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VII.

Doktor Wendt fuhr langsam durch den kalten Spätherbstabend nach Hause.

Er war in Staudach drüben gewesen. Ein verzweifelter Fall: den Gantbauern hatte der Stier gefaßt, geschlitzt, geworfen und getreten, kaum daß es den Leuten gelang, dem wütenden Tier mit Forken und Flegeln sein Opfer noch abzujagen. Zu retten war freilich nichts als die Seele und das ewige Licht. Der Unterleib vom stumpfen Horn schrecklich zerwühlt, der Brustkasten eingestampft, zu alledem ein Bruch des Schädelgrundes – so hatte Wendt darauf verzichtet, an die Wunden auch nur zu rühren. Da er eingetroffen, hatte es in dem Manne, der selbst wie ein Stier war an Breite und Kraft, nur noch schwach geatmet. Nun war er wohl schon hinüber, trotz dem heiligen Wunderöl, davon die Bäuerin, ihrem eigenen Geständnisse nach, einige Tropfen in den offenen Leib geträufelt. Wendt riß ingrimmig in die Zügel, daß das gutmütige Grauschimmelchen erschrocken losprellte. Da war er nur froh, daß es auf seine Hilfe nicht mehr ankam. Um den Gantbauern tat es ihm leid wie um jeden Menschenbruder und Landsmann; er war ein tüchtiger Wirt gewesen, zäh, störrisch und sparsam wie irgendeiner; er hinterließ eine ansehnliche Witwe und vier halbwüchsige Waisen. Hätte er aber nach dem, was die Bäuerin ihm unverwunden bekannt, einen schweren Eingriff wagen müssen, minder getrost wäre er jetzt nach Hause gefahren, belastet mit unverschuldeter Wahrscheinlichkeit des Ausgangs. Ein Wundertäter hätte er selbst sein müssen, um zu heilen, was starrer Unverstand und schmutziges Schandgeld vergifteten! …

Vor einigen Tagen war der erste Schnee von den Bergen ins Tal gefallen, kein rechter Schnee zwar, sondern mehr ein im kalten Winde geronnener Regen, der aber doch die Landschaft für Stunden mit schwerem Weiß eindeckte und nicht allsogleich wich. Ein wärmerer Wind hatte dann dem Winter seine frühe Beute wieder streitig gemacht. Der schöne blanke Schnee verwandelte sich in einen braunen Sumpf, und während es im Gebirge weiter stöberte, hielt im Tale das mißmutige Schlackerwetter an. Die Höhen lagen fern hinter wallendem Gewölk, die grauen Wälder troffen und schauderten, es dunkelte früh. Wie eine verlassene Insel in einem öden Meere von Trübsal, so sah sich jedes Fleckchen Erde hier unten an.

Gerade begann es wieder Schneebrühe zu regnen, und Wendt überlegte, ob er für das Endchen Weges bis nach Sanktrain doch noch das Kippdach des Wagens aufziehen und die Laternen anstecken solle, schon dem Fräulein Therese zuliebe, die jeden Mangel an Vorsicht mit den zärtlichsten Vorwürfen strafte. Noch zögerte er. Es war wohl kaum mehr der Mühe wert. Eben wanderte im rieselnden Zwielicht der siebenundvierzigste Kilometerstein kalkweiß und einsam vorbei. Der Sanktrainer Marktplatz liegt zwischen dem fünf- und sechsundvierzigsten Kilometer. Wenn er das wackere Grauschimmelchen an schlaffen Zügeln nach seinem eigenen Gelüst traben ließ, war er in wenigen Minuten daheim.

Trotzdem hielt Doktor Wendt mit plötzlichem Rucke das Pferd an. Er wand die Zügel rasch um die Sperrwinde und sprang aus dem Wagen. Dicht neben dem Kilometerstein kauerte oder lag eine Gestalt im Straßengraben. Ein Betrunkener wahrscheinlich, der vielleicht auf dem Stein gerastet hatte und vom Schlafe übermannt worden war. Der Mensch konnte sich da den Tod holen.

Wendt rief ihn an.

»Sie! Hö! Gevatter! Stehens auf! … Sie kriegen heilig eine Lungenentzündung!«

Die Gestalt rührte sich nicht.

Wendt griff zu und rüttelte an dem, was er eben zu fassen bekam.

»Sie hörens! … Wachens auf, Sie! … Oder fehlt Ihnen was?«

Jetzt fand er die Hand des Schlafenden, seine Finger tasteten unwillkürlich nach dem Pulse und horchten.

»Na, den hat's schon,« brummte der Doktor. Er schritt zum Wagen zurück, spannte das Faltdach auf und warf dem fröstelnden Pferdchen eine Decke über den Rücken. Dann steckte er eine der Laternen an, hob sie aus der Tülle und beleuchtete das Häuflein Elend im Straßengraben. Es war ein alter Mann mit grauem Bart, städtisch gekleidet, aber verwahrlost, auf alle Fälle kein Bauer.

Wendt strengte sich an.

»Sie! Wachens auf! … Sie haben hohes Fieber! … Ich führ Sie nach Sanktrain hinunter! … Sonst sterbens noch hier!«

Der andere gab einen hohlen, tiefen Brustlaut von sich. Jetzt schlug er die Augen auf und starrte gläsern ins scharfe, flammige Licht.

»Weg, weg!« stöhnte er; »mein Kopf! … Nur schlafen! …« Und er drehte sich ächzend nach der anderen Seite.

Aber Wendt schrie ihn hart an. »Sie! … Schlafen könnens dann, soviel und solang Sie wollen … Ich bin der Doktor! … Verstehen Sie mich? … Der Doktor von Sanktrain!«

»Sanktrain,« röchelte der Kranke; »Sanktrain – beim schwarzen Bären!«

»Also da haben Sie's her,« schrie der Arzt wie zu einem Tauben. »Also hören Sie, jetzt kommens mit mir und schlafen Ihren Rausch und Ihr Fieber aus, und wenns wieder gesund sind, könnens von mir aus wieder zum schwarzen Bären gehen!«

Er packte den Zechbruder am Arme und zerrte ihn hoch; jener half sich selbst ein wenig nach, sank aber sogleich wieder gröhlend zurück, mit seiner Last den Doktor fast mit in den Graben reißend.

»Na! So zum Teufel, nehmens sich doch ein bissel zusammen … Ich kann Sie doch nicht hier liegen lassen … Also: eins – zwei – drei …«

Es gelang diesmal. Taumelnd und jammernd landete der Kranke auf der Straße. Dabei streifte wieder der gelbe Laternenschein über sein bärtiges Gesicht, das dem Arzte nun plötzlich irgendwie bekannt vorkam.

»Wer sind denn Sie?« fragte er.

Der andere schwankte. »Ich – ich bin der ewige Wanderer.«

»Aha,« machte Wendt verständnisvoll; »und wo wollens denn hin?«

»Ich – ich bin auf der Wallfahrt nach dem heiligen Brot,« lallte jener schwerfällig.

Der Doktor lachte kurz auf. »Soso! … Na, jetzt kommen Sie nur schön mit mir. Sie haben's sehr nötig. Nur schön hinein da in den Wagen!«

Nicht ohne Mühe verlud er seinen Fahrgast. Dann nahm er dem Grauschimmel die Decke ab und schlug sie mit der Innenseite dem Durchnäßten sorglich um die Füße, hüllte seinen schlotternden Oberkörper in eine zweite Decke, wand die Zügel los und trieb das Pferdchen zu einem eifrigen Trabe an. Um den goldenen Laternenschein geisterte der Regen wie ein Mückentanz, der Gaul rauchte fahl, hörbar schlugen die Tropfen auf Dach und Spritzleder. Durch all das hindurch lauschte der Arzt nach den Atemzügen des Kranken. Sie gingen beängstigend schnell, klangen hohl und gurgelnd. Noch ehe sie Sanktrain erreicht hatten, war der Mann wieder eingeschlafen.

Hier zeigte sich nun, daß der ewige Wanderer aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr weit gehen und das Ziel seiner Wallfahrt demnächst erreicht haben würde. Wendt stellte den völligen Zusammenbruch eines durch viele Ausschweifungen und Entbehrungen, Unregelmäßigkeiten und Leidenschaften unterhöhlten Organismus fest – Lungenentzündung konnte man's ja schließlich nennen, um der Wissenschaft zu genügen, aber es war bei weitem nicht die Lungenentzündung eines blühenden, vollkräftigen Mannes. In der Tiefe dieses nun von tödlichem Sturme aufgewühlten Lebens lagen alte böse Versteinerungen, versunkene Leiden, Anschlämmungen und Niederschläge wilder Strömungen, die es früher durchzogen, heftiger Zuflüsse von scharfem Gefäll und gerölligen Tobelbetten, die gleichzeitig Trümmerschutt absetzten und die Ufer tief unterfraßen. Das Herz zeigte die Spuren vieler kleiner Vergiftungen, auch zwischen Rippen und Lunge mußte von alters her eine dumpfe, verdächtige Stelle vorhanden sein. Zudem erfuhr der Doktor, daß dieser Mann, in dem er den vorübergehend gesehenen, von Kathrein oft geschilderten Gemeindeschreiber von Unzing erkannte, vor einigen Tagen beim schwarzen Bären eine umfangreiche und langwierige Zeche eröffnet und beinahe ohne Unterbrechung bis zum Mittag dieses Tages fortgesetzt hatte, obschon das helle Fieber längst in seinen Augen brannte. Es hieß auch, dieser Peregrin Kranich sei schon vor mehreren Wochen hier in Sanktrain gewesen und habe sich in der Zwischenzeit in der Umgegend, im Städtel drunten und in den großen Dörfern herumgetrieben, nicht etwa als Strolch, sondern als aufwandkräftiger und froher Trinkbruder, dem nicht leicht eine Nacht zu lange währte.

Was Doktor Wendt aber weder aus den Zeugnissen seiner Sanktrainer Sachverständigen noch aus den unzusammenhängenden Reden des Fiebernden erfahren konnte, das war die letzte Ursache von Peregrin Kranichs Rückfall und verschwenderischem Lebenswandel.

Es wäre mit dem ewigen Wanderer nicht so weit gekommen, sicherlich nicht, niemals hätte er das leiseste Gelüste verspürt, den Unzinger Hafen, den er doch in bitterer Not gefunden, leichtsinnig wieder zu verlassen – niemals hätte er zu letztem Irrfluge die müden Schwingen gespreitet, wäre nicht dieses verhängnisvolle Kätzlein gewesen, diese schnacke ziere kleine Fanny Rottmayr, mit allem, was sie umgab und was von ihr ausströmte. Welt strömte von ihr aus, Weib strahlte von ihr aus, ein schmiegezärtlich Frauenzimmerchen war sie, geschickt, dem ältesten Grundsätzling das Blut heiß zu machen und die Folge seiner Gedanken anmutig zu verwirren. Eine solche Charakterveste aber war Peregrin Kranich nie gewesen noch geworden; aus Müdigkeit und Erholungsbedürfnis bestand seine ganze Unzinger Tugend; nur Mangel an genugsam überzeugender Versuchung hatte dies flackrige Irrlicht einige Zeit hindurch zu einem sanft scheinenden Bürgerlämpchen gezähmt. In tieferen Behältnissen aber sammelte sich inzwischen wieder erklecklich viel Brennstoff an, der nur auf die erweckende Flamme wartete; und diese Flamme war, so wollte es das Schicksal, Fräulein Franziska Rottmayr.

Freilich hatte sie selbst erschrockene Löschversuche unternommen, als das ungebärdige Element aus Peregrin Kranich ihr entgegenfauchte. Da er sie an jenem schwülen Nachmittage hinterm Eggerhofe traf und mit Anträgen überhäufte, setzte sie seiner Hitze allerhand Abkühlungen entgegen, soweit ihre eigene Eitelkeit, die an den stürmischen Werbungen dieses offenbar hochgebildeten und ungewöhnlichen Mannes ihr sündhaftes Gefallen fand, es zuließ. Der Herr Sekretär möge es sich doch überlegen … Der Herr Sekretär meine es gewiß nicht im Ernste … Nein, und sie wolle überhaupt nicht heiraten, noch mit einem Manne sich einlassen, der Herr Sekretär rede eben nur so, und alle Männer seien schlecht … Und dann, der Jüngste sei der Herr Sekretär schließlich doch auch nicht, zu ihm passe ein gesetztes, voll erblühtes Frauenzimmer, wie etwa die Pauline … Und ihre Stellung wolle sie auch nicht aufgeben und so und überhaupt und nein … Auf diese Weise brachte sie die Zusammenkunft hin und vermied die eiskalte Absage, die sie vielleicht um eine kleine Abwechslung gebracht hätte. Mit diesen gutgemeinten aufreizenden Dämpfungsmittelchen hielt sie ihren grauen Liebhaber in Schwebe und in Hoffnung, ersparte sie sich die Peinlichkeit einer scharfen Abfuhr und versündigte sich totschwer am armen unheilbaren Peregrin Kranich.

Denn schon am übernächsten Tage verließ sie Unzing auf immer. Die Gnädige war an jenem Abende ganz matt und wie verloschen heimgekehrt, hatte am folgenden Morgen, launisch wie gewöhnlich, aus heiterem Himmel sofortigen Aufbruch anbefohlen, war dann wenige Stunden nach dieser Eröffnung, ungeduldig wie nur je, ihren Kofferwagentürmen und Kammerfrauen vorangereist, begleitet einzig von Bijou und einem kleinen Handtäschchen, darin das Nötigste sich barg. Im Städtel drunten würde sie auf Fanny warten, diese habe sobald als möglich mit einem der Wagentürme dort einzutreffen, dann gehe die Reise sogleich weiter, nach Föhr oder wohin immer, nur weg von hier, an die See, wo es wenigstens Menschen und Zerstreuung gebe. Pauline könne in aller Ruhe abrüsten. Und so geschah es. Und Fanny packte einen Tag und eine Nacht lang und fuhr mit den Seiden und Spitzen und Hutmärchen und Strumpfgedichten ihrer Herrin in die schimmernde Welt hinaus, und Peregrin Kranich blieb betrogen zurück.

