Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wenn von den Vorfällen und Erlebnissen der letzten Tage noch etwas Trübes und Beklemmendes in der Seele Franz Marssens zurückgeblieben war, so hatte es ein gesunder tiefer Schlaf in der nächstfolgenden Nacht und ein fester männlicher Wille, der auf einer edlen Strebsamkeit und auf der Begeisterung für alles Gute und Schöne in der Welt basierte, wieder daraus verwischt und sein Gemüt war vollkommen klar und rein geworden, wie das Bild der Sonne es wird, wenn die Nebelwolken der Tiefe davon gewichen sind. Als er diesmal so früh wie sonst aufstand, fand er einen leicht bedeckten Himmel vor, der gerade das Licht gab, welches der Maler bei seiner Arbeit gern hat, und so setzte er für heute seinen Spaziergang aus und begab sich vor dem Frühstück in sein Atelier, um sofort an die Arbeit zu gehen und wo möglich das am vorigen Tage Versäumte nachzuholen.
Als er das Rouleaux aufzog und in den benachbarten Garten blickte, lag eine stille friedliche Szene wie immer vor ihm. Auf dem grünen Rasen funkelten die Tautropfen, in den Blättern spielte ein leichter warmer Morgenwind, und zahllose Vögel jubelten von den obstschweren Zweigen der Apfelbäume ihr alltägliches Dankgebet zum Schöpfer empor.
Franz Marssen wurde von dem stillen Zauber, der auf diesem traulichen Bilde ruhte, tief ergriffen und lange schaute er mit feierlicher Andacht in den Gottesfrieden hinein, der vor ihm ausgebreitet lag. Endlich aber riß er sich doch davon los, rückte seine Staffelei am Fenster zurecht und ordnete alles zur fleißigsten Arbeit an. Er hatte zuerst die Landschaft mit der Reiterin vorgenommen und an dieser selbst war er am weitesten vorgerückt. Sie wie der Schimmel waren bald fertig und nur noch einzelne Kleinigkeiten blieben zur günstigen Stunde nachzuholen, auf die ein Künstler, mag nun das Licht von außen oder innen kommen, immer hofft. Bis zum Frühstück weilte sein Pinsel auf dieser Stelle des Bildes, nachher aber wollte er an die große Föhre gehen, in deren Schatten die Reiterin hielt, um sie wo möglich noch heute zu vollenden und dann die erste Hand an die felsigen Umgebungen zu legen.
Um sieben Uhr verließ er das Atelier auf eine halbe Stunde und begab sich nach der Veranda des Vorderhauses. Freundlich von der Tante begrüßt und sie wieder heiter begrüßend, sprach er nur von seiner Arbeit und erschien der mütterlichen Freundin dabei so ganz der alte und von seinem gestrigen schweigsamen Wesen befreit, daß sie eine große Freude darüber empfand und ihm versprach, heute abend mit ihm einen Ritt in die Berge zu unternehmen, was sie nur selten und bei besonders günstiger Stimmung tat.
Bald nach dem Frühstück aber trat er seinen Gang nach dem Hinterhause wieder an, ein Körbchen mit Brotkrumen tragend, die er den Vögeln im benachbarten Garten jeden Morgen zu streuen liebte und worauf sie zu der bestimmten Zeit schon zu warten schienen. Auch heute flogen sie zahlreich von allen Zweigen herbei und waren so eifrig in ihrer Mahlzeit, daß in wenigen Minuten der Vorrat aufgezehrt war und sie das Feld räumten, um sich an ihre geheimnisvollen Tagesbeschäftigungen zu begeben.
Noch war aber lange nicht der letzte Sperling auf sein luftiges Baumschloß zurückgekehrt, da saß Franz Marssen schon wieder vor der Staffelei, und unter seinen geschickten Pinselstrichen traten der Stamm und die knorrigen Äste der Föhre rotbraun und golden schimmernd hervor und die dunklen Nadeln häuften sich daran immer üppiger an, so daß es eine Lust war, das Werk so rasch weiter vorschreiten zu sehen. So geschah es denn, daß bei dem Maler die Außenwelt immer mehr in den Hintergrund trat und er weder sah noch hörte, was um ihn her und noch dazu in seiner unmittelbaren Nähe vorging. Mit Unrecht hat man den Künstlern oft vorgeworfen, daß in solchen Momenten der Welt abgestorben seien, aber man bedenkt dabei nicht, daß gerade diese Momente es sind, die ihre schönsten Werke schaffen, an denen die Mit- und Nachwelt mehr gewinnt, als wenn die Hand, die sie schuf, und der Geist, der sie erdachte, sich in jenen Stunden mit dem verführerischen und ebenso leicht in nichts versinkenden Treiben der Welt beschäftigt hätten.
Wenn aber Franz Marssen in diesen Augenblicken – es mochte etwa zwischen der neunten und zehnten Morgenstunde sein – noch Sinn für die ihm zunächst liegende Umgebung gehabt, so hätte er vielleicht doch etwas wahrgenommen, was der Mühe des Hinschauens und Unterbrechung seiner Arbeit Wert gewesen wäre. Zunächst hatte er vorher, als er die Vögel fütterte, übersehen, daß unsichtbare Hände in die Nähe seines Hauses, dem Fenster gerade gegenüber, einen grünen wollenen Teppich auf dem Rasen unter einem dichtbelaubten Apfelbaum ausgebreitet und darauf einen kleinen Tisch und zwei Stühle gestellt hatten. Später sodann, während seiner emsigen Arbeit, sah er nicht, daß eine Dame aus dem nahen Pensionshause mit einem Körbchen in der Hand herankam und sich an dem Tische, das Gesicht seinem Fenster zugekehrt, niederließ und nicht minder emsig als er selber an einer bunten Stickerei zu arbeiten begann.
