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Paul van der Bosch war es aber nicht allein, dessen Brust auf der heutigen Fahrt nach Wollkendorf von Sehnsucht überschwoll, o nein, er wurde daselbst mit Empfindungen erwartet, die den seinigen sehr nahe kamen und denen sich sogar noch eine von Stunde zu Stunde wachsende Neugierde beigesellte.
Der rasch heranrollende Wagen mußte schon aus der Ferne bemerkt worden sein, denn als seine Räder eben den Steindamm vor dem Herrenhause des Gutes berührten, kam ihm schon vor der Thür, von einem Diener gefolgt, die Frau Baronin entgegen und es fand zwischen ihnen eine freundliche obwohl kurze Begrüßung statt. Nach dieser aber sagte die Baronin, sobald der Diener Paul's Rock in Empfang genommen hatte und damit in's Haus getreten war:
»Kommen Sie, Sie müssen sich noch eine Weile mit mir allein begnügen; meine Mutter hält ihre gewöhnliche Mittagsruhe und so haben wir Zeit zum ungestörten Plaudern. Wollen wir so lange in den Park oder in das Haus gehen?«
»Ich ziehe heute den Garten vor,« erwiderte Paul. »Mir thut eine Bewegung noth; ich habe seit gestern Abend nur wenige Schritte auf festem Boden gemacht.«
Arm in Arm schritten die beiden so innig befreundeten Personen bald in der jetzt schon dicht belaubten Allee auf und nieder und hier erzählte Paul rasch und lebendig Alles, was ihm seit ihrer Trennung am vorgestrigen Tage begegnet war.
Betty hörte mit wachsender Spannung zu und warf nur wenige Fragen zwischen seine Worte, bis sie Alles wußte und, nun im Gemüthe das Gehörte erwägend, schweigend an seiner Seite schritt. Als er aber schon lange fertig war und sie immer noch nicht sprach, fragte er:
»Was sagen Sie denn nun? Habe ich viel oder wenig ausgerichtet?«
»Ich möchte behaupten: Viel, obgleich ich eigentlich auf mehr in die Augen Springendes gefaßt war.«
»Ich auch,« erwiderte Paul schnell, »und doch scheint mir in Dem, was ich gesehen und erfahren, der Keim zu allem noch Fehlenden zu liegen. Aber was denken Sie denn von der seltsamen, so hartnäckig beibehaltenen und sich immer wiederholenden Frage des alten Laurenz?«
»Das ist es,« versetzte Betty sinnend, »was mich jetzt allein beschäftigt. Was für eine Frage mag er wohl erwarten?«
»Ha, ja, was für eine! Darüber habe ich mir schon fast den Kopf zerbrochen und kann sie doch nicht finden. Es muß unter allen Umständen eine Frage sein, die so wichtig ist, daß man ihm einen Eid abgefordert hat, den Gegenstand derselben nicht eher zu berühren, als bis sie ihm in einer bestimmten Form vorgelegt wird. So viel ist gewiß, Niemand anders als sein alter Herr selbst kann ihm diesen Eid abgefordert haben.«
Betty stand mit einem Mal still und blickte gleichsam suchend nach dem blauen Himmel empor. »Es ist seltsam,« sagte sie, »Sie führen mich mit dieser Bemerkung plötzlich auf einen Gedanken zurück, der mir heute den ganzen Morgen nicht aus dem Kopfe gewollt hat.«
»Was ist das für ein Gedanke?«
»Er betrifft das verlorene und so eifrig gesuchte Büchelchen – Sie wissen ja!« Jetzt stand Paul still und legte seine freie Hand an die Stirn, denn dieser Gedanke erleuchtete wie ein Blitzstrahl das Chaos seines Innern. »Sollte es möglich sein!« sagte er, wie aus einem Traume erwachend.
»Aber wie wunderbar, mir ist gerade der Gedanke an dieses Buch seit gestern gar nicht in den Sinn gekommen und meine Unterredung mit Laurentius Selkirk bewegte sich auch viel zu sehr im Allgemeinen, als daß ich an Einzelnheiten hätte denken sollen. Doch Sie haben Recht, möglich ist es, daß dieses Buch mit jener Frage zusammenhängt oder diese Frage sich auf das Buch bezieht. Man kann es versuchen. Ich will lieber morgen noch einmal nach Neuwerk segeln.«
»O, das ist ja sehr beschwerlich für Sie und es geht so viel Zeit damit verloren.«
»Ich denke nicht,« erwiderte Paul, noch immer ernstlich nachsinnend und kaum auf diesen Einwurf achtend. »Es handelt sich jetzt um Gewißheit, nicht um Zeit. Ja, ja, ich werde morgen noch einmal hinübersegeln. Es muß endlich klar werden in mir. Es gährt in meinem Gehirn und ich habe keine Ruhe mehr –«
»Das sehe ich,« unterbrach ihn Betty lächelnd, »und ich finde es sogar erklärlich.«
»Gewiß. Aber lassen Sie uns lieber noch schärfer überlegen und andere Fragen suchen, die der alte Mann erwarten könnte, denn von dem fehlenden Gelde habe ich mit ihm gesprochen, und so unmöglich er diesen Umstand fand und so sehr er darüber erstaunt war, so berührte es doch seine geheime Frage nicht im Mindesten.« –
»Ich finde nichts Anderes,« fuhr Betty nach einer Weile fort, »nur das Buch erfüllt mich ganz und gar. Wäre es nicht denkbar, daß Ihr verstorbener Onkel, um ebenfalls ganz sicher zu gehen, dem Rentmeister nur das Geld, dem ältesten, treuesten Diener dagegen, da er keinen Anderen zur Hand hatte, jenes sein Vermögen nachweisende Buch anvertraut hat? Dieser will seiner Pflicht nun bis zum Aeußersten genügen, er hat vielleicht schwören müssen, es in Niemandes Hände zu legen, als in Dessen, der es von ihm fordert. Und das kann doch nur Der sein, der es vermißt und sucht, also der Erbe, nicht wahr?«
»Sie haben Recht, o wie sehr haben Sie Recht,« rief Paul mit einem Male wie entzückt. »O, mein Gott, ja, es wird mir immer klarer, Sie werden das Richtige getroffen haben. O, wie preise ich Ihren Gedanken, daß ich sogleich nach Wollkendorf statt nach Betty's Ruh fahren sollte!«
Betty lächelte; auch sie freute sich aber diesen Gedanken. Plötzlich aber stand sie still und sah nach der Uhr.
