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VI.

An einem Tage im heißesten Sommer, gerade an Sankt Margarethen Vorabend, erfüllte sich das Längstersehnte: Frau Ingeborg Sartorius hielt feierlichen Einzug in Unzing, gefolgt von zwei hoffärtigen Wagentürmen, betreut von einer zieren, schnaken Zofe und begleitet von einem auffallend häßlichen Hundezwerg.

Ihr Eintreffen hatte sich wochenweise verspätet. Mit desto größerer Spannung sahen die Unzinger dem bedeutenden Gaste entgegen.

Ein Vorläufer dieser Ereignisse beunruhigte schon seit etlichen Tagen die dörfliche Stille mit allerhand unerfüllbaren, unerhörten und frevelhaften Wünschen. Es war die Schaffnerin des künstlerischen Haushaltes, Fräulein Pauline, eine verschwenderisch ausgestattete Dame von namhafter Beredsamkeit und kleinen, schwarzen, kundigen, boshaft beweglichen Augen.

Hier würde die Gnädige auch nicht drei Tage bleiben, erklärte sie mit entschieden eingestemmten Armen – hier, wo man nichts bekomme, hier zwischen krähenden Hähnen und bellenden Hunden und plärrenden Kindern, hier in ländlicher Langeweile zwischen maulfaulen Bauern. Und wenn schon die Gnädige auszuhalten sich entschließe, so würde einfach sie gehen, dann würde sich ja zeigen, wer der bestimmende Teil sei, so etwas sei sie nicht gewohnt und auch nicht willens näher kennen zu lernen.

Dies versichert, schickte Fräulein Pauline sich an, gewaltige Vorräte teils aus mitgebrachten Kisten auszufrachten, teils ohne Ansehung des Preises zu sammeln. Mit dem Vermieter, dem ob solchem Aufschwung seines soliden altangestammten Betriebes gänzlich aus dem Gleis geworfenen Tafernwirte, wurde vereinbart, daß er jeden Tag beim Fleischermeister Schlögel in Sanktrain drunten frische, ausgesuchte Ware zu besorgen habe. Ja, dem Fleischermeister Schlögel wurde in Person Besuch abgestattet, auf daß er der Ehre und Dringlichkeit seiner Geschäftsverbindung auch gebührlich inne werde. Hauptsächlich aber entfaltete die Dame eine umfassende Tätigkeit im Eggerhofe selbst, allwo drei Tage lang ein stattlich Aufgebot Unzinger Weibersturmes mit Bürsten, Besen, Hadern und Überschwemmungen namhafte Veränderungen herbeizuführen sich bestrebte, von Fräulein Pauline mit ordnendem Befehl und Antrieb mehr als mit ergänzender Tat unterstützt. Solche Zurüstungen vor Augen und die einleitende Absage im Gedächtnis, mußten die Dorfsassen von den kommenden Geschehnissen mit Recht weitgehende Verschiebungen ihres bisherigen Weltbildes befürchten.

Endlich, nach mehrfachen verwirrenden Ankündigungen und Widerrufen und nach einem aufsehenerregenden, weil in solcher Lebhaftigkeit nicht landesüblichen Depeschenwechsel, reifte die große Stunde der Erfüllung heran. Blitzblank harrte der Eggerhof seines berühmten Gastes, Fräulein Pauline, in blühsauberer Schürzentracht, hielt von der Schwelle ungeduldige Ausschau, in der Zeile stand und verweilte das Volk. Soweit vergab sich allerdings kein Unzinger, daß er etwa sichtlich auf diese Ankunft gepaßt, ihretwegen irgend etwas getan oder unterlassen hätte. Allein was ausdrücklich nicht geschah, das geschah verhohlen, unter billigen Vorwänden, mit ein bißchen Hinzögern da und ein wenig Beeilen dort: so daß ganz Unzing auf den Beinen, auf der Straße oder hinter den Zäunen war, als ein feines Staubsäulchen in der Vorhügelferne das Ereignis zur Wahrscheinlichkeit machte.

Feierlich rollte das Karößlein des Tafernwirtes, von den schweißblanken Braunen gezogen, zwischen den Häusern hinan, empfangen zwar nicht von grünumkränzten Ehrenpforten und Böllerschüssen wie des Bischofs Gefährte, aber doch wenigstens von Spalieren verdrossener Neugier, von dumpfem, gierigem und vorsätzlich widerstrebendem Staunen. Wie einen fremden, feindlichen Eindringling, so nahm Unzing die neue Zeit in seine Pfähle auf.

Aber Ingeborg Sartorius blieb Siegerin in diesem stillen Kampfe: gleich einer huldvollen Königin hielt sie ihren Einzug.

Denn so kam es: Die dem Wägelchen wie von ungefähr begegneten, den Rechen oder die Forke über der Schulter, schwere gestandene Bauern und erbitterte Matronen und neidisch Jungweibsvolk, sie alle vermochten an den großen klaren Augen, die ihnen ins Gesicht strahlten, nicht vorbeizugehen, ohne wie gebannt hineinzuschauen, noch auch waren sie imstande, der ihnen entgegenleuchtenden Heiterkeit einen Gruß zu versagen, der trotz inneren Widerstrebens schier ehrfürchtig ausfiel. Und Ingeborg Sartorius erwiderte mit blitzendem Blick und gütig lachenden Lippen; als verschenkte sie nach beiden Seiten ihres Weges Rosen und Krönungsdukaten, so huldreich belustigt winkte sie den Buben, die in ihr Gaffen verloren an Hüten und Nasen herumfingerten, mit der behandschuhten Rechten Mut zu, den alten Herrn in gewürfelten Pantoffeln, der sich feurig vor ihr verbeugte, belohnte sie mit schelmischen Neigen des Kopfes, die wohlerzogene Reverenz eines jungen Priesters mit gelassener Anmut. Halb siegesbewußt, halb verurteilt saß der Tafernwirt auf dem Kutschbock; eine solche Fahrt war ihm noch nicht vorgekommen. Der Hundezwerg aber thronte auf dem Schoße seiner Herrin und glotzte aus rotgeränderten Eulenaugen in die vorüberziehende Fremde, ohne irgend Ergriffenheit oder Freude zu bekunden.

In den Eggerhof und Fräulein Paulinens Wortschwall mündete endlich die Reise.

Hinter dem Einzuge schlugen die Meinungen und Vorurteile zusammen, ohne daß dieser oder jener unter seiner Würde Erstaunen gezeigt hätte. Mei, na, von der Komödi ane halt, sagte der eine; freili, freili woll, beim Schlechtsein, da verdienst das Meiste, ergänzte die Bäuerin; Stadtluder sündhaftes, entschied der dritte. Darin war man sich vorläufig jedenfalls einig, daß grundsätzliches Ablehnen jeder Bewunderung das Gemüt am besten vor Überrumpelungen jeder Art bewahre.

Nur Peregrin Kranich, der schon am zeitigen Nachmittage Aufstellung vor seiner Kanzlei genommen, verleugnete in der Heftigkeit seiner Ausbrüche keineswegs den verbannten Weltbürger, den ein grüßender Strahl aus früheren Lichtjahren schmerzlich süß an die Seele gestreift, gedunkelte Bilder aus ihrer Vergessenheit aufscheuchend. An Siebenschein, der ihm gerade in die Begeisterung lief, entlud er seine drängende Beredsamkeit.

»Ja, nicht wahr, Herr Doktor? Haben Sie gesehen, Herr Doktor? Ja, wir kennen uns aus, wir Kosmetiker, wir Psychologiker, nicht wahr? Wie sie mich gegrüßt hat, ganz anders als die anderen! Ja, der Peregrin Kranich! Man merkt ihm den Schliff der Welt noch immer an, den Umgang mit Menschen! … Ja, wie ich noch bei Jahren war, damals auf meinen großen Reisen durch die mittäglichen Provinzen Deutschlands, über Dresden nach Leipzig und von da nach Magdeburg und Hamburg und Bremen und Köln und Frankfurt – ja, Herr Doktor! Damals hab ich mit gebrochenen Mädchenherzen gespielt wie mit Blumen, nur über Mädchenleichen ist mein Weg gegangen, Herr! … Und darum kenn ich sie, die Weiber, es sind immer wieder dieselben seit Semiramis und Agrippina, und darum sage ich dem, der es versteht: das ist die große Babylon des heiligen Apokalyps!«

Siebenschein, der eben zuvor selbst dem Gaste begegnet und für seinen züchtigen Gruß schicklich bedankt worden, hörte geduldig zu, ganz verloren an das flüchtige Erinnerungsbild der Fremden. Eigentlich hatte er davon nichts erhascht als den Eindruck von zwei großen, brennend klaren Augen, mit einem schmucken Reisehut darüber, dessen knappe Einfachheit die großartigen Verdächtigungen des Schreibers in nichts rechtfertigte.

»Die große Babylon des heiligen Apokalyps,« wiederholte Kranich gesteigert; »so sieht sie aus in der hoffärtigen Blüte ihrer Sünden, und dann ist das Reich nicht mehr fern. Auf einem siebenköpfigen Drachen Namens Levi Nathan kommt sie angeritten und vermählt sich mit dem Antichrist! Ja, nicht wahr, Herr Doktor? … Aber was weiß dieses Volk davon, diese Rotte Koran? Unsereins aber hat den heiligen Apokalyps gelesen und alle sieben Siegel erbrochen, unsereins kennt sich aus.«

Mit gewaltigen Prophetengebärden bedräute Peregrin Kranich die Zuhörer, so um ihn sich scharten.

Eben tauchten die beiden schwankenden Wagentürme als Nachhut und Troß des eingedrungenen Feindes auf. Allsogleich bemächtigten sich ihrer des Schreibers grausige Gleichnisse.

»Und dort nahen die Schiffe, beladen mit Tyrus und Purpur,« verkündete er in seherischer Begeisterung; »ich aber sage euch, wehe dir, Sidon, denn wo Astarte sich niederläßt, da bleibet kein Stein auf dem anderen. Heute ist die Zeit kommen für Unzing, heute ist die ägyptische Plage der Fremdherrschaft ins Land eingefallen, zum Ninive ist es geworden, wo Unzucht, Völlerei und Metaphysik die arkadische Tugend vertreiben … Sehet die Flotten Babylons, befrachtet mit Seide und Abyssus und lasterhaftem Scharlach! … Aus diesen Koffern wird die Sünde kommen über euch, das sage ich euch, denn ich habe alles gesehen in den großen Städten, von denen ihr nicht einmal die Namen ahnt, zu Berlin auf der Friedrichstraße und zu Leipzig auf dem Brühl und zu Hamburg im Hafenviertel … Was wißt ihr von der großen Babylon, die ihr die Welt nicht kennt!«

Siebenschein stahl sich weg, um nicht des Volkes lauschende Andacht zu stören, während Peregrin Kranich, einmal entfesselt, darin fortfuhr, vor den erschütterten Seelen seiner Gemeinde mächtige Schreckensperspektiven aufzureißen.

Etwas wenigstens erreichte er: am selbigen Abende war noch viel Haders in Unzing. So nachhaltig und unversöhnlich schimpfte das ältere Weibervolk auf den fremden Vogel, daß die Männer, des Gekeifs überdrüssig, sich da und dort dawider erhoben und in wachsender Erbitterung für den Gast Partei nahmen.

»Jetzt hörst amal auf mit dem G'schimpf, das hammir ja schon g'hört, fein anzogen is, alsdann, und a feins Herg'schau hat's, da kannst nix machen. Eh bloß der Gift, hä?«

»So seids ihr Mannsbilder überanand. Was recht vermenschert is und aufg'statzt und ang'strichen, auf das fliegts. Bloß schlecht braucht eins zu sein, dann hat's Glück bei euch, mit der Schlechtigkeit, da macht man euch das Geld roglig in der Taschen, hä?«

»Jetzt haltst amal 's Mäu, ja? … Und no amal sag i's, fein herschauen tut's, fein anzogen is, da kannst nix machen, grad dir zum Trutz, daß d's nur weißt. Eh bloß der gemeine Gift, das kennt man eh, a Mannsbild wann's wär, da ging's anderschter, die Red …«

»So, no schöner. Und so was muß ma si bieten lassen wegen so aner – Daherg'laufenen, wo ma gar nix G'wisses weiß? …«

»Geld ham tut's, fertig. Das Geld, das is das G'wisse, mehr braucht's net auf dera Welt. Ihr Weiber überanand, wanns nur auf aner anderen herumhacken könnts, wanns a Saubere is …«

»Und ihr Mander, wanns bloß so ane Schürzen sehts, glei's Fuir im Dach!«

»Das Mäu haltst …« »Und wann i's net halt? …« »Giftkrot, g'hassige …« »Mentscherer, damischer, alter, damischer …«

Die braun und blau geprügelte Erlhoferin und der blau und braun geschlagene Puchinger – das war Ingeborg Sartorius' Antrittserfolg.

* * *

An einem schwülen Nachmittage ging Benedikt nach Sankt Korbini hinauf. Ein Seitenaltar dieses kleinen alten Gotteshauses war dem heiligen Christoph geweiht. Ihm zu Ehren wurde an dem seinem Feste folgenden Sonntage die Vormittagsmesse im Bergkirchlein gelesen, wie auch am Korbinisonntage und am Sonntage auf Sankt Brigitten, der Heiligen der Ödhofbäuerinnen. Dieser Brauch bestand seit jeher in der Unzinger Pfarre, und die Oberleute betrachteten ihre drei Messen als eine Art von pflichtigem Seelenzehnt.

Diesen abzustatten fiel nun Siebenschein zu. Deshalb wollte er noch am Vorfreitage mit dem Meßner und Totengräber von Sankt Korbini, dem Greißviertler, nach dem Rechten sehen und alles aufs möglichste für die kleine Feier zurüsten.

Der Weg führte über den Kritzenberg, der steil und dunkelgrün hinter den letzten Höfen des Dorfes hinansteigt, die Schwelle zwischen Ober- und Unterpfarre. Benedikt entschied sich für den Fußpfad, der beim Totenkreuz mit der Bergstraße sich wieder vereinigt, wegen des Waldschattens anmutiger zu wandern als diese. So mußte er am Eggerhofe vorüberkommen, dem höchstgelegenen Anwesen von Unzing, etwas abseitig vom übrigen Dorfe in den grasigen Anrain des Hanges hineingebaut. Gerade vor dem Zaune des Hofes wendet sich der Pfad und streicht in anfänglich gelindem Anstieg quer durch die Wiesenhalde auf den dunklen Wald zu.