Diese Dame mochte schon vor einiger Zeit aus den zwanziger Jahren herausgetreten sein, aber sie sah noch immer ziemlich jugendlich aus, wozu ihre Freundlichkeit nicht das wenigste beitrug, denn freundlich war dieses Geschöpf fast stets, häufig lächelte es, und wenn dieses Lächeln auch mitunter einen leichten Beigeschmack von duldender Ergebung hatte, so bewahrte es doch eine angenehme Frische und Natürlichkeit, mit denen der muntere Ausdruck der hellblauen Augen und die roten Lippen des sonst blassen Gesichts in vollem Einklang standen. Die Haare dieser in einen dunkelfarbigen seidenen Morgenrock gehüllten Dame waren hellblond und fielen von den Schläfen in etwas langen zierlichen Locken über die Wangen, wenn sie sich zu ihrer Arbeit niederbeugte, und das tat sie mit anhaltendem Fleiße, obwohl sie bisweilen auch das Gesicht erhob und nach dem offenen Fenster des Malers hinübersah, von dem sie indessen bei der sitzenden Stellung, welche er vor der Staffelei einnahm, nur den dunklen Kopf wahrnehmen konnte.
Aber diese Dame war nicht die einzige Person, die den grünen Schauplatz belebte, es befand sich vielmehr noch eine zweite in ihrer Nähe, die, langsam auf dem Rasen hin- und herschreitend, aufmerksam in einer Zeitung las, deren Größe und feiner Druck schon ihre Abstammung aus jenem Insellande verriet, das sich rühmt, das Mutterland der »göttlichen und unfehlbaren« Limes zu sein. Diese Dame ging, wie sie bedeutend jünger als die erste war, auch viel geschmackvoller und eleganter, obwohl immer noch höchst einfach gekleidet einher. Sie trug ein mattgelbes, halb durchsichtiges Sommerkleid, das am Halse mit einem schmalen und gesteiften schneeweißen Kragen schloß, dabei die herrlichen Formen einer untadelhaften Büste hervortreten ließ und um die schlanke Taille von einem breiten glänzenden Ledergürtel zusammengehalten wurde, dessen ausgeschweifte Spitze hoch nach der Brust hinauf ging. Der Kopf dieser jungen Dame war mit einem kleinen, mit dunkelrotem Bande garnierten Strohhut bedeckt, dessen kaum sichtbar vorstehende und an der Seite aufgeschlagene Ränder weniger darauf berechnet schienen, die Sonnenstrahlen von der feinen Haut des Gesichts abzuwehren, als dem stolz getragenen Kopf mit den kurz geschnittenen Haaren zu einer sehr anmutigen Zierde zu gereichen. Handschuhe trug diese Dame in diesem Augenblick ebensowenig wie die andere, obgleich sie mit keiner Arbeit beschäftigt war, vielmehr hielten die kleinen weißen Hände die große Zeitung an beiden Seiten im Gehen fest und dabei fielen die weiten Ärmel zwanglos zurück und ließen einen Arm frei werden, wie man ihn nur selten so blütenweiß und schön geformt sehen mag, was umsomehr in die Augen fiel, da nicht der geringste Schmuck, weder an ihm noch an den rundlichen Fingern zu bemerken war.
Die lesende Dame hatte schon geraume Zeit ihr politisches Studium fortgesetzt und war dabei wiederholt der anderen am Tisch beschäftigten näher gekommen, ohne mit ihr zu reden oder ihre Aufmerksamkeit auf sie zu richten. Als sie aber endlich langsam dem Tische ganz nahe kam, legte sie leise das große Zeitungsblatt darauf nieder, nickte der arbeitenden Dame freundlich und halb schalkhaft zu und warf dann einen raschen fragenden Blick nach dem Fenster des Malers hinüber, dessen reines Profil man von der linken Seite her bisweilen wahrnehmen konnte, wenn er einmal zufällig den Kopf etwas erhob. Bei diesem Blick nach dem Fenster hinauf können wir auch ihre Züge genauer prüfen und wir erkennen sogleich, daß das Gesicht in diesem Augenblick ungewöhnlich ernst und nachdenklich aussah, obwohl es von einer überraschenden Schönheit und Frische strahlte. Bei dem länger fortgesetzten Hinaufschauen des dunklen Auges sprach sich ein Zug künstlich verborgener Erwartung darin aus und ein leises Beben, das von Zeit zu Zeit die fein geschnittenen roten Lippen erzittern machte, verkündete eine gewisse Ungeduld des Gemüts, mit einer Spannung vereint, die dem ganzen Antlitz ein eigentümlich festes und charakteristisches Gepräge gab.
Endlich schien die Geduld der jungen Dame die äußerste Probe überstanden zu haben, und sie schüttelte gegen ihre Gefährtin das reizende Köpfchen, auf eine Weise, als wollte sie damit ihre Verwunderung über den ausdauernden Fleiß des Malers ausdrücken. Die ältere Dame, als sie diese Geberde sah und ihren Grund erkannte, erbarmte sich ihrer und, ihre Arbeit beiseite legend, ergriff sie rasch die große Zeitung und rollte sie lächelnd so heftig und schnell zusammen, daß das Papier ein lautes und weithin vernehmbares Rauschen ertönen ließ. Dann aber ergriff sie hastig ihre Arbeit wieder und blickte nur, schelmisch lächelnd, verstohlen seitwärts nach dem Fenster hin, um die Wirkung ihres so plötzlich hervorgetretenen Beistandes zu erlauern. Kaum aber war das liebevolle Werk vollbracht, so erhielt sie einen kaum ernstlich gemeinten zürnenden Blick der jungen Dame, nebst einem Winke, sich bei dem Folgenden still und passiv zu verhalten und sie allein gewähren zu lassen.