»Es ist die höchste Zeit, daß wir zu meiner Mutter gehen,« sagte sie, »sie wird gar nicht wissen, wo wir bleiben. Unsere Kaffeestunde ist lange vorüber.«
»So kommen Sie, aber – darf ich nachher um einen Wagen bitten, um nach Hause zu fahren? Ich möchte nicht gar zu lange ausbleiben, da ich morgen Vormittag schon wieder fort muß.«
Betty seufzte leise auf. »Der Wagen steht jederzeit zu Ihrer Verfügung und ich stimme Ihnen bei, daß Sie zeitig nach Hause kommen. Sie werden der Ruhe bedürfen.«
»Eigentlich ja, es hämmert mir wild im Kopf und mir ist so eigenthümlich zu Muthe, wie mir immer war, wenn ich vor einer Katastrophe in meinem Leben stand.«
»Wenn das ist,« sagte Betty rasch, »so will ich Sie keinen Augenblick aufhalten. Ja, ja, Sie bedürfen jedenfalls einer längeren Ruhe. Fahren Sie so bald wie möglich nach Hause.«
Wie man es verabredet, so geschah es. Um sechs Uhr verließ Paul Wollkendorf und bald nach sieben Uhr traf er in Betty's Ruh ein. Als er in den Park einfuhr, bemerkte er schon aus der Ferne seinen Onkel, der mit dem alten Gärtner an einem Blumenbeete vor der Halle stand und verwundert die Augen erhob, als er seinen Neffen mit einem Wollkendorfer Gespann anlangen sah. Als Paul ausgestiegen und der Wagen wieder abgefahren war, wandte sich der Professor mit neugieriger Miene zu ihm hin und sagte:
»Nun, was ist denn das? Ich bitte mir eine Erklärung aus, mein Lieber; wo kommst Du denn eigentlich her?«
»Von Wollkendorf, lieber Onkel, wie Du siehst.«
»Aber mein Gott, wie bist Du denn dahin gekommen?
Du warst ja zu Wasser nach dem Feuerschiff gefahren?«
»Richtig, und als ich in Cuxhafen heute Mittag wieder anlangte, holte mich der Baronin Wagen nach Wollkendorf, wie es zwischen uns verabredet war.«
»Das sind ja merkwürdige Geheimnisse!« rief der Professor. »Davon hat sie mir ja gestern gar nichts gesagt. Haha, ich erfahre alle Tage mehr Wunderdinge von Dir!«
Paul lachte fast herzlich. »Gewiß, und das muß auch so sein. Du hast mir ja alle Deine Geschäfte übertragen und jetzt siehst Du mich sie pünctlich und gewissenhaft erfüllen.«
»Also Geschäfte, und meine Geschäfte haben Dich nach Wollkendorf geführt? Ei, das ist ja ganz was Neues.«
»Du wirst bald noch viel mehr Neues erfahren, lieber Onkel, habe nur einige Tage Geduld. Ich bin großen und wichtigen Entdeckungen auf der Spur, von denen für Dich wie für mich ungeheuer viel abhängt.«
Als der Professor seinen Neffen diese Worte so ernst sprechen hörte, wurde auch er ernst und drängte den Scherz zurück, der ihm in Betreff seiner zukünftigen Gemahlin schon auf der Lippe schwebte. Beide gingen dann in das Schloß, und daß in seines Neffen Kopf wirklich ein ernstes und wichtiges Geschäft verarbeitet ward, bemerkte der Professor sehr bald, denn Paul, nachdem er es sich bequem gemacht, that keinen Schritt mehr in's Freie, sondern blieb gedankenvoll, brütend und einsylbig den ganzen Abend auf dem Sopha sitzen, antwortete der ihn mit Fragen bedrängenden Frau Dralling nur kurz und oberflächlich und trank gegen seine Gewohnheit eine ganze Flasche Wein, wonach er ein großes Bedürfniß zu haben schien. Stiller war dem Professor noch kein Abend verstrichen, seitdem Paul in seinem Hause lebte, aber er war verständig und liebevoll genug, darüber keine Bemerkung fallen zu lassen, und so ging man früh zu Bett, da Paul von einer starken Ermüdung ergriffen zu sein schien, was kein Wunder war, da seine Gedanken achtundvierzig Stunden lang in beständiger aufregender Thätigkeit gewesen waren. Er schlief auch bald und fest ein, und hätte vielleicht bis in den hellen Tag hinein geschlafen, wäre er nicht gegen sechs Uhr von Friedrich geweckt worden, der an sein Bett trat und nach raschem Aufblick des sogleich Ermunterten ihm einen bedeutsamen Wink mit der Hand gab, ohne ein Wort zu sprechen.
Während der Professor noch ruhig weiter schlief, kleidete Paul sich rasch an und als er damit nach einer Viertelstunde fertig geworden war, trat er in den Saal, wo Friedrich ihn bereits ungeduldig erwartete.
»Was giebt's?« fragte er den wohlgeschulten Diener, der von jenem merkwürdigen Instinct beseelt war, den treue und schlaue Dienstboten für das Interesse ihrer Herrschaft bisweilen zu haben pflegen.
»Sie werden sich sogleich wieder auf die Reise begeben müssen, Herr van der Bosch,« sagte Friedrich rasch, »und ich habe die Grauschimmel schon vor den Wagen legen lassen.«
»Wohin soll ich denn? Warum denn?«
»Kommen Sie hinaus. Der Mann ist draußen im Vorzimmer, zu dem ich Sie vorgestern nach der Kugelbaake begleitete. Er hat Ihnen eine wichtige Botschaft mitzutheilen und hat den weiten Weg in vollem Laufe zurückgelegt.«
»Whistrup!« rief Paul voller Staunen. Und schon schritt er in das Vorzimmer hinaus, wo er den guten Mann erhitzt auf einem Stuhle sitzen sah, der jedoch freudig aufsprang, als er nun endlich dem sehnlich Erwarteten gegenüber trat.
