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Buchschmuck

Sechstes Kapitel.
Der genesene Patient.

Daß nach unfreundlichen Regentagen immer wieder einmal liebliche Sonnentage, und ebenso nach betrübenden oder aufregenden Ereignissen immer wieder heitere und beglückende Momente folgen, das sollte Doktor Marssen und seine Familie schon am Morgen nach jenem Abend erfahren, den wir Tante Karolinen mit so traurigen und ernsten Erwägungen eben haben beschließen sehen.

Zum ersten Mal, nachdem jenes gewaltige Gewitter vom Mettenberge her sich über das Lauterbrunnental, das Bödeli und über den Thuner See fort, bis tief in das ebene Bernerland hinein ergossen hatte, ging die Sonne an diesem Morgen strahlend und an einem von jedem Gewölk freien, klaren Himmelsbogen auf. Mit ihr war eine liebliche Wärme zurückgekehrt, die Vögel sangen wieder lustig in den Gärten, die Insekten schwirrten Beute suchend in den Bäumen, und die Blumen und Gräser hoben wieder stolz und freudig ihre Kelche und Spitzen empor, die der schwere Regen so lange demütig niedergebeugt hatte.

Unser Freund, Franz Marssen, war schon früh eine Stunde lang auf dem Rugen und in dessen nächsten Umgebungen umhergeschweift und hatte dann, da seine Verwandten noch nicht sichtbar waren, das Frühstück allein eingenommen. Sodann war er in das Atelier geeilt, um mit frischen Kräften sowohl seine Arbeiten wieder zu beginnen, als auch mit neuer Hoffnung in den Nachbargarten zu blicken, der sich ja nun auch wieder, so meinte er, mit seinen früheren Besuchern bevölkern würde. Überlassen wir ihn in dieser Hoffnung an dem schönen Morgen sich selbst und begeben wir uns zu seinem Vater zurück, der gleich nach sieben Uhr aus dem Hause trat, das Wetter, den Wind und die Berge im Freien beobachtete, und, da er die Luft warm und den Boden trocken genug fand, den Kaffee, wie gewöhnlich an guten Sommertagen, auf dem Tisch unter der Veranda aufzutragen befahl.

Bei diesem ersten Frühstück leistete ihm auch heute wie sonst seine Schwester Gesellschaft, und obwohl sie nur wenig zum Sprechen aufgelegt schien, so war sie doch freundlich und gütig wie immer, und das Nachdenken über die Meinungsäußerung ihres Bruders in Betreff der ihr so schwer auf dem Herzen liegenden Angelegenheit mußte ihr während der Nacht die Überzeugung beigebracht haben, daß sie allerdings mit etwas zu schwarzen Augen in die Zukunft gesehen und daß es nicht gerade so unvorteilhaft für die eigene Ruhe sei, wenn sie sich zu den Grundsätzen des praktischeren Bruders bekenne: daß man nämlich den Kampf gegen einen nur halb bekannten Feind nicht voreilig beginnen müsse, ehe dieser Feind selbst auf dem Schlachtfelde erschienen sei.

Diese Überzeugung glaubte Doktor Marssen auf ihrem sanften Gesicht zu lesen, als sie an diesem Morgen viel heiterer und vertrauensvoller vor ihm erschien, und so, wie sich die Schwester am Abend vorher an seiner männlichen Kraft aufgerichtet hatte, labte er sich jetzt wieder an ihrem friedlichen Wesen, und beide begannen ihr gewöhnliches Tagewerk, ohne auch nur mit einer Silbe auf das Gespräch zurückzukommen, welches sie am Abend vorher so ernstlich in Anspruch genommen hatte. Als der Frühstückstisch abgeräumt und Karoline wieder in das Haus zurückgekehrt war, holte der Doktor eine große Mappe aus seinem Zimmer, öffnete sie und breitete ihren Inhalt auf dem Tisch vor sich aus, um sein Auge daran zu erfreuen, denn auch er war ein großer Liebhaber und Bewunderer schöner Skizzen und überhaupt bildlicher Darstellungen. Die Mappe nun enthielt vortreffliche Aquarellen und ausführliche Bleistiftzeichnungen, die Franz in früheren Zeiten zu Düsseldorf, in Karlsruhe und auf verschiedenen seiner Reisen angefertigt und gesammelt und zu denen sich nun auch noch kleinere Skizzen vom Montblanc gesellt hatten, die in einigen ruhigen Abendstunden nach jener Reise fertig geworden waren. Aufmerksam nahm Doktor Marssen ein Blatt nach dem andern vor, und jedes prüfte er mit besonderem Genuß: sobald er es aber genügend betrachtet, legte er es wieder in die Mappe, und diese Unterhaltung setzte er so lange fort, bis etwa nach acht Uhr der Postbote die Zeitungen brachte, die auch heute wie immer jede andere Beschäftigung unterbrachen, da sie sogleich eifrig durchgelesen wurden.

Indessen sollten sie an diesem Morgen nicht vollständig studiert werden, denn als Doktor Marssen die Kölnische Zeitung, die er stets zuerst las, kaum halb zu Ende gebracht, wurde seine Lektüre durch einen Besuch unterbrochen, der ihm in so früher Morgenstunde ebenso unerwartet zu Teil wurde, wie er ihn freudiger denn jeder andere überraschte.

Von einem Diener in Livree geschoben, kam nämlich ein zierlicher Handwagen vor die Veranda gerollt, in dem kein anderer als der fast ganz genesene Patient sah, den wir im ersten Kapitel dieser Erzählung nur flüchtig auf der Tragbahre in Mürren und damals in so traurigem Zustande kennen gelernt haben. Kaum aber hatte Doktor Marssen ihn wahrgenommen, so warf er seine Zeitung beiseite und eilte dem werten Gaste mit lebhafter Bewegung entgegen.

»Mein lieber Herr Senator,« rief er ihm zu und war selbst behülflich, ihn zu einem Sitze unter der Veranda zu geleiten, »was sehe ich! So früh schon haben Sie Ihre Pension verlassen? Konnten Sie es denn gar nicht mehr darin aushalten? O, seien Sie mir herzlich willkommen, kein Besuch kann mir erfreulicher sein, als der Ihre, auf den ich in der Tat heute noch nicht gerechnet hatte.«

»Ja, mein lieber Doktor,« sagte der Fremde mit einer wohlklingenden Stimme, in die er einen fast liebevollen Ton zu legen verstand, und indem er seinem Arzte die hingereichte Hand drückte, »Sie haben mir gestern erlaubt, heute zum ersten Mal auszugehen oder, da ich noch nicht gehen soll, was ich auch schon kann, auszufahren, und da habe ich Ihnen gleich meinen ersten Besuch zugedacht. Ich erfülle damit weniger eine Pflicht als ein Bedürfnis meines Herzens, und da haben Sie mich, und nun sollen Sie mich so bald nicht wieder loswerden. Ah – also hier wohnen Sie? Nun, das ist ein hübsches und gemächliches Haus, doch ich habe es mir kaum anders gedacht – ein Mann wie Sie kann sein Haupt unter kein gewöhnliches Dach zur Ruhe legen.«

Während diese Worte gesprochen wurden, war der Senator von Dannecker, der den verwundeten linken Arm noch in einem schwarzseidenen Tuche trug, aus seinem Wagen gestiegen, stützte sich mit der gesunden Hand, in der er einen kräftigen Rohrstock hielt, auf den Arm des Arztes und stieg so auf den Vorplatz unter der Veranda, wo er sich auf einen Stuhl niederließ, der dicht neben dem Platze des Hausherrn stand.