Zuerst konnte er's gar nicht glauben. Dann wurde er ganz tiefsinnig und suchte in allen dichterischen Weistümern des Ostens und Westens Belege für die Schlangenhaftigkeit der Weiber hervor. Dann packte ihn eine wilde Sehnsucht. Diese eine hatte schlecht an ihm gehandelt wie Dido an Äneas Sylvius Piccolomini, wie Francesca an Danton – allein das bewies noch nichts gegen die ungezählten anderen, und vornehmlich, es bewies nichts gegen ihn. Eindruck konnte er noch machen, und Eindruck hatte er zweifelsohne gemacht: darauf kam es an. Darauf kam es an, daß er noch immer der Alte war, ungeschwächt durch die Jahre Unzinger Dumpfheit. Und dann, in Unzing konnte er gar nicht auftreten, hier bot sich ihm gar keine Gelegenheit, nach jener Seite hin sich zu entfalten, die für solche Frauenzimmer immer noch die wichtigste und gefährlichste ist, die der Freigebigkeit. O, Peregrin Kranich kannte sich aus!

Schließlich, gar so viel lag ja auch nicht an der da. Mochte sie schwirren, wohin sie wollte, die kleine Motte! … Aber erweckt hatte sie ihn, und das konnte Peregrin Kranich ihr nicht vergessen; Durst gemacht hatte sie ihm, jenen scharfen, süßen Durst, den er beinahe schon verlernt in seiner friedlichen Verbannung. Durst nach der Welt; Durst nach den Gärten und Höfen und Unterwelten der Welt. Nun quälte ihn das erwachte Gelüst. Er litt Durst nach seinem eigenen Durste; nach jener spielenden, göttlichen Unsicherheit, die vor dem grauen Morgen noch in allen goldenen Möglichkeiten schwimmt, die ein stetes Steigen und Sinken ist zwischen armem, leerem Nichts und berauschendem Alles. Hier in diesem schwülen, schwerlebigen Unzing, da wußte er zum voraus: am ersten bezog er sein Gehalt, und am nächsten Sonntag ist Kirchweih, und in drei Wochen sind Gemeinderatswahlen, und der dort ist fünfundsechzig Jahre alt, hat drei Kinder, sitzt schon im Auszug, ist Witwer, hat drei Militärdienstjahre, und die dort hat ein lediges Kind und wird auf Fasching den Vater heiraten, und morgen wird es regnen, und was dieser unwichtigen Alltäglichkeiten mehr sind. Draußen aber, auf der Wanderung, da wußte er nichts. Nichts von den Menschen, mit denen ihn der Zufall der Straße zusammenwehte, nichts von dem vollen heißen Frauenzimmer, mit dem er seinen Bettel oder gelegentlichen Verdienst verkneipte, nichts von den Wegen der kommenden Tage, nichts vom nächsten Lager, auf das er sich strecken würde – es konnte warmes Stallstroh sein oder das Bett eines lockeren Weibszimmers oder königliche Eiderdaunen oder der Straßengraben oder die Bahre, alles gleich! Nichts zu wissen von heute auf morgen, das ist das Glück! … Unter heimlichen Königen und verkannten Prinzessinnen leben, das ist die Krone des Daseins! … Und es kam der Herbst und Peregrin Kranich sah die Früchte schwellen, und es kamen jene weinklaren, rührenden Abschiedstage des Herbstes, und Peregrin Kranich hielt es nicht aus vor Sehnsucht nach dem Ungewissen, und ohne viel Umständlichkeiten verließ er das Amt. Eines Morgens war er nicht mehr da. Mochten sie ihn suchen, mochten sie ihn einfangen und zurückbringen: er hatte nicht mehr Zeit, mit den kleinen Schwierigkeiten der Menschen sich herumzuschlagen. Ihn rief der Herr, das Leben. So nahm er seine Wallfahrt nach dem heiligen Brote wieder auf.

Man fand hinter ihm alles in der saubersten Ordnung. Auch nicht ein rotes Hellerchen fehlte. Die Bücher hatte der Entwichene bis zum letzten Tage gewissenhaft fortgeführt. So reinlich und abgeschlossen lag die Kanzlei da wie ein ehrliches Haus nach dem Heimgang eines umsichtigen Vaters. »Halt doch ein Vagabund,« sagten die einen; »sag's ja allweil, aus aner Scharalster, da machst dein Lebtag kan Dompfaff net,« meinte ein anderer; »laßts'n gehn, den Hallodri, dös is ja allweil der Dank von solchene, und jetzten tat er eh nimmer gut,« riet ein Dritter. So blieb Peregrin Kranich ungefahndet und unbeweint.

Nach dem Süden hatte er wandern wollen, in langen durstigen Märschen, irgendwohin in ein Land des Weines und der weinfeurigen Weiber. Er kam nicht weit. Gleich beim schwarzen Bären drunten begann er, nach etlichen schweren Tagen zog er ab und nistete sich im Städtel drunten beim grünen Kranz ein, wo ein schwarzes Frauenzimmer, lasterhaft und längst nicht mehr frisch, aber von hinreißender Ausgelassenheit, den purpurblauen Tiroler kredenzte. In den versenkte Peregrin Kranich seinen kleinen Sparschatz, und nicht wenig Silber ward an die verklimpert, die so gut zuzutrinken verstand. Dazwischen abenteuerte er in den umliegenden Dörfern umher, stöberte an Dirnen auf, was nur irgend lose und locker und zigeunerisch und durstig war, und brachte sich so durch den schönen, verführerischen Herbst. Zum Wandern blieb ja immer noch Zeit genug, und das Geld dazu würde sich schon finden; hatte es sich doch früher gefunden, immer nur ein paar Groschen von heute auf morgen, damit kommt man schließlich bis Rom. Und beim Edelweiß gab es so frisches, perlendes, goldenes Bier, das schmeckte wieder nach dem schweren Blutwein und nach den Unzinger Jahren tugendhaften Kaffees, und war man des Bieres satt, so konnte man zum Tiroler zurückkehren, solange der Beutel hielt. Auf die Nächte verschwendete Peregrin Kranich ohnedies wenig; er verschlief sie und halbe Tage dazu in Scheunen und Ställen und sonstigen Unterschlupfen und fühlte sich ganz wohl dabei, fast wie genesen von einem Irrtum, einer Verzärtelung. Und fragte einer ihn nach der Herkunft seines Aufwandes, so fertigte er den Neugierigen mit kühn erfundener Mär ab: einen uralten Schatz habe er gefunden, den Schatz der sieben Weisen, der reiche aus bis an sein selig Ende.

Allein eines Abends erging es ihm übel. Schlecht verträgt das tückische Volk die freundliche Herablassung des Überlegenen, und da Kranich außerdem zu einem Mädchen sich herabzulassen versucht, auf dessen Entgegenkommen ein junger Raufbold der Umgegend ältere Ansprüche zu haben vermeinte, so mußte er, der Geistige, der plumpen Mehrheit plebejischer Fäuste weichen. Auf der Flucht durch die stockblinde Regennacht versah er sich des glatten Steges und stürzte in den Bach; der Bach war hochangeschwollen, herbstkalt und reißend, Peregrin Kranich war heiß des Weines und der ungewohnten Bewegung, und da eine gewisse innere Verwirrung die Beziehungen zwischen Wunsch der Seele und Wirklichkeit der Glieder trübte, so hatte er mit dem treibenden Geröll auf dem Grunde, mit den brausend anschießenden Schneewassern und mit den steilen Ufern einen harten, langwierigen Strauß zu bestehen. Endlich landete er, und nach mehrstündigem Irrwege erreichte er eine altvertraute Scheune, darin er unfrohen Herzens zur wohlverdienten Ruhe einging.

Anderen Vormittags erwachte er aus fröstelndem Schlafe mit seltsam warnender Schwere in allen Gliedern. Mit durchweichten Kleidern war er ins Stroh gekrochen – was tat's? Es war zum ersten Male nicht in seinem Leben. Aber dann hatte ihn durchs Stroh hindurch der Wind gefunden, der kalte Hochtalwind, der von den weißen Bergen herunterkam. Und nun zog es an Peregrin Kranich mit ermüdenden Gewichten, auf der Brust schleimte sich etwas zusammen, da kochte eine rauhe Suppe. Er zählte den Rest seiner Barschaft und strolchte nach Sanktrain zurück. Dort wußte er Unzing in greifbarem Bereiche, für alle Fälle; ein leckes Schiff hält sich mit Vorteil in der Nähe der Küste. Das wußte schon jener Karthager Sargasso, als er die nach ihm benannte See durchsegelte und die Insel der Kardamonen fand …

Höherer Sicherheit halber ging er doch noch beim schwarzen Bären vor Anker. Vielleicht, daß sich das mit Geduld und Zuversicht wieder aus dem Leibe heraustrank. Der Durst war ohnedies quälend. Nie noch hatte es Peregrin so gut geschmeckt, nie war er unstillbarer gewesen. Allein die Glieder wurden ihm schwerer, dumpfes Gewölk umdunkelte seinen Kopf. Es konnte vom Weine kommen, es konnte die Krankheit sein – was lag ihm eigentlich daran? Es war ihm ja alles gleich. Und überhaupt, auf der ganzen Welt ist alles gleich – wozu lebt man, doch nicht etwa wegen der verdammten Pflicht und Tugend? … So hatte er wenigstens seinen Herbst genossen … Er trank und stierte vor sich hin auf den Tisch und schlief darüber ein und erwachte mit brütenden Schmerzen und trank weiter. Jetzt wollte er gerade sehen, wer Recht behielt, der Rausch oder die Krankheit! … Es schmeckte ihm nun nicht mehr, es wurde ihm würgend übel, aber er trank weiter, obschon der Wein sauer und bitter schien – aber er war wenigstens naß, und der Durst brannte wie eine Wüste … Und dann war die Barschaft erschöpft, Peregrin Kranich wankte und warf den letzten Gulden auf den Tisch … Und er ging in den naßkalten grauen Abend hinaus, schaudernd bis ins Herz, wie zermalmt, stöhnend bei jedem Schritt. Jeder Schritt dröhnte wie ein erschütternder Schuß bis in seinen todwunden Schädel hinauf … Der Bärenwirt sah ihm kopfschüttelnd nach: der kommt nicht weit! … Bis zum siebenundvierzigsten Kilometerstein kam er. Auf den setzte er sich in seiner jammernden Not, und dann zwang ihn ein übermächtiger Schlaf, und er warf sich unbekümmert in den Graben, es war ja doch schon alles gleich. Und vergaß und versank.

* * *

Und nun lag er im warmen, reinen, trockenen Bette und hatte keinen Wunsch mehr. Er schlief immerzu. Manchmal lechzte er auf; dann kam aus weiter Ferne ein kühles Glas und bot sich seinen Lippen. Nichts war um ihn her als ein glühender Abgrund und ein wirres, wehes Vergehen. Doktor Wendt aber wachte über ihm und lauschte.

Drunten bei Fräulein Therese herrschte stille Lebhaftigkeit. Das Lauffeuer hatte bereits seinen Weg genommen; nun wollte jedermann Näheres erfahren. Und Fräulein Graff erschöpfte sich immer wieder in überzeugenden Ausbrüchen.

»Schon ganz kalt und steif war er,« versicherte sie; »ganz steif und kalt und blau. Jesus, Jesus. Wie ein Toter ist er im Graben gelegen, nicht zum Erwecken. Unser guter Herr Doktor! Jetzt wär er schon tot, dieser Mensch. Ganz steif und starr und blau ist er schon gewesen.«

»Gehens,« gähnte die Stanzer und fröstelte sich enger in ihr graues Häkeltuch; »gehens.«

»Sterben wird er auch so,« weissagte die Falzinger; »wer einmal zum Sterben bestimmt is, der stirbt …«

»Zweiundvierzig Grad Fieber hat er,« schrie Fräulein Therese flüsternd; »zweiundvierzig Grad, und er weiß nichts von sich. Wenn einer nichts mehr von sich weiß, dann hat er zweiundvierzig Grad.«

»Gehens,« wunderte sich die Stanzer; »von Unzing droben soll das einer sein, der Schreiber, so ein Daherg'laufener, net?«

»Wird was Rechts sein, was man so im Straßengraben zusammenklaubt,« sagte die Falzinger; »mich wundert bloß, wieso daß Ihnerer Herr Doktor so einen zu sich in die Wohnung nimmt und in sein Bett legt … Daß Sie sowas erlauben … Man tut ja doch nie wissen, was daß so einem fehlen tut, und was er mitbringt … Das müßt ein Doktor doch wissen … Könnt ja ein ansteckende Krankheit auch sein, Typhus oder gar am End was Ärgeres … Daß Sie sowas erlauben …«

»Wenn der Herr Doktor so gut ist!« eiferte Fräulein Therese; »so gut ist er und nix hat er davon als wie Undank, ich sag's ihm schon immer, Herr Doktor, sag ich, gar nix schaut heraus bei dem vielen Gutsein als Undank, sag ich, wo die Leut doch so schlecht sein heutzutag, und für den Herrn Doktor wär's das Beste, sag ich schon immer, wenn der Herr Doktor heiraten möcht, ein liebes Frauerl und herzige Kinderln, dann hat man wenigstens was zum Gutsein.«

Die anderen horchten auf.