Kurz vor Benedikt trat eine Frau durch das Zauntor und schlug lässig den Weg nach dem Bergwalde ein. Ohne Zweifel die fremde Dame, dachte Siebenschein, unschlüssig, ob er sie überholen dürfe. Sie trug ein seltsam loses, weites, hochgegürtetes Gewand aus apfelgrünem Stoffe. Ein tiefer Ausschnitt ließ den bräunlichen Nacken frei. An dem bis über die Ellenbogen hinauf bloßen Arme schaukelte der ungeheuerlich breitkrämpige Strohhut. Ein feiner, fremder Geruch zog hinter der Frau her, wie sie so einsam und gelassen den Wiesenrain hinanschritt. Benedikt geriet auf die Spur des Duftes und blieb wider Willen stehen, wie jemand, den ein aus verschlossenen Gärten herüberwehender Blütenhauch zum Verweilen zwingt. Gierig sog er die wohlige Witterung ein. Es war eine zarte Würze darin, die bei vollem Genuß hätte Herzklopfen und Schwindel erregen können. Jetzt blieb die Dame im Grün stehen. Siebenschein konnte nicht anders, er mußte sie einholen. Das Sonnenlicht fiel in ihr volles dunkles Haar und verbrämte es mit einem düsterglimmenden, weinroten Saum. Deutlich sah Benedikt das allmähliche Verflaumen der Flechten im wachsbraunen Nacken. Nun bog er nach links aus und trat in die Wiese; mit wohlerzogenem Gruße ging er vorüber. Die Dame neigte gemessen den Kopf, Benedikt ahnte sich von einem scharf gezückten Seitenblicke gestreift, von einem verstohlenen Lächeln verfolgt. Aber er sah sich nicht um und erreichte aufatmend den Schutz des Bergwaldes.

Da er zurückkehrte, sank schon die Dämmerung. In der dumpfen Abendschwüle schwirrte der stechendfeine Mückengesang; um die fernen Berge überm Flusse spielten blasse Blitze. Eigentlich hatte Benedikt zur Heimkehr die Straße einschlagen wollen, da sie dem Niedersteigenden immerfort einen schmalen, waldumrahmten Fernblick in die Landschaft bietet. Aber es war über den Vorbereitungen und umständlichen Besprechungen mit dem Korbinimeßner spät geworden, und Pfarrer Permoser besaß selbst für amtsnotwendige Versäumnisse kein Verständnis. So kam Benedikt zum anderen Male am Eggerhofe vorüber.

Tatsächlich hatte er die fremde Dame inzwischen vergessen. Als er aber aus dem tiefdämmerigen dumpfen Walde in die Wiese hinaustrat, wurde er augenblicklich an sie erinnert, und ihr Bild erstand Zug um Zug in seinem Gedächtnis. Wieder schlug ihm jener süße, seltene, künstliche Duft entgegen, der von ihr ausging und ihre Nähe verriet. Dort stand sie auch, mitten auf dem Wiesenpfade, den Rücken nach dem Walde gekehrt. Im unsicheren Zwielicht hob sich die Farbe ihres Kleides nicht mehr vom Rasen ab, aber ihr Nacken schimmerte matt und an ihrem nackten Arme schwankte der große flachsgelbe Strohhut. Die unsteten Phosphorfunken der Glühkäfer huschten um sie her. Still und schwül lagen die Glühwürmer im Grase. Die Dame wandte sich nicht um, als Benedikt dicht hinter ihr hielt, einen Augenblick zögernd; er selbst wußte nicht, weshalb er es tat. Gespannt sah sie über das Dorf und das dunkelnde Tal hinweg, dem heraufblitzenden Wetter entgegen. Jetzt trat Benedikt zur Seite und ging mit scheuem Gruße an ihr vorüber. Da blickte sie ihn frei an und gab ihm den Gruß zurück. Ihre Stimme klang tief und rauh, ihre Augen strahlten. Jäher Blitzschein überflackte ihr Gesicht. Einen Herzschlag lang starrten sie einander an. Er sah ihren großen ausgeprägten Mund mit den schmalen Lippen, den vollen Hals, das düsterblutrote Aufglimmen in ihrem Haar. Er selbst fühlte sein Gesicht aufglühen, als sei die Wetterflamme hart an ihm vorübergefahren. Da versank die Erscheinung wieder in geblendetes Dunkel, und Siebenschein ging eilends weiter, wie jemand, der dem Blicke eines Beobachters zu entfliehen trachtet.

* * *

Sankt Christoph zu Ehren hatte Benedikt seine Predigt so eingerichtet, daß er vom Evangelium des Sonntags, der Warnung vor den falschen Propheten, auf die schöne Legende des Heiligen zu sprechen kam, gleichsam von dieser aus das Heilandswort erläuternd und durchleuchtend. So voll war er seines Stoffes und der Gleichnisse, daß er die Kanzelrede in wenigen Stunden aus dem Stegreif hinschrieb und dann auch schon Wort für Wort im Herzen trug. Nebenher wollte er aber auch des Apostels Jakobus gedenken, dessen Fest mit jenem des heiligen Riesen zusammenfiel und an dessen Leben und Wort und Glaubenszeugnis so manches sich überzeugend deuten ließ; wie auch er die Bürde des Erlösers durch das reißende Gefäll der Gefahren getragen bis an das jenseitige Ufer, in die Ewigkeit – wie er ein guter Baum gewesen und durch seine edlen Früchte sich geoffenbart – wie er als Zwölfbote einer von den rechten Propheten gewesen, einer von den treuen Wahrsagern und daher ein Liebling der Legende gleich dem Blutzeugen Christophorus: und von hier aus fand sich Gelegenheit, wieder zum Evangelium des Sonntages beschließend zurückzukehren.

Die kleine steinerne Kanzel, von der aus Benedikt predigte, stand außerhalb des Kirchleins, in der Nische zwischen diesem und dem vorspringenden Glockenturm. Denn das alte Gotteshaus vermochte nicht die Menge der Gläubigen zu bergen, die zu den drei Festtagen hier zusammenströmten. Die Mehrzahl der Beter kniete oder stand während des Meßopfers im Gottesackergarten, der, von einer breitausladenden Linde übergrünt, von grober Rauhmauer eingefaßt, die kleine Kirche rings umgab. Das silberne Schellenstimmchen, gefolgt vom Geläut der Turmglocke, vermittelte den Außenstehenden den Fortgang der heiligen Handlung; Gottes Wort aber und die Rede des Geistlichen erging unter freiem Himmel an alle, und aus seligem Sommerblau oder heraufdunkelndem Wetter, aus der Stille der Berglandschaft und dem leisrauschenden Laub der Friedhofslinde sah der Vater seinen Kindern zu, belauschte er sich selbst, gütig lächelnd zum inständigen Murmeln der Einfalt.

Benedikt freute sich des Anblicks, da er nun die Kanzel betrat. Es war ein leuchtender Tag voll Gold und Friede. Rings in den Bergäckern standen die schimmernden Garbenzelte, leise gloste die Wärme, hoch über Glockenklang und vergraste Gräber hin träumten die zarten Erntewolken. Solch eine Predigt hatte er sich schon lange gewünscht, im Angesichte der Felder, des täglichen Brotes, der heiligen Arbeit. Von da war es nicht weit nach den ewigen Wohnungen; von solcher Nähe empfing das Wort ganz neue Deutung und inneres Licht, daß es versöhnend hinstrahlte über dieses Lebens armes Sorgen und Sammeln.

»… Nicht ein jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Himmelreich eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist, der wird in das Himmelreich eingehen!«

Benedikt schloß das Evangelienbuch und sah über die Gemeine hin. Leise Bewegung lief durch die Leute. Etliche setzten sich auf die niedrige Kirchhofsmauer, andere kauerten sich auf die Grabhügel. Siebenschein wartete, bis jeder seinen Platz gefunden. Ein starkes, stolzes Hochgefühl schwellte ihm wärmend das Herz. Niemals noch hatte er sich so innig Priester gefühlt als zu dieser Stunde. Ihm war, als müsse er in überströmender Dankbarkeit seine Seele denen hingeben, die ihn lauschend umlagerten, diesen alten, harten, braunen Männern, den treuen Müttern und Frauen, dem Volke. Ganz still war es geworden im engen Bezirke des Totenackers. Ein frühwelkes Blatt löste sich aus dem schattigen Laub der Linde und sank in zögernden Kreisen zu Boden. Der rosenbraune Häher kam aus dem nahen Gehölze angestrichen, schwang sich zu flüchtiger Rast ein und flog eilends weiter hinaus in den flimmernden Sommer. Ein kleiner Specht tickte hoch droben im Baume. Die Herzen schlugen; die Ewigkeit stand eratmend still über Weihe und Gottesfriede der Stunde.

»Wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist, der wird in das Himmelreich eingehen …«

Mit den Schlußworten des Evangeliums leitete Benedikt seine Bergpredigt ein.

»Der Wille unseres Vaters im Himmel, meine lieben Christen – was ist der Wille unseres Himmelvaters? Täglich sagen wir es uns vor: daß wir ihn als Schöpfer Himmels und der Erden erkennen; daß wir seinen Namen heilighalten in unseren Gedanken und Worten, Wünschen und Handlungen; daß wir uns nach seinem Reiche sehnen, dem Reiche des Lichtes und der Liebe; daß wir seinen unerforschlichen Willen demütig an uns geschehen lassen zu jeder Stunde, in Freud und Leid, in Glück und Not, bei Arbeit und Ruhe; daß wir uns bei Säen und Ernten seiner Güte bewußt bleiben, daß wir nicht vergessen, wie alles von ihm kommt, der Regen, der unser täglich Brot zum Halme erweckt, der Sonnenschein, der es in der goldenen Ähre sich bereiten und reifen läßt; daß wir immerdar eingedenk seien der Schulden, die wir stündlich begehen mit Wunsch, Wort und Tat – aber auch der allerbarmenden Güte, die jederzeit getreu über uns Kleinen wacht und dem wahrhaft Reuigen, dem verlorenen Sohn, der heimkehrt in die Arme des Vaters, die Vergebung nicht versagt; daß wir selbst uns im Verzeihen üben sollen und denen, die uns Schaden oder Schmerz zugefügt, von Herzen vergeben, da sie doch schwache Menschen sind gleich uns und wir fehlbar sind gleich ihnen; daß wir ihm unsere Armut kindlich eingestehen und gewärtig seien der Gefahr, die uns immer allerorten umgibt, in der wir zugrunde gehen müssen, wo er uns nicht vor Verführung barmherzig bewahrt; daß wir uns in seine Hände befehlen und nach seiner Nähe uns sehnen, wo keine Trübsal mehr ist, keine Nacht und keine Bedrängnis, sondern nur Licht und Lust und Wahrheit und Ewigkeit …«

Der Prediger hielt inne. Ein schöner Falter mit goldverbrämten Schwingen zog über die Köpfe der Lauschenden hinweg, ließ sich flüchtig auf das geschlossene Evangelienbuch nieder, entschwebte in anmutigem Gaukelflug. Am sonnenheißen Gemäuer des Kirchleins brummte die stahlblaue Mörtelbiene.

Benedikt holte Atem.

»Aber nicht mit meinen schwachen Worten will ich euch heute des Herrn Willen deuten, sondern mit den Worten und Taten der Heiligen, deren Fest uns diesen Sonntag verklärt.

»Ihr alle kennt das Bild des Sankt Christoph, das den Männeraltar unseres Kirchleins ziert und das wir heute mit Nelken und Rosen und frischem Grün geschmückt haben. Auf seinem Rücken trägt der gewaltige Heilige das kleine Jesuskind durch den reißenden Strom; rings um ihn ist schwarze Gewitternacht, dem Heiligen aber reicht die schäumende Flut schon bis an den Bart. Denn die Bürde, die ihm anfangs so federleicht gedünkt, ist schwer wie das Weltall geworden auf seinen breiten Schultern, immer tiefer drückt sie ihn in die Wogen hinab, unsicher tastet der Fuß nach festem Halt im versinkenden, gerölligen Grunde. Da wendet Christophorus sein Gesicht dem Kinde zu: Kind, wie bist du schwer, Tausende schon habe ich durch den Fluß an das andere Ufer getragen, du aber wirst mir zu gewichtig und wir werden untergehen! Da spricht das Kind zu ihm: Du trägst nicht allein das Weltall auf deinem Nacken, sondern den, der Himmel und Erde erschaffen. Und du sollst fürderhin Christophorus heißen und mir dienen, so wirst du nicht untergehen …

»Wenige nur von euch werden wissen, was der griechische Name Christophorus besagt. Er heißt zu Deutsch: Träger Christi. Die Legende erzählt uns, daß Sankt Christoph vordem ein Heide Namens Offerus gewesen. Dieser Offerus war acht Fuß hoch und mit ungemeiner Stärke begabt. Deshalb wollte er nur dem Stärksten auf Erden dienen, und so kam er an den Hof eines mächtigen Königs. Der König liebte den Offerus sehr wegen seiner großen Kraft und war seiner Dienste froh. Nun begab es sich aber, daß einst ein fahrender Spielmann vor dem Könige sang und in einem seiner Lieder den Teufel nannte. Da erschrak der König und zeichnete sich mit dem Kreuze. Das sah der starke Offerus und er wunderte sich, und er fragte seinen Herrn so lange, bis dieser ihm gestand, er habe sich gegen die Gewalt des Bösen mit dem heiligen Zeichen schützen wollen. Da sagte ihm Offerus den Dienst auf, denn nur dem Stärksten wollte er gehorchen, und nun sah er ein, daß der Teufel mächtiger sei als der König. So verließ er den Hof und wanderte durch die Länder, im Teufel seinen Meister zu finden.