Dieses Folgende sollte denn auch nicht lange auf sich warten lassen. Der Maler hatte ohne Zweifel das Rauschen des Papiers gehört, hob seinen Kopf neugierig in die Höhe und wandte das intelligente Gesicht nach dem Garten hin, so daß sich dasselbe zum ersten Male ganz und voll den beiden Damen zeigte. Dieses Gesicht aber drückte, als er die Ursache der ihn unterbrechenden Störung erkannte, ein so großes Erstaunen aus, daß die vorher so ernste junge Dame einen Moment lang ein heiteres Lächeln blicken ließ und nun, da ihre Anwesenheit einmal verraten war, ohne alle Ziererei der grünen Hecke unter dem Fenster näherschritt, wo sie, vielleicht nur zwei Schritte davon entfernt, stehen blieb und ein einfaches »Guten Morgen, mein Herr!« dem Maler zurief, der sich von seinem Stuhle erhoben hatte und dicht an die Brüstung des Fensters getreten war.
In diesem Staunen aber verriet sich durchaus nicht, daß er die junge Dame, auf die sich seine Blicke ausschließlich richteten, erkannt habe, mochte er nun im ersten Augenblick zu überrascht sein oder mochte das lange Kleid derselben, in welchem er sie noch nie gesehen, sie seinem Auge fremd erscheinen lassen. Aber da half ihm die Dame selber zu dieser Erkenntnis, denn sie nahm langsam den Strohhut ab, grüßte damit, wie Männer grüßen, und sagte:
»Ich glaube, Sie sind so tief in Ihre Arbeit versunken, mein Herr, daß Sie nicht wissen, wer Ihnen einen so freundlichen guten Morgen bietet. Nun, so nehme ich meinen Hut ab und zeige Ihnen meine Haartracht und mein ganzes Gesicht – erkennen Sie mich jetzt vielleicht wieder?«
Es bedurfte von seiten des Malers keiner Antwort, um ihr zu beweisen, daß er sie völlig erkannt habe, denn es sprach sich ein so freudiges Gefühl in seinen männlichen Zügen aus, als er dies strahlende, lebenswarme Antlitz sah, welches ihn im ersten Augenblick die Tochter der »Exzellenz« ganz vergessen ließ, daß sie ihn auch ohne Worte verstand. Und doch, als er jetzt dieses Antlitz, das ihm so oft in der Erinnerung vorgeschwebt, ohne es zu wissen, einer strengeren Prüfung unterwarf, schien es ihm ein durchaus anderes Gepräge als früher zu tragen, und mit den scharf und fast spitz ausgestoßenen Worten, die er eben gehört, in Widerspruch zu stehen. Denn nicht wie sonst zeigte es in diesem Augenblick jenen kühnen, triumphierenden Ausdruck, den es in den Bergen gehabt, noch weniger die trotzige Beimischung, die ihn oft wider Willen halb angezogen, halb abgestoßen, nein, es leuchtete von einer weichen Milde wieder, wie nur ein echt weibliches Gemüt verrät, und aus den sonst so feurig und strengblickenden Augen strahlte eine warme, teilnahmvolle Glut, die Franz Marssen wenigstens früher noch nie darin wahrgenommen hatte. War es vielleicht die weiblichere Kleidung, fragte er sich blitzschnell, die dem schönen Gesicht diesen Ausdruck gab? Denn wie die stolze, halb männliche Schottenkleidung vortrefflich zu der kühnen Miene ihres damaligen Gesichts gepaßt hatte, so paßten jetzt die milderen, weichen Züge zu dem langen Morgenkleide, das sie viel größer als vorher erscheinen ließ, und höchstens in den kurz hervorgestoßenen Worten, womit sie ihn anredete, spiegelte sich noch einmal das dämonische Wesen eines herrischen Charakters ab.
Aber da war endlich die Reihe der Rede auch an ihn gekommen, und ohne zu überlegen, was er sagte, stieß er die Worte hervor, die ihm zuerst auf die Lippen traten und seine ganze innere Bewegung aussprachen:
»Wie? Sind Sie es wirklich, die ich so unerwartet vor mir sehe?«
»Ja, ja doch, ich bin es!« rief sie mit ihrem alten heftigen Tone zurück. »Sparen Sie Ihre Verwunderung bis auf einen geeigneteren Zeitpunkt auf und antworten Sie mir lieber schnell, denn ich habe lange genug auf Ihr Erwachen gewartet: Ist das Ihre Malerwerkstatt, in der Sie so emsig arbeiten?«
»Ja, mein Fräulein, es ist die meine, Sie haben sie richtig aufgefunden.«
»Aber wo liegt das Haus, worin Ihre Familie wohnt, denn dies ist doch jedenfalls zu klein für mehrere Personen?«
»Dies Häuschen enthält unten nur einen Gartensaal und oben mein Atelier und liegt am Ende des Gartens meines Vaters. Unser Wohnhaus finden Sie vorn an der Straße, und von der Pension dort aus können Sie das Dach durch die Bäume ragen sehen.«
»Aha, ja, es ist das hübsche Haus mit der blumenreichen Veranda und den breiten Weingängen, nicht wahr? O, ich kenne es schon.«
»Ja, das ist es,« erwiderte Franz, sich allmählich von seinem Erstaunen erholend und zu ruhiger Fassung zurückkehrend. »Aber nun bitte ich Sie,« fuhr er fort, »sagen auch Sie mir jetzt, wie Sie hierhergekommen, in diesen Garten, wovon ich bisher nicht die geringste Ahnung hatte, da ich, seitdem ich wieder hier bin, noch keinen Menschen darin gesehen habe.«
»O, Sie werden jetzt oft genug Menschen darin sehen, denn wir wohnen ja nun in der Pension drüben. Wie wir aber dahin kamen, ist sehr bald gesagt. Wir waren zuerst in den Schweizerhof eingekehrt, aber meiner Mutter war es daselbst zu geräuschvoll, und die Zimmer ließen viel an wohnlicher Behaglichkeit vermissen. Mein Vater hatte bald nach unserer Ankunft einen Arzt rufen lassen, und der empfahl vor allen Dingen der Kranken Ruhe und Zurückgezogenheit von allem Treiben in Interlaken. Auch machte er meinen Vater zu diesem Zweck auf jene gerade leer stehende Pension aufmerksam, und so mietete dieser das kleine Haus für uns. Auf diese Weise bin ich, mit oder ohne Ihre Erlaubnis und ganz wider mein eigenes Vermuten, Ihre nächste Nachbarin geworden, wie ich vor einigen Minuten entdeckt habe. – Doch nun,« fuhr sie schalkhaft lächelnd fort, »da Ihre immer sehr große Neugierde befriedigt ist, lassen Sie auch mich eine Frage tun. Was malen Sie da?«
Franz Marssen lächelte. »Ein Bild!« sagte er etwas zögernd.