»Whistrup,« redete Paul ihn an, »was giebt's?« Was führt Sie so früh her?«
Whistrup wischte sich den Schweiß vom Gesicht und lächelte. »Ich bringe Ihnen eine telegraphische Depesche,« sagte er leise, »die vom ›Jacob Hinnerich‹ kommt. Als ich heute Morgen gegen vier Uhr aufstand und auf meinen Balcon trat, um mit dem Glase über das ganz nebelfreie Wasser auszuschauen, sah ich auf der Gaffel des ›Jacob Hinnerich‹ einen langen weißen Wimpel wehen, der nur Frieden gelten konnte. Ich weckte sie augenblicklich und sie machte sich schnell bereit. Als sie den Wimpel in's Auge gefaßt, begriff sie, was vorging, und steckte sogleich ihre beiden Signalflaggen aus, was bedeutete, daß sie den Wimpel bemerkt habe. Da hätten Sie einmal sehen sollen, wie rasch nun eine Flagge nach der andern auf der Gaffel des ›Hinnerich‹ folgte und wie ämsig Friede ihr neues Signalbuch befragte. Endlich sagte sie: ›Vater, Du mußt eilig nach Betty's Ruh hinüber, um Herrn van der Bosch sogleich herbeizurufen. Philipp will ihn sprechen, denn – Laurentius Selkirk ist auf dem Schiff.‹«
»Hollah!« rief Paul mit freudigem Staunen aus, »das ist eine gute Nachricht, Whistrup, und wichtig genug. O wie dankbar bin ich Ihnen für diese Meldung! Kommen Sie herein, mein lieber Freund, und lassen Sie uns rasch eine Tasse Kaffee trinken.«
»Es dauert vielleicht zu lange, bis er fertig ist, Herr van der Bosch,« erwiderte Whistrup eifrig. »Bei mir ist er gewiß fertig und steht schon auf dem Tisch, wenn wir kommen, und für den Kutter, der Sie vorgestern nach dem Feuerschiff gebracht, hat Friede auch gesorgt. Sie können gleich abfahren, wenn Sie gefrühstückt, der Wind ist günstig.«
»Wenn es so ist, wollen wir uns keine Minute aufhalten. – Friedrich!«
Der Gerufene kam sogleich und erhielt den Befehl, den warmen Rock in den Wagen zu schaffen und sich selbst zur Mitfahrt zu rüsten, da er vielleicht gebraucht werden könne.
Etwas Angenehmeres konnte dem guten und abenteuerlustigen Menschen nicht geboten werden. In fünf Minuten war Alles bereit und der Wagen stand vor der Thür. Da kam Frau Dralling angetrippelt und machte große Augen, als sie den Herrn Paul schon wieder reisefertig fand.
»Sagen Sie meinem Onkel,« redete Paul sie an, »ich hätte in Geschäften rasch an den Strand gemußt und er solle nicht das Haus auf lange Zeit zu verlassen, bis ich wieder da sei. Es ist wichtig, Frau Dralling, und Niemand im Hause darf erfahren, was vorgeht.«
»Von mir soll es keine Maus erfahren, Herr Baumeister, darauf verlassen Sie sich. Aber mein Gott – ohne Kaffee wollen Sie fort? Das ist doch schrecklich!«
»Adieu, adieu!« rief Paul, schon in den Wagen springend, in dem nun auch Whistrup steigen mußte. Dann schwang sich Friedrich neben Louis auf den Bock und fort ging es im scharfen Trabe der Küste zu, immer innerhalb der Deiche entlang, auf dem nächsten Wege, und die Pferde mußten so schnell laufen, wie der bisweilen holprige Boden es ihnen gestattete.
Es war kaum sieben Uhr, als man im Leuchthause an der Kugelbaake anlangte, und Whistrup hatte die Wahrheit gesagt, denn kaum war Paul in das Zimmer getreten, so kam der Kaffee, Brod und Butter, und nun nahmen Alle, auch Friedrich, ihr verspätetes Frühstück ein.
»Was sagen Sie zu meiner Privattelegraphenstation und zu meinem neuen Signalbuch?« fragte während des Essens die lachende Friede den jungen Mann.
»Sie haben die köstlichste Erfindung der Neuzeit sich wohl zu Nutze gemacht, Friede, und ich danke Ihnen tausendmal für Ihre Aufmerksamkeit und Freundlichkeit. Wir sparen dadurch eine kostbare Zeit.«
»Darf ich auch mit nach dem Schiffe?« fragte Friedrich seinen frohgestimmten Herrn, da er ein heißes Verlangen trug, auch einmal eine Seefahrt zu unternehmen.
Paul besann sich rasch. »Ja,« sagte er, »Louis muß uns doch mit dem Wagen hier erwarten, also kommen Sie mit. An Bord des Feuerschiffs aber brauchen Sie nicht zu gehen und können im Kutter bleiben, mit dem ich wieder zurück muß, sobald ich fertig bin. Und nun, Friede, wie steht es mit dem Schiffer?«
»Er ankert schon an der Baake, Herr van der Bosch, und Sie können jeden Augenblick einsteigen.«
»Vorwärts denn, ich bin bereit!«
Der kleine Zug setzte sich in Bewegung, nachdem Louis den Befehl empfangen hatte, seine Pferde gegen den Wind zu schützen und die Rückkehr seines Herrn zu erwarten. Die Einschiffung erfolgte rasch und der alte gemüthliche Schiffer begrüßte Paul mit großer Freude, indem er sagte:
»Na, da sind Sie ja schon wieder, Herr! Das ist recht. Ich wünschte Sie alle Tage fahren zu können. Kann ich nun den Anker heben, ist Alles fertig?«
»Alles fertig! Adieu, Whistrup, adieu, Friede, auf baldiges Wiedersehen!«
Zwei Minuten später war der rasch segelnde Kutter schon weit von der Kugelbaake entfernt und Whistrup trat mit seiner Tochter voll froher Erwartung der kommenden Dinge den Rückweg nach seinem Hause an, denn nach Beider Meinung konnte diese schnelle Berufung nur Gutes zu bedeuten haben.
Paul nahm seinen alten Platz auf der Taurolle wieder ein und Friedrich verfügte sich unaufgefordert in den Bug, wo er sehr bald mit den beiden Mitschiffern im Gespräch begriffen war.