»Eines Tages begegnete er einem schwarzen Ritter, in dem erkannte er den Teufel, und ihm verdingte er sich nun als Knecht. Aber nicht lange, so sah er, wie sein neuer Herr auch einen über sich fürchtete. Sie kamen miteinander an einen Kreuzweg, da stand das heilige Zeichen der Erlösung aufgerichtet, wie wir es noch heute so gerne an unseren Straßen begrüßen. Da bog der schwarze Ritter weit ins Feld, daß er nicht an dem Kreuze vorüber mußte. Des wunderte sich der starke Offerus, und so lange drang er mit Fragen in seinen Herrn, bis dieser ihm gestand, wie sehr er das Zeichen fürchte und immerdar fliehen müsse. Nun kündete Offerus auch ihm den Dienst und wanderte wieder durch die Länder, den Herrn Jesum Christum zu erfragen, der also der Stärkste und Gewaltigste sein mußte. Schließlich gelangte er zu einem frommen Einsiedler, der mit den wilden Tieren und Bäumen in der Stille lebte, wie etwa unser Heiliger von Sanktrain – und der erzählte ihm von Jesus Christus, wie er König sei über aller Welt und allem Geschaffenen und seine Getreuen herrlich zu lohnen wisse, und er unterwies den Heiden Offerus in den Lehren unseres Glaubens, bis sie Eingang fanden in die Seele des wilden Heiden. Nur fasten, wachen und beten wollte der starke Offerus nicht, und er bat den Einsiedler, er möchte ihm doch einen anderen Weg weisen, wie dem neuen unsichtbaren Herrn zu dienen. Da führte ihn der Einsiedler an den wilden, reißenden Fluß, über den führte weder Brücke noch Steg, nur eine Furt war da, die konnte ein hoher starker Mann zur Not durchwaten. Diese Furt zeigte der Bruder Einsiedel seinem Schüler und wies ihn an, hier sich eine Hütte zu bauen und die Leute, die etwa über den Fluß setzen wollten, um Gottes Lohn hinüberzutragen, denn auch auf solche Weise mache er sich dem Herrn gefällig. Dieser Dienst gefiel dem starken Offerus, und er wohnte am reißenden Flusse und trug auf seinen breiten Schultern die Menschen durch die Flut.

»So pflag Sankt Christoph in Demut seiner Arbeit, viele Jahre lang, Tag und Nacht. Eines Nachts aber, da er schlief, hörte er im Traume, wie eine zarte Kinderstimme ihn rief. Er sprang auf und trat vor die einsame Hütte, aber da war niemand zu sehen. Und er legte sich wieder zur Ruhe, denn er meinte, er habe geträumt. Allein die feine Kinderstimme rief ihn zum zweiten und zum dritten Male, und nun fand Offerus das Knäblein, das am Ufer stand und um Gottes Lohn durch den dunklen, reißenden Strom wollte getragen werden. Willig hob Sankt Christoph die leichte Last auf seine Schultern und schritt damit getrost in die schäumenden Wogen hinein. Wie er aber gegen die Mitte der Furt gelangte, da wurden die gurgelnden Wasser immer tiefer und mächtiger, und die Last des Kindleins drohte ihn niederzuziehen. Der starke Offerus keuchte und rang und stemmte sich gegen das treibende Geröll, das gegen seine Füße schlug, und er wühlte sich in die schweren Wellen, die jeden seiner unsicheren Schritte unterspülten und abdrängten von der Furt. In dieser Not schrie er auf und klagte das Kindlein an, daß es so schwer auf ihm laste, als sei es von Blei und gewichtig wie die ganze Welt. Und die feine Kinderstimme antwortete: ›Du trägst auch nicht allein die ganze Welt, sondern den, der Himmel und Erde erschaffen hat.‹ Bei diesen Worten tauchte es mit gewaltiger Kraft den starken Offerus unter die Flut und sprach zu ihm: ›Ich bin es, den du gesucht hast als mächtigsten Herrn, Jesus Christus, dein König, dein Gott, durch den du arbeitest. Und ich taufe dich im Namen meines Vaters und in meinem eigenen und im Namen des heiligen Geistes, und hast du bis nun Offerus geheißen, so sollst du von nun Christophorus sein, zum Zeichen, daß du mich auf deinen Schultern getragen. Und den Stab, der dich stützt, den sollst du in die Erde pflanzen, an ihm wirst du mich erkennen.‹ Da tauchte Sankt Christoph wieder aus den Strudeln hervor und trug mit wankenden Knien das Kindlein ans andere Ufer, die Wasser traten zurück, und da er das Land gewann, war er allein in der Nacht. Und er stieß seinen Stab in die Erde, und siehe, am anderen Morgen war es ein grüner Baum, der blühte und trug Früchte. Da erkannte Sankt Christoph die Gnade, die an ihm geschehen war, und dankte Gott und ging in die Welt, ihm mit besserer Tat zu dienen. Das, meine lieben Christen, ist die Geschichte von Sankt Christoph.

»Es ist eine der schönsten Geschichten unserer Heiligen-Legende. Denn, meine lieben Christen, wer ist Sankt Christoph? Sankt Christoph, das sind wir selbst. Als ungetaufte Heiden wohnen wir am Ufer des reißenden Stromes, der Leben heißt. Diese Tiefe müssen wir durchwaten, um hinüber in die Ewigkeit zu gelangen. Und eines Nachts werden wir durch die zarte Kinderstimme aufgeweckt. Der Herr Jesus befiehlt, daß wir ihn durch unser Leben hindurchtragen und mit ihm die Last seines Kreuzes, in ihm die Bürde unserer Pflichten. Anfangs scheint es leicht, aber je tiefer wir in unser Leben hineinwaten, desto gefährlicher umgurgeln uns die Wellen, desto drückender scheint das Gewicht auf unseren Schultern. Da schreit mancher auf in seiner Not und klagt den Herrn Jesum an, daß er ihn unter die Wasser tauchen werde. Aber da erklingt die Stimme der Gnade in unsere Seele, und wenn die Wellen für Augenblicke über uns zusammenschlagen, geschieht an uns die große Reinigung. So ist jeder von uns in seiner Art ein Christophorus, ein Träger Christi, oder sollte es sein. Das Christentum treu durch die Strömungen und Versuchungen und die irdische Nacht hindurch tragen, bis an das Licht des Jenseits, das ist unsere Pflicht, das ist die Erfüllung des Willens unseres Vaters im Himmel, das ist es, was wir im Vaterunser täglich versprechen und dazu wir uns vom lieben Gott Kraft erbitten müssen …

»Denn, meine lieben Christen, ein Sankt Christoph und ein rechter Christ sein, das ist nicht so leicht. Wie es in unserem heutigen Evangelium heißt, daß nicht jeder, der nur betet: Herr, Herr! … eingehen wird in das Himmelreich, sondern nur, der den Willen des Vaters im Himmel tut. Des Sonntags und zu den Feiertagen die Kirche besuchen, die heiligen Sakramente empfangen, die von der Kirche vorgeschriebenen Fasttage beobachten, das allein macht es nicht aus. Es ist unerläßlich, aber es ist nur wie das Wort zur Tat. Wenn einer schöne Worte redet, aber er handelt nicht danach, so nennen wir ihn einen Heuchler, und wir glauben am Ende seinen Worten nicht mehr. Wort und Handlung müssen eins sein, und so müssen alle Werke und Reden des guten Christen eins sein. Unser Sankt Christoph hat nicht wollen beten, er ist ein Heide geblieben, und doch hat er um Gottes willen Werke getan, die ihn vor unserem Heiland gefällig machten, daß er selbst zu ihm kam und an ihm das Wunder wirkte und mit eigener Hand ihn taufte, wie die Legende erzählt. So müssen wir über das Gebet hinaus noch vieles tun, wir müssen den Erlöser auf unseren Schultern und in unserem Herzen tragen, bei der Arbeit, in Sorge und Freude, bei Saat und Ernte, vor dem Feinde und vor dem Armen, unser ganzes Leben hindurch, mag es uns manchmal noch so schwer ankommen und der Versucher unsere Schritte untergraben. Wenn ihr draußen auf dem Felde in der Sonne steht und die Garben bindet; wenn ihr im Frühling oder im Herbste die Furchen durch den gesegneten Boden zieht, damit ihr die neue Ernte bereitet; wenn ihr das Brot bei Tische brecht, wenn der frierende Bettler an eure Türe pocht oder der bedürftige Nachbar, wenn ihr im Winter eure Feste feiert oder im Frühling neue Schätze aus dem alten Erdreich grabt, bei Speise und Trank, bei Gabe und Geschenk, bei Arbeit und Erholung, durch alle eure Jahreszeiten hindurch – immer denket daran, daß ihr mit beiden Beinen mitten im rauschenden Leben steht und das Heilandskind auf euren Schultern tragt und es sieht euch zu bei dem, was ihr tuet, und sieht in eure Seele und eure Meinung hinein. Und denket bei all eurem Tun und Lassen daran, daß ihr den Heiland glücklich an das andere Ufer bringt: dann wird auch euer Wanderstab zum grünenden Baume heranwachsen und Blüten und tausendfältige Frucht tragen von Geschlecht zu Geschlecht …

»Die hohen Wellen und die steigenden Wasser, die dem Sankt Christoph bis an den Bart reichen, das sind die Versucher, die je stärker und wilder werden, je tiefer wir in das Leben hineinwaten. Die Unschuld des Kindes scheut der böse Feind, aber der Mann, der in das tiefe Leben hineinwächst, der ist allenthalben von Widersachern umgeben. Da strauchelt er nur zu leicht und wird von den wilden Wogen mit fortgerissen und geht unter und ertrinkt in der Sünde. Es sind der Verführer so viele als Tropfen im Wasser eines starken Flusses, und wer sich hineinwagt unter sie, den umstürmen sie, daß er wankt und zittert und sicherlich den Boden verlieren müßte, ruhte nicht die Last des Christentums auf ihm, die Bürde des Heilands, die ihn festhält und ihm das Gewicht gibt, den anstürmenden Wogen zu widerstehen. So hat der heilige Jakobus in seinem schönen Briefe geschrieben: ›Selig der Mann, der die Anfechtung erduldet, denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen‹ …«

In immer volleren Strömen sprach Benedikt. Andächtig horchten die Leute; eine solche Predigt hatte der neue Herr Kooperator noch nicht gehalten, das ging mitten in ihr täglich Reden, Sorgen, Schaffen hinein, so lebendig war ihnen das Christentum von der Kanzel herab noch nie gemacht worden. Nur etliche Altweiblein nickerten vor sich hin; der schöne Sonnenschein, die weiße Turmmauer, die leissummende Vormittagsstille schläferte sie ins goldene Paradies. Ganz hinten, zwischen verfallenen Grabkreuzen, an den rauhen Stamm der Linde gedrückt, kauerte der weißhaarige Geisterer, ein seltener Kirchgänger. Er tat, als ob er schliefe, in Wahrheit aber nickte er bloß hie und da, seine eingeschrumpften Lippen kauten Selbstgespräche, mit scheinbar gedankenloser Hand schnitzelte er müßige Runenkerbe in seinen Hartriegelstock.

Da, als Benedikt über die Gemeine hinsah, ging ihm ein feiner Sprung mitten durch die Rede. Dort stand die fremde Frau; plötzlich begegnete er ihrem unverwandten Blicke. Sie mußte eben erst durch das Gittertor eingetreten sein, oder die Gruppen hatten sich irgendwie verschoben. Ihre dunklen Augen strahlten; es war nicht möglich, ihrem brennenden Glanze zu entfliehen. Mit einem Male stand sie da und schaute dem Prediger geradeswegs ins Gesicht. Sie trug auf dem dunklen Haar wieder den breiten Sommerhut mit geschwungener Krämpe. Ihr Antlitz lag im Schatten, aber das Blinkfeuer ihrer Augen spielte wie das eines geschliffenen Steines. Mit Mühe fand Benedikt das abgerissene Ende des Satzes: … »Denn unser armes Leben und Bangen, liebe Christen, ist eine einzige Versuchung, ein steter Kampf mit bösen Geistern, die uns überall auflauern und in unser Herz sich einschleichen und ihre Stimmen erheben.«

Er sprach weiter, endlos, wie ihm selber dünkte, und seine Worte waren leer und taub vor seinem Herzen. Beinahe gedankenlos sagte er die ganze fleißig vorbereitete Predigt her, halb wie im Traume, halb wie unterm Druck einer dunklen, tiefen Angst. »Denn wer gegen die Sünde tot und blind ist, der ist auch gegen die Tugend tot und blind. Wer niemals Durst verspürt, der wird sich nicht leicht betrinken, aber es ist kein Verdienst an seiner Nüchternheit; wer stumm ist, der wird gewiß nicht fluchen oder lügen oder böse Nachrede verbreiten, allein es ist kein Verdienst an seinem Schweigen. Verdienst ist allein am Siege, am Siege über die reißenden Wildbäche des Lebens, die wir wie Sankt Christoph durchschreiten müssen, das Jesuskind auf den Schultern …« Er fühlte die klingenden Reden von seinem Munde ausgehen, er erhob an gewichtigen Stellen die Stimme, wie er sich's eingeprägt, er dämpfte und verhielt, wie er sich's an den Vortagen sorgfältig ausgerechnet. Aber sein Bewußtsein weilte fern seinem Tun im Abgrund einer Furcht, die sich plötzlich zwischen ihm und seinem eigenen Bilde aufgetan. Mit jedem Atemzuge schlug ihm jener Duft in die Erinnerung, jener schwere, fremde, heimliche Duft; als wollte sie ihn Lügen strafen, so sah die Fremde ihm auf die Lippen. Weshalb tat sie es, was ging es ihn an, warum ließ er sich davon beirren, was mußte er sich immer wieder davon überzeugen? Was suchte sie überhaupt hier oben bei ländlicher Andacht, in der Lilienstille der Felder? Was hatte er zu schaffen mit dem Weibe? …

Aber sie wich nicht und verwandte nicht den Blick von seinem Munde. Jedes Wort, das er sprach, mußte nackt und bloß unter ihrem grausamen Lächeln vorübergehen. Wie aus großer Ferne, so schaute sie ihn unerschütterlich an: als wenn sie ihn zu holen gekommen wäre und vor einem Tore auf ihn wartete. Wie wenn sie ein Recht hätte auf ihn. Wie ein Ereignis, ein Erleben, ein Schicksal, das aus der Weite heranwächst und jeden Weg, jede Voraussicht verlegt.

* * *

Peregrin Kranich verlebte jetzt wieder gute Jugendtage.