»Ja, das glaube ich Ihnen aufs Haar, aber was für eins? Kann man es nicht sehen, oder ist es ein Geheimnis?«
Der Maler besann sich nur einen Augenblick, dann sagte er: »Ein Geheimnis ist es eigentlich nicht, obwohl ich, solange ein Bild noch nicht fertig ist, es niemandem zu zeigen pflege.«
»O, ich bin niemand für Sie, also zeigen Sie es mir!« rief sie mit einer so neckisch bittenden Miene, daß Franz Marssen nicht widerstehen konnte. Er trat an die Staffelei zurück, hob den ziemlich großen Blendrahmen ab und hielt ihn ihr hin, so nahe er ihn an das kleine Fenster bringen konnte.
»Da haben Sie es!« sagte er etwas zaghaft, da er in Zweifel war, ob sie sich selbst erkennen würde.
Die junge Dame, die ohne Widerspruch ein sehr scharfes Auge hatte, tat, als ob sie das Bild aus der Entfernung, in welcher es ihr hingehalten wurde, nicht erkennen könne und sagte: »Es ist schade, ich kann es von hier aus nicht genau betrachten. Haben Sie auch fertige Bilder in Ihrem Atelier vorrätig?«
»Drei fertige und mehrere erst kürzlich begonnene, ja.«
»So. Ist es erlaubt, Ihr Atelier zu besuchen und sich von Ihren Leistungen zu überzeugen?«
»Warum nicht? Sollen Sie vielleicht ein Vergnügen darin finden, so bin ich jederzeit bereit, Ihnen meine Arbeit zu zeigen.«
Die Dame antwortete ihm nicht, sah sich rings im Garten um, und da sie nur die an dem Tische sitzende Gesellschafterin ihrer Mutter wahrnahm, die ruhig fortarbeitete, weil sie die in deutscher Sprache geführte Unterredung nur unvollständig verstand, so wandte sie sich wieder zu dem am Fenster stehenden Maler und sagte mit einer etwas befangenen Miene und leiserer Stimme als vorher:
»Sind Sie dort oben allein?«
»Ja, ich bin ganz allein, wie immer, wenn ich arbeite. Meine Verwandten kommen nur auf meine Einladung hierher, wenn ich ihr Urteil über etwas Neues hören will. Sonst aber kommt wenig Besuch, da ich keine näheren Bekannten hier in Interlaken habe.«
Die Dame nickte befriedigt und schien sich dann auf irgend etwas zu besinnen. Plötzlich sagte sie mit einem viel sanfteren Aufblick zu dem Maler, als sie selbst vielleicht wußte: »Wohnen im Hause Ihres Vaters da drüben auch Damen?«
»Nur meine unverheiratete Tante wohnt darin und zwar gegenwärtig allein, da mein Vater verreist ist.«
»Verreist?« fragte die Dame überaus rasch und fast verwundert. »Wohin ist er denn gereist?« fügte sie mit nur halb unterdrückter Neugierde hinzu.
»In die Berge, mein Fräulein, wie er es im Sommer häufig tut, um sich zu erfrischen und seine Liebe zu der Natur zu stillen.«
»Aha, ich verstehe. Ja, das ist die beste Liebe, die es gibt. Hier lernt man sie kennen. Ich hege und pflege sie auch in mir und bin entschlossen, nächstens einen ernsthaften Ausflug zu unternehmen. Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen und Ihren Rat einholen. Doch davon später. Für jetzt will ich – ja, ich will Ihre Bilder sehen. Ich bin neugierig, ob Sie mit der Farbe und dem Pinsel ebensogut umzugehen wissen, wie mit dem Bleistift. Gibt es vielleicht einen Eingang in Ihr Häuschen von diesem Garten aus, ohne daß man durch das Vorderhaus da drüben zu gehen braucht?«
Franz Marssen, obwohl etwas überrascht von dieser Frage, besann sich nicht lange. »Es gibt einen Eingang unmittelbar aus Ihrem Garten in diesen,« erwiderte er und deutete mit der Hand nach der rechten Seite hin. »Dort unten an dem großen Apfelbaum ist eine kleine Pforte, wozu sowohl mein Vater wie Ihr Wirt einen Schlüssel hat. Soll ich Ihnen den ersten aus dem Vorderhause holen?«
Sie besann sich nur einen Moment. »Nein, bleiben Sie, ich werde mir den von unserm Wirt geben lassen,« sagte sie, »und holen Sie uns nur von der Pforte ab. Aber ich möchte für jetzt keinem Mitgliede Ihrer Familie begegnen. Sieht uns jemand in den Garten und in Ihr Haus gehen?« fragte sie mit einem eigentümlich zaghaften Gesichtsausdruck.