»Ich habe es neulich schon gesagt,« begann der Schiffer am Steuer die Unterhaltung mit dem Herrn, »daß wir das klare Wetter nicht lange mehr behalten werden. Heute Morgen hat es schon nicht mehr genebelt und der stramme Ostwind ist nach Südost herumgegangen. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn er recht bald aus Nordwesten bliese, denn von solchen Tücken ist der alte Widerspruchsgeist besessen. Bleiben Sie wieder an Bord des ›Jacob Hinnerich‹, Herr?«
»Nein, heute nicht, und Sie müssen warten, bis ich meine Geschäfte beendigt habe. Dann fahre ich mit Ihnen gleich wieder zurück.«
»Es ist gut, Herr. Na, segeln wir trotz der Fluth nicht ganz hübsch? Der Wind ist heute eben so kräftig wie neulich und treibt uns noch rascher, da er halb von der Seite kommt – da her.«
So war es in der That und dieselben Erscheinungen wie am vorgestrigen Tage boten sich dem Auge des Reisenden dar. Nur die Sonne schien nicht so klar und hell, der Himmel war stellenweis mit leichtem grauen Gewölk bedeckt und von Süden her stiegen mächtige, zerrissene weiße Windwolken herauf, die sich wie ein ungeheures Gefieder weit über die graugrüne Wasserwüste streckten.
Paul fühlte sich an diesem Tage zu keinem weiteren Gespräch aufgelegt. Seine Gedanken waren schon lange an Bord des Feuerschiffs. Er konnte sich eigentlich den schnellen Entschluß des alten Mannes nicht erklären, der ihn so bald nach seinem Besuche in Neuwerk zu Capitain Hardegge getrieben. Hatte die Erscheinung Paul van der Bosch's und die Unterhaltung mit ihm so stark auf ihn eingewirkt, oder hatte die einsame Lage in dem alten Thurm und die Hoffnung, bald wieder auf dem geliebten Betty's Ruh zu sein, das ja der Rentmeister, wie er glaubte, schon in den nächsten Tagen verlassen würde, ihn dazu vermocht, genug, der Entschluß war ausgeführt und – Paul ging der endlichen Lösung des wichtigen Räthsels entgegen.
»Das Geschick schreitet in der Regel schnell, wenn es zu irgend einem Ende kommen will,« sagte er zu sich unterwegs, »und die Kraft seiner Schwingen ist dann unberechenbar. Mögen sie mich tragen, wohin sie wollen, ich bin bereit, überall festen Fuß zu fassen und meine Hand kräftig anzulegen.«
Aus längerem Nachdenken wurde er plötzlich durch den lauten Ruf des Sprachrohrs von Seiten des Feuerschiffs aus geweckt. Diesmal aber rief es ihm nicht zu: »Willkommen auf dem ›Jacob Hinnerich‹!« sondern der Ruf lautete: »Glück auf! Wir haben ihn gekapert! Er ist unser!«
Wenige Minuten später lag der Kutter hinter dem Feuerschiff in angemessener Entfernung vor. Anker und Paul wurde, wie das erste Mal, von dem schweigsamen Bootsmann an Bord geholt, dessen Gesicht aber heute ein frohes Behagen zeigte.
»Geben Sie mir Ihre Hand,« rief dem Emporkletternden schon von Weitem Capitain Hardegge zu, »heute heiße ich Sie noch herzlicher willkommen als neulich.«
Und als die Männer sich nun die Hände geschüttelt, führte der Capitain seinen Gast am Arm nach dem Hinterdeck und hier sagte er zu ihm, während ein heiteres Lächeln sein braunes Gesicht überflog:
»Sehen Sie, es ist Alles viel besser gegangen, als Sie gestern noch dachten, und ich habe Sie sogar schneller rufen müssen, als ich es selber für möglich hielt. Und alles dies hat ganz allein Ihr unverhoffter Besuch bei Laurentius bewirkt. Sie haben auf den alten weichherzigen Mann einen ungeheuren Eindruck gemacht. Schon Ihre bloße Erscheinung, sagte er mir, habe ihn unendlich beglückt und er habe anfangs geglaubt, sein verstorbener Herr träte um vierzig Jahre verjüngt bei ihm ein, denn gerade wie Sie hätte er in seiner Jugend ausgesehen. Gestern Abend, als kaum die Fluth eingetreten war und das Wasser einer kleinen Smack den Uebergang gestattete, kam er mit Sack und Pack bei mir an Bord und verlangte mich zu sprechen. Ich saß gerade mit dem Bootsmann in der Cajüte und ordnete mein Stationsbuch. Wir sprangen Beide auf Deck und da sahen wir ihn, der sich selbst zu Gaste bat, mit einer Leichenbittermiene vor uns stehen. O, wenn man das erwachte Gewissen oder, sage ich lieber, das erwachte Gefühl eines Menschen in Fracturschrift auf seinem Gesichte lesen kann, so stand es auf dem seinen geschrieben. Ich nahm ihn natürlich freundlich auf und setzte mich mit ihm auf ein Sopha, wo ich alsbald mit ihm aß und trank, da es gerade meine Speisestunde war. Ich hielt es gleich für ein gutes Zeichen, daß es ihm prächtig schmeckte, noch ehe er eigentlich zu Worten kam. Endlich erzählte er mir und dem Bootsmann, was ich Ihnen eben gesagt, und fügte hinzu: kaum seien Sie von ihm weggegangen, so habe er bereut, nicht aufrichtiger gegen Sie gewesen zu sein. Freilich hätten Sie die bestimmte Frage nicht an ihn gerichtet – was das für eine ist, können wir uns Beide nicht erklären und er war nicht zu vermögen, sich darüber genauer zu äußern – aber das würden Sie gewiß thun, wenn Sie wiederkämen, meinte er, denn Sie hätten es ihm versprochen. Ich möchte Sie doch so bald wie möglich zu diesem Wiederkommen einladen, denn da Sie verheißen, ihn gegen den Rentmeister und dessen Drohungen in Schutz zu nehmen und da dieser, Betty's Ruh bald verlassen würde, so wolle er gern möglichst bald wieder seine Pflicht bei dem neuen Herrn erfüllen, zumal er ein alter Mann sei und sterben könne, ehe er seine Schuldigkeit gethan. Aehnliches sprach er noch eine ganze Stunde hinter einander, wiederholte sich oft und kam nicht eher zur Ruhe, als bis ich ihm das Versprechen gegeben, Sie heute Morgen rufen zu lassen. Das habe ich nun gethan, mein Telegraph hat sich bewährt und da sind Sie.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Bemühung, mein lieber Capitain,« erwiderte Paul mit herzlichem Händedruck, »und versichere Ihnen, daß mir heute nichts Angenehmeres begegnen konnte als diese Citation. – Wie hat er sich denn nun nachher benommen?«