»Jaja,« gähnte die Stanzer; »ich glaub, der tut sich um das gar net bekümmern. Ist vielleicht so ein Geschiedener, weil er doch von draußen hereinkommen ist.«

Fräulein Therese warf sich erbittert gegen den Feind. »Wo das doch gar nicht möglich ist. Nur kennen tut er die Schlechtigkeit von die Weiber, darum will er nix wissen von ihnen.«

Die Falzinger lachte versteckt.

»Das sein erst die Schlimmsten, die nix wissen wollen. Die haben Übung … Na ja, man hört so manchigs … Ja … Na, und Ihnerer Herr Doktor is am End ein Lutherischer …«

Fräulein Theresens weiße Haartollen wurden locker über der Glut, die sich unter ihnen erhob.

»Ein guter Mensch ist er, und weiter sag ich nix. Ich sag's ihm ja immer schon, dem Herrn Doktor, daß er viel zu gut ist. Der Firmian, was mein seliger Bruder war, der ist zu keinem Menschen gut gewesen, und darum hat ihm keiner was nachgeredet.« Sie schob entrüstet die Kaffeetasse zurück und griff nach dem entgleisten Häubchen. »Und fromm ist er, halt auf seine Art, es muß nicht ein jeder dem lieben Herrgott die Füß abbeißen.«

Die Falzinger fühlte, daß sie sich für den Augenblick unbeliebt gemacht, und stand auf.

»Na ja, was weiß man. In die Kirchen geht er nicht, und über die heiligen Sachen schimpft er. Könnt ja auch ein Freimaurer sein oder so ein Antitheist oder wie sich die nennen tun … Wann das Frömmigkeit is? … Einem anderen Christenmenschen sein Glauben verspotten? … Und was der Saufbruder da oben is, den hat so der Schlögel früher im Graben liegen g'sehen, wie er hereing'fahren is mit ein Paar Schwein … Ein Rausch hat er halt, hat er sich dacht, und hat ihn liegen lassen, wird ihn schon ausschlafen, den Rausch, hat er dacht, um ein Rauschigen is am besten sich gar nix zu bekümmern … Na, wann's nur net der Typhus is oder sowas, oder die Blattern, man weiß nicht, wo der sich rumtrieben hat … Jesses, schon so spät! … Nein, wie die Zeit geht! …«

Auch die Stanzer erhob sich. »Jaja, wie's halt schon so is mit solche Leut. Das Schlechte g'wöhnt man sich halt gar so schwer ab. Mein Gott, wie's schon so is im Leben …«

Doktor Wendt saß noch immer am Bette des Kranken. Ganz langsam sickerte die Zeit vorbei. Er hätte ins Nebenzimmer gehen, eine Zigarre rauchen, in einem Buche lesen können. Nur selten rührte sich der Fiebernde. Hier und da redete er wild auf, dann sank er wieder zusammen. Er brauchte nichts – nichts mehr, dachte der Arzt, wie er die verfallenden Züge des alten Mannes beobachtete.

Es stand viel geschrieben in diesem bärtigen Antlitze, viel Leben, viel Wege, viel Lust, viel Laster. Was für ein Mensch war es, der da hinüberging? Ein Glücklicher, ein Enttäuschter, ein Verzweifelter, ein schon Gestorbener? Einer, der in irgendeinem anderen Leben Sonnenschein und Freude bedeutete – einer, der allen Überdruß und Zweifel war, ein Fremder unter seinen Brüdern? … Einer, der Zeit seines Daseins frei gewesen von Zwang und Enge der Herde – oder ein Gehorsamer und Verkümmerter? …

Ein dünnes Glöcklein kam den Marktplatz herunter und hielt vor dem Hause. Das war der Geistliche, nach dem er geschickt, um doch nichts zu versäumen. Wendt stand auf und entzündete die Lichter zu beiden Seiten des Kreuzbildes auf dem weißgedeckten Tische. Das gute Fräulein hatte für all das gesorgt; ihm wäre es wahrhaftig kaum beigefallen neben seinen ärztlichen Bemühungen. Und nun wunderte er sich, daß sie ihm überhaupt einen Priester ins Haus schickten. In dies Haus, darin nun doch eine Art Ketzer lebte, einer von den Gesellen des Antichrist! … Ein Mann, der Wunder leugnete und das Heiligste seiner Nebenmenschen in den Staub warf! …

Das Glöckchen kam die Treppe herauf.

Der Kranke fuhr aus seinen Fiebern empor, vielleicht durch den Schein des Kerzenlichts, vielleicht durch den silbernen Schellenton wachgeschreckt.

»Was ist denn? … Wo bin ich? …« Grell, mit unheimlich weit aufgerissenen Augen starrte er in den goldenen Kerzenglanz … »Ist's so weit?«

Wendt trat an ihn heran und legte ihm die Hand auf die heiße Stirne.

»Sie sind doch ein Christ? Ein Katholik? … Seien Sie nur ruhig. Sie sind bei guten Freunden.«

»Guten Freunden?« Peregrin Kranich schüttelte wild die Hand. »Freunde sind nie gut. Gut ist nur …« Die Stimme versagte.

Die Türe ging auf. Dechant Hetz hatte seinen Gehilfen geschickt, den Kaplan. Unsicher stand der junge Priester vor dem Arzte, den seidenummantelten Kelch mit der allerheiligsten Zehrung in den Händen. Hinter ihm spähte das neugierige Gesicht des Meßners in die Stube.

Der Kranke sah umher, in seinen Augen den Widerschein des zusammensinkenden Brandes. »Ist's so weit? … Ah … Dann hat die Wallfahrt ja ein Ende … Ein Ende … Nur schlafen … Nur schlafen …«

Und er sank vermurmelnd zurück.

Kaplan Gfrörer sah den Arzt zweifelnd an.

»Ich bürge nicht, daß das Bewußtsein noch einmal aufflackert,« sagte Wendt.

»Er war doch soeben bei Bewußtsein?« meinte Gfrörer.

»Nicht Bewußtsein,« beschied Wendt knapp; »Delirium. Das Ende ist nicht mehr sehr weit.«

Und er zog sich leise zurück, den Geistlichen seiner heiligen Pflicht überlassend.

* * *

Kurz nach Mitternacht kam ein Holperwägelchen über den Marktplatz gerollt und hielt mit lärmendem Ruck vor dem Graffschen Hause.

Fräulein Therese, die sich überm Strickstrumpf und dem Korsarenkönig Lionel Fox, genannt der Löwe der Nordsee, oder die Felsenschatzkammer auf Helgoland, mühsam wach erhielt, fuhr empört auf.

»Mein armer, guter Herr Doktor! Jetzt holens ihn schon wieder, mitten bei der Nacht! … Und bei dem Wetter! … Und der Sterbende da im Haus! …« Die wildesten Befürchtungen kreuzten sich in ihrem Kopfe. Da zog auch schon jemand an der Schelle. Sie schlurfte hinaus. Eine Stimme sprach nach den Fenstern des Doktors hinauf.

»Komm ich zu spät? Nein? … Aber keine Hoffnung mehr? … Der arme Peregrin! … Ja, ich danke für die Verständigung …«

Fräulein Theres öffnete behutsam. Ein junger Priester stand draußen in der Regennacht, nur wie ein Schatten zu sehen im trübgelben Scheine der Wagenlaterne.

»Kaplan Siebenschein aus Unzing … Ja, ich hatte schon das Vergnügen, gnädiges Fräulein …«

»Kommens schnell,« drängte Fräulein Theres in wiedererwachter Menschenliebe; »dieses Wetter, Jesus, Jesus, und die weite Fahrt …«

Und von oben, aus der Finsternis, klang des Doktors tiefruhige Stimme: »Spannens beim Bären aus. Und lassens sich was Warmes geben. Und dem Gaul auch, was er braucht. Auf meine Rechnung, verstehens!«

Wendt drückte Benedikts Hand herzhaft. »Das ist schön von Ihnen. Hier herein, ja. Es geht wohl aufs Ende. Und Sie, Fräulein Theres, gehen vor allen Dingen schlafen. Schauen aus wie ein zusammengefallener Auflauf. Nur die Kaffeemaschine und was dazu gehört. Und dann marsch ins Bett. So alte Weiber gehören vor Mitternacht in die Federn.«

»Ich bin aber ganz frisch,« beteuerte Fräulein Theres, dem Umsinken nahe; »und wenn der jetzt stirbt? Jesus, Jesus.«

»Das trifft er auch ohne Sie. Glaubens, er wird noch Ihnen extra beichten?«

Fräulein Graff floh. Die Männer blieben allein. Wendt berichtete zum leisen Surren der Kaffeemaschine. Dann und wann horchte er nach der Sterbstube hinüber.

»Alter Trinker; da ist der Ewigkeit nichts mehr abzubetteln. Der ganze Mensch ausgefault, ausgebrannt. Ihr Herr Amtsbruder von Sanktrain ist übrigens schon dagewesen. Nämlich der Kooperator. Der Dechant natürlich nicht.« Wendt lächelte grimmig in seinen Bart. »Weil wir schon dabei sind, Hochwürden – erinnern Sie sich noch an den Hartbauern? Ist damals etwas versäumt worden? Ich mein nicht: von Ihrer Seite. Ich hab Sie ja kommen sehen, ganz erstickt vor lauter Herzschlag. Aber da reden gewisse Leut, ich hätt da den geistlichen Arzt mit Bosheit ferngehalten. Tatsache.«

Benedikt sprang beinahe auf.

»Aber das ist ja eine niederträchtige Lüge.«

»Niederträchtig, nicht wahr. Bleiben Sie nur sitzen. Niedertracht, dran muß man sich schon gewöhnen. Ohne die geht's nicht. Darum ist mir grad lieb, daß ich Sie jetzt da hab. Damit's nicht wieder hinterher heißt … Ich bin das meinem Beruf schuldig. So, und da trinkens, und ein Herzwasser bekommen Sie auch. Hat der Alte da drin Familie?«

Benedikt schüttelte den Kopf. »Auf seine späten Tage hat er noch eine gründen wollen.« Und er erzählte, was ihm von Franziska Rottmayr zu Ohren gekommen.

Der Arzt sinnierte. »Ja, ja, die späten Feuer, die brennen aus. Und das ist jetzt das End. Nämlich, ich bin schon auf der Hut mit Sterbenden. Nichts für ungut, Hochwürden. Zum Beispiel, wie der alte Meßner da oben mich hat rufen lassen, da hat sich der Herr Dechant auch gezürnt.«

»Der alte Meßner?« fuhr Benedikt heraus. »Ist er gestorben?«

»Haben Sie ihn gekannt? Freilich ist er gestorben, und schwer auch noch. Ohne geistlichen Trost. Den Dechanten hat er fortgeschickt. Mit Händen und Füßen hat er sich gegen ihn gewehrt. Jetzt heißt's, ich bin Schuld daran, ich hab den Meßner aufgehetzt.«

»Das ist ja wieder eine Lüge!« sagte Benedikt ganz plötzlich, als fiele das Wort ab von ihm wie eine zermalmende Last. »Eine furchtbare Lüge.«

»Warum sagen Sie das?«

»Weil ich es weiß,« gestand der andere freimütig.

»So.«

»Wie kommt der Herr Dechant auf so etwas?« fragte Siebenschein nach einer Weile.

Wendt stand am Wandschränkchen und hielt eine bauchige, schrägflächig geschliffene Karaffe gegen das Licht.

»Wie er daraufkommt? Das fragen Sie nur ihn selbst.«

Benedikt rührte betrübt im dampfenden Kaffee.

»Ja, das fragen Sie nur ihn selbst.« Wendt stellte die bauchige Karaffe auf den Tisch. »Da. Bedienen Sie sich. Wird Ihnen gut tun.«

»Doch ein Mißverständnis vielleicht?« versuchte Benedikt.

»Mißverständnis? Wenn man's so nennen will. Ich bin Arzt und laß mir in meinen Beruf nicht dreinreden. In meine Pflichten aber schon gar nicht. Da gibt's kein Mißverständnis. Entweder die Menschen sollen gesund sein oder sie sollen gleich alle sterben und in den Himmel hinauffahren. Tertium non datur.«

Benedikt glühte auf, der Verteidigung unfähig.

»Dagegen wird der Herr Dechant auch nichts einzuwenden haben. Gegen diese Auffassung, meine ich, Herr Doktor.«

Wendt strich sich den Bart aus dem Kinn.

»Oh ja. Und wie er einzuwenden hat! Die Konkurrenz, ich bitt Sie. Wenn das heilige Wundenöl nicht mehr geht, wo bleibt denn da das schöne Geschäft? Nichts für ungut, Hochwürden, ich sag, was ich denke. Ihnen will ich nichts vormachen.«

Siebenschein setzte sich zur Wehre.

»Ich begreife, Herr Doktor. Ich verstehe Ihren Standpunkt. Das heißt … Darüber können wir nicht streiten. Aber – aber es handelt sich da doch nicht allein um das Geschäft. Es handelt sich um den Glauben. Den Glauben des Volkes.«

Der Arzt schüttelte den bärtigen Kopf.

»Solcher Glaube ist erstens kein Glaube, sondern himmelschreiende Sünde. Zweitens handelt's sich nicht um den, sondern nur um das Geschäft. Verlassen Sie sich drauf. Bares Geld klingt und Seelen braucht man auch. Dumme.«

Benedikt sammelte sich und holte aus.

»Herr Doktor, ich weiß nicht, ob ich mir da eine Meinung anmaßen darf. Ich selbst bin Priester …«

Er stockte wieder und verklammerte die Hände inbrünstig ineinander, als könne er im warmen Dunkel zwischen ihnen den drängenden Flug der Gegenrede gefangen halten.