»Es sieht Sie kein Mensch,« erwiderte Franz. »Meine Tante ist um diese Zeit stets im Hause beschäftigt, und in diesen abgelegenen Teil des Gartens tritt überhaupt nur selten jemand außer mir.«
»Es ist gut,« lautete die Antwort heiter zurück. »Ich werde sogleich Miß Rosy benachrichtigen, was wir vorhaben, und sie wird mich gern begleiten, da sie, ohne daß Sie es wissen, Ihre Gönnerin ist. Warten Sie also einen Augenblick, ich hole nur den Schlüssel aus dem Hause.«
Sie nickte dem Maler freundlicher denn gewöhnlich zu und drehte sich nach ihrer Gefährtin um, die ihr neugierig forschend entgegenblickte.
»Miß Rosy,« sagte sie ruhig in englischer Sprache, »hören Sie auf mit Ihrer Arbeit, es gibt eine neue Unterhaltung für uns arme, gelangweilte Personen. Unser Reisegefährte erlaubt uns – ah, nun belebt sich Ihr starres Gesicht – seine Bilder in Augenschein zu nehmen, und den Genuß wollen wir uns nicht entschlüpfen lassen. Kommen Sie, wir wollen den Schlüssel holen, da unten soll eine Pforte sein, die zu dem Nachbar führt.«
Miß Rosy erhob sich hastig von ihrem Stuhl, ließ ihre Arbeit liegen und schloß sich mit aufgeheitertem Gesicht ihrer Gefährtin an, die im Gehen ihren Arm ergriff und sie ziemlich eilig der Pension entgegenführte.
Franz Marssen aber stand noch eine Weile am Fenster und sah den abgehenden Gestalten nach. Obgleich er dabei mit seinen Blicken an den schönen Formen der jüngeren hing, sprach er doch von der älteren und sagte zu sich: »Also Miß Rosy! Nun, das ist doch ein Name, der erste, den ich einem Mitgliede dieser geheimnisvollen Familie beilegen höre. Wie lange wird es dauern, bis ich den zweiten und die übrigen vernehme? Aber sie werden bald hier sein – sieht es auch leidlich ordentlich hier aus? O ja, dank Tante Karolinens Sorgfalt kann sich mein kleines Asyl schon sehen lassen!«
Er trat von dem Fenster zurück, blickte flüchtig im Zimmer umher, rückte die Staffeleien der fertigen Gemälde zurecht und zog die herabgelassenen Vorhänge der Fenster auf, so daß jetzt das Licht von draußen hell hereinströmte und den bunten Raum mit einem freundlichen Schimmer übergoß. Als er aber hiermit fertig war, verließ er das Zimmer, ohne an das angefangene Porträt zu denken, das auf einer der beiseite geschobenen Staffeleien stand, und ging in den Garten hinab, der kleinen Pforte zu, die in den Nachbargarten führte. Hier sollte er auch nicht lange warten. Bald hörte er Damenkleider über den Rasen rauschen, dann rasselte ein Schlüssel im Schloß, die Tür, die in einem kleinen Mauerwerk angebracht war, tat sich auf, und Miß Rosy, die Engländerin, trat zuerst herein. Sobald sie aber den bekannten Reisegefährten vor sich sah, der auch ihr so manche Gefälligkeit erwiesen und dem sie immer mit Freundlichkeit entgegengetreten war, lächelte sie unbefangen, grüßte ihn und bot ihm, der schönen englischen Sitte folgend, die einen Bekannten durch eine Handreichung zu ehren sucht, ihre Rechte, eine Handlung, die die jüngere Dame, wie es schien, mit stiller Verwunderung aufnahm, obwohl sie kein Wort darüber laut werden ließ und ihre sonst so verständlich sprechenden Augen im Zügel hielt.
»Da sind wir!« sagte sie, sich rasch in dem fremden Garten umblickend. Da sie aber nur einen langen, dichten Weingang vor sich sah, in dem sich niemand außer dem Maler befand und der in gerader Linie nach dem in der Ferne sichtbaren Atelier führte, fuhr sie, schon weiter gehend, fort: »Ah, das ist hübsch hier, und Sie bewohnen ein artiges Gartenhäuschen. Nun kommen Sie schnell die Treppe hinauf und zeigen Sie uns, was Sie zu zeigen haben.«
Franz Marssen war den Damen voran die kleine Außentreppe hinaufgesprungen und hielt die Tür in der Hand, um den unerwarteten Besuch unverweilt in sein kleines Heiligtum eintreten zu lassen. Mit sichtbarer Spannung auf den Gesichtern folgten sie ihm und die Jüngere trat zuerst ein und ließ mit unruhiger Hast ihre Blicke in dem ziemlich vollen Raum umherschweifen, sobald sie sich darin befand.