Bevor wir jedoch Zeugen eines Teils der alsbald folgenden Morgenunterhaltung werden, müssen wir einen genauen Blick auf den genesenen Patienten werfen, der schon jetzt, da er noch nicht ganz seinen eigenen Kräften vertrauen konnte, eine stattliche Erscheinung, und gewiß noch eine bedeutendere darbot, wenn er erst vollkommen Herr aller seiner Glieder und deren Bewegungen war. Von Gestalt war er groß und ziemlich wohlbeleibt, und gewiß hatte er noch nicht die Mitte der Vierziger überstiegen, wenn auch sein Kopf auf dem Scheitel schon den größten Teil seiner Haare verloren hatte. Dabei war er ganz schwarz und überaus fein gekleidet, und seine Wäsche zeigte sich von einer blendenden Weiße, wie man sie, selbst bei reichen und vornehmen Leuten, nur selten auf einer längeren Reise findet.

War nun aber die ganze Gestalt schon durch ihre äußeren Verhältnisse imponierend und achtunggebietend, so überwog sie der Kopf und das Gesicht noch um ein Bedeutendes, denn dieser war in seiner Kleinheit und rundlichen Form so originell gestaltet, und das Gesicht erschien dabei so eigentümlich, fast auffallend in Miene und Farbe, daß man, schon bei zufälliger Begegnung, ohne Zweifel länger darauf weilen mußte, als es bei tausend anderen Menschen zu geschehen pflegt.

Dies Gesicht war nämlich von einer, nicht infolge seiner Krankheit entstandenen, sondern in seiner sonst gesunden Konstitution begründeten, seltsamen, im ersten Augenblick fast erschreckenden Blässe, die im Gegensatz zu den dunklen Augen, dem kohlschwarzen Haar an den Schläfen und dem überaus starken Vollbart noch auffallender hervortrat. Dabei war seine Stirn ungeheuer hoch und wurde fast von keinem Härchen mehr beschattet: das Auge aber blickte feurig, rasch und verriet eine große Intelligenz, die namentlich hervorleuchtete, wenn er sprach und dabei außerordentlich freundlich und doch klug und diplomatisch zurückhaltend lächelte. Um die feinen blassen Lippen war freilich ein etwas sarkastischer Zug ausgeprägt, der jedoch mit einer seltenen Gutmütigkeit gepaart war und dadurch das Bittere verlor, welches einen solchen Zug sonst zu begleiten pflegt. In allen Bewegungen schnell, war er endlich nur in der Sprache langsam, und wenn er seine Meinung über einen ernsten Gegenstand kurz und scharf ausdrückte, traten die Worte bedächtig aus seinem Munde, als ob sie schon lange vorher reiflich erwogen worden wären.

Augenscheinlich war der reiche Senator ein Mann von hervorstechender geistiger Bildung, und sein ganzes Verhalten kennzeichnete ihn zugleich als einen Mann von hoher oder wenigstens bedeutsamer Lebensstellung, der viel in der großen Welt gelebt und sich alle Manieren der auserwählten Gesellschaft angeeignet hatte. Alle diese Vorzüge jedoch traten bei diesem originellen Menschen nicht gleich beim ersten Anblick hervor, nur nach und nach arbeitete sich einer aus dem andern heraus, und je länger man ihn betrachtete und ihn in seiner naiv klingenden süddeutschen Mundart reden hörte, um so wohltuender wirkte seine Erscheinung, die anfangs durch jene auffallende Blässe, durch den scharfen, beobachtenden Blick, wenn er schwieg, und die große lange Nase, die etwas zu spitz aus dem Gesicht vorsprang, eher die eines bedeutenden als eines angenehm auftretenden Menschen war.

»Sie sind außerordentlich gütig, Herr Senator,« begann nun Doktor Marssen das Gespräch, »daß Sie sich meiner zuerst erinnert haben, da Sie nun wieder in die Welt treten, von der Sie auf so schmerzliche Weise so lange getrennt gewesen sind, und ich preise mich glücklich, daß mir Gelegenheit geworden ist, Ihnen dabei behülflich zu werden. So möge denn Ihre Genesung bald ganz vollbracht sein, und wenn Sie auch den Arm da noch nicht gebrauchen können, der Fuß scheint seine Schuldigkeit bereits vollständig zu tun.«

»Ja,« erwiderte der Senator mit seiner tiefen und wohlklingenden Stimme, »der Fuß tut schon seine Schuldigkeit, die Hand wird es hoffentlich auch bald tun, vor allen Dingen aber müssen sich der Kopf und das Herz ihrer Pflicht entledigen, und so gestatten Sie mir, mein lieber Freund, daß ich Ihnen zuerst meinen herzlichsten Dank ausspreche, daß Sie so rasch bereit waren, mir in jener schrecklichsten Stunde meines Lebens beizuspringen und mich auch ferner so weise wie freundlich auf den Weg der Genesung zu leiten.«

Doktor Marssen senkte schon während des Sprechens des Senators bescheiden seine Augen nieder, denn dergleichen Worte vernahm der anspruchslose Mann nicht gern, dem es nichts Besonderes erschien, seinem Berufe als Arzt getreulich obzuliegen, und als jener ausgesprochen, streckte er die Hand abwehrend gegen ihn aus, der sie jedoch gleich ergriff, da er glaubte, der Doktor wolle ihm dieselbe zum Drucke reichen.