Allmorgendlich kam die schnacke schwarzweiße Zofe, ein zieres Weibsstücklein von jener wippenden Art, die beim vielbewanderten Schreiber in besonders dankbarem Gedächtnisse stand, an seinem Amte vorbeigestrichen, um im Auftrage des gebieterischen Fräulein Pauline den Gemüsegarten der Tafernwirtschaft zu plündern. Eigentlich wäre das die Aufgabe des Fräulein Pauline in Person gewesen; allein diese hochbürtige Dame lehnte es ab, sich mit dem Bauerngesindel herumzuraufen, wie sie es gnädig ausdrückte, das möge nur Mamsell Fanny besorgen, am Morgen sei es auch so schön und gesund auf dem Lande, und sie müsse ohnehin für die Gnädige das Frühstück bereiten und überhaupt. In Wahrheit aber scheute Fräulein Pauline eine weitere Zusammenkunft mit der Tafernwirtin, einer scharfgekörnten Frau, die sich die Anmaßungen der Stadtfratschlerin – wie sie jene nannte – nicht an ihre gereifte Würde herankommen ließ und Fräulein Pauline mit einigen herablassenden Worten eine Niederlage bereitet hatte, dergleichen diese in langjährigem Verkehr mit den gefürchtetsten Selbstadvokatinnen des großstädtischen Gemüsemarktes niemals erlebt, geschweige denn hier vorausgesehen. Freilich verriet Fräulein Pauline der Mamsell nichts von solcher Erschütterung; es hätte der schnippischen Person doch nur eine Freude bereitet. Mochte sie sich mit der Wirtin herumbalgen und nebst Salatköpfen eine Ladung Ärger heimbringen! … Allein Mamsell Fanny, mit weniger bissiger als liebenswürdiger Beredsamkeit ausgestattet, außerdem des Ansehens wert und selbstlos zugreifend, wo die andere bloß die Arme unterstemmte: – Mamsell Fanny fand sich mit der Tafernwirtin zu gutem Einvernehmen zusammen und gab gegen Suppenwurzeln nicht allein klingende Münze in Tausch, sondern auch die verwirrendsten Neuigkeiten aus der großen Stadt.

Diese Vorzüge innerer Herzensbildung, die sich überdies und selbstverständlich bald herumsprachen, blieben auch dem durchtriebenen Peregrin Kranich kein Geheimnis. Schon bei der ersten amtlichen Fühlungnahme mit der jungen Dame – Fräulein Franziska Rottmayr, katholisch, ledig, geboren vor einundzwanzig Jahren, wie es der Schreiber anmutig umrechnete, einundzwanzig Jahren, er legte alle ihm übriggebliebene Weichheit in die Amtsstimme – schon bei dieser amtlichen Fühlungnahme war ihm die Witterung von etwas Feinem und Langentbehrtem angenehm in die Seele geschlagen. Und die nächste Begegnung bestätigte nicht allein vollinhaltlich das auf erste Schätzung hin gefällte Urteil, sondern auch die trotz abstumpfenden Verkehrs noch immer ungetrübte Unfehlbarkeit des Kenners.

Das schmale Blumengärtlein vor Kranichs Munizipium, die Anlagen, wie er die beiden bunten Beete nannte, dies kleine Zaungärtlein voll krauser Nelkenflammen und Löwenmaulglut machte den Vermittler.

Mamsell Franziska Rottmayr strich adrett vorbei, den Henkelkorb am Arme; Peregrin Kranich stand in gewürfelten Pensionspantoffeln und Hemdärmeln vor der Türe und genoß der Morgensonne. Die Mamsell blieb stehen und sah begehrlich nach den Anlagen.

»Die Ehre!« grüßte der Schreiber großartig; »Diener, die Ehre, schon so früh auf?«

Die Mamsell lächelte erquickend. »Wie schöne Blumen! Nelken! Darf man?«

Und schon drehte sie eine feuerrote Nelke zwischen den himbeerroten Lippen.

Peregrin Kranich vollführte eine Huldigungsgebärde in größtem Maßstab.

»Das schöne Geschlecht darf alles,« stellte er überschwänglich fest, als legte er seiner frühen Besucherin das schönste seiner Herzogtümer zu beliebigem Mißbrauch zu Füßen; »auf diese Übertretung und auf diesen Gast warten meine Anlagen nun schon seit Sommern.«

Mamsell Fanny horchte auf.

»Der Herr Sekretär ist wohl kein Einheimischer?«

»Ich bin ein nirgends Heimischer!« gestand Kranich mit berechtigtem Stolze. »Meine wahre Heimat sind Welt und Wissenschaft. Dies hier ist nur eine Station auf meiner Wallfahrt zum heiligen Brot, mein Fräulein. Alles fließt, das lehrt schon Herakles von Milo. Auch ich fließe. Und hier bin ich vorübergehend zum See geworden.«

»Ich hab mir's gleich gedacht,« nickte die Mamsell; »weil der Herr Sekretär sich so fein ausdrückt.«

Kranich weitete sein Antlitz, wie ein Erblindeter, der nach langer Finsternis und glücklicher Heilung den Himmel wieder erblickt.

»Das ist die Stimme der Welt!« rief er; »das ist endlich der Widerhall meiner selbst, nach dem ich so lange schon vergeblich lausche! Thalatta, Thalatta, rief der tapfere Feldherr Anabasis, als er von seinem Feldzuge nach der Bernsteinküste heimkehrte. Und Sie – Sie sind meine Thalatta!«

»Was heißt denn Thalatta?« fragte Fanny arglos.

»Sie wissen es nicht? Die Heimat heißt Thalatta! Die Heimat, die Seele der Griechen, die schon der Dichter mit tausend Masten suchte!«

Die Mamsell wiegte sich sprungbereit auf der Schuhspitze, mutwillig schlenkerte der Henkelkorb.

»Der Herr Sekretär liest gerne Gedichte? Ich auch. Aber noch lieber Romane. Von Tzola und von der Frau Marlitt. Das regt so schrecklich auf. Das ist so schön. Sooo schön.« Sie sah traumverloren und tränenumflort in die morgendliche Ferne. »Und ich habe auch ein so schönes Gedichtenalbum. Ich werd's dem Herrn Sekretär einmal zeigen. Lauter selbstgeschriebene Gedichte. Vielleicht schreibt mir der Herr Sekretär auch eins hinein. Macht der Herr Sekretär auch Gedichte?«

»Gedichte?« fragte Kranich geringschätzig; »Gedichte muß man erleben! Mein ganzes Leben ist ein Gedicht. Auf den Straßen der Welt, da habe ich mein Gedicht gelebt! In den Hafenstädten, bei funkelndem Wein und schönen Frauen!«

Fanny lachte mit gerunzelten Brauen.

»Der Herr Sekretär ist schlimm.«

Kranich schwoll zusehends auf.

»Schlimme Männer sind bei Mädchen beliebt. Das wußte bekanntlich schon der große Areopag.«

Mamsell Franziska dachte nach.

»Ich glaub, von dem steht auch ein Gedicht in meinem Album. Ich werd's dem Herrn Sekretär einmal zeigen. Jetzt muß ich aber gehen.«

Kranich versuchte stimmungsvolle Einwände.

»Zum Augenblicke möcht ich sagen, verweile doch, du bist so schön …«

»Wirklich?« zögerte die Mamsell, und sie versetzte dem Schreiber über die Schulter zurück einen Streifblick, daß es jenen überlief. »Der Herr Sekretär kann auch schmeicheln?«

»Die Wahrheit hören schmeichelt schönen Frauen. So lehrt schon Hafis, der große Skalde.«

»Der Herr Sekretär ist ein Gelehrter. Daß sich der Herr Sekretär nicht langweilt, hier auf dem Land! Aber ich muß jetzt gehen. Und morgen, nicht wahr, morgen sagt mir der Herr Sekretär wieder ein paar so schöne Sachen.«

Dahin federte sie, nachdem sie mit einem letzten Blicke dem Schreiber alle winterlichen Bedenken aus der Seele geschmolzen.

Peregrin Kranich stand erschüttert. Dann pflückte er sich eine Nelke von derselben Farbe wie jene, die sie zum Spiele ihrer Himbeerlippen erkoren, und verzierte damit die graue Struppwildnis zwischen Backenbart, Ohr und Schläfe. –

Anderen Morgens stand er schon zeitig auf Vorpaß, mitten im blühenden Hochsommer seiner Anlagen. Die Stunde wurde ihm lang, auch zürnte er dem unentschiedenen Wetter, das sich wahrscheinlich im ungelegensten Augenblicke zu einem dauerhaften Unzinger Bergregen entschließen würde. Der gestrige Volksbote hatte freilich heitere Beständigkeit versprochen, allein die Wolkenbildung schien diese Wissenschaft wie Kranichs Hoffnungen zu Wasser machen zu wollen. Der Schreiber trat wiederholt in die Kanzlei zurück und pochte an das Gehäuse des Aneroids, der aus dem Nachlasse des Vorgängers zu allgemeinem Nutzen hier geblieben war. Der Zeiger rührte sich nicht, er schwankte nur charakterlos nach gut und böse und kehrte in seine laue Neutralität zurück. Da fiel es Peregrin Kranich ein, den großen blauen Regenschirm auf die Wacht mitzunehmen. Vielleicht verhalf das unfreundliche Element zu ergiebigem Ausspinnen der Gelegenheit. Auch einen Blick in den etwas fleckigen Spiegel warf der verjüngte Schreiber; mit seinem jahrelangen Unzingertum hatte die Schere namhaft aufgeräumt, der kunstreich verschnittene Bart gab dem durchgeistigten Antlitze nach unten hin einen wirkungsvollen Abschluß. Im Knopfloche des sonntäglichen Leibrockes brannte vielsagend eine rote Nelke.

Endlich kam sie angetänzelt. Der Himmel hatte sich inzwischen auf die Seite der Wissenschaft und des Volksboten geschlagen und löste seine Wolken auf. Auch das war dem Schreiber eigentlich nicht recht. Zu zweit unter des Schirmes Enge: so schön hatte er sich's ausgedacht.

Mamsell Fanny trug unter dem Arme das goldgeschnittene Album aus gepreßtem Leder. Kranich grüßte überfließend. Aber die Dame zeigte sich heute flüchtiger und spröder. Sie habe gar keine Zeit, behauptete sie, und hier sei das versprochene Gedichtenbuch, der Herr Sekretär möge ihr doch etwas recht Schönes hineinschreiben.

Kranich ließ sich nicht beirren. Auf starke erste Eindrücke folgt gerne eine leise Abkühlung, das wußte der Erfahrene. Ja, solche Rückschläge sind eigentlich das unfehlbare Zeichen süßer Befangenheit, scheuer Bangnis, zarter Furcht vor der inneren Wärme. Gegen diese härtet sich die Oberfläche; dem Erreger unterirdischer Feuer gilt der jungfräuliche Groll. Vom Pfeile getroffen, zieht das Weib sich ins Dunkel seiner eigenen Tiefe zurück, um dort vom Jäger aufgescheucht, eingeholt und erbeutet zu werden. Damit rechnet der Weise. Und so deutete auch Peregrin Kranich Mamsell Franziskas herbere Art: zu seinen Gunsten und auf Rechnung seines Einflusses.

Lieber würde er ihr ein Andenken ins Herz hineinschreiben als auf ein kaltes Blatt Papier, schwärmte er; und das mit feurigem Griffel.

Mamsell Fanny erglühte.

Der Herr Sekretär habe in seinem Leben wohl viele Herzen gebrochen – wohl auch in Unzing Eroberungen gemacht?

Der Schreiber lehnte die Beantwortung dieser Gewissensfrage mit großer, doch bescheidener Gebärde ab. Sein Leben sei allerdings ein bewegtes, er dürfe wohl sagen, ein reiches gewesen; jetzt aber sehne er sich nach Ruhe und gesichertem Bestand.

Sie lächelte: »Der Herr Sekretär ist doch noch in den besten Jahren?«

»Die besten Jahre sind allerdings die der Reife,« versetzte Kranich nicht ohne Größe.

»Ja, Reife!« neckte die Mamsell; »da sind die Männer grade erst recht schlimm und gefährlich.«

Gerne vernahm der Schreiber diesen Vorwurf, und mit Genugtuung beobachtete er das allmähliche Weichen jener Morgentaukühle, die zuerst der Mamsell Beziehungen zu ihm wie mit einem Flor frostigen Nebels getrübt hatte.

»Das ist das göttliche Feuer der Hippokrene,« erläuterte er; »auch Goethe hat noch in späten Jahren seinen Damaskus gehabt.«

»Ja, die Männer sind alle gleich,« seufzte Fanny. »Was meine Gnädige mir alles erzählt hat! … Zweimal ist sie verheiratet gewesen, und auch der Dritte hat jetzt eine andere. Darum hat sie jetzt auch wieder ihren Familiennamen angenommen, die Gnädige, und sie ist oft so traurig. Sie haltet überhaupt so viel auf mich, die Gnädige. Und wenn wir in der Stadt sind, bekommt sie jeden Tag schon zum Frühstück ins Bett drei oder vier Buketten, so groß, von den teuersten Blumen, mit Briefen darin. Und sie sagt mir immer, Fanny, sagt sie, heiraten Sie nie, die Männer sind alle schlecht und falsch, und wir Frauen bleiben die Sklavinnen und unverstanden und ohne Recht auf die Freiheit der Liebe. Ja. Und der Dritte, der hat sie sitzen lassen mit so viel Schulden, es ist ganz traurig, wenn man das denken muß, und zum Frühstück kommen immer die Rechnungen ins Bett und die Gnädige macht sie gar nicht auf und schmeißt sie vor lauter Zorn in den Winkel. So sind die Männer, alle gleich. Darum sagt sie mir auch immer, die Gnädige, daß ich nie heiraten soll. Die Freiheit ist das einzige, was der Mensch hat, und wenn ich einmal heirate, dann ein ganz alten und sehr reichen Herrn. Darum sag ich auch, ich will nie heiraten, besser, man bleibt so, da hat man wenigstens seine Freiheit, und die Männer sind ja doch alle gleich schlecht.«

Kriegslustig schlenkerte der Henkelkorb in großen Bögen durch die Luft, und an seinen Halbkreisen vorbei sah Mamsell Fanny entsagungsvoll in die Ferne.

»Wenn aber der Richtige kommt?« lauerte Kranich, der sich deutlich entsann, dergleichen schneidende Absagen auch früher vernommen und mühelos Lügen gestraft zu haben.

Die Mamsell sah zu Boden. »Für mich gibt's überhaupt keinen Richtigen.« Ihre Schuhspitze zog unstete Runen in den Sand. »Ich bin schon einmal so.« Sie seufzte auf. »Jaja, ich mag die Männer nicht. Ich graus mich vor ihnen. Ich glaub immer, ich bin erblich betont. Ich glaub, ich bin platonisch pervers.«

»Es müßte eben der ganz Richtige sein,« bohrte der Schreiber; »ein gereifter Mann, der schon die Büchse der Pandora hinter sich hat und im sicheren Hafen der Apokalypso liegt … Ein Mann von Jahren und Bestand, dem Gott zum Verstande auch ein einträgliches Amt gegeben …«

Mamsell Franziska blickte auf. »Das wundert mich bloß, daß der Herr Sekretär es hier auf dem Lande aushalten kann mit seiner Bildung. Ich könnt das nicht. Der Herr Sekretär könnt gleich einen Gelehrten abgeben mit dem, was er alles weiß.«

Hoch schlug nach solchem Ölguß die Flamme in Peregrin Kranichs vereinsamter Seele.