»O,« rief sie, sich zu ihrem Wirte umwendend und ihrer Begleiterin befriedigt zunickend, »das sieht ja ganz allerliebst und einladend hier aus, als ob eine sorgsame weibliche Hand bei der Aufräumung tätig gewesen wäre!«
»Das ist sie auch,« nahm Franz rasch das Wort. »Meine gute Tante selbst läßt es sich nicht nehmen, meine künstlerische Unordnung etwas im Zaume zu halten.«
»So. Ja, es ist hübsch hier und gefällt mir, schon wegen der Aussicht nach dem grünen Obstgarten; aber bilden Sie sich nicht ein, daß wir Ihretwegen hierhergekommen sind. Wir machen diesmal nur der Kunst und ihrem Priester einen Besuch.«
»So fasse ich Ihre Anwesenheit auch auf, die mir gleichwohl sehr schmeichelhaft ist, mein Fräulein. Ich gehöre überhaupt nicht zu den Menschen, die sich leicht etwas zu ihren Gunsten einbilden. Ich sehe die Dinge im Leben nur an, wie sie sind, und denke nicht darüber nach, wie sie sein könnten. Doch sehen Sie da – da haben Sie meine fertigen Bilder und nun sagen Sie mir, ob Sie auf diesen beiden größeren hier den romantischen Schauplatz erkennen, den wiederzugeben ich mich mit eifrigem Bestreben bemüht habe.«
Er rückte bei diesen Worten zwei auf großen Staffeleien stehende Ölgemälde in kostbaren Rahmen in das vollste Tageslicht und die Damen traten rasch vor sie hin und betrachteten sie längere Zeit mit tiefem Schweigen, das von der Wirkung, die sie übten, deutliche Kunde gab. Daß diese Wirkung eine ergreifende war, wenigstens bei der jüngeren Dame, bewies ihr rascheres Atmen, und als sie sich nach geraumer Zeit nach dem bescheiden im Hintergrund stehenden Künstler umwandte, ließ ihr rosig belebtes Antlitz eine freudige Bewegung ihres Innern erkennen. Da atmete sie noch einmal tief auf und sagte mit wahrhaftem Gefühl:
»Ich muß Ihnen offen bekennen, daß ich über Ihre Arbeit erstaunt bin. Nein, daß Sie ein solcher Künstler sind – ich wiederhole das gern – habe ich nicht gedacht. Ich habe in aller Welt Orten viele schöne Landschaften gesehen, aber so wie diese beiden haben mich selten welche angesprochen. Ich mache Ihnen mein Kompliment, und obgleich ich keine wirkliche Kunstkennerin bin, so fühle ich doch, daß diese Bilder zu meinem Innern sprechen. Es sind die Handeckfälle, ich erkenne sie sehr wohl wieder. Dieses bei sonniger Morgenbeleuchtung und dieses schaurige beim leise heraufdämmernden Abend. Das ist schön, das ist groß, und die Natur ist so vollkommen wiedergegeben, wie es, glaube ich, nur möglich ist.«
Und sie wandte sich nun zu ihrer Begleiterin und sprach in deren Muttersprache noch mehr ähnliche Bemerkungen aus, die Miß Rosy warm erwiderte. Von ihren Gefühlen gedrängt, trat diese zu dem Maler zurück, reichte ihm noch einmal die Hand und sagte:
»Ja, Sir, das ist schon und groß, und ich danke Ihnen, daß Sie mir diesen Genuß verschafft haben.«
Franz Marssen schwieg noch immer. Der Beifall, den seine Werke fanden, erfreute ihn und machte ihn stumm, nur hatte sein Antlitz eine höhere Färbung angenommen und seine Augen leuchteten mit lebhafterem Glanze über die Bilder und die sie bewundernden Beschauerinnen hin.
Nach einer Weile jedoch, während die Damen noch immer den stäubenden Wasserfällen ihre Aufmerksamkeit schenkten, rückte er das dritte Bild vor einem Fenster zurecht, und als es ihm in der richtigen Beleuchtung zu stehen schien, sagte er: »Und nun haben Sie die Güte, einmal auf diesen Versuch zu blicken und mir Ihre Meinung darüber zu sagen.«
Die beiden Damen drehten sich nach dem neuen Gemälde um und starrten im ersten Augenblick wie geblendet darauf hin. »Was ist das? Daraus werde ich nicht klug!« rief die jüngere Dame, wobei sie jedoch das dunkle Auge nicht von dem Bilde abzuwenden vermochte.
»Weil Sie noch nie etwas Ähnliches in der Natur gesehen haben,« versetzte der Maler. »Es ist das Innere einer Eisgrotte im Grindelwaldgletscher, einer Kirche oder Kapelle ähnlich ausgehauen, und, wie gesagt, ich habe nur versucht, das wunderbare Gebilde in Farben wiederzugeben, was eigentlich nicht möglich ist, wie Sie auch erkennen werden, wenn Sie es erst in Natur gesehen.«
»Aber die Natur hat es doch nicht gemacht, wie es hier dargestellt ist?« fragte die Engländerin.
»Nur halb, Miß: sie hat nur den rohen Stoff, das Eis im Gletscher dazu hergegeben, und die Menschenhand hat ihn bearbeitet und ausgehöhlt. So haben beide in Gemeinschaft etwas Wunderbares geleistet, und so sollte es eigentlich immer sein, Natur und Kunst müssen Hand in Hand gehen, wenn etwas Großes hervorgebracht werden soll.«
»Da haben Sie recht,« bestätigte die Schottin. »Man kann also diese Eisgrotte in Wirklichkeit betreten?«
»Mit Leichtigkeit. Wenige Stufen führen vom Fuß des unteren Grindelwaldgletschers mitten in den Eispalast hinein und Sie können darin umherwandeln, wie Sie es in dieser Stube tun.«
»Das ist prachtvoll. Das muß ich sehen. Aber wie, nun sagen Sie mir,« wandte sie sich zu dem Maler um, »diese drei Bilder haben Sie schon lange fertig, wie es scheint, und sie sind noch nicht verkauft? Warum nicht?«
Franz Marssen zuckte die Achseln und erwiderte bescheiden: »Dafür gibt es zwei Gründe, mein Fräulein. Einmal findet sich nicht gleich für jedes Bild ein Käufer, und zweitens trenne ich mich schwer von den Erzeugnissen meiner Hand. Hat man sie einmal erst weggegeben, so sind sie für uns selbst verloren und niemals kann man sein Auge wieder daran erfreuen. Sehen Sie da, welchen Vorteil die schreibenden Dichter vor uns voraus haben. Wenn jene ihr Werk vollendet haben, so vervielfältigt es sich durch den Druck, es entschwindet weder ihrer Hand, noch ihrem Geiste und sie sind ebenso imstande, später ihre eigenen Fehler zu entdecken und zu verbessern, wie sich an ihren Vorzügen zu erfreuen, und das ist ein großer Sporn zu neuen Anstrengungen.«
»Sie haben abermals recht,« sagte die junge Dame. »O mein Gott, diese Gemälde sind schön, und wäre ich reich – ach, leider bin ich es nicht – so dürfte kein anderer als ich sie kaufen.«
Bei diesen Worten versenkte sie sich von neuem in das Anschauen des letzten Gemäldes und ein fast wehmütiger Blick fiel aus ihrem dunklen Auge darauf, den jedoch niemand sah, da sie vor den übrigen stand.