Wendt sah ihn freundlich an. »Sprechen Sie nur. Überzeugung acht ich.«

Siebenschein errötete.

»Herr Doktor, wenn Sie die Bedürfnisse des Volkes berücksichtigen wollten. Das Volk sucht in diesem Glauben die tröstliche Nähe. Die greifbare Hilfe. Sie würden einem Kinde seinen Glauben nicht nehmen wollen. Das Volk ist auch ein Kind, und solange es ein Kind bleibt, ist es glücklich. Sie können dem Volke für seinen Glauben nichts Besseres geben.«

Der Arzt schrieb mit dem Finger unsichtbare Runen auf die Tischplatte.

»Wenn es der reine Glaube ist,« sagte er schwer.

»Herr Doktor, dem einfachen Volke ist dieser Glaube rein. Der Wunderglaube des Volkes ist kein Aberglaube, sondern sein natürlicher Glaube, ohne den es Gott nicht anzuschauen vermag.«

Der Arzt zog die schweren Brauen zusammen.

»Der Glaube an solche Wunder, Hochwürden, führt nicht zu Gott, sondern weit weg von ihm. Wunderglaube ist heidnisch. Heidnisch im bösen Sinne.«

»Aber nicht für das Volk,« beharrte der junge Geistliche; »und nicht für Rom. Wir verwalten das große unsichtbare Rom Christi und müssen darüber wachen, daß keiner seiner tausend Pfeiler erschüttert werde. Das ist unsere Pflicht.«

Wendt lächelte bitter.

»Und Nazareth und Golgatha habt ihr ganz vergessen?«

»Nein, Herr Doktor. Auf dem Vermächtnisse des Heilandes ruht unser Glaube, und nur auf ihm. Aber wir wissen auch, daß das Volk in seiner Armut mit dem Vermächtnisse Christi allein nichts anzufangen imstande ist. Das Volk braucht Bilderbibeln. Darum weisen wir ihm den Weg zur Gnade, wie wir dem Kinde den Weg zum Lichte bereiten: vorsichtig und freundlich nachgiebig gegen die wachsende Erkenntnis.«

Wendt stand auf und trat an den Bücherschrank. Mit sicherem Griffe langte er einen schweren Band aus der Dämmerung hervor, den legte er vor seinen nächtlichen Gast hin und schlug ihn auf. »Lesen Sie.«

Und Benedikt las. »Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.«

Der Arzt nickte. »Im Geiste und in der Wahrheit. Aber der Gott, den Sie da vors Volk hinstellen, ist Leib und Götze und Lüge. Nicht Gott, sondern Kirche. Nicht in der Wahrheit betet das Volk Gott an, sondern in Fälschungen.«

Siebenschein wiegte bekümmert den Kopf. Er warf die Blätter herum und wies eine andere Stelle. »Und was steht hier geschrieben?«

Wendt las. »Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihrer.«

Benedikt wiederholte. »Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. Die Armen im Geiste, Herr Doktor, das ist das Volk. Und das Volk geht ein zum Himmelreich durch seinen goldenen Glauben. Der Glaube hilft, Herr Doktor. Das Volk muß warm haben im Glauben, muß geborgen sein im Glauben wie in Gottes Mantel. Nehmen Sie das dem Volke weg, und Sie jagen es aus seiner Heimat in die kalte Nacht hinaus.«

Aufmerksam sah der Arzt in die bittenden Augen des jungen Priesters.

»Hochwürden, ich bin kein Theolog und kann mit Ihnen nicht über Dogmen streiten. Aber sehen Sie, hier steht geschrieben: der Sabbat ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist's mit allem. Nicht dazu hat der Mensch das Leben, daß er sich an ihm versündige. Da kommen wir wieder zur ersten Frage zurück. Sollen wir überhaupt leben oder nicht? Haben wir die Pflicht, einander zu helfen, zu bewachen und zu dienen, oder nicht? Das Leben geht nach Licht und Dauer, nicht nach Elend und Finsternis. Ich sehe Ihr gutes Herz, Hochwürden, und auch Ihre Pflicht. Aber Sie sehen meine Verantwortung nicht. Wenn Sie heute in heidnisches Land als Missionar kommen, werden Sie Ihre Täuflinge lieber zum evangelischen Kollegen schicken? Soll ich meine Patienten vielleicht an den heiligen Kollegen da oben weisen? Soll ich ihnen sagen, liebe Leut, ich kann euch nicht helfen, gehts nur zu eurem alten Nothelfer da hinauf, der versteht's besser, wir Ärzte sind überhaupt ganz arme Hascher, wir ziehen euch doch bloß das Geld aus der Taschen, das der Kirche zusteht, die da droben in der Gnadenkirchen, die betreiben's schon tausend Jahr, haltets euch nur schön an die und vergeßt's den Opferstock nicht? … Das soll ich vielleicht sagen, einem falschen Glauben und der Dummheit und dem Kirchensäckel zulieb? … Aber das tu ich nicht, dazu ist das Menschenleben zu heilig, bei all seiner Hinfälligkeit. Da müßten hundert Dechanten kommen, und dann erst recht nicht.«

Wendt schob die Kaffeetasse zurück und trat behutsam in die Nebenstube. Die Lampe blaffte, leise summte das Öl. Draußen der Regen dickte sich wieder zu Schnee. Weiß und samtweich legte sich's an die blinden Scheiben. Der Arzt kehrte zurück.

»Es kann noch seine Stunden währen. Er schläft hinüber. Wollen Sie zur Ruhe gehen? Ich kann Ihnen ein Lager machen.«

Benedikt sah zu Wendt hinauf, der zuwartend neben ihm stand.

»Ich könnte jetzt nicht schlafen, Herr Doktor.«

Das heilige Buch lag aufgeschlagen in der Hand des jungen Priesters; Wendt las über seine Schulter hinweg. »So ihr Glaube habt als ein Senfkorn, so möget ihr sagen zu diesem Berge: heb dich von hinnen dorthin! so wird er sich heben und euch wird nichts unmöglich sein.« Er legte die Hand auf Benedikts Achsel. »Hochwürden, da habe ich nichts dagegen. Aber es muß wirklicher Glaube sein, von innen heraus. Nicht Fälschung. Nicht Quacksalberei. Und wenn einer den Hahn auf dem Turm anbetet und wird davon selig und gesund – geht mich nichts an, desto besser. Und wenn die Leute mit einem rechten Glauben sich von innen heraus heilen und ich werde brotlos darüber, auch recht. Aber wenn das heilige Öl bei Wöchnerinnen die Hebamme ersetzen soll, wenn man immer wieder Kirchen baut statt Spitäler, wenn man Erstgebärende, Fraisen und Blinddarmentzündungen mit der Wunderschmiere da verpfuscht, drei Gulden der Kaffeelöffel, da muß ich widersprechen. Als Mensch und Arzt und Christ. Oder soll ich das mitansehen, nur damit die armen Seelen ja recht bald auffahren in die Ewigkeit? Die Leut dabei verschuldet bis da herauf. Aber seidene Wallfahrtsfahnen und Votivherzen, dafür ist immer Geld da. Nur nicht für die guten Werke, die echten. Alles geht in die Krüge und Trinkgefäße und Weihwedel, wie's da drin heißt im Evangelium. Das nenn ich Schindluder treiben mit Gott und Mensch. Der Herr Jesus, wenn er wieder einmal Mensch werden wollte, der hätt eine Freud. Aber ihr würdets ihn sowieso gleich vor den Hohen Rat stellen, und er würde wieder alle seine fünf Wundenmale zum tausendstenmal erleiden, denn ihr kreuzigts ihn jeden Tag auf tausend Bergen.«

Der Arzt ließ sich schwer in den Armstuhl sinken. Er hob das geschliffene Glas, aber er trank nicht, er spielte nur mit dem bunten Geglitzer des Kristalls, gleich als suchte er seinen eigenen Blick zu bannen.

Benedikt starrte vor sich nieder, die Hände zwischen die Knie gepreßt. Aufgeschlagen lag die Bibel zwischen den beiden Männern.

»Herr Doktor,« sagte Siebenschein endlich, und es war ein Aufseufzen – »Herr Doktor, wenn Sie ständen, wo ich stehe, nicht nur mit meinem Berufe und meiner Pflicht, sondern mit meiner ganzen Seele … Herr Doktor, dann würden Sie anders urteilen. Ich kann Ihnen meinen Glauben nicht geben. Sie müssen ihn erfahren. Man muß inwendig sein, dann erlebt man ihn und durch ihn das Wunder. Das Wunder kommt zu den Mühseligen und Beladenen, zu den blind Sehenden, nicht zu den Hoffärtigen. Jenen aber darf man es nicht nehmen, nur weil man selbst vor lauter Sehen blind geworden ist. Sie leugnen das Wunder, weil Sie es noch nie an sich erfahren haben, Herr Doktor. Und darum leugnen Sie vielleicht auch Gott.«

Wendt starrte noch immer wie abwesend ins bunte Flimmern des Glases. Jetzt setzte er es bedächtig vor sich hin auf den Tisch. »Wer sagt Ihnen denn, daß ich Wunder leugne? Daß ich Gott leugne?« Seine Stimme war dunkel und ernst.

»Ich muß es glauben, Herr Doktor.«

»Müssen Sie, so? Und viele Ihrer Herren Amtsbrüder, die mit Tat und Wort den gekreuzigten Jesus verleugnen, jeden Tag – diese Herren sind also die echten Christen, die gläubigen?«

Benedikt fühlte den schweren Schlag und suchte nach einem Worte. Sein Blick irrte ins Dunkel, aber der andere fing ihn mit seinen bannenden Augen ein und sog ihn unrettbar an sich fest.

»Ich will Ihnen etwas sagen, Hochwürden. An Jahrmarktbudenwunder glaube ich nicht. Und an einen Herrgott auch nicht, der solche Wunder wirkt. Dieser Herrgott ist ein Scharlatan. Aber ich glaube an die echten Wunder. Und die echten Wunder, das sind die der Seele. Das sind die großen, die eigentlichen Wunder.«

Eine Weile blieb es ganz still zwischen den Männern. Die Lampe sang ihr leises Traumlied. Am Fenster der Schneeregen, im Schornstein der klagende Wind. Die gurgelnden Traufen. Der ruhige Schlag des Uhrherzens. Der stete Puls der Zeit.

»Wie ist das zu verstehen, Herr Doktor?« fragte Siebenschein gepreßt.

»Wie?« Der Arzt nahm die Gläser von den Augen und fuhr sich über die ermüdeten Lider. »Wörtlich. Die Wunder kommen von innen heraus, nicht von außen herein. Das Wunder ist nur inwendig. Was nicht von innen kommt, das ist Fälschung und Betrug. Weib, dein Glaube hat dir geholfen. Da haben Sie's.«

»Aber was ist dann die Seele, Herr Doktor?«

»Die Seele. Seele ist der innere Mensch. Das inwendige Licht. Die innere Stimme. Der Inbegriff. Aber fragen Sie ja niemals, was die Seele ist. Sonst erstarrt sie Ihnen gleich zur Ziffer. Fragen Sie nur nach dem, was die Seele tut.«

Siebenschein sammelte sich langsam.

»Gut, Herr Doktor. Aber die Seele selbst – die Seele kommt von Gott …«

»Sagen Sie einfach, sie ist Gott, so bin ich einverstanden.«

Benedikt wiegte den schmalen Kopf.

»Ich glaube, Herr Doktor, die Wunder, an welche Sie glauben – diese Wunder sind nicht das Übernatürliche. Ihnen fehlt das große Merkmal des echten Wunders.«

»Übernatürlich!« Wendt griff sich zornig in den Bart. »Übernatürlich! Das eben gibt's nicht. Nichts fällt aus der Natur heraus. Seltsames gibt's. Überraschendes. Rätselhaftes. Sehr viele Geheimnisse. Dunkle Kräfte. Strahlen. Schwingungen. Magnete. Zusammenhänge, von denen wir nichts ahnen. Abgründe. Aber was wir nicht verstehen, ist nicht übernatürlich. Solche Wunder mein ich. Oder sagen wir lieber gleich: Geheimnisse. Das Wort Wunder hat einen üblen Geruch. Wie falsches Gold. Riecht nach Grünspan. Natürlich ist jedes Wunder. Wir wissen, daß dahinter geheime Gesetze wirken. Und dieses Wissen geben wir nicht her. Haben's euch teuer genug abgekauft, euch Priestern. Mit viel Blut.«

Es war etwas unheimlich Verhaltenes in der Stimme des Arztes; das Drängen unterirdischer Flut, ein grollendes Leben, als drohte glühender Gesteinsfluß den alten harten Berg zu sprengen.

»Und ist die Welt darum glücklicher geworden?« Benedikt strengte sich schwer an. »Hat dieses blinde Wissen gegeben oder genommen? Sehen Sie selbst, Herr Doktor. Sehen Sie die Bekenntnisse, die es dulden, daß die Forschung am Unerforschlichen sich vermißt und es gemein macht. Sie sind ohne Salz und Dauer und zerfallen in sich selbst. Hat dieses Wissen nicht sogar die Gestalt des Gekreuzigten zu Schein verflüchtigt? Können Sie da verlangen, daß ein Christ für dieses finstere Wissen seinen hellen Glauben hingibt? Wissen ist nur wahr und wert, wo es Gott immer höhere Throne baut.«

Wendt sah dem jungen Priester gerade ins Gesicht; ihre Blicke tauchten tief ineinander, schlugen zusammen. Ganz still war es in der Stube, als hielte die Nacht, die um die beiden Männer sich schloß, horchend den Atem an. Und in der Kammer nebenan stand der Tod und wartete.

