick nach seinem Fenster herauf.

»Wie, Miß Rosy,« rief er ihr zu, »seh' ich recht? Sind Sie von den Toten wieder auferstanden?«

»Guten Tag, Sir,« erwiderte die Engländerin, freundlich nickend, »kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«

»Ich stehe auf eine Stunde zu Ihren Diensten, mein Fräulein.«

»Das ist mir lieb, dann gedulden Sie sich nur kurze Zeit. Ich muß erst noch einmal nach dem Hause gehen und ein kleines Geschäft verrichten. Ich bin sogleich wieder hier.«

Und ohne auf seine Antwort zu warten, hüpfte sie unter ihrem Sonnenschirm rasch durch den Garten und war den ihr verwundert nachschauenden Blicken des Malers bald entschwunden.

Dieser stand mit laut pochendem Herzen an dem offenen Fenster und blickte starr auf die Stelle hin, die soeben noch Miß Rosys leichte Gestalt ausgefüllt hatte. War es denn möglich, mußte er sich selbst fragen, daß diese rasch vorübergehende Erscheinung unter dem Apfelbaum eine so große Revolte in seinem Innern hervorzubringen vermochte? Ja, es mußte wohl möglich sein, denn alle Sorgen und Qualen, die er viele Tage hindurch zu überstehen gehabt, waren, als hätte sie ein reinigender Windstoß vertrieben, von seiner Seele gewichen, und seine Brust atmete so frei und leicht die wonnige Sommerluft, als wäre sie nie von einem Kummer bedrückt gewesen. Wie lange er so in neuen glücklichen Träumen befangen, wartend am Fenster stand, er wußte es nicht, er wachte erst daraus auf, als Miß Rosy wieder in die Nähe des Fensters trat und ihm mit freundlichem Lächeln noch einmal einen guten Tag bot.

»Sehen Sie,« sagte sie, »da bin ich schon wieder, ich habe mein kleines Geschäft bald beendet.«

»Ich freue mich darüber, und noch viel mehr freue ich mich, daß ich Sie einmal wiedersehe, Miß Rosy. Wir haben uns ja so lange nicht gesprochen.«

Miß Rosy zuckte mit den Achseln und wandte dabei das Gesicht zur Seite, da des Malers Augen fast mit flammender Glut darauf weilten. »Ja,« sagte sie endlich, ihr Gesicht langsam zu ihm erhebend, »es sind mehrere Tage vergangen, ohne daß wir in den Garten gekommen sind, und an andern Orten finden wir uns ja nicht. Mir tut das leid genug, aber ich kann es nicht ändern. Doch ich bitte Sie, fragen Sie mich nicht mehr, ich kann Ihnen nur kurze und unbefriedigende Antwort geben.«

»Aber eine Frage können Sie mir doch beantworten – ist bei Ihnen im Hause alles wohl?«

Miß Rosy zuckte wieder die Achseln und besann sich einige Zeit. »Es ist alles so wohl, wie es sein kann,« sagte sie endlich etwas leiser, »was indessen nicht viel sagen will. Es ist eben nur eine Windstille bei uns eingetreten, und die ist immer noch besser als Sturm, der oft genug tobt. Meine Lady aber befindet sich etwas besser als gewöhnlich, und so besteht sie sogar darauf, daß Miß Edda in Gesellschaft ihres Vaters morgen das Konzert und den Ball besucht, den man veranstaltet hat. Sie haben doch davon gehört?«

»Ja,« erwiderte Franz mit bebenden Lippen, die nur die Bewegung seines heftig pulsierenden Herzens wiederholten. »Ja, ich habe davon gehört.«

»Nun denn, also Miß Edda wird mit ihrem Vater hingehen, und ich gönne es ihr von Herzen. Das arme Kind lebt hier, wo sich alles vergnügt, wie eine Nonne. Ach, sie ist zwischen diesem Vater und dieser Mutter nicht auf Rosen gebettet, das können Sie mir glauben. Doch still, ich plaudere schon wieder.«

»Plaudern Sie nur immer weiter, es hört sich ganz gut an, und Sie wissen ja, ich bin ein verschwiegener Mann.«

»Wenn das ist, so will ich Ihnen auch verraten, daß ich glaube – ich glaube es, sage ich – Miß Edda würde sich freuen, Sie auf dem Ball zu finden. Sie hat Sie so lange nicht gesprochen und, wie mir scheint, hat sie Ihnen manches zu sagen.«

»Wie meinen Sie das? Drücken Sie sich genauer aus!« flüsterte Franz mit kürzer gewordenem Atem hinab.