»Ich bitte Sie,« nahm der Arzt wieder das Wort, indem er sein großes blaues Auge voll gegen das dunkle seines Patienten erhob, »lassen Sie mit diesen Worten Ihr dankbares Gefühl, das ich schon lange erkannt, ein- für allemal sich ausgesprochen haben. Reden wir nie mehr von Ihrer Dankbarkeit. Es würde mir wehe tun, wenn Sie meine Handlungsweise gegen Sie anders auslegten, als ich sie mir selbst ausgelegt habe.«

Der Frankfurter Senator sah den also Sprechenden groß und fast erstaunt an, und einen Augenblick lang flog ein matt rötlicher Schimmer über sein aschenbleiches Gesicht. »Gut,« sagte er dann, »ich will Sie nicht belästigen, Sie sind ja ein Mann der Tat, erlauben Sie mir dann später wenigstens, mich Ihnen auch als Mann der Tat zu erweisen. Ich hoffe, Sie werden dies Handwerk nicht allein erlernt haben wollen.«

Doktor Marssens Auge ruhte noch immer fest auf dem Fremden, und da er diese Sache ein- für allemal ganz beseitigt wissen wollte, fuhr er eifriger und mit größerer Wärme zu reden fort: »In diesem Falle, mein lieber Herr Senator, möchte ich es allerdings, wenn nicht allein erlernt, doch allein in Ausübung gebracht haben – noch einmal also: auch Ihre Dankbarkeit durch die Tat muß ich ablehnen, und Sie würden mich wirklich kränken, wenn Sie dieser Ihrer Gesinnung noch irgend welche weitere Folge geben wollten.«

»Wie, Doktor Marssen,« rief der blasse Mann mit überströmender Verwunderung, »verstehe ich Sie recht? Ich soll mich Ihnen nicht dankbar erweisen dürfen?«

»Nein, wenigstens auf keine andere Weise, als es bis jetzt geschehen ist. Ich liebe das nicht, und – aufrichtig gestanden – ich bin nicht mehr daran gewöhnt, von Menschen Dank zu empfangen, in welcher Gestalt derselbe sich auch darstellen möge. Ich habe diesen Standpunkt ein- für allemal überwunden und will nicht noch einmal zu ihm zurückkehren, der für einen Mann, wie ich einer geworden bin – durch Verhältnisse, die ich Ihnen nicht klar machen kann – nichts Verlockendes mehr hat.«

Der blasse Mann hatte diese Worte mit wachsendem Erstaunen angehört, und offenbar ging in seiner Seele ein Kampf vor, ob er sich diesem Ausspruch des edlen Arztes fügen oder ob er noch einmal auf andere Weise Widerspruch dagegen erheben sollte. Endlich wählte er den Mittelweg und gab seine Empfindungen durch bloße Äußerungen seiner Verwunderung über diese ihm noch nie vorgekommene Anspruchslosigkeit kund.

»Ah,« sagte er, »ich glaube Sie zu verstehen, obgleich ich Ihre Resignation von meinem Standpunkte aus kaum billigen kann. Einen Dank, wie ich ihn biete und mit freudigem Herzen Ihnen entgegentrage, würde kein Arzt in Deutschland, ja, kaum in der ganzen zivilisierten Welt, so entschieden von der Hand weisen, wie Sie es eben tun.«

Doktor Marssen lächelte auf seine herzliche und gewinnende Weise. »Nun,« versetzte er, »dann mögen Sie mich einmal für einen unzivilisierten oder für einen außerhalb der zivilisierten Welt lebenden Menschen halten. Ihr Urteil über diese meine absonderliche Stellung kann ich mit Ruhe und ohne jede Anwandlung von Unmut ertragen. Sie müssen nämlich wissen – o, Sie wissen es ja auch schon, denn wir haben ja öfter davon gesprochen – daß ich die Welt, in der ich einst als Arzt tätig war und in der ich gern den Dank dankbarer Menschen annahm, ein- für allemal verlassen und mir in dieser schöneren und ungefährdeteren Welt eine neue Heimat gesucht und gegründet habe.«

»Ja, ich habe das aus mancher Ihrer Äußerungen entnommen, indessen sind mir Ihre Verhältnisse bis diesen Augenblick doch noch nicht ganz klar geworden.«

Dabei sah er den Arzt mit seinen durchdringenden Blicken wohlwollend und gleichsam bittend an. und dieser las darin den unausgesprochenen Wunsch, über seine Verhältnisse einige Aufklärung zu erhalten.

»Meine Verhältnisse,« fuhr Doktor Marssen fort, »liegen ganz einfach da, und ich habe keinen Grund, vor Ihnen oder von sonst jemanden, der es wohl mit nur meint, ein Geheimnis daraus zu machen. Ich bin zwar kein Flüchtling in der eigentlichen Bedeutung des Wortes und nur halb und halb ein Verbannter, allein ich habe mich aus meinem Vaterlande selbst verbannt, das heißt, ich habe es, durch äußere Umstände bewogen, freiwillig verlassen, da es mir keine Gelegenheit mehr bot, mich nach Wunsch und Neigung darin wirksam zu erweisen.«

»Ah« nahm der Senator eifrig das Wort, »jetzt glaube ich Sie zu verstehen, und nun werden mir auch erst Ihre früheren Andeutungen klar; indessen bitte ich um Verzeihung, daß ich mich ganz ohne vorhergefaßte Absicht in Ihr Vertrauen dränge – jedoch, wir sind Männer von gleichen politischen Anschauungen, wie ich weiß – mit einen, Wort also, lassen Sie es heute ganz Tag vor meinen Augen werden: Sie sind in Ihrem Vaterlande ein politisch Kompromittierter gewesen, wie man zu sagen pflegt, nicht wahr?«

Doktor Marssen lächelte erst bitter, allmählich aber nahm sein männliches Antlitz einen heiteren Ausdruck an, und endlich sagte er: »Warum soll ich es nicht vor Ihren Augen Tag werden lassen? Nun ja. Sie haben das Rechte getroffen. aber es steht nicht ganz so schlimm mit mir, wie Sie vielleicht denken mögen. Ich gehöre nicht zu den verbissenen Weltverbesserern, die einem Fürsten nach dem Leben getrachtet oder eine Republik haben stiften wollen: ich habe auch keine Staatsumwälzung beabsichtigt, habe nie gegen die Maßnahmen einer Regierung Stimme und Hand in die Wagschale gelegt, nein, ich bin vielmehr stets ein ruhiger, besonnener und duldsamer Mann gewesen, habe mein und meines Vaterlandes Herzeleid mit Ergebung getragen und höchstens in meinem Herzen der Ungerechtigkeit gegrollt, die ein fremdes Regiment über meine arme Heimat in tausenderlei Weise rücksichtslos, grausam und allem Fug und Recht zum Trotz geübt hat. Mit einem Wort, Herr Senator, ich bin ein Schleswiger, das heißt, ein Mann der sein Vaterland, seine Nation, das ihm verbriefte Gesetz und sein natürliches Menschenrecht zu lieb hatte, um es der Willkürherrschaft übermütiger Inseldänen ganz und gar zum Opfer zu bringen. Diese Willkürherrschaft aber versuchte mich zu knechten. zu fesseln, und weil das nicht ging, zu vernichten – und da erwachte in mir das Gefühl eines freigeborenen Mannes, ich packte mein Eigentum zusammen und verließ das arme, aus tausend Wunden blutende, gemißhandelte Vaterland, um in einem weniger bedrängten Lande ein Asyl zu suchen. Hier haben Sie mit wenigen Worten meine ganze Lebens- und Leidensgeschichte.«