Jetzt schwieg der Arzt eine Weile lang. Die Herzen schlugen. Plötzlich erhob sich der Doktor. Siebenschein sah bange zu ihm hinauf. Der aber stand unbeweglich, den Blick weit hinaus ins Dunkel gerichtet, in eine tiefe Ferne.

»Die Gestalt des Gekreuzigten,« sagte er starr und schwer; »die Gestalt des Mannes, den sie Jesus nannten … Ja, die habt ihr auch gefälscht und verdorben. Ihr und alle. Aber er hat es euch vorausgesagt. Er hat es gewußt. Und gerade von ihm hättet ihr lernen können, was das eigentliche Wunder ist, die Kraft der Seele, das Geheimnis. Gerade von ihm. Aber das alles ist verschüttet worden unter Worten und Bildern und Strömen von Gold. Ihn selbst habt ihr auch verschüttet und begraben. Und die Blinden bleiben blind. Und die Lahmen lernen nicht zu gehen.« Er seufzte und wurde wieder gegenwärtig. »Da haben Sie ja das Wunder der Menschenseele. Wir wissen noch wenig; ahnen kaum. Die Seele vermag alles. Der Gott, der inwendig in uns ist. Für dieses Wissen ist er euch gestorben. Dafür hat er seine Wundmale erlitten. Und dafür schlagt ihr ihn immer wieder ans Kreuz. In hundert anderen; und ihn selbst, denn er ist ewig.«

Benedikt spielte mit gedankenlosem Finger über den feinen Schliff des Weinglases hin.

»Und ein Wunder wie das der Stigmatisierung?« fragte er, ohne aufzusehen.

Wendt legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Das mußte jetzt kommen, diese Frage. Hab darauf gewartet. Wenn Sie wollen, Sie können weiterreden, was ich Ihnen da sage. Also, entweder ist das Weib eine ganz gemeine Betrügerin, oder es handelt sich um ein Wunder von innen heraus. Aber der liebe Gott hat nichts damit zu schaffen. Das wissen Sie so gut wie ich. Eine Krankheit ist kein Wunder. Keins von beiden, wie sie hier geglaubt werden, wenigstens. Und da muß Licht hinein. Tageslicht, reine Luft! Ich sag Ihnen, Hochwürden, wenn einer sich von innen heraus mit seinem festen Glauben heilt, gut; aber wenn er diese Kraft besitzt, dann braucht er kein gefälschtes Wunden- und Wunderöl zu drei Gulden die paar Tropfen. Das ist Schwindel und Schweinerei …« Ganz leise sprach der Arzt zu seinem Gaste; die mächtige Erregung, die in seinen grauen Augen gewitterte, wurde nicht Herrin über die Stimme; aber es war Sturm in seiner Stimme, schwerer, dunkler Föhn; Sturm auch in seinem verschlossenen, bitteren Antlitz … »Das ist Schwindel, das heißt Schindluder treiben mit Gott und Mensch! Und das werd ich an den Pranger stellen, wo ich kann und so oft ich kann, und wenn man mich exkommuniziert. Glauben Sie, ich weiß nicht, was hier auf mich wartet? Das weiß ich sehr genau.«

»Ich habe immer nur Gutes über Sie reden gehört,« verteidigte Benedikt; »das Volk ist des Lobes voll über Sie, Herr Doktor.«

Wendt lachte grimmig.

»Des Lobes voll! Jaja. Wenn schon kein Zauber und kein Balsam mehr hat greifen wollen, und ich hab einen Riß zusammengeflickt oder die Frau vom Kind entbunden, dann war der Doktor gut. Aber wenn ich dann den Leuten sag, daß man mit dem Wunderöl da eine offene Wunde vergiftet und nicht heilt, und daß es ein Verbrechen ist, eine arme Frau mit allen möglichen Gevatterinnen und Schmierereien in den Tod zu treiben, statt gleich um den Arzt zu schicken, wenn ich ihnen das sag, dann laufen sie gleich zum Herrn Dechanten und erzählen's ihm brühheiß weiter und lügen noch was dazu. Und der zieht das Netz zu und hat den Fisch und kocht seine Suppen draus. Des Lobes voll. So wie die Juden damals, vor bald zweitausend Jahren, grad so. Macht aber nichts. Die Pflicht bleibt die gleiche, und ich hab die Leut zu gern, als daß ich sie so in ihrer pechschwarzen Finsternis lassen möcht. Die brauchen ein Licht, ein inneres; wird aber fleißig verhängt, damit die Dinge, die davor stehen, nur ja keinen verdächtigen Schatten werfen. Wegen der Geschichte da droben mit dem Mädel ein großes Geschrei – um die echten Wundmale, die vom Gekreuzigten, aber kümmert sich keins. Die sehens nicht.«

»Aber wenn man diesen einfachen Menschen all das nimmt, so nimmt man ihnen auch Gott,« warnte Siebenschein.

»Aber was für einen Gott? Ist Gott im Gift oder in der Arznei? In der Finsternis oder im Licht? In der Lüge oder in der Wahrheit?«

»Gott ist in der Liebe,« sagte Benedikt einfach.

Da streckte ihm jener verschlossene, herbe Mann plötzlich die Hand entgegen, gleich als begrüßte er einen lange erwarteten Gast. Und Benedikt, überwältigt, legte die seine hinein; ihm war, als fühlte er die Schmelzkraft einer unendlichen Güte und Gerechtigkeit auf sich herüberstrahlen, als ginge ein seltsames, feierliches, fast überirdisches Licht aus von den grauen, verborgenen Augen seines Gegners. War auch er ein Enttäuschter und Schwerverwundeter – ein Inbrünstiger und Einsamer? Über dem aufgeschlagenen Buche vereinten sich die Hände der beiden Männer, und es war, als umschlössen sie mit ihrem Druck das Siegel eines Geheimnisses.

Wendt sprach zuerst.

»Und wenn wir uns in allem streiten, darin sind wir einig. Da kommen wir zusammen. In der Hauptsache. Im Herzen selbst.«

»Ich wollte, es wäre in allem so,« seufzte Siebenschein; »dann wäre mir ein großer Wunsch erfüllt.«

»Wirklich?« Der andere lächelte düster. »Ist auch das schon viel wert; ist eigentlich alles. Sie sind jetzt noch nicht frei. Sie sind noch jung.« Er klopfte Benedikt versöhnlich auf die Schulter. »Aber vielleicht kommen Sie mir einmal nach.«

Er nickte seinem Gaste kurz zu; dann trat er behutsam ins Nebengelaß.

* * *

Benedikt blieb wie erstarrt.

Er sah geradeaus in eine Tiefe, wo seinem Blicke sich alles in unendlich weiter Ferne zu sammeln schien.

Vielleicht kommen Sie mir einmal nach?

Eine Fülle von dunklen und grellen Stimmen drang auf ihn ein, verwirrte und verdichtete sich in seinen Gedanken.

War dieser Mann mit den verborgenen Augen und der zwingenden Stimme wirklich sein Gegner?

Er hatte eine schwere, rote Wunde empfangen in dieser Nacht; seine junge Seele brannte. Und er selbst hatte sich Wunden geschlagen.

Am liebsten hätte er nach harter Buße ganz von neuem angefangen, irgendwo an einer Stätte befriedeter Strenge, geborgen vor den Gärten und Menschen der Welt, unter unbarmherziger Zucht, die gar keinen Weg freigibt als den einen …

Der Boden, den er verteidigt, gehörte nicht mehr ihm. Die Hand, die den Schwertgriff des Kreuzes hielt, war nicht mehr rein. Und das wider einen, der Gott in der Wahrheit suchte, die Wahrheit über alles stellte!

Nun hatte er es anhören müssen, wie jener Schuld um Schuld auf die befleckten Priester häufte, Schuld der Lüge und der Heuchelei. Hatte ihm der andere durch seine schwache Verteidigung hindurch nicht bis auf den Seelengrund gesehen? Schwere Fragen bohrten sich in ihn ein, abgeprallte Pfeile, Splitter entweihter Klinge. Diese Nacht hatte entschieden. Der Dämon mußte zertreten werden. Die Schlange gab ihm den Tritt nicht frei, wie sehr er sich mit jedem neuen seiner Tage, mit seinen unbeständigen Vorsätzen, mit allen Kräften seiner Scham gegen die gierige Umschlingung wehrte. Was half es da, daß er rang und nur mit der schneidenden Reue im Herzen, die im stolzen Rausche des Sieges einging in die giftsüße Schuld? Der Dämon mußte erwürgt werden – oder vergöttlicht …

Und doch fühlte er sich jetzt um ein Stück weitergekommen in seinem Leben. Etwas in ihm war erwacht, hatte sich gereckt und gehärtet, als sei er in neue Jahreszeit hineingewachsen. Er litt nicht nur, er fühlte sich versucht zu streiten und zu erobern. Er ahnte etwas hinter sich, einen Schatz oder eine Schuld: etwas, das ihn mit Mißtrauen und wachsamer Kraft erfüllte.

Aber dem inwendigen Drachen mußte ein Ende bereitet werden. So ging es nicht weiter; die Augen dieses Mannes hatten ihn gerichtet in dieser Nacht. Gerichtet und befreit. Wo hatte er sie schon gesehen, diese grauen, verborgenen Augen? Wo hatte er sie schon vernommen, diese tiefe, unerbittliche Stimme?

Hatte er wirklich gelogen und nur mit Gebärden seinen Stand verteidigt?

War nicht vieles, das so lange Zeit schwer in seiner Tiefe geruht, erlöst aus ihm herausgebrochen?

War er nicht erst jetzt eingegangen zu den Mühseligen und Beladenen?

Jede Frage, jedes Wort teilte sich vor seiner Seele in zwei auseinanderlaufende Gleise. Lauter Kreuzwege waren vor ihm, alle Grenzsteine waren verrückt, alle Straßenweiser umgekehrt. Und er sann, und vieles schien ihm zusammenzustürzen in diesen Stunden.

Zögernd schlich die Zeit. Das Pendel schlug bedächtig seine unerschütterlichen Taktbogen. Jedesmal, wenn es durch den goldenen Strahl der Lampe hindurchging, blendete seine Scheibe hinterm Glase auf. Sanft brodelte das erhitzte Brennöl. In der geschliffenen Karaffe flinkerten winzig feine, bunte Fieberbilder. Und wie durch den entrückenden Glast eines gelinden Fiebers hindurch sah Benedikt all diese gleichgültigen, allnächtlichen Dinge. Es bildeten sich ihm seltsame Gesichter darin; er vernahm das Raunen und Summen vieler ewig weiter Stimmen; er hörte einzelne Themen, scharfe Rhythmen heraus, einen endlosen Kanon, eine schwirrende Mückenfuge. Unbewußt langte er nach der Karaffe und schenkte sich noch ein Glas des starken braunen Weines voll. In kurzen Schlucken trank er ihn hinab. Das tat ihm wohl, das stieg ihm wärmend und schläfernd zu Herzen, das erinnerte ihn an Salome Sartorius …

Plötzlich erwachte er. Draußen schauerte der graue Frühmorgen herauf. Wie entfremdet stand die übernächtige Lampe im Zwielicht. Siebenschein besann sich und horchte. Es war ganz still im Hause. Irgend jemand ging mit hallenden Schritten den Marktplatz entlang. Ein Wagen rasselte in ferner Gasse. Zwei Frauen fanden sich vor dem Tore zusammen und blieben unter ihren trübselig triefenden Schirmen stehen. Benedikt fröstelte. Behutsam trat er in die Nebenstube. Die Türe stand nur angelehnt.

Der Arzt saß am Fußende des Bettes, die Stirne in die hohle Hand gestützt, als wachte er über der Genesung des Kranken. Die tief heruntergebrannte Kerze hinterm Wandschirm zuckte beim Erwachen des Luftzuges zusammen. Ungeheure Schatten wuchsen unruhig an den Wänden hinauf. Das Kreuzbild auf dem weißbehangenen Tischchen blitzte flüchtig durch das trübe Helldunkel. Sein gebrochener Schatten ragte schräg in die Decke hinein. Düster glomm der kupferne Weihbrunnkessel. Daneben standen schmal und geisterbleich die feierlichen Wachslichter. Der Sieche rührte sich nicht. Kein Atem ging durch den Raum. Die Luft war krank und ausgebrannt.

Jetzt sah Wendt auf. Er blickte nach der verdunkelten Türöffnung. Mit einem rauhen Seufzer rang er sich aus dem Lehnsessel empor. Dann kam er auf Benedikt zu.

»Es ist vorüber.«

Er hob die niedergeschmolzene Kerze hinterm Wandschirm heraus und hielt sie hoch über das Bett. Die Schatten an der Wand schrumpften und flüchteten sich unter die Dinge.

Da lag Peregrin Kranich, um Jahre gealtert, gemütlichen Spott um die eingesunkenen Nasenflügel. Es sah nicht aus, als ob er bloß schliefe; nur der Widerglanz der flatternden Flamme atmete in seinem Antlitz. Und doch trug dieses für immer abgeschlossene Gesicht den Ausdruck rührender Zufriedenheit, als habe es in den letzten Augenblicken, da es sich nach innen wandte, etwas ganz Großes und Versöhnendes geschaut. Die Lider schlummerten tief in den scharfrandigen, wirr überbuschten Höhlen; die mageren Arme lagen lässig ausgestreckt, die Hände verschränkt.

Der Arzt setzte das Licht nieder.

»Es war kein schwerer Tod. Einmal noch ist er erwacht, eine Stunde vielleicht vor dem Aufhören. Mutter! … das war sein letztes Wort. Von so vielen schon hab ich's gehört. Das ist dem Menschen doch das Heiligste und Nächste, die Heimat. Nun ist er ja daheim, bei seiner alten Mutter.«

Benedikt stand mit gefalteten Händen vor dem Totenbette.