»Nun, daß Sie ihr keinen Besuch gemacht haben nach jener Reise, das, glaube ich – ich sage, ich glaube – hat sie gewußt oder vermutet, weil Sie ja mit dem Baron nicht näher bekannt sind, aber sie hat doch wohl bisweilen gedacht, Sie würden kommen, wie ja auch Herr von Tekeli jetzt alle Tage kommt.«

»So, Herr von Tekeli kommt alle Tage?«

»So ziemlich – er ist allerdings mit dem Baron bekannter – doch still, ich plaudere schon wieder!« fügte sie hinzu, indem sie sich beständig mit etwas scheuem Blick nach dem Hause umsah. »Doch eins müssen Sie mir noch sagen: werden Sie auf den Ball gehen?«

Franz besann sich keinen Augenblick. »Ja,« rief er rasch, »ich wollte erst nicht, aber jetzt werde ich einer der eifrigsten Ballgänger sein.«

»Das ist mir lieb. Geht Ihre Tante auch mit?«

»Nein, die besucht keine Bälle.«

»Aber Ihr Herr Vater begleitet Sie doch?« fragte die Engländerin mit einem eigentümlich schalkhaften Lächeln.

»Auch nicht, der ist solchen Vergnügungen sehr wenig geneigt.«

»So. Ist das bestimmt?«

»Gewiß. Aber warum erkundigen Sie sich danach so genau?«

»Ich bin eine Frau, und also neugierig, Sir, weiter hat es nichts zu bedeuten. Sie gehen also bestimmt auf den Ball?«

»Unter allen Umständen werde ich jetzt gehen.«

»In wessen Gesellschaft werden Sie sich befinden?«

»In des Senators von Dannecker Gesellschaft, eines Freundes, der mich jetzt sehr häufig besucht.«

»Ah – ist das der kranke Herr, der den Arm in der Binde trägt?«

»Derselbe.«

»Gut. Aber ich wollte mir noch eine andere Frage erlauben. Sind Sie schon bei Herrn van der Swinden gewesen?«

»Nein!« brachte Franz mit einiger Verlegenheit hervor.

»O, das ist unrecht von Ihnen, Sir, und hat einiges Erstaunen erregt. Die Leute sind so gut und hatten Sie so liebgewonnen. Wollen Sie mir einen Gefallen tun?«

»Gern, wenn ich kann.«

»Sie können es sehr leicht. Gehen Sie lieber noch heute zu der holländischen Familie. Sie wird morgen mit auf dem Ball sein, und Miß Edda wird sich bei ihr aufhalten.«

Franz brauchte nur kurze Zeit zur Überlegung, denn er sagte sogleich lächelnd: »Ja, ich werde zu Herrn van der Swinden gehen. Wann treffe ich ihn wohl?«

»O, gehen Sie nur, wann Sie wollen, und wenn niemand zu Hause ist, so geben Sie eine Karte ab, diese Aufmerksamkeit wird sie wenigstens beruhigen. Jetzt aber muß ich mich entfernen, ich habe Pflichten im Hause zu erfüllen.«

»Haben Sie vielleicht auch hier eine erfüllt?« fragte Franz mit nicht mehr zurückzuhaltender Neugierde.

Miß Rosy legte einen Finger auf die Lippen und drohte mit der anderen Hand. »Leben Sie wohl,« sagte sie, »und – verraten Sie Miß Edda nicht, daß Sie mich gesprochen haben.«

Mit der Hand freundlich zum Abschiede winkend, huschte sie leicht wie der Wind durch den Garten, und Franz sah ihr nach und wußte nicht, was er von ihren letzten Worten denken sollte. »Das war eine kleine Finte,« sagte er endlich, »Miß Edda hat um ihren Besuch unter diesem Fenster gewußt, ich will darauf wetten – doch still, Hoffnung! Träume nicht wieder, Franz! Du könntest noch schrecklicher erwachen als früher!« –

Vom Malen war nun an diesem Nachmittag keine Rede mehr. Ohne einen Blick auf seine Arbeit zu werfen, ging er nach dem anderen Hause, kleidete sich visitenmäßig an und schlug mit seltsamen Gefühlen den Weg nach dem Hotel ein, in welchem Herr van der Swinden mit seiner Familie wohnte. Wider Erwarten fand er sie zu Hause und ward zwar mit einigen sanften Vorwürfen, aber dennoch überaus freundlich empfangen. Seine vielen Beschäftigungen und häufigen Besuche mußten sein langes Ausbleiben entschuldigen, und die guten Holländer waren so artig, ihm seine Lässigkeit zu verzeihen, was um so lieber geschah, als sie hörten, daß der Herr Maler, wie sie ihn noch immer nannten, morgen an dem Konzert und dem nachfolgenden Balle Teil nehmen würde.

»Essen Sie mit uns!« rief der alte Holländer, sobald er Franz Marssens Absicht vernommen hatte.

Franz dankte und sagte, er sei schon von einem anderen Herrn eingeladen.