»Ah,« rief der Senator lebhaft und reichte dem ruhig redenden Arzte seine Hand mit einem warmen Drucke hin, »nun verstehe ich alles, und Sie brauchen mir kein Wort mehr zu sagen. Jetzt bin ich Ihnen mit einem Schritt näher gerückt und muß Ihnen mein Herz mit allen seinen Sympathien entgegentragen. Ja, gestatten Sie mir diese Erklärung: ich liebe Ihr Land, die Bewohner desselben und habe schon lange mit ganz Deutschland, das leider bisher so ohnmächtig war, den innigsten Anteil an den Schicksalen der Herzogtümer genommen. Auch kenne ich den Verlauf Ihres vieljährigen Kampfes, mir sind die Persönlichkeiten und Mittel, die man in Wirksamkeit gesetzt, nicht fremd geblieben, denn ich lebe ja in Frankfurt, der freien deutschen Reichsstadt, wo der Bundestag seinen Sitz hat, und habe mich viel mit den politischen Angelegenheiten beschäftigt, die jetzt die Augen der ganzen Welt auf sich gelenkt haben. Aber fassen Sie sich in Geduld, mein Freund: Dänemark kann nicht ewig der Kerkermeister für Schleswig bleiben, es wird der Tag der Freiheit für Ihre Landsleute erscheinen, und dann wird mit scharfer Erwägung die Abrechnung gehalten werden, die den übermütigen Dänen erst beweisen wird, wie grenzenlos töricht, grausam und ungerecht sie gegen Menschen gehandelt haben, die sie sich durch tausend Bande hatten aneignen, statt durch tausend Ränke und Willkürlichkeiten entfremden sollen.«

Doktor Marssen senkte wehmütig das Auge und schaute starr vor sich hin. »Der Tag der Abrechnung wird einst kommen.« sagte er dumpf, »das glaube ich auch, aber wir beide werden ihn wahrscheinlich nicht mehr erleben.«

»Das kann man nicht wissen,« erwiderte noch lebhafter als vorher der Senator. »Denn wenn die Verblendung des dänischen Regiments noch lange solche Siebenmeilenschritte macht, wie es in jüngster Zeit getan, so werden Herr Hall, Herr Monrad und alle, die zu ihrer Sippe gehören, eines Tages die Entdeckung machen, daß sie auf das deutsche Volk ganz ohne Grund verächtlich herabgesehen, und daß in dem deutschen Michel doch noch Kraft und Energie genug vorhanden ist, um selbst einen stolzen und sich überhebenden Dänenkönig zu Kreuze kriechen zu lassen.«

In ähnlicher Weise führten die beiden Männer das Gespräch noch eine Weile fort, denn der verführerische Geist politischer Disputation hatte sie übermannt, und sie schlossen einander ihre Herzen auf, wie das häufig zu geschehen pflegt, wenn einmal erst die Bahn dazu gebrochen ist und Gesinnnungsgleiche einander in die Seele blicken. Sie würden wahrscheinlich den ganzen Vormittag in ihre Unterhaltung vertieft geblieben sein, wenn nicht zu rechter Zeit Karoline erschienen wäre und derselben ein Ende gemacht hätte, womit sie ihrem Bruder einen großen Dienst leistete, der es im Grunde nicht liebte, sich durch politische Gespräche dos Blut zu erhitzen oder den ruhigen Geist von seinen friedlichen Bahnen abzulenken.

Doktor Marssen stellte seine Schwester dem Senator vor, und dieser war ein so galanter Mann, daß er augenblicklich das bisherige Gespräch für diesen Tag fallen ließ und sich mit großer Gewandtheit den Interessen der guten Hausfrau widmete, der er in kurzer Zeit ein ebenso freundliches Gesicht wie ihrem Bruder abzugewinnen verstand.

Nachdem sich Karoline jetzt mit beiden Männern einige Zeit unterhalten hatte, erhob sie sich wieder und fragte, ob es den Herren gefällig wäre, ein kleines Frühstück einzunehmen.

Doktor Marssen nickte seiner Schwester schon beifällig zu, die sich soeben entfernen wollte, als der Gast sie zurückhielt, indem er sagte: »Ich für meine Person muß Ihr freundliches Angebot ablehnen: ich frühstücke hier nie, da ich schon um zwei Uhr zu Mittag speisen muß.«

Karoline verbeugte sich. »Dann erlauben Sie wohl, daß ich mich entferne,« sagte sie. »Ich habe meine häusliche Pflicht heute noch nicht ganz erfüllt.«

»Ich lege Ihnen keine Beschränkung auf, mein Fräulein,« erwiderte der Senator galant, »nur möchte ich mir die Frage auszusprechen erlauben, ob es Ihnen genehm ist, wenn ich Ihnen bei Gelegenheit meine Frau vorstelle, die schon lange das Bedürfnis nach Ihrer Bekanntschaft hegt, da Ihr Herr Bruder, dem wir so viel verdanken, uns von Ihnen längst Mitteilung gemacht hat.«

Karoline errötete leicht, denn sie war stets etwas befangen, wenn es sich um eine neue Bekanntschaft handelte. »Ihre Frau Gemahlin wird mir zu jeder Zeit sehr angenehm sein,« erwiderte sie, »und ich bitte Sie, mir recht bald die Freude zu verschaffen, sie in unserm Hause begrüßen zu können.«

Sie verbeugte sich noch einmal sehr freundlich und wollte im Fortgehen die große Mappe von dem Stuhl fortnehmen, wo sie noch immer halb geöffnet stand und leicht herunter geworfen werden konnte. Da aber trat ihr abermals der Fremde in den Weg und sagte:

»Sie entschuldigen, ich bin in mancher Beziehung etwas neugierig und ebenso offen, wenn es sich um eine Befriedigung dieser kleinen Leidenschaft handelt. Des nun scheint mir eine Mappe mit Zeichenblättern zu sein – darf ich Sie bitten, mich einen Blick auf dieselben tun zu lassen?«

Karoline lächelte und reichte ihm die Mappe hin, die sie schon in der Hand hielt, und dann verließ sie mit einem freundlichen Blick auf ihren Bruder die Veranda, um sich in das Haus zurückzubegeben.