»Ja, mein Fräulein, dieses Wort verrät Ihren Spürsinn für verschleierte Bilder von Sais. Aber sagt nicht schon der Dichter, daß ein Charakter sich in der Stille der Hirten bildet? Hier im Tale des Friedens genieße ich die Früchte mühevoller Saat, die Beute stürmischer Fahrten. Sehen Sie. Freilich, auch ich bin Arkadier von Geburt und zu etwas Höherem ausersehen. Aber wer einmal die Höhen wahrhaft enzyklopädischen Wissens und den Gradus ad Parnassum erklommen, der verachtet die feilen Ehren, die hohlen Würden und den Lügensumpf des Tieflandes da drunten. Das ist es.«

Die junge Dame überlegte. »Der Herr Sekretär hat vielleicht recht. Die Menschen sind sehr schlecht heutzutage, und alles wird nur immer teurer.«

Der Schreiber rüstete einen Vorstoß. »Und darum soll man die Welt fliehen, diesen gärenden Schwefelpfuhl. Beatus ille qui procul, rief schon der Elegist, als er endlich sein Lehen erhielt. Das gilt aber vor allem für junge, reine Mädchen. Und bei Männern, welche Liebe fühlen, fehlt auch das gute Herze nicht. Da sind die Tugenden gut aufgehoben.«

Franziska lächelte unter hochgeschürzten Brauen. »Die Männer, wenn sie Liebe fühlen?« Sie brach in einen Gassenhauer aus. »Bumdaradadadada …« Sie warf den unglücklichen Korb anmutig in die Höhe und fing ihn im Falle wieder auf. »Jaja, Herr Sekretär. Jetzt muß ich aber leider gehen. Jesus, es ist ja schon spät. Da ist nur der schlimme Herr Sekretär daran schuld. Und der Herr Sekretär soll mir was recht Schönes dahineinschreiben. Zum Andenken an diesen Sommer.«

Wieder wirbelte der Korb, überschlug sich und landete in der unterspreiteten weißen Schürze. Mamsell Franziska sah sich noch einmal um, winkte mit Hand und Blick und tänzelte leichtbesohlt ab. Mit kecker Stimme sang sie ein hochgeschürztes Lied die Dorfzeile hinunter, daß alle sittenstrengen Unzinger Haushähne mit einem Schlage empört dawider aufzukrähen anhuben.

* * *

Benedikt hatte seiner Begegnungen und des seltsamen Schattens, der ihm über die Christophoripredigt gefallen, fast wieder vergessen.

Es war ein später, warmer Sommernachmittag. Das Dorf lag vereinsamt. In den schimmernden Feldern drunten regte sich die Ernte. Der Duft zweiter Rosenblüte stieg aus dem Pfarrgarten herauf.

Siebenschein saß am Harmonium und spielte in die friedliche Landschaft hinaus. Der Pfarrer war höchstselbst nach den pfarrherrlichen Äckern gefahren, die Bergung der Frucht in Gnaden zu beaufsichtigen. Von Fräulein Amalie war zur Stund nichts zu vernehmen als das ferne Geläut des Messingmörsers. Petronilla aber stand in diesen Wochen selbst in Verwendung der äußeren Pfarrwirtschaft und der heiligen Notpurg, handhabte Sichel und Rechen und war im Haushalte selten zu sehen.

Eine Weile lang präludierte Benedikt aus dem Gedächtnis hin und her. Er erfreute sich der vielfarbigen Stimmenfülle des Instruments, mischte und verband die Register zu den verschiedenartigsten Wirkungen, löste dieses vom warmen Halbdunkel der Bässe ab und ließ es frei über die Tiefen hinleuchten, dämpfte alle Stimmen zur zartesten heimlichsten Andacht, gebot ihnen zu schwellen und zum Sturme anzuwachsen, zur Sonnenflammenbrunst voll Preis und Glaube. Dann löschte er sie wieder aus bis auf wenige sanftstrahlende und setzte mit dem eigentlichen Vorspiele ein, mit dem einfachen, ersten Präludium aus Bachs wohltemperiertem Klavier.

Da geschah es, daß Benedikt ein Wunder an sich erlebte.

Seit er zum ersten Male im Dome bei einer spätabendlichen Maiandacht zum schlichten Vorspiele des deutschen Kantors das süße leidenschaftliche Marienlied des französischen Meisters vernommen, vermochte er die beiden Werke nicht mehr getrennt zu hören. Immer klang ihm über die einfachen Folgen zerlegter Akkorde jene holde, verführerische Kantilene hin, gleich als sei sie das Eigentliche und Heilige, das Ungesagte und das hohe Geheimnis über dem dunklen Texte, die verzückte Taube der Liebe über des Glaubens ruhigen Tiefen. So erging es ihm auch diesmal: nur Begleitung seiner inneren Stimme, des Gesanges seiner Seele spielte er mit blinden Händen. Fern im dämmernden Abgrund seines heimlichen Münsters gingen die weichen dumpfen Flöten einer unsichtbaren Orgel; weit; unendlich weit, jenseits des funkelroten Grals der ewigen Lampe, hinter matten glimmenden Wolken schwebten die goldenen kleinen zuckenden Flammenherzen um ein Rund voll Gnade und Wunder; Schritte seufzten in der hallenden Tiefe, ein aufflutendes Murmeln, ein verschleierter Schein von Brokat und Geschmeide; von draußen ein verwehter Duft der jungen Gärten, ein Hauch der blühenden Kastanienalleen, ein Atmen des Frühlings, der die Weihrauchdämpfe emportrug … Und nun blühte aus dem sanften Dunkel der Orgel das Lied empor, schlank, steil und lilienweiß: das Madonnenlied, das Jungfrauenlied, das gebenedeite Engelslied. Und es ward licht unter den entrückten Wölbungen, als brächen sie gleich reifen Blumen dem Himmel auf, daß er segnend in ihren Schoß niedertaue; eine zarte Verklärung strahlte erlösend hinab in die sehnsüchtige Nacht der Kathedrale; schmale mondhelle Fittige rauschten unhörbar und rührten an die inbrünstig zu Gott hinanschießenden Pfeiler, daß sie klingend erschauerten. Aber immer noch mehr erschloß sich der weiße keusche Kelch des Liedes, immer drängender, immer seliger brannte es himmelan, das mystische Verheißungslied; bis es sich mit einem Seufzer weher Lust entknospte und aus seinem Innersten der Glanz der Ewigkeit brach, der Morgen, die Erfüllung, der Name, die Macht, das Wort und die Ahnung: Jesus.

Benedikt spielte mit geschlossenen Augen und verträumten Händen und lauschte entzückt in sich hinein. Es war eine Frauenstimme, die in ihm sang, dieselbe, die in seiner Erinnerung unzertrennlich war von dem betörenden Gebetsliede. Die Stimme einer Unbekannten, Zufälligen, einer Fremden, die er niemals gesehen, von der ihm nichts geblieben war als das verhohlene Fortschwingen einer Saite. So deutlich aber hatte er sie noch nie vernommen als zu dieser Stunde. Als würde jene Stimme durch eine gefährliche Kraft seiner Hingabe vergegenwärtigt und irgendwo wirklich – draußen vielleicht im sanften Sommerabendschmelz zwischen den duftenden Rosen, oder in ängstigender Geisternähe, oder im Wellenschlag seines eigenen Blutes. Und auch anders klang diese Stimme als die, deren Widerhall in seinem Gedächtnisse fortlebte. Sie war wärmer, dunkler und reicher, samtig wie der Alt einer Viola, gesättigt von Farbe und mühelos. Benedikt horchte auf. Er wagte nicht sein Spiel zu unterbrechen; er fand nicht einmal den Mut, sich umzusehen; ihm bangte davor, etwas Wundersames, ein heiliges Geschehen, eine erschütternde Vision mit Blick und hastiger Neugier zu verscheuchen.

Aber der Traum wich von ihm, er erwachte. Die schräge späte Sonnenflut strömte breit über seine bleichen Hände und die weißen Tasten und erfüllte das kleine Gemach mit wehmütigem Frieden. Dem Fenster gegenüber flackerte lichterloh die blanke Verglasung der Papstbildnisse, und in ihrer Feuersbrunst stand ein Spiegelbild glutgesäumter Abendberge, brennender Wolken, fahlgoldner Stoppelfelder. Zitternde Lichtblasen krochen tastend an der Wand hinan und entzündeten den nackten Silberleib des Gekreuzigten zu Häupten des Bettes. Ein Strahl traf in den kleinen Weihbrunnkessel, löste sich auf und verklärte das Kruzifix mit blumiger Gloriole. Benedikt sah all diese stille alltägliche Festlichkeit um sich her, doch nichts davon ging ein in seine volle Seele. Nur das fühlte er, wie seine Einbildung Gewißheit wurde, wie die Stimme in seinem Innersten zur Ruhe kam und die Opferflammen verloschen. Ganz finster ward es vor seinen heimlichen Altären, das alte Gnadenbild erblindete in Dunkelheit, wie ein ungeheurer Spuk versank der nächtige Dom. Aber draußen, vor dem Zaune des Rosengartens sang das Leben selbst mit süßer, betörender Stimme, sang wie mit überirdischen Flöten und Violen das große Wunderlied der Mütter, Sehnsucht und Glück, Stolz und Herzblut aller, an denen es in Wonnen und Schmerzen wahr wird – – sang vor den Altären der Berge, der Erntefelder, der Sonne, sang erglühend, untergehend ins Urall hinan, schwebte zitternd im glasenden Abgrund des Lichtes und seufzte ersterbend von trunkenen Lerchenhöhen zum demütigen Staube herab. Und die Rosen dampften Weihrauch, und der ganze Abend lauschte, und das ganze Tal fiel ein mit inbrünstiger Litanei, und über Garten und Lied und holder Bangnis der Stunde wölbte sich strahlend der ewige Münster des Herrn.

Benedikt hob die Hände von den Tasten und drückte die Register zurück. Es war genug der Weihe über sein Spiel gekommen.

Dann stand er auf. Er trat ans Fenster.

Er mußte.

Am grünen Zaune stand die fremde Frau, als wartete sie auf jemand.

Sie trug ein weißes Kleid mit goldenem Gürtel; ihr Blick traf mitten in Benedikts Augen, so däuchte ihn.

Jetzt langte ihre Hand über den Zaun hinweg und brach eine schwere samtrote Knospe. Siebenschein sah den vollen, warmen, nackten Arm, von blitzender Spange umspannt.

Aber da war ihm, als winkte die Hand mit der geraubten Rose, und er verbeugte sich mehrmals. Die fremde Dame lächelte; sie barg die Knospe hinterm goldenen Gürtel; sie lächelte nochmals mit Lippen und Blick, wandte sich und ging gelassen in den verlöschenden Abend hinaus.

Benedikt stand noch lange am Fenster; in hungrigen Zügen atmete er die warme, gesättigte Luft. Die Stube hinter ihm ward grau, die Dämmerung sank, üppiger duftete es aus dem Garten herauf. Irgendwo im Dorfe knarrten Räder unter reicher Last, Hunde kläfften, ein Jauchzer, Rindergebrüll, die Heimkehr. Jetzt erwachten die müden Glocken, drunten im Tale, drüben im Berge. Siebenschein bekreuzte sich, und seine Lippen murmelten. Da erschrak er; er ward seiner Zerstreutheit inne und sammelte sich. Aber es blieb ein halbes, mattes Gebet. Ein schwüler Brandstern stand einsam und rot über den ruhenden Bergen; große Käfer brummten im Zwielicht vorbei. Der Mond mußte schon über die Waldhänge heraufgekommen sein; ein ganz zarter, gespenstiger Schatten des Pfarrhauses zeichnete sich blaß vom silbergrünen Rasen ab. Jetzt regte sich jemand an der Türe. Benedikt trat hastig ins Zimmer zurück. Es war Fräulein Huber, sanfter und dringlicher denn je.

»Der Herr Pfarrer wird gleich zurückkommen,« sagte sie bedauernd; »und hier hab ich das Buch zurückgebracht, es ist gar so schön und aufregend, nein, wie die Menschen schlecht gewesen sind dazumal, nicht zum Glauben, dieser Kaiser Nero und alle diese Weiber, und die arme Lydia und der brave Ursus, da ist mir beinah der Guglhupf ang'brannt, nein, so was, und wenn der hochwürdige Herr Doktor vielleicht ein anderes Buch hätt für mich …«

Siebenschein machte sich an der Lampe zu schaffen. Es war ihm fast heimlich, mit einem Menschen beisammen zu sein, eine gewohnte Stimme zu hören.

»Gleich, Fräulein Mali,« entschuldigte er; »ja, nicht wahr, das waren Zeiten, damals! Aber die Menschen sind nicht viel besser geworden seither.«

»Recht hat der Herr Doktor,« sprach Fräulein Huber voll Wärme. »Um nichts nicht besser geworden sind die Menschen. Und die Weiber! … Gelobt sei Jesus Christus.«

»In Ewigkeit, Amen,« dankte Benedikt; »welche Weiber?«

»Na, die – diese Stadtweiber!« Fräulein Huber erglühte in Eifer. »Oder hat der hochwürdige Herr Doktor die dorten vielleicht net g'hört, wie's dem Herrn Doktor so keck ins Spielen hineing'sungen hat, a so was! Und noch immer hinaufg'schaut zum Herrn Doktor seinem Fenster! So eine unverschämte Schlechtigkeit! Und eine Rosen hat's auch noch mir nix dir nix abg'brochen, na, ich hab nix sagen wollen, aber sowas schickt sich net.«

Siebenschein stellte sich zerstreut und wählte unter seinen Büchern. »Und ist die so schlecht?«

»Na ja, was man so hört, eine vier- oder fünfmal is schon verheirat g'wesen und keiner hat's ausg'halten mit ihr. Net vielleicht nur ein bissel so eine Liebschaft, der hochwürdige Herr Doktor erlaubt schon, was wär denn da dabei, gar nix is da dabei, naja, so is halt der Mensch, und zu was is er denn sonst auf der Welt, net, Gott verzeih mir die Sünd – aber verheirat is g'wesen, also, und verheirat sein, das is halt was anders. Und ein Haufen Schulden hat's, und das Geld tut's hinausschmeißen, naja, man sieht's ja bei die Kleider, ein Stadtmensch halt, na.«

»Mnja,« machte Benedikt in den Bücherschrank hinein; »und vor neunzehnhundert Jahren hätte vielleicht auch ihr der Glaube und die Liebe geholfen?«

»Ah natürlich. Für solchene is allweil gleich der Glaube und die Liebe da. Oder nimmt der hochwürdige Herr Doktor vielleicht Partei für die?« Fräulein Huber stemmte die Arme unter, und ihre Stimme klang leicht gereizt.