Während sie nun die bläulich schimmernde Eisgrotte noch länger betrachtete oder zu betrachten schien, war Miß Rosy zwischen den vorderen Staffeleien hindurch zu den hinter denselben stehenden getreten, und plötzlich ließ sie einen Ausruf der Verwunderung hören, als habe sie etwas ganz Neues und Unerwartetes entdeckt. Die junge Dame vernahm denselben ebenso wie Franz Marssen, und als dieser der Engländerin nachging, sah er sie vor dem Portrait und der neuen Landschaft stehen, die ihre Gefährtin als Reiterin auf dem Schimmel unter der Föhre zeigte.
»Mein Gott, Sir,« rief sie, »wann haben Sie das gemacht? Es ist ja von wunderbarer Ähnlichkeit!«
Die Jüngere war auch herangetreten und Franz, der sein Geheimnis enthüllt sah, antwortete nicht, sondern beschäftigte sich nur damit, die beiden Staffeleien vorzurücken, so daß auch ihre Bilder von dem Tageslichte Glanz und Leben erhielten.
Aber da wurde er durch einen seltsamen Blick der jungen Dame tief erschüttert. Sie trat ihm näher, suchte sein Auge, und beider Blicke trafen fest aufeinander. Wie der seinige fragend, voller Erwartung war, so war der ihrige voller Erstaunen, der mit einem stillen Vorwurf gepaart erschien. »Wie,« sagte sie halblaut und mit fast zusammengebissenen Zähnen, »ist das recht von Ihnen, mein Herr? Wissen Sie, daß es nichts als Diebstahl ist, wenn man sich das Eigentum eines anderen, ohne Erlaubnis dazu zu haben, aneignet?«
»Diebstahl?« wiederholte Franz mit bebender Lippe. »O, Sie urteilen zu hart und ich hatte eigentlich ein anderes Wort erwartet. Nein, sehen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, Sie schrecken mich nicht mit Ihrem drohenden Auge nieder. Ich bin nicht Ihrer Meinung, daß es Diebstahl ist, was hier begangen worden. Ihr Gesicht ist freilich Ihr Eigentum und das kann Ihnen nichts auf der Welt rauben, als höchstens die Zeit, die an nichts Irdischem spurlos vorübergeht. Gott aber hat es geschaffen, nicht daß Sie allein es wohlgefällig betrachten, sondern er hat die Gunst jedermann gewährt, der Augen von ihm empfangen hat.«
»So, das ist eine kühne Behauptung, aber sie berührt Ihre Handlungsweise nicht. Sie haben mein Gesicht, meine Gestalt, meine Kleidung nicht betrachtet, wie sie andere Menschen betrachten, sondern Sie haben alles dies auf die Leinwand gesetzt, es sich also angeeignet – wider mein Wissen und Wollen – und darüber eben beklage ich mich.«
Franz Marssen schlug vor ihrem immer funkelnder aufleuchtenden Blick die Augen nieder und sagte still, fast traurig: »Ich habe nicht gedacht, daß Sie mein Tun verletzen würde, wie ich jetzt sehe, sonst hätte ich Sie nicht hierher geführt. Aber so viel muß ich Ihnen noch sagen, daß nicht ich dafür kann, daß sich dieses Gesicht und diese Gestalt – daß sie die Ihrigen sind, ist Nebensache – meinem Auge so fest eingeprägt haben, so daß meine Hand es mit der Farbe wiedergeben konnte. Indessen sprachen Sie vorher von der Erlaubnis, es wiedergeben zu dürfen. Wenn ich gefehlt habe, so will ich versuchen, meinen Fehler zu verbessern, denn der Mensch kann die meisten seiner Fehler verbessern, wenn er will. Und so bitte ich Sie denn: erlauben Sie mir, daß ich diese Gemälde vollende und geben Sie mir gütigst Gelegenheit, sie möglichst vollkommen, so vollkommen auf der Leinwand darzustellen, wie – wie –«
Er schwieg, denn er fühlte selbst, daß er im Begriff stand, der Dame eine Schmeichelei ins Gesicht zu sagen. Sie winkte auch sogleich mit der Hand und lächelte dabei wieder freundlich wie vorher.