»Sei Gott dem armen Sünder gnädig.«

Wendt strich leise, wie segnend, über die starre Stirn des Abgeschiedenen.

»Der war kein Sünder, Hochwürden. Das war einer von denen, die Gott vielleicht lieber hat als unsereins. Ihm war der Sinn des Lebens das Leben selbst. Daran ist keine Sünde.«

Wieder verspürte Benedikt die warme Kraft des Blickes, der ihn aufatmend durchdrang.

Dann blieb er allein mit dem stummen Peregrin Kranich, der da lang und alt auf dem Schragen lag, ein geisterhaftes Lächeln um den bärtigen Mund, als habe er das Beste von hier heimlich mitgenommen auf seine letzte Wanderschaft.

* * *

Benedikt Siebenschein nahm alle Kraft zusammen.

Vor ihm stand Fräulein Huber, den Kopf in die fleckige Schürze vergraben. Ihre runden Schultern zuckten.

»Wenn ich das g'wußt hätt! … Wenn ich das g'wußt hätt! … Und jetzt denkt der hochwürdige Herr Doktor so schlecht von mir!«

Benedikt griff hinter sich nach der Kante der Schreibtischplatte. Daran hielt er sich mit Gewalt fest.

»Wenn Sie mich nur anhören wollten, Mali. Ich habe gar kein Recht, von irgend jemand schlecht zu denken. Schlecht, wirklich schlecht denke ich nur von mir selber.«

Fräulein Huber schüttelte den Kopf in der Schürze.

»Das hat der hochwürdige Herr Doktor gar net notwendig.«

»Sehr notwendig habe ich es, Mali. Sehr notwendig.«

»Gar net notwendig hat's der hochwürdige Herr Doktor. Mich allein trifft's. Mich ganz allein. Und ich weiß eh, der hochwürdige Herr Doktor meint bloß mich, wenn er von sich reden tut … Und is doch nix andres g'wesen als wie daß ichs so gut g'meint hab mit dem Herrn Doktor … Bei Gott und alle Heiligen schwör ich's … Na, und was halt über jeden amal kommt … Dafür kann man nix … Zu was is denn nacher so eing'richt im Leben? … Zu was is denn nacher das ganze Leben?«

Sie ließ den Schürzenzipfel mit einer zornig schleudernden Gebärde fallen und hob das rotverweinte Gesicht.

»Ihnen mache ich ja keine Vorwürfe, Mali. Nur mir. Nur mir.«

»Ich weiß eh, daß ich schlecht bin,« zürnte Fräulein Huber; »na, bin ich halt schlecht. Alsdann.«

Benedikt räusperte sich.

»Fräulein Mali. Fräulein Mali, so soll das – so soll das doch nicht endigen. Wir haben uns beide schwer versündigt …« Er brach ab.

»Versündigt – allweil versündigt! Is denn alls eine Sünd – überall und immer bloß Sünd und nix anders? … Zu was is denn nacher das Leben da? Oder is das Leben selber vielleicht auch schon eine Sünd?«

»Fräulein Mali, ich bin Priester.«

»Als ob das ein Unterschied machet. Oder is ein geistlicher Herr vielleicht gar kein Mensch net?«

»Aber Fräulein Mali, Sie wissen doch – –«

Fräulein Huber lächelte mitleidig.

»Und glaubt vielleicht der hochwürdige Herr Doktor, daß das g'halten wird? … Und meint der hochwürdige Herr Doktor vielleicht, daß jeder so heiklich und genau is wie er selber? Da wär schon längst kein Platz mehr im Himmel für ein anderen Christenmenschen!«

»Fräulein Mali!«

»Wann der Herr Doktor mir net glaubt, er wird's schon noch selber merken … Wo's so ein Unsinn is, das Ganze!«

»Mich geht es gar nichts an, was andere tun, Fräulein Mali. Ich kann nicht Richter sein, wo ich selbst der Schuldige bin. Und wenn die anderen es leichter nehmen – ich nehme es schwer, und gerade darum ist meine Sünde doppelt groß. Doppelt groß, ja. Sie müssen schlecht von mir denken. Sie! Und Sie haben recht, wenn Sie es tun.«

Wieder lächelte Fräulein Huber durch den glitzernden Nachschauer der Tränen.

»Aber Herr Doktor, ich bitt Sie schön! … Wo all's z'samm der Red net wert is.«

»Der Rede nicht wert!?«

»Wär's ich net g'wesen, wär's halt eine andre g'wesen … Dem Herrn Doktor war's schon einmal so bestimmt … Und ich bin still, der Herr Doktor derf sich drauf verlassen. Aber eine andre, die wär net still, da derf der Herr Doktor Gift drauf nehmen, da tät's längst herumläut'n durch die ganze Pfarr. Na, und was wär dabei am End? … Aber dem Herrn Doktor tät's auf die Seel gehn, dafür kenn ich den Herrn Doktor – weil der Herr Doktor nix weiß vom Leben und meint, all's geht nach die g'scheiten Bücher.«

Siebenschein sah betreten zu Boden.

»Das ist es ja, Mali, das ist es ja. Ich habe gesündigt, aber ich kann und werde büßen. Ich werde die Schuld tragen, so gut ich kann. Aber die Leute, Mali, die Leute!«

»Was, die Leute?«

»Die Leute wissen alles. Ich kann nicht hier bleiben. Ich muß weg von Unzing. Ich kann hier nicht länger Priester sein.«

»Und warum glaubt das der Herr Doktor, wann man fragen derf?«

»Ich spüre es.«

Benedikt sprach die Wahrheit. Die Leute mußten von allem Kunde haben, bis zum Pfarrer hinauf, bis zum letzten Viertelbauern hinunter. Permoser behandelte ihn mit schneidender Genugtuung, die Menschen auf der Straße sahen sich nach ihm um, die Seelen, deren er zu pflegen hatte, wandten sich voll Abscheu über das offene Ärgernis von ihm ab. Alle Finger zeigten nach ihm. Wenn er Sonntags die Kanzel betrat, stießen die Frauen und Mädchen auf der Weiberseite einander an und kicherten, die Männer wiegten die Köpfe, machten finstere Gesichter und raunten. Kaum gelang es ihm, den Blick irgendwo zu sammeln. Er sprach nach der Orgel hinauf, und dort tuschelten die Schulbuben. Er redete starr nach den bleigefaßten Fenstern hinüber, und da zog draußen eine Herbstwolke über die Sonne und der wimmelnde Stäubchentanz in der einfallenden Lichtbahn erstarb. Er klammerte sich an der Kanzelbrüstung fest, und sie schien unter seinem Griffe zu weichen. Mit Anstrengung hielt er den Faden; wie damals bei der Kirchhofspredigt zu Sankt Korbini, da er mitten in der Weihe sich mit einem Male gelähmt fühlte, so sagte er jetzt allsonntäglich leere Worte, tote fremde Sätze her, die ein ganz anderer irgendwo in weiter Ferne sprach, einer, von dem er gar nichts wußte. Und er hastete förmlich aufs Ende zu, in steter Angst, der aufsteigende Herzdruck würde ihn überwältigen und ersticken. Dann, wenn er das erlösende Amen erreicht hatte, brach er zum Nachgebete förmlich wuchtend in die Knie; aber auch hier vermochte er keine Sammlung zu finden, nicht einmal das Gefühl einer bangen Dankbarkeit. Wußte doch jeder von denen da drunten, daß die Lippen, die ihnen das alte Vaterunser vorsprachen, daß die Hände, die sich krampfhaft über dem Evangelienbuche falteten, nicht mehr rein waren! …

Die Leute waren sogar karger geworden mit Beweisen ihrer Gunst, kein Wunder, wie Benedikt es sich immer wieder einschärfte. Fast war es ihm so am liebsten; besser, sie gingen schweigend an ihm vorüber, als daß sie ihm eine Meinung vorheuchelten, auf die er keinen Anspruch erheben durfte. Und doch wußte er sich von ihrem düsteren Schweigen gerichtet; diesen schweren, störrischen Menschen war eine unheimliche Art der Verachtung eigen. Blieb aber dann einer in der Dorfzeile stehen, um den Herrn Kooperator in ein schlichtes Gespräch über Wetter und Ernte und den Alltag der Pfarre zu verflechten, so sah Benedikt hinter dem freundlichen Gruße, dem bieder lächelnden Munde immer wieder nur ein anderes, lauerndes Antlitz, davor ihn graute. Ohne sich etwas merken zu lassen, stand er Antwort: so, in vier Tagen würde Taufe sein, das sei aber schön, und die rotbunte Kuh habe verkalbt, das sei wirklich schlimm – – aber seine geängstigten Gedanken waren anderswo, sie waren in seinen Wunden, in seinem reizbaren, wachsamen Gewissen. Was meinte der Mann eigentlich mit seinen Worten, was bezweckte er mit seiner Verstellung? War das nichts als gutmütige Barmherzigkeit? Klangen da vielleicht Anspielungen hindurch? … Und hier erschrak Benedikt erst recht: wohin war er gelangt, daß er solches voraussetzte, überhaupt für möglich, für das Eigentliche und Nächstliegende hielt? …

»Ich spüre es, Mali, ich spüre es. Ich kann nicht mehr in Unzing bleiben. Die Leute zeigen mit den Fingern nach mir.«

Fräulein Huber lachte kurz auf.

»Was sich der Herr Doktor net all's einbildet! Oder meint der Herr Doktor vielleicht, die Mali werd so dumm und schlecht sein und herumreden? … Da tät mir der Herr Doktor leid, wenn er so was glauben möcht. Da tät ich mir selber leid, wenn ich so eine wär … Das sein nur die Leut in dem Herrn Doktor sein Kopf und Herzen, die inwendigen Leut, die alles wissen. Die da draußen – die tun gar nix denken und reden. Gar nix. Da kann sich der Herr Doktor drauf verlassen.«

»Aber ich merke doch, wie man mich ansieht. Ganz anders als früher. Wie man zu mir spricht. Wie man hinter mir die Köpfe zusammensteckt.«

»Das is halt so, was einer fürchtet, das tut er auch sehn, überall. Das sein bloß G'spenster, der Herr Doktor erlaubt schon. Sehr eine gute Meinung haben die Leut vom Herrn Doktor, damit daß der Herr Doktor 's nur weiß … Wie schön daß der Herr Doktor auf Sankt Christoph droben predigt hat, jetzt noch redens davon. Und wie freundlich daß der Herr Doktor zu alle is, und wie fein daß er sich halten tut, und so … Da derf der Herr Doktor ganz ruhig sein. Und da derf er sich auf die Mali verlassen. Wann was wär, das hätt ich schon lang g'schmeckt, der Herr Doktor erlaubt schon, aber auf so was, da sein die Weiber g'spüriger, die Mannsbilder, die merken's erst, wann ihnen das Wasser schon bei die Ohren hineinlauft.«

»Aber der Herr Pfarrer.«

Fräulein Huber winkte verächtlich ab.

»Der! … Wegen dem könnt der Herr Doktor dreie bei sich haben, jede Nacht. Der hätt was zu reden – der!«

Siebenschein schritt einige Male zwischen Schreibtisch und Fenster auf und nieder. Endlich lehnte er sich gegen die Fensterbank.

»Das alles kann nichts an der Sache selbst ändern, Mali. Das müssen Sie einsehen. Ich kann nicht hier bleiben, nicht in diesem Hause. Schon wegen Ihnen selbst, Mali.«

»Das wüßt ich net, warum das net sein könnt.«

»Wir beide unter einem Dache, Mali!«

»Na, alsdann, und nachher?«

»Unmöglich, Mali. Ich kann doch nicht verlangen, daß Sie mir zuliebe Ihre langjährige Stellung aufgeben.«

»Wo das doch alles gar net notwendig is. Braucht ja net, daß der Topf überlauft. Stellst ihn weg vom Feuer auf die Seiten, gut is. Und wenn mir der Herr Doktor einmal sagt, daß aus is, dann is aus, fertig, und da werd kein Wort weiter g'redt. Dann is der Herr Doktor halt wieder der Herr Doktor, und die Mali is wieder die Mali, und deswegen fallt kei'm Hendl ein Federl aus'm Schwanz.«

»Ja, Sie nehmen es freilich sehr leicht, Mali. Sie!«

»Was weiß der Herr Doktor, wie daß ich's nehm? Geht den Herrn Doktor auch gar nix an. Aber der Herr Doktor soll sich net hineinreden in eine solchene heilige Hitz. Die kann sich der Herr Doktor auf was Gescheiteres versparen. Da könnt man ja gleich mit dem Strick um'n Hals auf die Welt kommen, wann man wegen jeder Sach so sich aufregen müßt.«

»Man muß, Mali, man muß. Nichts darf man auf die leichte Schulter nehmen. Wohin käme man damit? … Sie verstehen mich nicht, Mali. Wir können nicht zusammen in diesem Hause bleiben, wir zwei. Wie steh ich vor Ihnen da? … Wie sollen wir überhaupt – – aber davon ist ja gar nicht zu reden.«

»Is auch net. Ich – ich versteh den Herrn Doktor sehr gut. Sehr gut tu ich ihn verstehn. Aber der Herr Doktor kennt sich net aus. Der Herr Doktor muß unterscheiden. Es is halt überall ein Inwendig und ein Auswendig. Und wenn inwendig im Sparherd alles auf Aschen verbrennt, auswendig die Suppen werd erst recht stark und gut. So is, Herr Doktor. Na, und was die Sünd is, da sein ärgere begangen worden auf der Welt, da werd der liebe Gott schon noch einmal ein Einsehn haben. Die Sünd, was die Sünd is, die nehm ich schon auf mich.«

Benedikt schüttelte den Kopf.