»Gar nicht Partei!« verwies Siebenschein; »gar nicht Partei! Aber sie ist doch eine große Künstlerin, nicht, und wenn sie zum Beispiel den Herrn mit ihrem Gesange erfreut hätte statt mit Narden und Ambra, so wären vielleicht auch ihr die Sünden verziehen worden?«

»Alsdann wann eine recht schlecht is, dann is schon gut, mehr braucht's net zum selig werden?«

»Reden Sie nicht so, Fräulein Huber. Wir wissen nicht, was wahr ist an dem ganzen Gerede. Die Sünde ist hassenswert, aber die Menschen sind Brüder und Schwestern untereinander … Und hier ist ein besonders schönes Buch, auch aus alter Zeit, das muß Ihnen besonders gefallen, handelt nur von geistlichen Herren und bösen Frauenzimmern, und ein großes Abendessen kommt auch darin vor.«

Fräulein Huber sah gedankenschwer auf den gleißenden Goldschnitt des roten Bandes herab, den sie unschlüssig in der Hand drehte. »Der hochwürdige Herr Doktor is doch net bös auf mich?« fragte sie dann mädchenhaft.

Siebenschein schloß die Türe des Spindes.

»Böse? Aber! Böse kann man auf Sie überhaupt nicht sein, Fräulein Mali. Ich schon nicht. Wieso denn auch?«

Sie schlug langsam und dankbar die Augen zu ihm empor. »Wenn der Herr Doktor mir nur das sagt. Dann bin ich schon froh. Dann ist mir schon ganz leicht ums Herz. Dann bin ich schon glückselig.« Wieder senkte sie die Augenlider in keuscher Demut. »Ich mein 's ja gut mit dem Herrn Doktor,« sagte sie innigleise. »Nur gut. Der hochwürdige Herr Doktor weiß ja selber net, wie …«

Und mit fein auf Wirkung berechnetem Zögern trat sie den Rückzug an.

In dieser Nacht stand Benedikt noch lange am offenen Fenster. Jenseits des Flusses stand schwer ein großes Gewitter. Die Grillen sangen; schwül dufteten die Sommerrosen. Manchmal rollte der warnende Vordonner über die Höhen. Im Laub der Linden träumten unruhig die Geister. Fern ruhten die ernsten alten Berge und wachten dunkel über den Tälern der Menschen.

* * *

Am zwölften Morgen seiner letzten Liebe wähnte Peregrin Kranich sich soweit gekommen und das zarte Wild so vollständig eingegarnt, daß er beschloß, seine Absichten nunmehr in irgendeine erfreuliche Tat umzusetzen.

»Mein Fräulein,« eröffnete er der aufhorchenden Mamsell – »was ich verschwiegen im Herzen trage, kann ich Ihnen hier nicht forum publico erklären. Aber alles in mir, mein ganzes kategorisches Ich, drängt nach Aussprache. Diese rote Nelke in meinem Knopfloch sei Ihnen ein Symptom der Gräber meines Geheimnisses. Es ist mir sardonischer Ernst mit meinen Gefühlen. Also, Fräulein Fanny.«

Das Mamsellchen ließ ihr schalkhaftes Kinn nachdenklich auf der Kehle ruhen. »Wird was Rechtes sein,« zweifelte sie herbverschämt; »der Herr Sekretär ist doch schon zu alt und zu gescheit für solche Sachen.«

»Aber ich fühle mich verjüngt,« rief der Schreiber begeistert; »verjüngt durch Ihre Gegenwart. Mit diesem Trank im Leibe fordere ich mein Jahrhundert in die Schranken.«

»Aber was will denn der Herr Sekretär eigentlich?«

»Allein sein mit Ihnen,« flüsterte Peregrin begehrlich; »meine ganze Jugend ist lebendig geworden durch Sie, meine besten Jahre, ich darf wohl sagen, meine Sünden!«

Die Jungfrau tat erschrocken.

»Aber wie der Herr Sekretär nur redet! Ich bin doch nicht so eine.«

»Jedes Mädchen ist so eine,« erklärte Kranich stolz; »ich meine, jedes Mädchen ist eigentlich für den Mann ein Hesperidenapfel … Und fühlen Sie es denn nicht selbst in Ihrem Busen, mein Fräulein? Verspüren Sie nicht das Licht von Saladins Wunderlampe?«

Die Mamsell sah geschämig zur Seite. »Ich weiß nicht.«

»Sie wissen es nicht,« sprach der Schreiber in gütigem Verstehen; »Sie wissen es nicht, aber ich weiß es. Ich errate alle Rätsel der Frauenherzen. Darum möchte ich Ihnen erklären, was mich seit Tagen bewegt und mich zu einem Elysium macht. Fräulein Franziska? Sie wissen doch, Raum ist in der kleinsten Hütte – wie schon Tyrtäos sang, der große Apokryph.«

Das Jüngferlein zagte in artiger Schwebe.

»Ja, heute nachmittag, also, heute nachmittag, da geht die Gnädige dort hinüber zum Herrn Lehrer. Daß es dort ein Klavier gibt, hat sie erfahren. Und sie hat schon Besuch gemacht. Und sie will auf einmal wieder singen, damit daß sie nicht aus der Übung kommt. Was ist das für ein Mensch, der Herr Lehrer?«

»Was kann schon einer sein, der sein ganzes Leben nicht herausgekommen ist aus diesem Winkel?« fragte Kranich mit nachlässigem Mitleid; »unsereins hat wenigstens eine große Zeit hinter sich, nicht wahr? Ein recht guter und anständiger Mensch, der Herr Lehrer, es liegt nichts gegen ihn vor. Aber die feinere Bildung« – – er schloß mit hoheitsvollem Achselzucken.

Mamsell Franziska überlegte. »Also da geht die Gnädige heute nachmittag hin. Wenn sie geht; denn die Gnädige ist einmal so, einmal so … Also, wenn der Herr Sekretär wirklich? … Aber ich kann mir gar nicht denken, was der Herr Sekretär eigentlich von mir will? … Also wenn die Gnädige wirklich geht, dann geh ich aus, hinten hinauf in den Wald, ein wenig spazieren und Schwammerln suchen, es wachsen dort so viele … Vielleicht kommt das Fräulein Paulin auch mit, da soll der Herr Sekretär achtgeben auf sein Herz, die kennt sich aus! … Nämlich wenn der Herr Sekretär wirklich will … Aber heut ist ja sowieso Sonntag …«

Peregrin verbeugte sich feurig. »Für Sie, Fräulein Fanny, mache ich jeden Tag Sonntag, sogar am Karfreitag. Omnia vincit amor, mit diesen Worten ging Massinissa in den Tod. Für Sie aber, Fräulein Franziska, gehe ich nicht nur in den Tod, sondern sogar zur Ultima Thule.«

Die also Gefeierte raffte zum Abschied den kurzen knappen Rock und ließ über niedlichstem Blankschuhwerk ein straff gestrumpftes Bein sehen. »Sie sind ein ganz Schlechter, Herr Sekretär,« schäkerte sie verführerisch; »weiß Gott, was das alles heißt. Und wie vielen der Herr Sekretär das schon gesagt hat. Der gescheite Herr Sekretär will halt so einem armen Mädel den Kopf voll reden. Also auf Wiedersehen, das heißt vielleicht – vielleicht – –«

Sie riß eine Nelke ab, steckte den Stiel frech zwischen die Zähne und zwitscherte eilends davon.

* * *

Selbst Florian Kathrein war durch Annäherung und Absichten der berühmten Dame flüchtig verwirrt und in seinem Beharren erschüttert worden. Allein er faßte sich schnell und schickte sich schließlich mit leisem Vergnügen in die Pflichten gemeinbürgerlicher Höflichkeit.

»Gut ist es so,« sagte er befriedigt; »jedes Wetter nützt irgendeiner Ernte. Der alte Schulmeister kann euch nicht in die Welt und in die Theater schicken, jetzt kommt die Welt mit ihren Theatern zu euch.«

»Man merkt ihr eigentlich nicht das Theater an,« pries Marianne; »sie ist so gemütlich, so herzlich, man kann so leicht mit ihr reden.«

»Das eben ist das Theater,« brummte Kathrein fröhlich; »sie muß eine gute Schauspielerin sein, denn sogar die Schauspielerin spielt sie von sich weg.«

Verena sah aus ihrem Buche auf und schüttelte den Kopf. »Sie hat unheimliche Augen.«

»Gemalte,« bemerkte Marianne.

»Nein, unheimliche. Und man kommt neben ihr gar nicht zum Denken. Und sie will und sagt so viel auf einmal.«

»Wir sind das nur nicht gewohnt,« tröstete der Lehrer; »uns ist jeder Mensch eine schwere Neuigkeit, die wir dreimal lesen müssen. Überhaupt, was wissen wir, wie die Menschen draußen jetzt sind? Geht uns auch nichts an. Und für morgen nachmittag, das sag ich euch gleich, lad ich den Siebenschein ein. Er soll auch etwas davon haben. Aber sagen werd ich ihm nichts von ihr.«

Marianne nickte in ihr Strickzeug und zählte mit tippender Nadelspitze die Maschen. »Sonst kommt er nicht,« sagte sie dann; »aber eigentlich ist es nicht recht.«

Kathrein lachte eigen.

»Warum nicht? Davonlaufen kann er ja doch nicht vor dem Leben. Eine wird ihn doch drankriegen, früher oder später.« Er lachte verhohlen. »Also gut. Ich will es ihm sagen. Er kann kommen, wenn er mag. Man soll die Menschen gehen und kommen lassen, wie sie wollen, man ändert ja doch nichts. Schicksal ist Schicksal, alles geschieht, was muß. Er kann auch bleiben, wenn er Lust hat. Er wird vielleicht auch Lust haben und doch nicht kommen. Denn es gibt Menschen, die heilig sind aus Angst vor sich selbst. Wenn sie es auch nicht wissen.«

Aber Siebenschein kam.

* * *

Es war der Sonntag nach Portiuncula, den die würdigen braunen Herren vom Orden des heiligen Franziskus mit einem ansehnlichen Festschmaus zu begehen pflegten. Ein verkümmertes Klösterlein dieser Brüderschaft fristete drunten im Städtel sein bescheidenes Leben, niemandem zur Last, vielen zu Nutz, vorsonderlich der Weltgeistlichkeit der umliegenden Pfarreien, die in dringenden Fällen, zu Weihnachten oder zu Ostern, wenn der Andrang der Beichtiger die Kräfte überstieg oder sonst Erhöhung des priesterlichen Aufgebots erwünscht schien, gerne einen der barfüßigen Väter zu ihrer Unterstützung und Entlastung heranzogen. Entsprechend diesem zweckmäßigen Brauche herrschte zwischen den schwarzen Amtsbrüdern der Landschaft und den braunen Kutten ein gastfreundlicher Verkehr. Auch in diesem Jahre war von Permosers Seite an das Franziskanerklösterlein die Einladung zur Teilnahme an seinem geburtsfestlichen Gelage ergangen. Allein der Guardian, Pater Gratian, hatte wegen nagender Gichtschmerzen, Pater Bonaventura wegen der in diese Zeit fallenden geistlichen Übungen absagen müssen, während Pater Dionys ob wirtschaftlicher Sorgen und Pater Formosus aus jugendlicher Bescheidenheit sich verhindert sah. Und mehr der Mitglieder zählte die Gemeine zurzeit nicht, da der uralte gelähmte Pater Zephyrin nicht wohl mitgerechnet werden konnte.

Nichtsdestoweniger säumte Permoser keineswegs, der an ihn ergangenen Ladung der hochwürdigen Herren Folge zu leisten, eingedenk des Wortes, daß man Gleiches nicht mit Gleichem vergelten dürfe. Also gebot er schon am zeitigen Vormittage, das blanke Kutschwägelchen hinter die runden Pferde zu spannen, befrachtete es mit einer von Fräulein Amalie eigens zu diesem Zwecke verfertigten, kühn gebauten Krachtorte, dem Gast- und Ehrengeschenke, mit zwei stahlschwarzen Flaschengeschützen, geladen mit langgelagertem Wermutwein, endlich mit seiner eigenen in die beste Soutane geknöpften Person, und fuhr hochmögend von dannen, in den trüben, stechendschwülen Sonnenschein hinaus, Unzing seinem Gehilfen, diesen seinem Schicksale überlassend. Eine kühle Aufforderung seines Vorgesetzten, an den Freuden dieses Tages teilzunehmen, hatte Benedikt höflich abgelehnt, zu sichtlicher Genugtuung des Pfarrers, wie auch, seiner Meinung nach, zum eigenen Besten. So stand ihm vom kurzen Nachmittagsgottesdienste an die Zeit frei zu Gebote.

Lange genug hatte er gezögert, in den Vorschlag des Lehrers einzuwilligen. Es lockte ihn, den Verdurstenden, freilich mit aller Macht zur nahen Quelle; aber gerade deshalb wollte er sich trotzigen Zwang antun. Aber dann schlug er diese Bedenken in den Wind. Es konnte ihm nicht schaden, wenn er wieder einmal Kunst genoß, mit belebenden Menschen zusammenkam. Er lächelte bitter: vor einigen Monaten wäre er jedem Schatten eines Ärgernisses scheu aus dem Wege gegangen. Heute sah er sich und seine Wege anders. Welche Meinung hatte er sich vom Doktor gebildet, wie hatte er ihn gemieden, wie hatte er ihn schließlich gefunden, was für ein Geheimnis war dann in seine priesterliche Treue versenkt worden! Nein, es war schon gesunde Wahrheit in den Mahnungen des lebensheiteren Domscholasters: mit beiden Beinen mußte der Priester in der Wirklichkeit stehen, nur mit seinem Kopfe und seinem Herzen mußte er über dem Staube bleiben. So dachte es in Benedikt um und um, und er fühlte sich leichter und kräftiger werden dabei. Kaum erwartete er die Stunde. Und fand er das fremde Frauenzimmer ärgerlich, nun, so würde er weiteren Begegnungen aus dem Wege gehen. Er wollte keine Vorurteile hegen, sondern sich selbst überzeugen. Und wie kann die Aussätzigen heilen, der sie meidet? Ja, das war es: er beschloß, es mit den einfachen Notwendigkeiten des Lebens einfach aufzunehmen und harmlos zu genießen, was an Genuß der Beruf ihm übrig ließ. Erst gestern hatte er zufällig in der Legende des Jüngers gelesen, den der Herr lieb hatte: wie er zu jenem Jüngling, der ihn ob seines Zeitvertreibs schalt, sagte, daß kein Bogen dürfe hart gespannt bleiben, da er sonst krank würde und seine Schnellkraft verlöre, und daß auch des Menschen Natur, so man ihr zu hart wäre, erkrankte und dann Gott nicht dienen möchte, also möge man eine Zeit sein harmlos Kurzweil haben, daß die Natur sich erhole und der Mensch Gott dem Herrn desto baß dienen könne … So entschied er sich gerne für die verlockende Einladung, und wenn er's genau besah, so hatte er mit dem Herzen sogleich zugesagt, und wenn er's noch genauer besah, so drängte er mit dem Wunsche und zögerte er mit dem Gewissen und zauderte er aus innerer Ungeduld, und die Schauer der Aprilwolken zogen unstet über seine knospende Seele.