Doktor Marssen wandte sein Auge mit einiger Spannung auf den Senator, der ihn schon längst als ein Liebhaber und Kenner schöner Gemälde und Zeichnungen bekannt geworden war, und der jetzt, ohne an das vorher abgebrochene Gespräch zu denken, seine ganze Aufmerksamkeit auf die rasch geöffnete Mappe gerichtet zu haben schien. »Ah,« sagte er, als er die erste Aquarelle vor sich auf den Tisch gelegt und einen flüchtigen Blick darüber geworfen hatte, »da finde ich ja ganz unerwartet etwas sehr Gutes. Wo haben Sie denn dieses köstliche Blatt her?«

Doktor Margen lächelte freudig und ließ keinen Blick von dem in die Betrachtung der Aquarelle versunkenen Senator ab. »Prüfen Sie erst auch die übrigen,« sagte er ruhig »und wenn Sie Ihr Urteil abgegeben haben, werde ich Ihnen den Urheber dieser Bilder und Zeichnungen nennen.«

»Aha! Sie wollen mir auf den Zahn fühlen,« erwiderte der Senator. »Gut, gut! Aber in diesem Punkte bin ich etwas häkelig, denn es ist mein Fach, mein lieber Freund. Ich gebe zwar viel auf die ausgesprochene Meinung eines verständigen Kunstrichters, aber ich pflege nie in ein allgemeines Posaunenlob mit einzustimmen, wenn mir ein Kunstwerk dieses Lob nicht zu verdienen scheint. Dasselbe Verfahren beobachte ich auch, wenn ein Künstler offen oder geheim getadelt wird. In dieser Beziehung vertraue ich meinem Urteil allein, und glücklicherweise ist mein Geschmack kein schlechter.«

Er hatte, während er diese Worte langsam und in abgerissenen Sätzen sprach, keinen Blick von dem farbigen Blatt abgewandt und, von einem fast an Ungeduld grenzenden Eifer fortgetrieben, schon das zweite und dritte umgeschlagen, als er auf einmal, sich in seinen Stuhl zurücklehnend und dem ihn aufmerksam betrachtenden Freunde zunickend, rief: »Nein, lieber Doktor, das will ich doch nicht zu flüchtig betrachten, es wäre schade darum. Vielleicht leihen Sie mir einmal diese Mappe, und dann verwende ich ein paar ruhige Morgenstunden daran. Aber nun sagen Sie mir, wessen Pinsel hat diese Meisterstücke zustande gebracht?«

Doktor Marssens Herz schlug laut vor Freude, als er diese Worte hörte und an der Miene des Gastes sah, daß sie ihm ehrlich aus dem Herzen kamen. »Irren Sie sich auch nicht in Ihrem Urteil?« fragte er bescheiden. »Sie sind vielleicht nicht darauf vorbereitet, einen unbekannten Künstler als Verfasser dieser Blätter bezeichnen zu hören?«

»Ich bin selten auf etwas und nie auf alles vorbereitet, mein Lieber, aber auf einen unbekannten Namen gebe ich, ich deutete das schon vorher an, nicht weniger und nicht mehr, als auf einen bekannten, wenn mir das Werk desselben zusagt. Aber diesmal irre ich mich in meinem Urteil gewiß nicht. Diese Zeichnungen sowohl wie diese Aquarellen sind vortrefflich, meisterhaft, sage ich Ihnen, und wenn sie nicht ein Künstler ersten Ranges gemacht hat, was man in der Welt törichterweise so nennt, da es meiner Meinung nach keine verschiedenen Rangstufen für wirkliche Künstler gibt, so ist er doch auf dem besten Wege, einer zu werden. Ich habe lange keine so poetische Auffassung, keinen so wunderbar natürlichen Farbenton und keine so plastische Wahrheit, wie sie die Figuren und die Natur in diesen Blättern zeigen, gesehen. Mit einem Wort also, lassen Sie mich nicht länger in der Schwebe: wer ist der Künstler?«

»Sie erfreuen mich mit Ihren lobenden Worten mehr, als Sie denken mögen,« erwiderte der Doktor. »Diese Blätter rühren von der Hand meines Sohnes her, von dem ich Ihnen schon früher sagte, daß er ein Maler sei.«

Herr von Dannecker stand plötzlich von seinem Stuhle auf und sah dabei den Doktor Marssen groß an. »Es ist wahr,« sagte er, »Sie haben mir das schon gesagt, und ich hatte es nur wieder vergessen. Aber ich habe mir damals nicht gedacht, daß Ihr Sohn ein Künstler von solcher Bedeutung sei. Wenn ich nicht irre, so sagten Sie mir auch, daß er augenblicklich bei Ihnen wohne. Kann ich ihn nicht kennen lernen?«

»Gewiß, begleiten Sie mich zu ihm, er ist gegenwärtig in seinem kleinen Atelier beschäftigt, wo er malt.«

»Ah, das ist prächtig und für mich eine ganz neue und freudige Überraschung. Malt er auch in Öl?«

»Das ist sein Hauptfach!« versetzte der Doktor, herzlich vergnügt mit dem Kopfe nickend.

»Ah! Und hat er vielleicht ein fertiges Bild?«

»Drei sogar.«

»Still, still, reden Sie nicht weiter und lassen Sie mich sie sehen. Sie haben da den geheimen Riegel von meiner einzigen Leidenschaft zurückgezogen, und sie ergießt sich nun in Strömen, da ich ihr so lange keine Befriedigung habe bieten können. Kommen Sie und stellen Sie mir Ihren hoffnungsvollen Sohn vor. Ich liebe die Künstler, und es ist mir ein Freudentag, wenn ich alten bewährten Freunden einen neuen hinzufügen kann.«

*

Franz war an diesem Morgen mit größerem Vergnügen denn je an seine Arbeit in dem stillen Gartenhäuschen gegangen, denn das endlich aufgelichtete Wetter, der reine blaue Himmel, der schimmernde Glanz, der aus den grünen Blättern tanzenden Sonnenstrahlen hatten ihn nicht nur aufgeheitert, sondern auch die Hoffnung in ihm von neuem wachgerufen, daß die beiden Damen aus jenem stillen Nachbarhause, die früher so oft seine Einsamkeit unterbrochen, jetzt auch wieder erscheinen und sich an der warmen frischen Morgenluft im Schatten des Apfelbaumes erquicken würden. Allein diese schöne Hoffnung sollte auch für diesen Tag leider nicht in Erfüllung gehen; ein ihm unbekanntes geheimnisvolles Hindernis hielt Miß Edda und die Gesellschafterin ihrer Mutter vom Garten fern, und so war es schon halb elf Uhr geworden, und Franz saß noch immer vor der Staffelei am offenen Fenster und warf nur zuweilen einen trostlosen Blick nach dem grünen Rasenplatz hinüber, auf dem noch dann und wann ein Vögelchen umherschlüpfte, um sorgsam die Brosamen aufzupicken, die er ihnen heute reichlicher denn je zugeworfen hatte.

Endlich war es elf Uhr geworden, und Franz ruhte eben einen Augenblick von seiner anhaltenden Arbeit aus, als er die Schritte mehrerer Menschen auf der kleinen Außentreppe vernahm und gleich darauf sein Vater mit dem fremden Herrn in das Zimmer trat, den ersterer ihm als seinen genesenen Patienten und nebenbei als einen Kunstliebhaber vorstellte.