»O, ganz verständig, und mein Bootsmann sagt, der Mann sei völlig umgewandelt, was er sich auch zu Nutze gemacht, indem er ihm ein civilisirteres Ansehen gegeben hat. Sie werden sich gleich davon überzeugen. Seit heute Morgen von Tagesanbruch an hat er mich, so oft er meiner ansichtig ward, gefragt, ob Sie wohl schon unterwegs wären und ich habe ihn bis auf die Mittagsstunde getröstet, da ich nicht wußte, ob Sie schon so zeitig von Hause fortkommen könnten. So hat er sich denn die Zeit, nachdem er seine Kiste geordnet und seine besten Kleider angezogen, bald mit Plaudern und bald mit Lesen vertrieben. Jetzt sitzt er unten in meiner Cajüte und liest in einem Gebetbuch, welches ihm der Bootsmann gegeben. Gehen Sie nun zu ihm hinab und fragen Sie ihn, was er von Ihnen will. Ich bin überzeugt, Sie erfahren Alles von ihm, was Sie wünschen, er ist ganz in der Stimmung dazu, so weit ich einen solchen Menschen beurtheilen kann.«
Paul drückte dem Capitain noch einmal herzlich die Hand und schritt langsam die Treppe zur Cajüte hinab. Als er die Thür leise öffnete, bot sich ihm ein unerwarteter Anblick dar, und hätte Laurentius Selkirk nicht seine Livree getragen, so würde er ihn nicht wiedererkannt haben, so völlig verändert sah er aus. Nicht allein trug er saubere Wäsche und seinen besten Rock, sondern sein langes Haupthaar und sein eisgrauer Bart waren kurz geschnitten und geordnet, und sein blasses Gesicht verrieth wohl noch Unruhe und gespannte Erwartung, aber keineswegs mehr die Angst, die sich noch gestern so auffallend darauf ausgeprägt hatte.
Als die Thür sich leise knarrend öffnete, erhob er seinen ehrwürdigen Kopf und sein trübes Auge blickte scharf nach derselben hin, kaum aber hatte er Paul van der Bosch erkannt, so stieß er einen lauten Freudenruf aus, warf das Buch, worin er gelesen, auf den Tisch und sprang vom Sopha aus, um dem Ankommenden mit ausgestreckten Händen entgegenzuschwanken.
»Ach du lieber Gott,« rief er, »da sind Sie ja schon! So früh hätte ich Sie gar nicht erwartet. Aber, lieber Herr, seien Sie nicht böse auf mich, daß auch ich schon hier bin. Ich konnte es nicht länger aushalten auf Neuwerk, es war zu schrecklich in dem alten Loch, und ich wurde alle Tage melancholischer. Seitdem ich Sie aber gesehen und gesprochen, lieber Herr, hat der böse Feind keine Gewalt mehr über mich, und da Sie mir die feste Versicherung gegeben haben, daß der Rentmeister nicht mehr lange in Betty's Ruh bleibt, so wollte ich ihm schon jetzt aus dem Wege gehen, da er mich doch gewiß noch einmal heimgesucht hätte. So bin ich denn hier unter guten Leuten und nun wollen wir Alles besprechen, denn ich habe mich auf Vieles besonnen, was vielleicht einigen Werth für Sie hat – wenn Sie mir nur die rechte Frage vorlegen möchten, vorausgesetzt, daß Sie auch wirklich der Erbe von Quentin van der Bosch sind.«
Paul hatte ihn, während er diese Worte mit einem weinerlichen und doch froheren Tone sprach, wiederholt die Hände geschüttelt und sah ihn mit liebevollen und ermunternden Blicken an. »Ja,« sagte er jetzt, »der Erbe Quentin's van der Bosch ist sein Bruder Casimir, der Professor, und dieser hat mich wieder zu seinem Erben eingesetzt, und in seinem Namen und Interesse stehe ich heute vor Ihnen, Laurentius. Wenn nun dieser mein Onkel Ihnen eine Frage verlegen sollte, so weiß ich allerdings eine, die ihm am Herzen liegt, aber mir ist noch nicht klar, ob es die rechte ist, wenigstens die, die Sie erwarten.«
»Versuchen Sie es, versuchen Sie es, ich werde Sie gewiß gleich verstehen, wenn es die rechte ist!« rief der alte Mann mit bebender Stimme und überfließenden Augen.
Paul richtete sich hoch auf und holte tief Athem, da er fühlte, daß derselbe ihm kurz wurde. Dann aber den Alten nach dem Sopha ziehend, da das Schiff merkliche Schwankungen machte, sagte er: »Kommen Sie, wir wollen uns setzen, und dann will – ich Ihnen etwas erzählen, und daraus wird sich die Frage von selbst ergeben, die Sie vielleicht erwarten.«
So saßen sie denn dicht neben einander, Selkirk hatte seinen grauen Kopf lauschend vorgebeugt und blickte dem jungen Mann tief in die Augen, als wolle er schon im Voraus darin den Inhalt seiner Worte lesen, Paul aber sammelte sich und sprach dann langsam und mit ruhiger Miene:
»Ich habe Ihnen schon gesagt, Laurentius, daß mein Onkel Casimir, als er die Erbschaft seines Bruders antrat, das große Vermögen nicht fand, welches er erwartet oder welches vielmehr bis dahin Jedermann dem Verstorbenen zugeschrieben hatte. Nun hatte aber Ihr alter Herr mehrere Monate vor seinem Tode ohne Wissen des Rentmeisters Hummer an seinen Bruder geschrieben und ihm gesagt, Hummer wisse von dem Umfange seines Vermögens nichts und solle es auch nicht wissen. Damit er, der Erbe, aber wisse, was er zu erwarten habe und nach seinem Tode finden müsse, habe er sich ein kleines Büchelchen gemacht, und darin mit eigener Hand sein Vermögen aufgeschrieben – nun, so warten Sie doch,« unterbrach sich der Redende mit frohlockender Miene, denn er hatte schon erkannt, daß er diesmal den richtigen Punct getroffen, so auffallend hatte sich Laurentius Miene verändert und die Worte, die sein Herz noch verschloß, sprangen ihm fast schon auf die Lippen – »und dieses Büchelchen werde er ihm auf sichere Weise einzuhändigen suchen. Nun aber überraschte der Tod meinen Onkel sehr schnell und er kam nicht dazu, dieses Buch in seines Bruders Hände zu bringen und als dieser nach Betty's Ruh kam, fand es sich nirgends vor, eben so wenig wie das Geld, außer jenen schon genannten einundvierzigtausend Thalern, so daß man also annehmen mußte, er habe nichts weiter hinterlassen. Wißt Ihr nun vielleicht von diesem Büchelchen, das wir überall vergebens gesucht, so sagt es mir – und das ist die Frage, die ich an Euch zu richten habe.«