»Liebe Mali, so kommen wir nicht drüber weg.«

»Wie denn net?« Fräulein Huber versuchte ein erheiterndes Lachen. »Wann ich g'fragt werd droben im Himmel, lieber Gott, werd ich sagen, der hochwürdige Herr Doktor, der verdient gar keine Straf net, der is ganz unschuldig, blühweiß is der wie die Seel von eim Kindl, wo gleich unterm Taufwasser g'storben is, das geht alles auf mich, sündhaft wie die Weiber schon sein, dazu seins ja auf der Welt, net, das tut's nur mit mir abrechnen, ein paar Jahrln Fegfeuer auf und ab, das macht's net aus, sitzen noch andre da, die wo mehr auf der Kreiden haben, alsdann – aber den hochwürdigen Herrn Doktor, den laßts mir in Ruh, grad weil er so heilig war, grad deswegen hab ich mich verschaut in ihn, schlechtes Frauenzimmer, wie ich schon bin …«

Siebenschein lächelte schmerzhaft.

»Ja, ja, Mali, das ist alles recht schön. Aber wenn ich mich darauf verlassen würde, dann wäre meine Sünde erst recht schwer.«

»Sünde, Sünde, allweil bloß Sünde. Wo daß hinausschaut beim Fenster, allweil gleich: Sünde! … Is ja doch zum Leben auf der Welt, der Mensch, oder wie? Oder bloß zum Studieren, wo daß was net recht is?« Sie glättete die zerknitterte Schürze an sich herunter. »Und jetzt is fertig. Der Herr Doktor hat g'sagt, Schluß, alsdann is Schluß. Zu was denn sich noch schwer machen, wo's gar net notwendig is. Wannst ein Häfen ausleeren mußt, gießt ihn halt aus, tust'n auch net einzelweis mit dem Löffel ausschöpfen. Mit dem Löffel, da leert man nur aus, was ei'm schmeckt, und net das Abwaschwasser. Alsdann.«

»Ich möchte aber nicht, daß Sie mich verachten, Mali. Sie müssen mich eigentlich verachten. Ich möchte Ihnen doch erklären, wie das über mich gekommen ist –«

Fräulein Huber unterbrach ihn.

»Nur nix erklären. Da geht noch das Beste zum Teufel. Und verachten – – verachten müßt man eigentlich alle Mannsbilder. Alle. Weil's solche Weiber sein. Aber wann man halt einmal ein gern hat – – no, und zu was is man denn sonst auf der Welt? … Is ja all's bloß eine Einbildung, daß grad so sein muß und net so … Wo's doch kei'm Menschen wehtut!«

Benedikt verschränkte die schmalen, demütigen Hände, daß die Knöchel knackten.

»Nein, Mali, der Mensch muß sich über alles Rechenschaft ablegen, dazu hat ihm Gott die Vernunft gegeben. Man muß doch wissen, wo und wie, damit man sich bessert und vor Rückfällen bewahrt.«

»Ah ja, Rechenschaft! Und wo und wie! So reden die Mannsleut, wanns g'scheit g'worden sind und von einer g'nug haben. So redens dann g'scheit daher und machen ihre Rechenschaft. Und dorten, wo's das Wo und Wie am meisten brauchen täten, da vergessens es, und g'schwind und gern und wie! Na ja …« Sie seufzte, als behielte sie etwas zurück, als erledigte sie allen Rest im Inneren. Dann sah sie Benedikt mit eigenem Seitenblick an. »So spricht der Herr Doktor heut, weil's so weit is mit ihm. Und weiß der Herr Doktor noch, wie er vor ei'm Monat g'redet hat? Daß er austreten wird und mich heiraten? … Und wie ich den Herrn Doktor ausg'lacht hab deswegen? Oder weiß der Herr Doktor das nimmer?«

Siebenschein biß sich auf die Lippen.

»Sehen Sie, daß wir hier nicht zusammen bleiben können! … Ich muß gehen. Ich muß.«

Er wandte sich erstickt ab.

Aber Fräulein Huber erhaschte seine Hand und zwang ihn, sie anzusehen.

»Wie der Herr Doktor schon wieder daherreden tut! Glaubt denn der Herr Doktor, daß ich ihm das zum Vorwurf g'sagt hab? … Allweil gleich das Ärgste. Gibt's denn nix zwischen sieden und g'frieren?«

Benedikt schielte zur Seite. Seine Lippen zitterten.

»Ich war damals verrückt, Mali. Verrückt und vergiftet. Betäubt war ich, Mali. Ich habe nicht gewußt, was ich tue. Sonst wär es nicht soweit mit mir gekommen.«

»Nachher wär's halt ein andermal soweit kommen. Ausg'lassen hätt's den Herrn Doktor schon net. Und verrückt und vergiftet sein die Mannsbilder immer, wanns brennen tun. Nur wanns ausg'löscht sein, dann sinds g'sund. Und was man anzündt, das brennt halt. Und mehr daß austrocknet is, hitziger brennt's. Und der Herr Doktor, der war halt noch auf seine b'sondre Art vergiftet. Vom Alleinsein, und von der Fremd, und vom vielen Denken, na und von der – von der anderen.«

»Von welcher anderen?« fragte Siebenschein scheu, obschon er den nahen Sinn gut erriet.

»Na, von der – von der Ausländischen. Die hat den Herrn Doktor noch extra aufg'mischt. Und der – der hab ich den Herrn Doktor halt doch net vergunnt. Die hätt ja den Herrn Doktor richtig um den Verstand g'bracht und um den Namen.«

»Ich habe sie ja kaum gekannt, Mali,« verteidigte sich Benedikt.

»Da war net notwendig viel zum kennen,« stellte Fräulein Huber fest; »ein neuer Wein war's halt für den Herrn Doktor, und ein starker obendrein. Aber da is Erden drüber und's Kreuzel drauf, und überhaupt, von dem, was g'schehn is, werd nimmer g'redt. Nur grad wenn mir der Herr Doktor sagen möcht, daß er net schlecht von mir denkt und daß er mir nix nachtragt, nacher bin ich schon zufrieden.«

»Nein, Mali, wie sollte ich. Sie wissen ja selbst – wenn ich Ihnen nur sagen könnte – –«

»Pscht! Nur nix sagen wollen, wo's nix zum sagen gibt. Ich versteh den Herrn Doktor, und das is genug … Und das soll der Herr Doktor net vergessen, daß ich's gut g'meint hab mit ihm. Immer nur gut g'meint. Auch – auch mit dem … Na ja. Und man kann halt auch einmal ein gern haben, net? … Wenn man schon so nix g'habt hat vom Leben. Nix als eine verpatzte Jugend …«

Eine Träne glitzerte an Fräulein Amalies rosiger Wange herunter und wurde von der sanften Unterlippe behend aufgeschlürft.

Siebenschein holte schwer Atem.

»Wenn Sie wüßten, Mali, was Sie alles auf mich laden. Ich bleibe zeit meines Lebens Ihr Schuldner.«

Fräulein Huber lachte versöhnlich.

»Aber, ich bitt, Hochwürden Herr Doktor! … In ein paar Jahr, da hat der Herr Doktor alles vergessen, die Mali und Unzing und alles zusammen. Und wenn dem Herrn Doktor was zu schwer wird, soll er's bloß auf mich umleeren, ich dertrag's schon, wann's sein muß, bis hinauf zum lieben Gott.«

Eine Weile blieb es still zwischen den beiden. Siebenschein spielte mit seiner schmalen Uhrkette, Fräulein Huber starrte an ihm vorbei ins Nichts des tränenden Herbstes hinaus.

Plötzlich erwachte sie.

»Aber die Hand derfet mir der Herr Doktor zum Abschied schon geben. Oder is das auch eine Sünd?«

»Wenn Sie meine Hand nur noch nehmen wollen, Mali.«

Sie ergriff die dargebotene Rechte und riß sie fast wild an ihre nassen, heißen Lippen.

»Aber, Mali!«

»Geh, geh!« flüsterte sie leidenschaftlich; »wo's eh nur mehr die Hand is … Und gelt, die andere Mali vergißt der Herr Doktor net ganz! Die schlechte, die sündhafte Mali … Die's so gut g'meint hat mit allem, was sie hat geben können! …«

Sie richtete sich wieder auf.

»So. Jetzt is vorbei …« Sie strich mit dem Handrücken über die Augen und zog den quellenden Rührungsschnupfen gewaltsam zurück. »Oder braucht der hochwürdige Herr Doktor vielleicht noch etwas?«

Benedikt seufzte aus Herzensgrund.

»Ja, Mali. Alles brauche ich, alles.«

»Was der Herr Doktor braucht, das wird er schon selber finden …« Die Glocke des Pfarrturmes schlug an. »Jesses, schon so spät! Da wird alles anbrennt sein … Oder das Feuer is ausgangen … Wär eh noch besser als wie anbrennen …«

Sie nahm das kleine blecherne Frühstücksbrett vom Tische und klirrte hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.

* * *

An einem grauen Sturmnachmittage ging Peregrin Kranich zur Erde ein.

Doktor Wendt, Benedikt Siebenschein und der Stegmüller gaben ihm das letzte Geleit. Der Arzt hatte für eine Grabstätte auf dem Sanktrainer Friedhofe gesorgt; die Unzinger wollten auch den toten Peregrin nicht wieder bei sich aufnehmen.

»Ist in Sanktrain gestorben, in Sanktrain,« entschied Permoser mit kühler Sachlichkeit; »ist in Sanktrain gestorben, dieser Peregrin Kranich, in Sanktrain, auf der Wanderschaft, und nicht in unseren Diensten. Soll auch auf der Wanderschaft beerdigt werden, dieser Peregrin Kranich, unterwegs, wo er geblieben ist.«

Dieses Dekret war inappellabel, und Benedikt verzichtete darauf, seine eigene Auffassung zu Gehör zu bringen.

»Mir wird er abgehn, der kuriose Kampel,« sagte der gutmütige Stegmüller, mit dem zusammen Siebenschein gen Sanktrain hinunterfuhr; »allweil hat er was Neues g'wußt, der Schreiber, wann mir auch net d' Halbscheit verstanden haben von seine verdrahten Sprücheln, no, und da war halt a Büldung, sowas trifft man selten, immer was vom Zodiakamus und von der Polematik, da hast was lernen können. Mir wird er abgehn, der Kranich, das war halt einmal was Feineres, net, bloß ein Bestand wanns mit ihm g'habt hätt, hat ihm ja nix g'fehlt bei uns in Unzing, net? … Tuns Ihnen ordentlich einwickeln, Hochwürden, daß Ihnen net von der Seiten hereinziegt.«

»Der arme Peregrin,« seufzte Benedikt; »wissen Sie, Peregrin heißt der Fremde, der Wanderer, und so einer war er. Es hat ihn eben nicht geduldet, er hat Bewegung gebraucht, er war es sein Leben lang gewohnt.«

Der Stegmüller schüttelte den vorgebeugten Kopf, während er mit der Rechten die Sperrwinde knirschend fest eindrehte.

»Jetzten, das versteh ich net. Wann man wo ein warmes Platzl hinterm Ofen hat, da werd man do net der Esel sein und hinausgehn in die Kälten! Wo's gar net notwendig is! Na, und was is dem Schreiber abgangen bei uns in Unzing? Oder is Unzing leicht net schön g'nug? … Eine gute Luft hat er dahier g'habt und sein Geldl und Beheizung und Licht und alles. Was braucht denn der Mensch mehr zum Leben?«

»Es sucht eben jeder seine Heimat,« sagte Benedikt; »der eine findet sie, wo es ihm behagt, der andere findet sie nie oder erst nach Jahren. Und darum wandert er und sucht er, bis er sie erreicht oder bis er in die große letzte Heimat eingeht – wie unser Peregrin.«

»Ah ja, Heimat,« spottete der Stegmüller zutraulich; »Heimat is, wo man sein Grund und Boden hat oder sein G'werb. Den Herrn Lehrer schauts an, der sitzt da seit was ich denk – oder den Herrn Kooprater selber! Na, und hat sich der Herr Kooprater net gut eing'lebt in unserem Unzing? Denkt auch net aufs Fortgehen, der Herr Kooprater, und is auch net hier daheim, gelt?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Siebenschein; »ich muß vielleicht schon sehr bald fort von Unzing. So leid es mir tut. Aber es hängt ja nicht von mir ab. Wenn Seine Eminenz mich versetzt –«

Der Stegmüller tätschelte ihm die Knie.

»Ah ja, was, gar nix werd da draus. Mir werden den Herrn Kooprater einfach net weglassen, fertig. Da schreiben mir ein G'such an den Herrn Bischof, der Herr Bischof möcht den Herrn Kooprater net wegnehmen von dahier, wo mir ihn alle brauchen und gern haben. Ans Fortgehen, da derf der Herr Kooprater gar net drauf denken.«

»Ja, aber, ich verdiene das gar nicht,« wehrte Benedikt.

»Verdienen oder net. Der Herr Kooprater paßt uns halt. Der Herr Kooprater versteht sich so aufs Predigen, na und überhaupt, wann ich denk, was mir dahier schon für Herrn g'habt haben, nix als Skandal und schlecht's Beispiel, da is der Herr Kooprater doch an anderer, da hat man ein Respekt.«

Siebenschein errötete.

»Aber Ihr habt ja noch den Herrn Pfarrer. Der Herr Pfarrer wird noch lange leben. Und ich kann doch nicht ewig Kaplan bleiben.«

»No, wer weiß? … Könnt ja auftreffen, daß den Herrn Pfarrer auf ja und nein nimmt – nacher hätt'n mir gleich ein neuen Herrn Pfarrer, wie er uns paßt.«

Sie waren im Talboden angelangt, und der Stegmüller zog seinem faulen Braunen einen langen Schnalzer über die Schenkel, daß er erschrocken losprellte.