Als Franz diesen Mann mit dem entsetzlich bleichen Gesicht, auf dessen Besuch er nicht im geringsten vorbereitet war, zum ersten Mal in sein freundliches Atelier treten sah, erschrak er unwillkürlich, und er hatte dabei das peinliche Gefühl, als liefe ihm ein eisiger Schauer den Rücken herab. Mochte der Grund davon in dem Umstand liegen, daß der Maler in ernste Gedanken vertieft und von zarten Empfindungen bewegt, und daß ihm gerade in diesem Augenblick der Besuch eines Fremden nicht angenehm war, oder gehörte der Senator von Dannecker zu den seltsamen Menschen, deren bloßes Erscheinen auf manches fein besaitete Individuum einen unheimlichen Eindruck hervorbringt, als knüpfe sich an ihre Schritte eine unbestimmte, noch in der Ferne lauernde Gefahr, oder als warne einen das Schicksal, sich mit ihnen in nähere Verbindung zu setzen – genug, der erste Eindruck war für Franz ein wenig angenehmer, fast peinvoller. Allein als der Fremde erst einmal mit seiner klangvollen Stimme gesprochen hatte und dann sich mit behaglicher Ungezwungenheit in der niedlichen Künstlerwerkstatt umschaute, sammelte er sich wieder, und bald sogar hatte er den ersten unheimlichen Eindruck so ganz und gar vergessen, daß er sich zwanglos benehmen konnte und endlich völlig mit dem neuen Freunde seines Vaters ausgesöhnt war.

»Mein lieber Herr Marssen,« begann der Senator, nachdem die Vorstellung der beiden Männer stattgefunden, seine Anrede, »es kommt nur selten vor, daß jemand sich auf gleiche Weise zu Vater und Sohn hingezogen fühlt, aber hier scheint es doch einmal durch den eigensinnigen Willen des Schicksals der Fall zu sein. Gestatten Sie mir daher, die Hoffnung auszusprechen, daß mich Ihre Kunst ebenso befriedigen wird, wie mir die Ihres Herrn Vaters heilsam gewesen ist, und nun, da ich der Form genügt und einige unbedeutende Worte gesprochen habe,« fügte er lächelnd hinzu, »erlauben Sie mir wohl, mich gemütlich bei Ihnen umzusehen und Sie nicht nur als den Sohn eines Freundes, sondern auch als Künstler zu besuchen, der mir somit ein doppeltes Interesse einflößt. So – ah! Das also sind augenblicklich Ihre Beschäftigungen?«

Bei diesen Worten trat er auf die dem offenen Fenster zunächststehenden Gemälde zu, unterwarf sie einer flüchtigen Betrachtung und wandte sich dann, von dem Vater aufmerksam gemacht, nach den bereits fertigen um, die im tieferen Schatten des Zimmers und in der Nähe der verhangenen Fenster des Ateliers standen.

Franz zog die Vorhänge sogleich in die Höhe und rückte die Staffeleien mit den drei Landschaften in das beste Licht. Dann setzte er dem sich auf seinen Stock stützenden Senator einen Stuhl hin und trat leise beiseite, um ihn ungestört seinen sogleich beginnenden stillen Betrachtungen zu überlassen.

Der Senator nahm den Stuhl an, rückte ihn sich selbst zurecht und, als er saß, sagte er zu Franz, ohne sich nach ihm umzuwenden: »Nun lassen Sie sich nicht stören, mein junger Freund. Arbeiten Sie ruhig weiter, als ob ich nicht hier wäre, und wenn ich mit diesen Bildern fertig bin, komme ich zu Ihnen, und dann wollen wir Ihre neuesten Arbeiten betrachten. Indessen glauben Sie nicht, daß Sie mich so bald wieder loswerden, denn ich hoffe, daß Sie mir erlauben werden, ein Stündchen meiner Liebhaberei nachzuhängen.«

Franz lächelte nach dem seltsamen Manne hinüber und erwiderte freundlich: »Lassen Sie sich durch nichts behindern, mich stören Sie nicht im geringsten.«

»Nun,« sagte jetzt Doktor Marssen, der unterdes das schöne Porträt betrachtet hatte, an welchem sein Sohn eben malte, »da die Herren beide beschäftigt sind, kann ich mich wohl fürs erste beurlauben. Ich muß mich noch ankleiden, da Sie mich in meiner Morgentoilette überrascht haben, lieber Dannecker.«

»Gehen Sie mit Gott,« entgegnete dieser und winkte mit der Hand, »ich habe einen Hafen gefunden, wo kein Sturm weht, und meine Anker sind, wie Sie bemerken, schon ausgeworfen. Auf Wiedersehen, und ich danke Ihnen im voraus für den Genuß, den Sie mir verschafft haben.«

Als Doktor Marssen das Atelier verlassen hatte, entstand eine tiefe Stille in dem gemütlichen Raum. Franz, der in dem Frankfurter Senator sogleich einen enthusiastischen Kunstliebhaber erkannt, wie ihm am Rhein schon viele ähnliche vorgekommen waren, hatte sich mit lächelnder Miene an seine Arbeit begeben. Der Senator dagegen, um seinen Studien in voller Behaglichkeit obliegen zu können, hatte sich ungeniert aus einem kostbaren Etui eine Zigarre genommen und dieselbe mit einem Feuerzeug angezündet, das er stets bei sich trug. So sah er denn jetzt vor dem schönen Handeckfall, der von der Morgensonne beleuchtet wurde, und betrachtete ihn mit haarscharfen Blicken, wobei einmal über das andere ein bewunderndes Gemurmel über seine Lippen lief.

Nach einer Viertelstunde etwa, während er wiederholt aufgestanden und dicht vor das Gemälde getreten war, um die Technik zu untersuchen, dann aber aus der Ferne die Perspektive geprüft hatte, richtete er zum ersten Mal das Wort wieder an den Künstler selber und sagte: »Sie sind in Düsseldorf gebildet, nicht wahr, Herr Marssen?«

»Ja, mein Herr, und in Karlsruhe unter Lessing habe ich später meine Studien fortgesetzt.«

»O, o, das brauchen Sie mir nicht zu sagen, das sehe ich; ich kenne Lessing sehr genau, und wenn Sie mich einmal in Frankfurt besuchen, können Sie in meiner Sammlung einige hübsche Sächelchen von ihm finden. Aber dennoch möchte ich bei diesem Wasserstrudel und bei der ganzen Auffassung, die sich in jedem Zoll dieses reizenden Bildes ausspricht, lieber an Achenbach den Älteren, als an Lessing denken, und ich glaube nicht, daß ich mich irre, wenn ich annehme, Sie haben bei der Arbeit an diesen herrlichen Meister gedacht.«

Jetzt wurde Franz aufmerksamer und trat mit Palette und Pinsel in den Händen in die Nähe des Fremden, den er jetzt schon für einen leidlichen Kenner in seiner Kunst zu halten geneigt war. »Nein,« sagte er bescheiden, »Sie irren sich nicht. Ich habe fleißig Achenbach studiert, und gerade bei diesen Arbeiten hat er mir zum Muster gedient.«

»Aha, ich wußte es wohl. So, mit diesem Bilde bin ich für heute fertig, setzt gehe ich zum zweiten über.« Er rückte seinen Stuhl weiter. Franz zog die erste Staffelei etwas beiseite, und der Senator begann abermals seine Prüfung, während jener an seine Arbeit zurücktrat.