Aber Fräulein Huber mußte nichts von seinem Verbleib erfahren. Er wußte selbst nicht, weshalb er ihr das Ziel seines Weges verschweigen wollte. Sie besaß kein Recht, ihn zu beaufsichtigen. Vielleicht war es nicht notwendig, sie zu gehässigen Schlüssen zu verleiten. Und doch hatte gerade sie so herzlich teilgenommen an seiner Vereinsamung. Aber eben deshalb … Dies bißchen Wärme in diesem kalten Hause tat ihm wohl, er mochte es nicht missen. Er wollte das kleine Licht, das sie ihm entzündet hatte, nicht geradezu verlöschen. Wenn er gerecht war, so dankte er es dem Fräulein, daß er unter diesem Dache einen blassen Widerschein heimatlicher Traulichkeit genoß. Anderseits hegte sie eine gute Meinung von ihm; das beschämte, aber in Wahrheit linderte es manche Entbehrung. Freilich, des Fräuleins plötzlich erwachter Lesehunger und ihr brennendes Bildungsbedürfnis, das was eine Frage, die irgendeiner Lösung bedurfte. Fabiola, Ben Hur, Quo vadis nebst anderen Heiligengeschichten waren längst in der Tiefe dieses nimmersatten Gemütes versunken, und schon bewegte Benedikt im Innersten, ob er nicht etwa durch Verleihung eines zentnerschweren Exegetikers den aufgetanen Abgrund auf immer beschwichtigen solle. Solche Erwägungen im Sinne, den Entschluß zur nächstliegenden frommen Lüge im Herzen, kam Benedikt vor der Küchentüre an.

»Fräulein Amalie, ich gehe aus.«

Fräulein Huber klappte das rote Buch mit dem Goldschnitt zu und legte es zwischen die Semmelbrösel.

»Aber Hochwürden Herr Doktor, wo's so heiß is. Da sitzt man doch lieber zu Haus und trinkt sein Kaffee.«

»Die Wärme tut mir gut, Fräulein Mali.«

»Aber wenn den Herrn Doktor das Wetter erwischt!« Sie spähte durch das vergitterte Küchenfenster; »es is eh völlig schwarz auf die Berg zu.«

»Ich habe den Regenschirm mit.«

»Besser wär doch, der Herr Doktor wart ab.«

»Und dann regnet sich's ein, und der schöne Tag ist weg, und man hat nichts davon gehabt. Ich kann ja wo untertreten, nicht? Und dann, ich soll eigentlich Bewegung machen, der Arzt hat mir's verschrieben.«

»Der Herr Doktor is krank?« fragte Fräulein Huber in ehrlichem Schrecken.

»Krank nicht. Eigentlich nicht krank. Aber so –«

Er sah auf sie herunter. Ihre Besorgnis tat ihm fast wohl. Zum ersten Male fielen ihm die bescheidenen Reize ihrer Züge auf; zum ersten Male überhaupt vertiefte er sich in ihr Gesicht. Fräulein Huber besaß eine kurze, immer noch mädchenhafte Nase, einen vollen gutmütigen Mund und hellwasserblaue Augen, auf deren Grund etwas wie ein fernes gastliches Licht schimmerte. Das innere Spiegelbild irgendeines berühmten Gemäldes niederländischer Schule tauchte flüchtig vor Siebenscheins Seele auf. Es war irgendeine üppige Magdalena, Susanne oder biblische Königin, der Fräulein Amalie glich.

»Ich weiß schon, was dem Herrn Doktor fehlt,« sagte sie schelmisch.

»Nun?« nickte er gnädig.

Sie zeigte auf das rote Buch mit dem goldenen Schnitt.

»Dasselbe wie dem da.«

In ihrer Stimme kicherte verliebter Spott. Aber sie nahm die weiße, etwas fleckige Schürze vors Gesicht und schielte nur mit einem blauen Auge nach Siebenschein empor.

»Nämlich der – der is dem hochwürdigen Herrn Doktor gar so ähnlich …«

Sie zog die Schultern hoch, als erwarte sie den züchtigenden Streich.

Benedikt räusperte sich scharf.

»Also ich gehe jetzt … Der Herr Pfarrer wird ja auch erst spät heimkommen … Vielleicht gehe ich ihm abends entgegen … Vielleicht auch nicht … Ich weiß noch nicht … Und wenn jemand mich suchen sollte –« er räusperte sich nochmals – »ich bin später wahrscheinlich beim Herrn Lehrer … Ja … Also … Wenn jemand mich suchen sollte …«

Hastig log er sich hinaus.

* * *

Daß Ingeborg Sartorius eigentlich nicht so schön sei, wie er es vermutet oder gefürchtet, dachte Benedikt, wie er ihr nun zum ersten Male frank ins Gesicht sah. An jenem Nachmittage, da er ihr auf dem Wiesenwege begegnet, hatte eine dumpfe Scheu seinen Blick abgewendet, am Abende war es zu dunkel gewesen, von der Kanzel und später von seinem Fenster aus hatte er wegen zu großer Entfernung keine Einzelheiten wahrnehmen können. Nun zeigte sich ihm ihr Antlitz aus nächster, natürlicher Nähe, löste sich gleichsam vor seinen Augen in seine Fehler und Sprünge, Spuren des Gebrauches, Härten und Male auf. Der schmallippige Mund war wie vernutzt und welk, aber auch herrisch, fast grausam; Kinn und Kehle verrieten die späte Jahreszeit dieses Lebens. Aber die Augen, lagen sie gleich zwischen faltigen, müden Lidern, diese großen, braunen, brennend klaren Augen strahlten einen bannenden bösen Glanz aus, ein düsterroter Schein glomm im schwarzen Haar, und jener schwere schwüle fremde Duft atmete aus jeder Bewegung, jedem Worte, beinahe aus jedem Blicke der Dame.

»Oh, wir kennen uns schon,« sagte sie mit rauher, tiefer Stimme; ohne alle Umstände reichte sie Siebenschein die kleine Hand. »Wir kennen uns schon. Wir haben uns schon begegnet. Nicht wahr? Wir haben sogar schon zusammen musiziert. Das Ave Maria. Der hochwürdige Herr ist ein sehr guter Begleiter.«

Siebenschein suchte dem Lehrer eine verworrene Erklärung zu geben. Aber Ingeborg Sartorius lachte ihn still an.

»Oh, es war sehr einfach. Und sehr romantisch. Ich habe dem hochwürdigen Herrn ein Ständchen gebracht. Ich habe ihm Fensterpromenaden gemacht. Ich habe ihn zu verführen versucht. Ja, nicht wahr, zu verführen. Kundry im Rosenzaubergarten. Sie müssen wissen, Kundry, das ist eine meiner Hauptrollen. Waren Sie schon in Bayreuth? Nein? Da müssen Sie hin. Nächstes Jahr singe ich dort wieder die Kundry. Wahrscheinlich.« Sie wandte sich den Mädchen zu. »Aber dieser Herr Parsifal ist noch reiner und stärker als der wirkliche. Ist er immer so? Ja? Wer weiß? Wer weiß? … Ich habe Sie ja neulich predigen gehört, Herr – Herr – – Kaplan heißt es hier, nicht? Ja. Wunderschön. Ich war zerknirscht. Karfreitagszauberstimmung, Fußwaschung, härene Gewänder und so weiter …«

Sie sprach schnell, zerrissen, in springenden, flatternden Sätzen. Benedikt wunderte sich über die wilde, lechzende Rohheit ihrer Stimme, darin auch nicht ein Fünkchen jenes Goldgrundes fraulicher Milde, innerer Güte schimmerte. Und doch war ihm, als habe er diese gleichsam ausgebrannte Stimme schon einmal vernommen, er wußte selbst nicht wo – in der Heimat, in der Kindheit, im Traume, vor tausend Jahren? …

Ingeborg Sartorius sah ihm versengend in die Augen.

»Nämlich ich bin hier, um mich zu erholen; auszuruhen; eigentlich. Die letzte Spielzeit war sehr anstrengend. Aber ich halte das nicht aus. Die Ruhe, wissen Sie. Das ist keine Erholung. Ich muß singen. Ich muß. Darum habe ich die Güte des Herrn Lehrers in Anspruch genommen. Das einzige Klavier in Unzing! Und man kommt auch aus der Übung. Ja, Sie haben noch ein Harmonium! Aber da darf man wohl nicht hinein, in diesen Monsalvatsch, hm? Warum eigentlich nicht? Sehe ich so gefährlich aus? Lilith, Aschtaroth? Der Herr Pfarrer hätte wohl Angst vor mir? Ich habe ihn begegnet, das ist er doch, dick und alt und unrasiert, mit einer speckigen Weste? Er hat mich sehr mißtrauisch angesehen … Verdiene ich das wirklich, hm? … Mache ich eine so verdächtige Figur? … Nein, sagen Sie nicht höflich Nein, Herr Kaplan … Es ist gar keine Schmeichelei … Ein bißchen schwarze Pantherkatze oder Schlange muß die Künstlerin bleiben … Wenigstens eine, die Kundry sein will … Nicht? … Habe ich nichts davon an mir? … Ein kleines Flämmchen Hölle, Hexentum, kalte Glut? … Oder fürchten Sie sich gar nicht vor Ingeborg Sartorius?«

Sie hatte eine eigentümliche Art, ihre Reden mit bedeutsamem Augenspiel zu begleiten. Auch diesmal zeigte sie ihre verwirrende Kunst, indem sie Siebenschein wie von unten herauf ansah und gleich darauf ihre Lider zu einem schmalen Schlitz zusammenzog, daß nur ein verstecktes Funkeln durch die langen Wimpern brach.

»Also Sie fürchten sich nicht vor mir? Das ist auch gut. Das ist verständig von Ihnen. Die Leute hier weichen mir in abergläubischem Bogen aus und starren mich an, wie die Herde den Wolf.«

Nun kam Benedikt zum Worte.

»Es ist auch etwas ganz Neues für unsere Leute,« sagte er entschuldigend; »Bauern, nicht wahr, einfache, harte Menschen …«

»Oh, ich bin überzeugt, es gibt auch hier alle möglichen Heiligen und Hexen,« lachte die Sängerin; »Kundry und Parsifal sind immer und überall.«

Mit Anstrengung wendete Siebenschein den Blick ab. Allein Ingeborg Sartorius ließ ihn nicht eratmen.

»Ja, reden wir von etwas anderem. Von Musik. Ja? Die ist uns ja gemeinsam. Sie sind ja selbst ein großer Künstler, Herr Kaplan. Oh, ich habe schon alles gehört. Sie brauchen sich nicht zu verstellen. Nicht wahr, Herr Lehrer, nicht wahr, Fräulein?«

Benedikt sah hilfesuchend zu Kathrein hinüber. Der saß überlegen, vergnügt und grausam in seinem gewohnten Lehnstuhle und hörte aus gesicherter Stille zu. Verena kauerte verschüchtert in einer abgelegenen Ecke des Kanapees, arm und gesträubt wie eine weiße Taube, in deren Schlag ein lebhafter, farbenprächtiger Papagei eingedrungen. Marianne wirtschaftete in der Küche; man vernahm rüstiges Klirren, ein ahnungsvoller Duft frischen Kaffeebrandes zog durch die Türritzen herein und mischte sich anheimelnd unter den schweren fremdländischen Blumengeruch, der wie aus den dumpfen Gründen eines giftigen Paradieswaldes aus Kleidern und Atem der fremden Dame wehte.

Kathrein rückte an seiner Brille.

»Freilich ist er ein Künstler,« sagte er; »er hat eigentlich seinen Beruf verfehlt, das ist unser Glück und sein eigenes, sonst hätten wir ihn nicht hier; und ihm bleibt doch noch immer etwas übrig.«

Benedikt senkte wie zum Widerstande die Stirn und straffte sich.

»Und wenn ich wirklich ein Künstler wäre – wenn ich wirklich einer wäre, es wäre auch kein Verlust, nur ein Gewinn. Mit der Kunst kann man jedem Berufe dienen, zuerst aber dem meinigen.«

Ingeborg Sartorius vermittelte.

»Jetzt haben wir's abbekommen. Ganz recht hat der Herr Kaplan. Man muß jeden Menschen in seiner eigenen Kirche in Frieden lassen. Machen wir lieber Musik. Hier sind meine Noten. Wählen Sie aus. Lieder, da. Schubert, Schumann – da, Brahms, Grieg – hier, Wolf … Wollen Sie mich begleiten? … Ja? … Bitte, bitte, bitte schön … Ich will auch ganz artig sein … Wir haben uns doch schon eingespielt, neulich, nicht?« … Ihr Blick glitt wie ein Feuerstrahl über sein Profil hin … »Wir verstehen uns doch so gut, wir beide, nicht – ohne uns zu kennen?«

Siebenschein beugte sich über die Notenhefte.

»Ja, gewiß, gnädige Frau, aber, das heißt, eigentlich –.« Die Scheu schoß ihm wieder ins Blut, er verspürte das Aufglühen seiner Stirne und ärgerte sich.

»Ich kenne nur sehr wenig von diesen Sachen.«

Frau Sartorius lachte und schmeichelte ihn nieder.

»Aber ein Mann wie Sie! Nehmen wir zuerst etwas Bekanntes. Wir kommen schon hinein … Wenn wir beide erst einmal heiß werden! … Wenn wir erst ins süße Feuer kommen! … Etwas Bekanntes … Ganz Leichtes … Ich singe eigentlich alles … Mir ganz gleich … Das hier zum Beispiel … Das kann doch jedes Kind spielen … Sogar ich, denken Sie! … Kommen Sie, kommen Sie!«

Und sie ergriff Benedikt an beiden Händen, zwischen denen er das geöffnete Heft hielt, und zog ihn, der nur schwach widerstand, nach dem Klavier.