Laurentius konnte sich nicht mehr halten. Er sprang auf, bewegte sich wie ein jubelndes Kind vor dem Tische auf und ab und kam dann wieder zu Paul heran, ergriff stürmisch seine Hand und rief: »Endlich, endlich also werde ich von dieser schrecklichen Last befreit und ich kann meine Pflicht, die ich beschworen, erfüllen. Hier, Herr« – und er riß seine Weste auf und zog aus einer verborgenen Tasche ein etwa fingerdickes und handgroßes Buch mit blauem Deckel hervor, das er frohlockend dem Erben entgegenhielt – »hier, ja, hier habe ich es, und es hat mein Herz nicht verlassen, seitdem der liebe alte Herr todt ist, und da – da, nehmen Sie es und sehen, ob es das richtige ist, ich glaube es ganz gewiß.«
Paul ergriff mit zitternden Händen das dargereichte Buch, schlug die erste Seite auf und las die Worte: ›Verzeichniß meiner sämmtlichen im eisernen Schrank im Alkoven befindlichen Capitalien, für meinen Bruder und Erben, Casimir van der Bosch, eigenhändig zusammengestellt.‹
Paul hatte genug gelesen, er blätterte nur noch mechanisch in dem ziemlich voll geschriebenen Buche und steckte es dann in seine eigene Brusttasche. Sein Antlitz war bleich geworden und unwillkürlich kam ihm eine Thräne der Rührung und Freude in die Augen, als er die Rührung und Freude des alten treuen Dieners sah. Anfangs fehlten ihm in der ersten Aufregung die Worte, erst allmälig sammelte er sich und dann sprach er leise und ernst:
»Ja, Laurentius, dies ist das richtige und von uns so sehr gesuchte Buch. Nun aber seid ganz aufrichtig und erzählt mir, wie es in Eure Hände gekommen ist.«
Der Alte wischte sich seine nassen Augen, faltete dann die Hände und fing folgendermaßen zu sprechen an:
»Ach, lieber Herr, das ist eine traurige Geschichte, denn sie spielt in dem Augenblick des Todes meines guten Herrn. Es war jener Tag, wo er am Morgen so frisch und munter und am Abend schon eine Leiche war. Wir aber ahnten nichts davon und fast alle Diener hatten das Schloß verlassen, denn es war ein Sonntag und den durfte Jeder in Betty's Ruh nach seinem Belieben feiern. Es war ein windiger naßkalter Apriltag, mit finsteren, jagenden Wolken, wie im November, und gegen Nachmittag fing mein Herr über Brustbeklemmungen an zu klagen, an denen er sooft litt. Gegen Abend aber gab es sich wieder und er saß mit dem Rentmeister an seinem Schreibtisch und ordnete seine Rechnungen wie alle Tage. Ich stand an dem Billard, dessen Kerzen ich bald anzünden wollte, denn ich wußte, daß der gnädige Herr jedesmal nach seiner Berechnung eine Partie mit dem Rentmeister spielte.«
»Wie,« unterbrach Paul mit verwunderter Miene den ruhig Redenden, »Sie waren dabei? Ich denke, mein Onkel war mit dem Rentmeister allein? Wenigstens hat dieser es so meinem Onkel Casimir geschrieben.«
»Dann hat er gelogen, Herr, wie in vielen anderen Dingen, denn ich bin nicht von der Seite des Sterbenden und Todten weggekommen, bis er im Gewölbe beigesetzt war, was gleich am anderen Morgen geschah, wie er es befohlen; wohl aber ist der Rentmeister oft von ihm gegangen, einmal, als er noch lebte und später sehr oft, als er todt auf dem Sopha lag. Doch hören Sie nur weiter, das kommt Alles noch. Das Rechnungsbuch wurde geschlossen und in den Geldschrank gelegt, wie immer. Das war der Augenblick, wo ich die Kerzen auf den großen Candelabern am Billard anzünden mußte, denn die anderen auf den Kronleuchtern brannten schon lange, wie sie alle Tage bei Einbruch der Dämmerung angezündet wurden. Da kam der alte wackere Herr an das Billard, nickte mir freundlich mit seinen großen braunen Augen zu und nahm mir das Queue ab, welches ich ihm reichte. Ich hatte die Kugeln schon aufgesetzt und sie fingen an zu spielen. Plötzlich warf der alte Herr das Queue auf die grüne Tafel und sank schwerfällig auf einen Stuhl, nachdem er sich eine Weile auf den Rand des Billards gestützt. ›Ich muß sitzen,‹ sagte er, ›mir wird unwohl. Hummer, besorgen Sie mir ein Glas frisches Wasser vom Brunnen, Laurentius bleibt so lange bei mir.‹
Herr Hummer ging offenbar unwillig hinaus – und ich blieb bei dem Herrn allein, den ich noch lange nicht für sterbend hielt, und doch war er es schon. Und das war der Augenblick, wo ich das Buch erhielt, welches ich bereits kannte, denn ich hatte den gnädigen Herrn, wenn Hummer nicht bei ihm war, schon oft heimlich darin schreiben und blättern sehen. ›Laurentius,‹ sagte er mit schwächer Stimme zu mir, ›Du mußt nicht erschrecken – es ist Alles vorbei mit mir – ich sterbe. Jede Hülfe ist vergebens, ich kenne mein Uebel. Aber hier, nimm dies Buch, und stecke es rasch in die Tasche. Schwöre mir mit einem heiligen Eid, daß Du es nur meinem Erben geben willst, wenn er Dich danach fragen wird. Und er wird Dich gewiß fragen. Ich halte Dich für treu, eben so wie Hummer. Er hat das Geld und Du hast das Buch, und so ist Alles gut – nun kann mich Keiner be –‹
Das war sein letztes Wort, Herr, und weiter hat er keins mehr gesprochen. Aber ich hielt ihn ja noch lange nicht für todt und war über den ganzen Vorgang so sehr erschrocken, daß ich erst gar nicht sprechen konnte. Endlich aber sprach ich den Schwur aus und hatte das Buch eben in meine Tasche gesteckt, da kam der Rentmeister mit dem frischen Glase Wasser. Aber da sahen wir Beide, daß es mit dem gnädigen Herrn vorbei war. Er war und blieb todt und wir standen an seiner Leiche, die wir rasch auf ein Sopha gestreckt hatten. Und hier haben Sie die wahrhafte Geschichte von dem Tode Ihres Herrn Onkels, und von der Art, wie das Buch in meine Hände gekommen ist, und nun – nun erst,« rief der alte Mann in Thränen ausbrechend laut aus, »habe ich ganz und gar meine Pflicht erfüllt.«