Nach einer Weile jedoch fing der Kunstkenner wieder zu sprechen an und sagte. »So, so, nun bin ich orientiert. Das ist derselbe Wasserfall der Aare, ja, ja, ich kenne ihn wohl, aber von einem anderen Punkte aus aufgenommen und in der Abendbeleuchtung gesehen. Das ist ein großes Bild, mein Freund, wie jenes ein schönes ist, in Wahrheit, und ich gratuliere Ihnen. Sind diese Gemälde noch auf keiner Ausstellung gewesen?«

»Ach nein,« erwiderte Franz mit seiner bescheidenen Zurückhaltung, »ich habe mich noch immer nicht von ihnen trennen können, weil ich der Meinung bin, ich könne noch hier und da etwas besser daran machen.«

»Nein, nein,« unterbrach ihn der Senator fast heftig, »tun Sie das nicht, machen Sie nichts mehr besser daran, Sie sind aus der Empfindung gerückt, in der diese Bilder entstanden, Sie könnten leicht etwas Fremdes hinein und etwas Zugehöriges herausbringen. – Also noch auf keiner Ausstellung gewesen! Darum auch! Hm! Noch ganz frisch und neu! Das macht sie noch mehr wert und gibt ihnen in meinen Augen einen besonderen Reiz! – Aber wie, wollen Sie nicht auch eine Zigarre rauchen?«

Franz, dem die feine Havanna des Senators schon lange in die Nase duftete, erwiderte, daß er in der Regel beim Malen nicht rauche, indessen werde er heute eine Ausnahme machen.

Der Senator, der sein Auge keinen Moment lang von dem Bilde trennen wollte, reichte dem jungen Manne mit abgewendetem Gesicht das goldene Etui geschlossen hin, und dieser nahm dankend eine Zigarre heraus und zündete sie ruhig an, worauf er das Etui in den Hut des Fremden legte.

»Es ist gut,« sagte dieser nach einer Weile, wie zu sich selbst redend, »und jetzt will ich mich zum dritten Bilde wenden. Potz Tausend, was ist das? Befinden wir uns am Nordpol? Denn das ist ja lauter blankes, durchsichtiges Eis!«

»Ja, es ist Eis,« sagte Franz ruhig, »aber wir befinden uns nicht am Nordpol, sondern in der Schweiz, im Grindelwaldgletscher. –«

»Ah, ich habe davon gehört, aber ich kenne es noch nicht. Das muß man sehen. Doch wahrhaftig, mein junger Freund, das ist ein herrliches Bild, und die zarte Technik sucht hier besonders ihres Gleichen. Wo haben Sie nur diesen seltsamen, wunderbaren, ätherartigen Farbenton her?«

»Ich habe ihn der Natur abgelauscht, Herr Senator; ob ich ihn aber getroffen habe, können Sie nicht wissen, da Sie, wie Sie sagen, dies Eisgebilde noch nicht gesehen haben.«

Herr von Dannecker betrachtete dieses letzte Bild noch längere Zeit, wobei ihm zweimal die Zigarre ausging; dann stand er auf, ließ noch einmal einen raschen Blick über die beiden ersten laufen und reichte schweigend dem Künstler die Hand, der die seinige alsbald von einem herzlichen Drucke gepreßt fühlte.

»In Betreff dieser drei fertigen Bilder, an denen ich keinen Strich zu ändern bitte, habe ich nur noch eine Frage, mein Lieber,« sagte der Frankfurter nach einer Weile mit edlem Freimut. »Sind sie zu verkaufen, wie?«

Franz errötete und konnte kaum den funkelnden Blick des schwarzen Auges ertragen, das voller Teilnahme und offenbar voll Freudigkeit aus seinem blauen ruhte. Augenscheinlich wurde es ihm schwer, die folgenden Worte zu sprechen, denn er trennte sich ungern von seinen Bildern, aber endlich sagte er mit einem nur halb unterdrückten Seufzer:

»Ja, mein Herr, sie sind alle drei zu verkaufen.«

»So, und haben Sie sich schon einen Preis festgesetzt?«

»Nein, ich liebe es nicht, selbst den Preis meiner Arbeiten zu bestimmen, da man im besten Fall sich selbst beschädigt und im andern leicht für zu parteiisch und selbstsüchtig gehalten werden kann.«

»Gut, ich verstehe. Ich werde Ihnen ein andermal meine Meinung darüber sagen. Doch jetzt lassen Sie uns Ihre eben erst begonnenen Arbeiten betrachten, die, wie ich sehe, auch nicht weit von der Vollendung entfernt und. – Ah, das ist ein anderes Genre. Wie, Sie malen auch Porträts? Das wußte ich nicht. Aber bei Gott, das ist ein reizendes Gesicht – wer soll es sein?«

Über Franz Marssens Antlitz flutete eine gewaltige Blutwelle, die er mit aller Macht nicht so leicht in das Herz zurückdrängen konnte, und dem Senator, der auch ein Menschenkenner war, entging sie nicht. »Es ist eine Dame,« sagte er mit möglichster Ruhe, »mit der ich in diesem Jahre auf dem Rhonegletscher zusammengetroffen bin und in deren Gesellschaft ich später den Grindelwaldgletscher bis zum Zäsenberge bestiegen habe.«

»Also sie ist hier in Interlaken gewesen?«

»Sie ist noch hier, Herr Senator.«

»So, ei, das ist interessant – da kann man ja unter günstigen Umständen den besten Maßstab an Ihre Kunst im Porträtieren legen. Es scheint eine Schottin zu sein. Kann man sie nicht sehen?«

Franz Marssens Verlegenheit nahm dergestalt zu. daß der Senator selbst, der es wohl bemerkte, der ersten Frage gleich eine zweite hinzufügte. »Wer ist diese Dame?« fragte er mit funkelndem Blick.

»Sie ist die Tochter eines Barons, Bolten oder Bolton, der, wie man mir sagt, mit dem Titel Exzellenz angeredet wird und, da er meist mit Diplomaten und höheren Beamten verkehrt, wahrscheinlich auch ein Diplomat ist.«

Der Senator wurde aufmerksam und besann sich, indem er mit seiner feinen weißen Hand, an der ein großer Solitär blitzte, über die bleiche Stirn fuhr. »Baron Bolten oder Bolton!« sagte er nachsinnend – »nein, den kenne ich nicht, und ein Diplomat soll er sein? Nun, ich kenne doch ziemlich alle Diplomaten in Deutschland dem Namen nach, und auch viele von Person – aber ein Bolton ist nicht darunter. Hm! Sie haben sich wohl geirrt?«

»Man hat es mir so gesagt, mehr weiß ich darüber nicht.«

»Ei, das ist ja wieder recht interessant, und ich werde mich danach erkundigen. In welchem Hotel wohnt der Herr Baron?«

Franz fühlte einen ähnlichen kalten Schauer, wie er ihn beim ersten Anblick des Senators gefühlt, auch jetzt über seinen Rücken rieseln, und er konnte sich kaum überwinden, einem Fremden den geheimnisvollen Aufenthaltsort Miß Eddas zu verraten. Dennoch sah er keinen Grund ein, dem teilnehmenden Manne seine Kenntnis vorzuenthalten, und so deutete er mit der Hand nach dem nahen Pensionshause hinüber und sagte, daß der Baron sehr zurückgezogen und fern von allem Geräusch lebe, da seine Gemahlin krank sei und einer ungetrübten Ruhe bedürfe.