»Das arme Tier!« verwies Benedikt.

Der andere lachte.

»Ah ja, was, arm! Unsereins kriegt's auch drauf, und wie! Der liebe Gott, der hat eine lange Peitschen, und zwicken kann er damit, ujeh, das g'spürst! … Und so ein Roß, das stellt sich nacher schön warm in d' Streu und frißt sein Habern und vergißt auf all's. Aber unsereins mit der zärtlichen Seel. Die Zärtlichkeit von der Seel und die Zähn, das is überhaupts verkehrt eing'richtet – ich sag's immer, die Seel und die Zähn, da hat sich der liebe Gott net auszeichent, das treffet einer besser, der wo's selber g'spürt hat … No ja, man redt halt so daher …«

Doktor Wendt empfing Siebenschein mit freundlichem Gruß.

»Schön von Ihnen, Hochwürden … Na, der ewige Wanderer bekommt ja noch Gesellschaft auf seine alten Tag. Alles besorgt, Hochwürden. Ja, der Herr Dechant hat zuwider werden wollen, aber unser ewiger Wanderer hat sich als guter Katholik ausgewiesen, da war nichts zu machen … Ah, der Stegmüller! Ja, spannens nur derweil aus beim Stern. Wie geht's der Frau? … Na, schön, schön … Und dem Kleinen? … Bravo, bravo … Soll sich nur recht schonen, die Stegmüllerin, verstehens? Noch recht schonen … Net zu früh in die kalte Kirchen laufen, der hochwürdige Herr sieht ihr's schon nach. Kann zu Haus beten, bei einer Kranken, da macht der liebe Gott gern Besuch … Die Stegmüllerin ist zart, stark wie sie herschaut, da müssens ordentlich aufpassen. Ja. Spannens nur aus beim Stern. Wir gehen gleich hinüber, der Hochwürden und ich. Ein garstiges Wetter hat er sich bestellt, unserer ewiger Wanderer. Na, vielleicht ist's auf der anderen Seiten schöner.«

Die schwermütige Feier war bald vorüber. Kaplan Gfrörer murmelte hastig seine lateinischen Gebete herunter, denn der kalte Wind fuhr unwirsch über den Gottesacker hin und trieb schwere, schräge Schauer vor sich her. Der weiße Chorrock flatterte, die Totengräber rieben sich verhohlen die erdigen Hände. Aber von der Pfarrkirche her wogte stolz das große Geläut, als würde der angesehensten Bürger einer oder gar der Bürgermeister selbsten zum Eintritt ins ewige Licht gesegnet.

»Das hab ich bestellt,« raunte Wendt dem aufhorchenden Benedikt zu; »das hab ich bestellt, ob's den Pharisäern paßt oder nicht. Denn vielleicht ist es ein Fürst, der da hinausgeht – wer weiß?«

Siebenschein nickte, und Kaplan Gfrörer spähte mitten aus seinen eiligen lateinischen Seufzern mißtrauisch herüber … Dies illa, dies irae, calamitatis et miseriae, dies magna et amara valde … Das schien ja ein netter Herr zu sein, dieser hochnäsige Herr Doktor, dieser kleine Kardinal, machte gar Gemeinschaft mit diesem Menschen, dem Arzte, bekrittelte am Ende ihn, Gfrörer, in der Ausübung seiner Pflicht … Kyrie eleison, Christe eleison, Oremus!

Der einfache Sarg verschwand in der Tiefe; Wendt seufzte auf.

»Jetzt findet er's, sein heiliges Brot,« flüsterte er Siebenschein zu.

Die groben Schrollen polterten in die braune Dämmerung hinab; die aufgetane Heimat schloß sich zusammen hinterm Eingang ihres heimatlosen Kindes.

Wendt starrte verloren den rastlosen Erdwürfen nach, die aus den nebelnden, naßglänzenden Hügeln zu beiden Seiten der Grube hinunterkollerten, dumpfer aufschlagend von Spaten zu Spaten.

» Requiem aeternam dona ei, Domine,« sagte er leise.

Benedikt bekreuzte sich nach kurzem Gebet.

» Et lux perpetua luceat ei. Amen.«

Er legte den regenglitzernden Kranz aus Fichtengrün, den er mitgebracht, zu Füßen des Grabes nieder. Dann trat er an den jungen Amtsbruder heran, um mit ihm kühlen Gruß und flüchtige Fragen des Alltags zu wechseln.

»Soll so eine Art Landstreicher gewesen sein, dieser Verstorbene, nicht?« fragte Kaplan Gfrörer.

Benedikt sah unwillkürlich nach dem noch offenen Grabe zurück.

»Nein. Nur ein Heimatloser war er. Und nun ist er daheim.«

Der andere antwortete mit einem schnellen, unfreundlichen Blick und spielte das Gespräch auf das Allgemeinste hinüber.

»Was halt denn der Herr Kooprater von dem Doktor?« fragte der Stegmüller plötzlich, als er mit seinem Fahrgaste wieder allein war.

»Von Doktor Wendt?« fragte Siebenschein zurück.

»Na, ja, von dem Doktor. Bei dem weiß man nie, was man von ihm halten soll.«

»Ich bin ja kein Arzt, Stegmüller,« wich Benedikt aus; »ich verstehe nichts davon. Aber ich glaube, er macht seine Sache sehr gut, wie man so hört, nicht?«

»Aber das mein ich ja net,« erklärte der Stegmüller; »ich mein, was das für ein Mensch is, der Doktor.«

»Ich kenne ihn zu wenig, Stegmüller. Da kann man nichts sagen … Ich halte ihn für einen sehr guten Menschen.« Das setzte er nach, als täte ihm die laue Ausflucht mit einem Male leid.

Der Stegmüller lüpfte das Spritzleder, daß die angesammelten Lachen zur Seite abflossen.

»Mir wär er ja auch recht … Aber da hört man so Verschiedenes. Daß er ein Lutherischer is, sagen d' Leut. Na ja, und auf unseren Glauben is er schon g'hassig, das schmeckt man bald heraus. Mich wundert bloß, wie so daß der Herr Kooprater so gut is mit ihm.«

»Ich bin gar nicht gut mit ihm,« leugnete Siebenschein; »wir kennen uns doch kaum.«

»Alsdann is ja eh recht. Ich sag ja nur grad … Weil daß halt doch net z'sammpassen tät, der Herr Kooprater und ein solcher – ein Lutherischer, net?«

»Ich weiß gar nicht, ob er ein Protestant ist, Stegmüller. Und das wär schließlich auch nicht schlimm. Er erfüllt seine Pflicht als Arzt, mehr braucht Ihr ja nicht von ihm.«

»Na, ja, wenn's bloß das wär … Aber das Gschimpf auf den Heiligen und die Muttergottes, sixt, das g'fallet mir net … Kurieren, ja, das versteht er schon, Sixn hinein, den Schmölzhofer drüben wie er den ausg'flickt hat, net zum Glauben. Und lieber nimmt er gar kein Geld als mehr wie recht is, wahr was wahr is. Aber wenn halt kein Segen daderbei sein tut … Die alte Wiesgräbnerin, die hat er außerkuriert, hundert Jahr lebts noch, hätt man g'meint – na, und akkurat ein Jahr drauf is g'storben, grad auf denselbigen Tag, wo daß er zum erstenmal ins Haus kommen is … Und die Krottenhoferin, der Herr Kooprater kennts eh – alsdann die Krottenhoferin, wo von der alten Wiesgräbnerin doch die Tochter is, die was auf den Krottenhof g'heirat hat, die hat die Mutter acht Täg drauf g'sehn, mitten im Höllenfeuer drinnen, und daß die Straf leiden muß, hat die Alte g'sagt, weil daß ein solchenen Ungläubigen ins Haus g'rufen hat, damit daß er sie kuriert …«

»Aber so etwas sollt Ihr nicht glauben, Stegmüller,« rügte Benedikt; »und weitererzählen schon gar nicht.«

Der Stegmüller spuckte zur Seite.

»Na, was halt so alte Weiber reden tun.«

»Eben, alte Weiber. Und zu Eurer Frau habt Ihr ihn doch gerufen, den Doktor.«

»Mei na, man probiert's halt. Kannst ja beichten, auf alle Fäll. Ich sag nur grad. Könnt ja wirklich auftreffen, daß so einer mit dem Teufel ein Kontrakt hat, net? Was man so liest in alte Kalender …«

Siebenschein lachte verärgert.

»Nein, Stegmüller, an solche Sachen dürft Ihr nicht glauben. Dazu seid Ihr viel zu gescheit. Mit dem Teufel hat der Herr Doktor so viel und so wenig zu schaffen wie jeder Mensch. Das ist gar nicht christlich, solche Verdächtigungen auszusprechen.«

Der Stegmüller klatschte mit der Peitsche.

»Na, wenn's der Herr Kooprater sagt, dann wird's schon so sein. Aber der Dechant drunten in Sanktrain, der hat's anders scharf auf den Doktor. In dem Blattl, wo der Herr Dechant hineinschreiben tut, da soll ja eine ganze Massa drin stehn über den.«

»Der Herr Dechant hat vielleicht seine besonderen Gründe,« verteidigte Benedikt; »das geht aber uns nichts an. Glauben ist gut und notwendig, Stegmüller, aber Aberglauben ist eine Sünde.«

Der Stegmüller lachte gezwungen.

»Der Herr Kooprater hört mir ja unterwegs gleich die ganze Beicht ab. Wenn's aber so kuriose Sachen gibt! … Die G'schicht mit dem Madel drüben in der Sanktrainer Pfarr, von der Schwandtner Emmrenz, von der G'sundbeterin die Regula! … Was soll man da glauben und net glauben?«

»An frommen und guten Menschen läßt Gott zuweilen Zeichen geschehen,« sagte Siebenschein; »ich weiß nichts Genaues über den Fall. Es ist ja fast niemand zugegen gewesen. Unmöglich ist das gewiß nicht. Vielleicht wiederholt sich das – das Wunder. Dann werden wir ja Näheres hören.«

»Na, und da is der Doktor drüben hergangen wie der Stößer über die Tauben,« sagte der Stegmüller; »daß sowas überhaupts net gibt, und daß all's bloß ein Unsinn is, und ein Schwindel und was weiß ich noch. In dem Blattel, da wo der Herr Dechant hineinschreiben tut, soll ja ein ganzes G'setzl dadrüber g'wesen sein, net grad mit Namen, aber so, daß ein jeder hat schmecken können.«

»Der Herr Doktor hat gewiß recht, wenn er sagt, daß solche Fälle sehr selten sind,« belehrte Benedikt; »wenn sie häufig wären, wäre ja kein Wunder dabei. Das hat der Herr Doktor wahrscheinlich auch gemeint. Und er ist vielleicht von irgend jemand mißverstanden worden. Und Ihr wißt ja, wie verleumdet wird … Das hier ist Euer Grund, nicht, Stegmüller? Ist das nicht der Acker, wegen dem Ihr den langen Prozeß mit dem Tafernwirt geführt habt? Ich habe einmal davon gehört. Und dann habt Ihr Euch irgendwie verglichen, nicht? …«

Und der Stegmüller begann allsogleich weitausholend die Vorgeschichte des Prozesses zu erzählen, dieses berühmten Prozesses, der mit seinen Wurzeln bis in die grauen Großväterzeiten hinabreichte und in seiner ganzen Wichtigkeit ein Stück Unzinger Weltgeschichte ausmachte. Als die Pfarrkirche durch das frühe Regenzwielicht herandämmerte, war der Bericht noch nicht einmal bei der ersten Instanz angelangt.

Jetzt hielt das Wägelchen vor dem Tore des Pfarrhofes.

»Ich danke Ihnen vielmals, Stegmüller,« sagte Benedikt; »für die Fahrt und für die Geschichte …«

»Wo ich noch net einmal im ersten Viertel bin,« zürnte der Stegmüller; »also, daß ich's g'schwind sag – wie das Urteil von der ersten Instanz kommen is, ich mein vom Bezirksgericht drunten, wie das kommen is, das Urteil, und ich les durch, zweimal, dreimal, zehnmal – denn sowas muß man zwölfmal lesen, ehdaß man's versteht – wie ich das durchles, Andreas, sag ich zu mir selber, da gibst net nach und wenns Ganze draufgeht, Recht muß Recht sein, sag ich zu mir selber – –«

»Das Pferd ist heiß und wird sich verkühlen,« unterbrach ihn Siebenschein; »bleiben wir da stehen, Stegmüller, Recht muß Recht sein, und wenn alles draufgeht. Und grüßen Sie Ihre Frau. Und Sie soll nur die Vorschrift vom Herrn Doktor genau befolgen. Und gute Nacht!«

Das Wägelchen rasselte davon. Benedikt schritt langsam auf das Pfarrhaus zu.

Und nun wußte er mit einem Male, daß er hier bleiben würde, daß er hier bleiben müsse. Mit ganz neuem Gefühle trat er über die Schwelle, bitter und wund, verwirrt und doch seltsam gestärkt. Er tastete sich die schmale Treppe hinauf und ging nach seiner Stube. Im Ofen prasselte helles Feuer; flatternder Widerschein der Flammen huschte über die Wände. Siebenschein legte den Hut und den nassen Mantel ab. Dann öffnete er eine Lade seines Schreibtisches. Mit sicherem Griffe zog er einige beschriebene Blätter hervor. Er rückte sich einen Stuhl vor den Ofen und öffnete die Eisentüre, um beim traulichen Feuerschein seinen Entwurf noch einmal durchzulesen. Aber plötzlich besann er sich eines anderen. Er zerriß die Blätter von oben bis unten und schob sie in die goldenen Flammen.


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