Paul war so tief bewegt und doch so sehr überrascht und erfreut, daß er anfangs wieder keine Worte finden konnte. Endlich aber, dem treuen Diener dankbar die Hand drückend, sagte er mit seinem warmen Seelentone: »Laurentius, ich danke Ihnen herzlich, mehr kann ich jetzt nicht sagen. Sie haben meinem Onkel und mir einen unschätzbaren Dienst geleistet und er soll Ihnen durch Liebe und Güte vergolten werden. Nun aber,« fuhr er mit lebhafterer Stimme fort, »nun erzählen Sie mir auch, was geschah, nachdem Hummer und Sie überzeugt waren, daß Ihr Herr todt war.«
»Ach,« seufzte Laurentius tief aus und strich sich verlegen durch sein graues Haar, »diese Frage habe ich wohl von Ihnen erwartet und eben darauf habe ich mich schon lange besonnen, wie ich sie Ihnen ordentlich beantworten soll. Aber das wird mir schwer werden. Doch ich will es versuchen, so gut ich kann. Ich war damals so niedergeschmettert und voll Angst und Kummer, daß Vieles, was um mich her geschah, mir gar nicht mehr recht erinnerlich ist. Was ich aber weiß, ist Folgendes. – Ich kann mich freilich irren, Herr, aber im Ganzen werde ich doch damit Recht haben, wenn ich Ihnen sage, daß Herr Hummer von dem Augenblick an, wo Ihr Onkel die Augen geschlossen hatte, ein ganz anderer Mensch wurde. Er nahm einen groben, befehlshaberischen Ton gegen mich an, wie nie zuvor, und befahl mir, sogleich nach dem Grabgewölbe zu gehen, die Thüren zu öffnen und dann den inneren Holzsarg aus dem Zinnsarge mit einigen Männern, die ja wohl aufzutreiben sein würden, hierher zu schaffen, denn so habe es der gnädige Herr befohlen und er selbst werde die beschworene Pflicht in jedem Punct erfüllen. Aber, Herr, da weigerte ich mich standhaft, an so dunklem Abend nach dem Gewölbe zu gehen, denn – aufrichtig gestanden – ich fürchtete mich, wie alle Uebrigen im Hause, davor. Als ich das dem Rentmeister sagte, lachte er höhnisch und sagte, dann werde er selbst gehen und nach dem Rechten sehen. Nach diesen Worten ging er, während ich ganz zerknirscht bei dem Todten sitzen blieb, mit einer brennenden Kerze in den Alkoven und blieb wohl eine Stunde darin. Was er da so lange gemacht hat, weiß ich nicht, und ich dachte auch nicht daran, es zu erfahren, weil mir das Herz zu schwer war. Als er aber endlich wieder heraus kam, wunderte ich mich doch, denn er hatte den hellfarbigen warmen Morgenrock des gnädigen Herrn über seinen eigenen gezogen und sah viel stärker oder vielmehr dicker darin aus als sonst. ›Es ist draußen kalt,‹ sagte er, ›und ich möchte mich in dem Gewölbe nicht erkälten; und weil ich keinen Mantel hier habe, mußte ich mir helfen, so gut ich konnte.‹
Nach diesen Worten ging er nach dem Schlüsselkasten im Schreibtisch des gnädigen Herrn und suchte sich die nöthigen Schlüssel heraus. Ob er sie nachher wieder hineingelegt hat, weiß ich nicht, so viel aber ist gewiß, der Schlüssel zu dem Gewölbe war später darin, obgleich ich nicht weiß, ob mein gnädiger Herr zwei davon hatte, was bei fast allen im Hause der Fall war. Genug, der Rentmeister ging in den Park, auf den schon die Nacht herabgesunken war, und er ging ganz allein, denn die Leute, die das Schloß verlassen hatten, waren noch nicht wiedergekommen und kamen auch noch lange nicht. Nach einer halben Stunde ungefähr kam der Rentmeister wieder und sagte, er habe noch keinen ihm Helfenden gefunden, er werde aber gleich noch einmal hingehen. Darauf trat er noch einmal in den Alkoven und blieb wieder lange Zeit darin. Dann ging er abermals nach dem Gewölbe und als er nun zurückkam, war er böse, daß noch kein Diener gekommen sei, der ihm helfen könne, denn der alte Barker sei zu schwach, um mit ihm den hölzernen Sarg in's Schloß zu tragen. Als er sich ausgetobt – denn er kann schrecklich toben, wenn er will – sagte er mir, er müsse die Rechnungsbücher in Ordnung bringen und dann den Geldschrank für den Erben verschließen. Nun saß er lange am Schreibtisch und rechnete und schrieb. Als er endlich fertig war, ging er wieder in den Alkoven und kam noch einmal mit dem Rock des gnädigen Herrn heraus und abermals ging er nach dem Gewölbe. Als er dann endlich zurückkehrte, sah er ganz freundlich aus, trat zu mir und sagte:
›Es ist ein schönes Gefühl, Laurentius, wenn man sich sagen kann, daß man seine Pflicht erfüllt hat und dabei sicher zu Werke gegangen ist, und das habe ich jetzt gethan. Nun aber will ich Euch etwas vertrauen. Ich habe so eben einen Blick in das Testament des gnädigen Herrn geworfen und zu meinem Erstaunen gefunden, daß er Euch darin eine große Summe Geldes ausgesetzt hat. Das kann nur ein Irrthum sein, denn das wollte er nicht, er hat es mir oft genug gesagt, und ich kenne genau die Summe, die er für Euch bestimmt hat. Wenn Ihr mir aber Euer Wort gebt, daß Ihr darüber schweigen wollt, so will auch ich Euch zu Liebe schweigen, sprecht Ihr aber darüber, so bin ich gewiß, daß der selige Herr, der hier liegt und dessen Geist Alles mit angesehen hat, was wir thaten, Euch keine Nacht Ruhe lassen und immer mit Zorn und Rache erfüllt vor Euer Bett treten wird.‹
Ich weiß nicht, warum mir damals so bange zu Muthe war, aber ich schwor ihm zu, daß ich schweigen wolle, und das habe ich bis jetzt gethan, wo ich endlich zur Einsicht gekommen bin, daß ich damit vielleicht ein größeres Unrecht begehe, als wenn ich Ihnen den Vorgang ehrlich erzähle. Nun, nachdem dies damals zwischen uns abgemacht, sagte der Rentmeister, er wolle an den Erben schreiben, zuvor aber dem Gericht Anzeige machen, daß der gnädige Herr gestorben sei. Er habe das zwar nicht nöthig, aber er halte es für besser und sicherer, und deshalb werde er auch darauf bestehen, daß Alles versiegelt werde. Dann sei er von aller Verantwortung befreit und könne getrost den kommenden Tagen entgegensehen.