Der Senator sah mehr nach dem Gesicht des Malers als nach dem Hause, wohin derselbe deutete, aber kein Zug in seinem bleichen Antlitz veränderte sich, obgleich er gewiß in diesem Augenblick interessante Studien zu machen hatte. »Ist der Herr Baron ein umgänglicher Mann?« fragte er endlich, vielleicht nur um überhaupt noch etwas zu fragen.

»Ach nein,« erwiderte Franz. »Er ist sogar das Gegenteil davon,« und nun erzählte er ihm einiges von seiner Reise, wie er den Damen die Pferde verschafft und so mit ihnen bekannt geworden sei, wobei er auch des geheimnisvollen Inkognitos gedachte, in dem sich die Exzellenz so lange zu halten gewußt hatte.

Der Senator lächelte, und offenbar war seine Neugierde erregt. »Also seine Gemahlin ist eine Schottin,« sagte er, »worauf allerdings die eigentümliche Kleidung der Tochter schließen läßt. Hm! Ja, das ist schon ein wichtiger Anhaltspunkt. Der Name Bolton ist vielleicht auch nur angenommen. Wer kann das wissen. Es leben hier viele Fremde in ähnlichem Inkognito, das ist auf Reisen oft sehr bequem und weniger kostspielig. Haha! Nun, ich habe viele Bekannte hier, die auch etwas von den Diplomaten der Welt wissen, und wenn es Ihnen recht ist, will ich mich einmal auf eine diplomatische Jagd nach Ihrem – Ihrem stillen Reisegefährten begeben.«

»Es wird mir dies sehr angenehm sein,« erwiderte Franz stockend, »nur müßte nicht der Verdacht auf mich fallen, daß ich diese Jagd veranlaßt habe.«

»O, wie wäre das möglich! Ich sage Ihnen ja, eine diplomatische Jagd, und die wickelt sich wie die wilde Jagd in den Lüften ab, nur daß sie nicht so laut und ungestüm einhertobt. Seien Sie also unbesorgt, Sie haben Ihr geheimes Bündnis mit keinem Neuling geschlossen. – Doch halt, ich habe noch eine Frage. Malen Sie dies Porträt für die Dame selbst und hat sie Ihnen gesessen?«

Franz Marssens Herz bebte. »Ach nein,« brachte er endlich mit Mühe hervor, »ich habe es nur für mich gemalt, zur Erinnerung an ein paar interessante Tage, wie sie einem selten im Leben begegnen. Gesessen aber hat mir die Dame eigentlich nicht, und ich habe nur die gute Gelegenheit benutzt, wenn ich sie in meiner Nähe gehabt und gesprochen habe.«

»So. Aber dann haben Sie eine große Mühe auf diese interessante Erinnerung verwandt. Ich mache Ihnen mein Kompliment, Sie haben diese Dame vortrefflich gemalt. Man glaubt sie lebendig vor sich zu sehen. Aber wie, ist jene Reiterin im Hochlande auch nur eine Erinnerung für Sie allein?« fragte er mit einer unbeschreiblichen Ruhe und einer so großen Freundlichkeit, daß Franz die Neugierde, die darin lag, obwohl er sie lästig fand, nicht übel nehmen konnte.

Dennoch aber nickte er nur mit dem Kopfe, denn er konnte kaum noch ein Wort hervorbringen.

»Aha! Nun bin ich mit meinen Fragen zu Ende,« fuhr der Senator fort, »und ich danke Ihnen für Ihre Mitteilungen. Hier haben Sie meine Hand. Sie sind ein wackerer Künstler und ein braver junger Mann. Was wir eben gesprochen haben, bleibt unter uns, verlassen Sie sich darauf. Auf meine Diskretion können Sie unter allen Umständen rechnen. Doch – da kommt der Vater wieder und es wird Zeit, daß ich mich nach Hause begebe. – Sie haben mir ein paar angenehme Stunden bereitet,« wandte er sich zu dem eben eintretenden Arzt, »sowohl in Ihrem Hause wie hier. Ich danke Ihnen dafür. Wie ich Ihre Bekanntschaft nur zu meinem Heile gemacht, mein guter Doktor, so soll auch die mit Ihrem Sohn hoffentlich nicht ohne Folgen bleiben. Ein andermal mehr! Jetzt aber, mein Herr Maler, verabschiede ich mich von Ihnen. Leben Sie wohl. Darf ich Sie in diesen Tagen wieder besuchen? Es ist mein Steckenpferd, mit Künstlern zu verkehren, und hier habe ich einmal, ohne alle Ahnung davon, einen guten Griff getan. Guten Morgen und lassen Sie sich Ihr Mittagbrot schmecken.«

Mit diesen Worten schüttelte er dem jungen Manne die Hand und entfernte sich mit Doktor Marssen, der ihm den Arm bot, als beide den Weingang hinunterschritten, an dessen Ende schon der Diener mit dem Rollwagen bereit stand, in den der genesene Patient stieg, nachdem er nur noch wenige Worte mit dem älteren Freunde gewechselt hatte.

Franz aber stand noch immer vor der Treppe seines Häuschens und sah den beiden weggehenden Männern mit seltsamen Empfindungen nach. In ihm flutete und kochte es, und er wußte nicht, ob er sich über diesen Besuch freuen oder betrüben sollte, denn der seltsame Mann hatte einen bedeutenden Eindruck auf ihn gemacht. Ob aber einen angenehmen, das konnte er sich selbst nicht entziffern, zumal der eisige Schauer, den er bei seinem ersten Anblick empfunden, ihn noch einmal überflog, als er vor sein geliebtes Porträt zurücktrat und aus dessen Augen herauslesen zu wollen schien, ob er recht gehandelt daß er das stille Geheimnis, welches ihn mit Miß Edda verknüpfte, einem Fremden nur einigermaßen gelüftet hatte. Lange noch blieb er sinnend und lauschend vor dem schönen Kopfe stehen, dessen dunkle Augen ihn – es konnte ja nur eine Täuschung seiner aufgeregten Sinne sein – anzulächeln schienen, wie sie ihn selten oder nie in Wirklichkeit angelächelt hatten. Franz aber nahm es dennoch als ein günstiges Zeichen auf, und so beruhigte er sich allmählich, trocknete seine Pinsel und schickte sich Punkt ein Uhr an, in sein väterliches Haus zurückzukehren, wo er bereits von seinem Vater und dessen Schwester zum Mittagsessen erwartet wurde.


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