»Von wem, wenn ich fragen darf?«

»Vom Senator von Dannecker aus Frankfurt.«

»Ah, den kenne ich. Das ist ein netter Mann und einer der reichsten Herren in Frankfurt. Er ist auch schon bei uns als Geschäftsträger der freien Reichsstadt gewesen. Wo haben Sie ihn kennen gelernt?«

Franz erzählte den Vorfall kurz, und bald darauf schied er unter den Versicherungen herzlichster Freundschaft von seiten der ganzen Familie. –

Von Herrn von der Swinden begab sich Franz, da er einmal auf dem Wege war, nach Beausite, um dem Senator seinen Entschluß, den Ball mit ihm zu besuchen, persönlich mitzuteilen. Der Senator lächelte fein, als er es hörte, und ließ dabei einen raschen Blick über die schwarze Kleidung des jungen Mannes laufen. Jedoch verrieten sich seine Gedanken darüber in der Antwort nicht, als er sagte:

»Es freut mich ungemein, daß Sie meine Bitte erfüllen. Halten Sie sich zur rechten Zeit fertig, wir sind pünktlich. Morgen früh sehe ich Sie leider nicht, ich habe einige Herren zu besuchen, die erst vorgestern hier angekommen sind und morgen schon wieder fort wollen. Es betrifft Geschäfte. Auch heute kann ich Sie nicht einladen, hier zu bleiben, denn ich bin zu einer Partie versagt, zu der ich mich eben begeben wollte.«

»So sage ich Ihnen Lebewohl und sehe Sie erst morgen Abend wieder.«

»Ja, morgen Abend!« versetzte der Senator freundlich und drückte ihm herzlich die Hand.

*

Als Franz am Abend dieses Tages den Seinigen den Entschluß, den Ball am nächsten Tage nun doch zu besuchen, verkündigte und dabei eine freudigere Miene als seit langer Zeit wahrnehmen ließ, warf Karoline ihrem schweigsamen Bruder einen bedeutungsvollen Blick zu, den dieser aber kaum zu bemerken schien. Und als Franz sie beide später verlassen hatte, sagte sie zu dem Doktor:

»Nun, Leo, was sagst denn du zu dieser plötzlichen Winddrehung?«

»Was soll ich dazu sagen,« versetzte dieser gähnend, »er hat sich anders besonnen, das ist alles.« –

»O, die blinden Männer!« sprach Tante Karoline zu sich, als sie in ihrem Schlafzimmer allein war. »Sie wollen alles wissen, alles kennen, alles sehen, und alles wissen, kennen und sehen sie falsch oder gar nicht. In einem Punkte aber ist mein guter Bruder gewiß übermäßig blind und taub, denn er hört nicht einmal, daß das Herz diesem seinen Sohne wie ein eherner Hammer in der Brust pocht, und er sieht auch nicht, daß es eben nur die Laune des Verliebten ist, die aus diesem chamäleonartigen Maler spricht. Gut, mein Junge, gehe du zum Balle und tanze dich müde, vielleicht wirst du darauf besser schlafen, als du viele Nächte geschlafen hast. Aber wer weiß, was ihn zu dieser Meinungsänderung getrieben hat! Denn daß diese reizende, verführerische Kreatur, diese Edda, heute nachmittag so plötzlich bei mir erschien, mich fast mit ihren Liebkosungen erdrückte und dabei so sanft wie ein unschuldiges Täubchen fragte: ob ich und mein Bruder diesen Ball auch besuchen würde, das will mir noch immer nicht aus dem Kopf, und wer weiß, ob sie ihm nicht auch wieder einen Besuch unter dem Malerfenster abgestattet hat. Doch nein! Sie sagte nur ja, sie habe ihn eine Woche lang nicht gesprochen, und dabei sah sie so ehrlich aus, wie nur ein edles Weib aussehen kann. O Gott, o Gott, einen schlechten Geschmack hat er wahrhaftig nicht, wenn er ihr gut ist; denn wäre ich ein Mann, diese kleine glühende Rose mit dem feurigen Auge könnte mir auch den Kopf verdrehen. Nun, Gott lenke alles zum besten – ich bin nicht schuld daran, wenn – wenn –«

Da schlossen sich Tante Karolinens schlafmüde Augen, und das Gebet, welches sie noch vor dem Einschlafen wie jeden Abend zu Gott dem Allmächtigen emporsenden wollte, erstarb ihr auf den Lippen, aber er hörte es vielleicht doch, denn er kann ja auch in den Herzen der beten wollenden Menschen lesen, und in Karolinens Herzen stand dies Gebet mit riesengroßen Buchstaben geschrieben, und Gott – der da oben so weit über der kleinen Erde wohnt – er hat nicht nur die schärfsten Ohren, sondern auch die besten Augen und sieht in alle Falten der ihm zugehörigen Seelen hinein.


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