So that er denn auch. Am nächsten Morgen, nachdem nun auch endlich der gerufene Arzt gekommen war und erklärt hatte, unser Herr sei an einem Herzschlag gestorben, den er schon lange befürchtet, setzten wir denselben ganz so einfach im Gewölbe bei, wie er es gewollt, und dann kamen auch die Gerichtsleute und versiegelten auf den Wunsch des Rentmeisters den Schreibtisch und den Geldschrank des Verstorbenen. Wie nun die nächste Zeit verging, weiß ich nicht, denn ich lebte in einer Angst und Qual, die ich nicht beschreiben kann, und so oft der Rentmeister mich sah, drohte er mir mit dem seligen Herrn und den Gerichten, daß am Ende doch noch der Irrthum in Bezug meiner Erbschaft entdeckt werden könne und daß ich am besten thäte, sobald ich mein Legat empfangen, außer Landes zu gehen, wo Niemand mich finden könne – und das war auch der, Hauptinhalt seiner Rede, so oft er mich nachher in Neuwerk besuchte. Mir wurde es nach solchen ewigen Reden angst und bange im Hause, so daß ich es kaum aushalten konnte. – Endlich kam der Erbe und vor dem hatte ich mich am meisten gefürchtet, so daß ich sogar das Buch und den Auftrag vergaß, der mir zu Theil geworden war. Aber sehr bald sah ich ein, daß ich mich umsonst vor ihm gefürchtet, denn er war ein guter, sanfter Herr und that Niemanden etwas zu Leide. Als er jedoch eines Tages erklärte, die Diener müßten das Gut verlassen, weil er nicht so reich sei, sie unterhalten zu können, da sagte der Rentmeister zu mir: ›Laurentius, der Alte hat in Bezug auf Euer Legat Lunte gerochen‹ – das waren seine eigenen Worte – ›macht, daß Ihr fortkommt!‹ – Und ich, Herr, ich war so dumm und so auf den Kopf gefallen, daß ich ihm glaubte, und ohne eigentlich zu wissen, was ich that, lief ich fort und ging einstweilen zu dem Vogt auf Neuwerk, wo Sie mich gefunden haben.«
Paul hatte dieser Erzählung mit ganz ungewöhnlichem Interesse zugehört. Als Laurentius aber fertig war, sagte er: »Dieser Hummer ist, wie ich nun sehe, ein völliger Schurke, Laurentius, und ich muß Ihnen sehr dankbar sein, daß Sie mir diese Beichte abgelegt. – Jetzt ist mir Alles erklärlich. Nun habe ich ihn in der Hand und er kommt noch früher von Betty's Ruh fort, als ich dachte, wahrscheinlich heute oder morgen schon. Sie haben natürlich nichts von ihm zu besorgen und werden meine Person nicht verlassen, sobald Sie nicht mehr auf diesem Schiffe sind. Wie es später mit der von Hummer veranlaßten Untersuchung des Gerichts war, will ich nicht von Ihnen hören, das kann ich mir denken. Ich weiß jetzt Alles, was ich zu wissen brauche. Hier haben Sie noch einmal meine Hand, Laurentius, und die Versicherung dabei, daß mein Onkel und ich mehr Ihre Freunde als Ihre Herren sind und bleiben werden. Sie bleiben auf dem Schiffe, bis ich Sie selbst hole, wollen Sie das?«
»O wie gern, Herr, wenn ich nur weiß, daß Sie wirklich wiederkommen.«
»Ich komme morgen, spätestens übermorgen wieder, so lange müssen Sie Geduld haben.«
»O ja, die habe ich; also Sie wollen schon fort?«
»Ich muß, Laurentius. Sie können sich wohl selbst sagen, daß ich Eile habe, den Dieb, den ich jetzt kenne, ergreifen zu lassen, den Dieb, der Sie und uns Alle auf das Niederträchtigste belogen und betrogen hat, denn auch Ihr Legat ist ohne Irrthum ausgestellt und er hat Sie nur damit einschüchtern wollen, was ihm leider nur zu gut gelungen ist. Leben Sie wohl, mein guter Laurentius; auf baldiges Wiedersehen!«
Der alte treue Diener, dem jetzt die ganze ihn bedrückende Last vom Herzen gefallen war, nahm den zärtlichsten Abschied von seinem neuen jungen Herrn, und dieser begab sich auf Deck, um dem Capitain mitzutheilen, daß Alles im Klaren sei und daß er nächstens mehr darüber hören werde.
»Behalten Sie Laurentius, bis ich ihn selber hole,« sagte er, »und das wird spätestens übermorgen geschehen. Länger kann ich mich heute nicht aufhalten, denn nun,« fügte er lächelnd hinzu, »kommt das wichtigste Geschäft: einen Betrüger zu entlarven und – ganz sicher in Verwahrung zu bringen.«
»Also wirklich?« fragte der Capitain mit lachendem Gesicht.
Paul legte den Finger auf den Mund, reichte ihm die Hand und in fünf Minuten war er wieder an Bord des Kutters, der in einem großen Bogen von seinem Ankerplatz fortschoß, um den Wind von der richtigen Seite zu fassen und möglichst bald die Kugelbaake zu erreichen.