»Es ist wenigstens gut,« sagte sie, »daß Ihnen Ihr Vergehen zur Einsicht gekommen ist. Nun, so malen Sie denn die Bilder meinetwegen weiter, wenn Sie nichts besseres zu tun haben. Was hilfe es mir auch, wollte ich Ihnen diese Erlaubnis versagen – Sie kehrten sich doch nicht daran. Sie sind ein Mann, und die Männer glauben ja mit ihrer Machtvollkommenheit alles auf Erden ungestraft tun zu können.«
»Sie urteilen ebenso strenge über die Männer überhaupt, wie über meine einfache Handlungsweise, aber das verschlägt mir nichts, das machen Sie mit sich selbst ab. Ich will Ihnen nur für Ihre Freundlichkeit meinen Dank aussprechen und nun erst recht fleißig beide Gemälde vollenden.«
Die junge Dame lächelte heiter. »Um beide wahrscheinlich so bald und so teuer wie möglich zu verkaufen, nicht wahr?« rief sie mit ihrem alten herrischen Wesen.
Franz Marssens Gestalt richtete sich bei diesen Worten hoch auf und über seine Stirn ergoß sich eine dunkle Röte. »Das ist ein Fehler von Ihnen,« sagte er dann mit leuchtendem Auge, »und Sie werden wohltun, zu versuchen, ihn ebenfalls zu verbessern, wie ich den meinigen zu verbessern mich bemüht habe. Diese Bilder habe ich nicht gemalt, um einen materiellen Vorteil damit zu erzielen, o nein, sie sollen mir weiter nichts, weiter gar nichts sein,« wiederholte er mit lauterer Stimme, »als eine Erinnerung an eine Bergreise, die allein mir gehört und sonst niemanden etwas angeht.«
Die junge Dame bebte unmerklich zusammen und ihr Auge senkte sich eine Weile vor dem sprühenden Auge des Redenden. Als sie es aber wieder erhob, lag ein fast sanfter Ausdruck auf den dunklen Augensternen und so sagte sie auch mit ungleich milderer Stimme als vorher: »Ich will meinen Fehler auch verbessern, mein Herr, wenn ich Ihnen auch sagen muß, daß Sie ein etwas strenger Lehrmeister sind. Meinetwegen, behalten Sie diese Erinnerung an die Berge, aber geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie niemandem sagen, in welcher demütigenden Lage Sie mich auf dem Rhonegletscher erblickt haben.«
Franz Marssen schrak zusammen. »Das tut mir leid,« rief er bewegt, » den Fehler kann ich nicht mehr verbessern, ich habe es schon meinem Vater und meiner Tante erzählt, vor denen ich bisher keine Geheimnisse hatte.«
»Ihrem Vater und Ihrer Tante? Nun, Sie sind wenigstens aufrichtig und bekennen Ihre Fehler. Sie haben sich gegen jene Personen wohl Ihrer Handlungsweise gerühmt, wie?«
»Welcher Handlungsweise?«
»Daß Sie ein leichtsinniges Mädchen aus großer Gefahr befreiten. –«
»Dessen rühmt sich kein edler Mann, mein Fräulein, und es wäre das erste Mal, daß meine Lippen etwas gesprochen, was mein Herz nicht einmal empfunden hat.«
»Dann bin ich zufrieden. Aber sonst werden Sie doch niemandem mein damaliges Mißgeschick verraten?«
»War denn das so demütigend für Sie, daß Sie es niemandem wissen lassen wollen?«
»Ja, daß Sie es nur wissen, ja – ich vertrage alles, aber keine Demütigung. Dagegen sträubt sich mein Herz, meine Seele, mein ganzes Wesen – ich hasse den, der mich demütigt oder mich gedemütigt sieht – und nun kennen Sie mich.«
»Ach, mein Fräulein, in dieser Beziehung glaube ich Sie schon länger zu kennen,« erwiderte Franz Marssen mit einem wehmütigen Anflug in seiner Stimme, »und lassen Sie mich zu unserem Gespräch schließlich den Wunsch fügen, daß nicht das Leben selbst diese Demütigung übernehmen möge, die Sie keinem Menschen gestatten wollen.«
Sie hob ihr wie mit Blut übergossenes Gesicht stolz gegen ihn auf, und ein neuer funkelnder, fast zorniger Blick schoß ihm entgegen. »Wie meinen Sie das?« fragte sie bitter.
»Wie ich es sagte: so hart die Menschen oft gegen einander sind, das Leben im großen und ganzen – nennen Sie es meinetwegen Schicksal – ist oft härter als alle Menschen zusammengenommen, und davor, daß Sie das erfahren, behüte Sie Gott! Das meinte ich, und ich möchte diesmal nicht unrecht von Ihnen verstanden sein.«
Die junge Dame senkte den Kopf, als sänne sie über etwas nach, oder als höre sie die so mild und wohlwollend gesprochenen Worte in ihrem Ohre nachsummen. Dann aber raffte sie sich zusammen, suchte ihrem Blicke einen freundlicheren Ausdruck zu geben und nickte dem Maler zu. »Ich danke Ihnen,« sagte sie, »und nun haben wir lange genug in Ihrem Atelier geweilt. Kommen Sie, Miß Rosy, es ist nicht gut, wenn man so lange den Dunst dieser Ölfarben einatmet, er fällt einem schwer auf die Brust – und so leben Sie wohl, mein Herr. Wir danken Ihnen ebenso für die Erlaubnis, Ihre Bilder zu betrachten, wie für die Belehrung, die Sie uns dabei angedeihen ließen.«
Sie stand schon auf der obersten Treppenstufe. Die Engländerin aber, nachdem sie noch einen raschen Blick über die Gemälde geworfen, reichte dem Maler flüchtig die Hand und sagte: »Auch ich danke Ihnen, Sir, und ich glaube,« fügte sie leiser hinzu, während ihre Begleiterin schon die krachende Treppe hinabschritt, »Sie haben, so viel ich von Ihrer Rede verstand, Miß Edda eine gute Lehre gegeben. Guten Morgen, Sir!«