»Da. Und nicht zu schnell, nicht wahr? … Ja nicht zu schnell! … So …« Sie griff mit ihren braunen nackten Armen über Siebenschein hinweg und deutete einige Takte leise an. »Dabei eintönig, verstehen Sie, leer, ganz leer, ganz arm und müde … Verkatert … Wissen Sie … Wie an einem Sonntagnachmittag, wissen Sie, wenn es recht schön ist und warm und Frühling, und man hat nichts, keinen Menschen, kein Geld, nur eine Seele voll Heimweh und Tränen … So eintönig, verloren, verlassen … Und ein wenig ungleichmäßig trotzdem, ja. Wie Wellenschlag. Wie Ebbe und Flut im Herzen … Auf und ab … Ein wenig zögernd manchmal, schwerfällig, wie wenn's nicht mehr ginge … Gut, ja, fangen wir an …«

Benedikt war wehrlos. Ein seltsames, leises, ihm selbst ganz fremdes Lachen stieg in ihm auf, erschütterte, befreite und entwaffnete ihn vollends. Wort für Wort verstand er die Wünsche der Künstlerin. Ein angenehmes Grauen schauderte an ihm hinauf. Jetzt begann er. Alles andere versank. Und sie fiel ein; nicht mit vollem Gesang, nicht einmal mit halber Stimme, nur mit dumpfem Summen, als suchte sie erst Melodie und Worte …

»Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer …«

Die niedrige, nüchterne Wohnstube verschwand hinter einem Bilde; sie verengte und wölbte sich, aus schmalen Fenstern sah sie über die Gartenstille hin nach der blauen Frühlingsferne. Dort stand in der dämmerigen Tiefe des Gelasses das alte dunkle Bett, der lederne Väterstuhl davor; Spind und Schrein in strenger, jungfräulicher Ordnung; ein leiser alter vergessener Duft über allem. Die Vespersonne schrägt an der weißen Nischenwand herein und zeichnet einen wirbelnden Schatten des Spinnrads auf den blankgescheuerten Fußboden, durchleuchtet die seidengoldnen Flechten des Mädchens, das da vor dem Rocken sitzt und sein Brautlinnen zwirnt und leise, wie an Schmerz und Erinnerung verloren, den schimmernden Kopf wiegt …

»Wo ich ihn nicht hab',
Ist mir das Grab,
Die ganze Welt
Ist mir vergällt …«

Langsam, zaghaft, tastend ringt sich aus dem schläfrigen Surren das Lied empor: als fände es sich allmählich erst hinein in das gleichmäßige Auf- und Niederspinnen des Rädleins, als würde es erst geboren aus dieser rastlosen Wiederkehr von Schwellen und Fallen, aus einem Widerhall zutiefst im eigenen Blute, aus träumendem Mitrollen, Mitschwirren … Die Worte, anfangs kaum verständlich, nahmen Klang an, die Stimme erwachte, die Melodie trat in die summenden Sextolen ein …

»Mein armes Herz
Ist mir verrückt,
Mein armer Sinn
Ist mir zerstückt …«

Da reißt fast der Faden zwischen den sonst so linden, geschickten Mädchenfingern.

Und sie seufzt und schüttelt den blonden Kopf und schilt sich das schwüle Heimweh unwillig aus dem Herzen.

Aber das Rädlein surrt und burrt wie ein buhlender Tauber und spinnt selbst von neuem die Weise an –

»Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer …«

Was kommt er nicht? Was säumt er zu nehmen, was längst ihm gehört? Streicht gar wohl mit seinem widrigen Gesellen durch die Welt, wirbt um andere, betört mit Lächeln und Blick und Zauberrede, und küßt und vergißt. Weit von hier, in anderer Stadt, in anderem Land …

Wie die tiefe klagende Stimme das sang: stoßweise, jetzt einen Satz und dann einen, und als reimten sie sich zufällig, als fielen sie der Spinnerin nach und nach ein und fügten sich in das wogende Summen des Rades, des Herzbluts …

Da riß beinahe das Fädlein, zum anderen Male.

Ob es reißt oder nicht … Was liegt daran? Was liegt am Brautlinnen, am duftenden Schatz im Spind, am schwanenweißen Bettlaken? …

Meine Ruh ist hin! …

Und wenn die Mutter darüber erwacht! Fast zürnend tritt der Fuß das wippende Brett, überdrüssig. So bang und dumpf ist's in der Stube; der ganze Tag leer, verloren …

»Mein Busen drängt sich nach ihm hin,
Ach dürft' ich fassen und halten ihn …«

Wie Stöhnen bricht das aus der Tiefe, wie der Schrei eines gefangenen Tieres …

Und dann entflammt, unstillbar, jauchzend, inbrünstig –

»Und küssen ihn so wie ich wollt',
An seinen Küssen vergehen sollt' …«

Da reißt der Faden entzwei, der Faden zum Brautlinnen … Grete stößt den Rocken zurück, noch schnurrt das Rad weiter – sie springt auf, spreitet die Arme, dem Leben, dem heißen, purpurnen Leben –

»An seinen Küssen vergehen sollt'!«

– und schlägt die Hände vors Gesicht und schickt sich demütig wieder in die Arbeit, in den eintönig mahlenden, pflichtigen Alltag, der Gold und Feuer, Sehnsucht und Recht gleichmütig zu denselben nützlichen Garnen verspinnt …

Warme Nachmittagsstille, ein Ruch von Nelken und Minze, eine verirrte Biene, ferne überm Garten, über den Linden Sankt Wendelins schwere Stundenglocke, das murmelnde Rad, bittere, brennende Einsamkeit:

»Meine Ruh ist hin,
mein Herz ist schwer.«

Das Lied verseufzte.

* * *

Benedikt sah auf; vor ihm stand Ingeborg Sartorius. Ihre Augen strahlten ihn an.

»Haben wir's nicht gut gemacht?«

»Bravo,« sagte Kathrein in seinem leisen Baß. »Das war Wirklichkeit.«

»Ja, wir verstehen uns,« sagte die Sängerin einfach; »wir verstehen uns. Der Herr Kaplan hat das feine Gefühl. Er begleitet mich, als ob ich selbst es mit meinem Herzen täte.«

Siebenschein stand in stiller Glut am Klavier, bescheiden und schmächtig, aber so zerschmolzen, als hätte ihn ein Konklave auf Geheiß Gottes unversehens zum Papste erwählt. Inbrünstig rieb er sich die schmalen, demütigen Hände.

»Oh, ich weiß selbst nicht, wie das kommt. Das ist keine Kunst und kein Verdienst. Die Musik spielt mich. Und dann, Ihre Stimme, gnädige Frau« – er verbeugte sich aus dem Hüftgelenk – »mit Engeln kann auch ein lahmer Bettler fliegen.«

»Den Siebenschein hört mir an,« stichelte Kathrein; »was aus dem alles herauskommt, wenn man ihn über sein Feuer stellt! Der hat eine heilige Hölle in sich, gnädige Frau, nehmen Sie sich in acht, so hat Satan als Seraph ausgesehen.«

Er stellte eine mächtige Korbflasche auf den Tisch.

»Zur Feier dieses Tages. Wenn einmal Majestäten in die niedrige Hütte treten, so holt der Arme sein Letztes und Bestes. Der da ist noch aus meinen guten Tagen übrig, eine letzte Flasche goldener Jugend, hoffentlich noch nicht versäuert – nun ja, der Unzinger Schulmeister hat auch einmal seine Welt am liebsten durch rotes und gelbes Glas angesehen.«

»Hast du das gehört, das letzte, Papa? Das ist doch das schönste aller Lieder.«

Kathrein nickte, emsig beschäftigt, den alten spröden Lack vom Pfropfen wegzusplittern.

»Freilich habe ich's gehört. Aber es war nicht das Schönste. Denn es gibt überhaupt nichts Schöneres und Schönstes. Alles ist schön, jedes für sich. Man soll nicht vergleichen. Nicht wahr, gnädige Frau? … Wenn wir in unseren Sprachlehren keine Steigerung hätten, wäre die Menschheit glücklich. Es gibt nur ein Schönstes …« – mit einiger Anstrengung zog er den Korken – »… nur ein Schönstes. Das ist das Leben, das uns solche Stunden und Künstler und Menschen schenkt. Und das alte Feuer, das man in stiller Enge verschließt und ruhen läßt, bis es leuchten darf. Und wenn dann die Zeit gekommen ist, und man bricht das Siegel vom verschwiegenen Buche, da ist drinnen alles klar wie Herbstsonne, noch klarer, klar wie Tränen … Und noch stärker geworden, reifer und reicher … Aller Satz auf den Grund gegangen … Hier, auf das Wohl unserer Gäste!«

Er hob das Glas, in dem der spanische Edelwein schimmerte, goldbraun wie ein Topas.

»Bravo,« sagte die Sängerin; »Herr Lehrer, Sie sind ein Lebenskünstler.«

Die feinen alten Kelche klangen.

»Lebenskünstler?« fragte Kathrein mit leiser Wehmut; »ja, das ist wahr: das Leben hat mich manche Künste gelehrt.«

Ingeborg hob das Glas von ihren Lippen weg gegen den schräg einfallenden Sonnenschein.

»Ihrem Hause, Herr Lehrer, und auf ganz Unzing, dieses Land der geheimen Meister … Auch Ihnen, hochwürdiger geistlicher Herr! Sie müssen mit uns von jedem Weine trinken.«

Benedikt zögerte mit leiszitterndem Glase.

Ingeborg Sartorius lachte ihm in die Augen.

»Sie sind mit dem Teufel du und du und wollen sich vor der Flamme scheuen?«

Da trank Benedikt den Trank auf einen gierigen Zug aus, geschüttelt von der ungewohnten Glut des alten Weines.

Kathrein schlug ihm herzlich auf die Schulter.

»Das ist recht. Nur immer Mensch sein unter Menschen. Mög Euch das Schlückchen wohl behagen.«

Benedikt rang nach Atem, ganz erfüllt von strahlender Wärme.

»An diesem Weine möchte man das Wunder von Kanaan wirken können,« sagte er bescheiden und vergnügt.

Marianne kam mit dampfender Last.

»Aber Papa! Wein! Jetzt kommt doch erst der Kaffee!«

Der Lehrer schenkte gelassen von neuem ein.

»Jeder gibt, was er hat, und zu seiner Zeit, und in seinem Sinne.«

Heiter wurde es nun um den Rundtisch vor dem alten Kanapee. Hier saß Ingeborg Sartorius als der berühmte Ehrengast, schlürfte Kaffee, knabberte Kuchen, lobte alles, ganz unverwöhnt, ganz heimisch, als ob sie aus feindlicher Fremde ins eigene Elternhaus zurückgekehrt wäre. Zwischendurch erzählte sie in ihrer unstet schwirrenden Art von ihren Erfolgen, von ihren Kämpfen, ihren Kleidern, Rollen und Enttäuschungen. Von Dirigenten und Direktoren; von Kollegen und Kritikern; von Sylt und von Venedig. Von hier aus reise sie nicht weiter als bis nach Föhr. Mit allen ihren Toiletten, natürlich! Gerade zum Baden brauche man die kostbarsten Kleider … Nur Pauline lasse sie im Süden zurück. Die sei ihr doch zu wenig anpassungsfähig. Im übrigen eine unentbehrliche Kanaille von Drachen, die Pauline; die habe sie ganz unter dem Pantoffel … Aber Fanny und der süße Bijou und alle die Koffer, die müßten selbstverständlich mit. Sie ohne Fanny! Sie ohne Bijou! … Ja, freilich, das koste ein bißchen viel … Sie seufzte. Nun ja, aber wer immer nur an morgen denke, dem werde das Heute zum Gestern … Ob nicht eine der jungen Damen ein bißchen Lust verspüre, ein bißchen mitzukommen, hm? … Vielleicht entdecke sie da ein schönes Talent? … Nein? Schade … Sie sei ja auch so rein zufällig entdeckt worden … Und dann habe sie hart kämpfen müssen … Sei zuerst auch nur als Choristin herumgepufft worden, schreckliche Zeit, aber doch schön … So schön … Die Mundart habe ihr Schwierigkeiten gemacht, sie sei Rheinländerin, das merke man ihr doch hoffentlich noch immer an, wie? Das heißt, ihre Mutter sei eigentlich eine halbe Polin gewesen. Jaja, Polenblut … Ja, diese Choristinnenzeit. Bis dann der alte Graf kam. Eines Abends saß er in der Loge. Und entdeckte, was die Herren Musiker überhörten, die Stimme, die Spannung vom tiefen Alt bis in den Soprangipfel hinauf, mit Altfärbung auch in den höchsten Lagen … Dann wurde es besser, dann kamen gute Lehrer und entdeckten weiter. Denn der Graf war reich, sehr reich. Aber schon alt, sehr alt! … Dann die erste große Rolle! Margarete natürlich. Ein Gretchen mit burgunderschwarzem Haar und Zigeuneraugen! … Und die Aufregung! … Und der alte Graf in der Loge, den Stecher in den zitternden Greisenhänden! … Die Aufregung, Herzklopfen, ein ganzes Erdbeben in der Kehle, nur keine Stimme … Aber dann Kränze, Kränze, ein Niagara von Applaus, ein Einsturz … Das ausgelassene Champagnergelage nach der Vorstellung! … Und am nächsten Vormittag lag der alte Graf tot in seinem Bette, Herzschlag, schrieben die Zeitungen. Die Zeitungen! … Er war ja schon arg verkalkt gewesen, der gute alte Onkel: viel von dem da – Ingeborg Sartorius schlug ans Glas – noch mehr von dem da – sie faßte Marianne zärtlich um die Hüfte – und das allermeiste davon in jungen Jahren … Aber der Brief, den er ihr hinterlassen, geschrieben in der letzten Nacht … Nun sei er zufrieden, einem jungen Leben könne er doch nichts mehr geben, es sei gegen sein Gewissen … Und er passe doch auch nicht mehr recht in die genießende Jugend hinein, es tue ihm weh … Nun sei er zufrieden, nun habe er sich doch auf seine Art ein wenig Unsterblichkeit erworben … Und am Vormittage habe ihn dann der ebenso alte Matthias, der Kammerdiener, nicht mehr aufwecken können … Starr und ausgesöhnt sei er dagelegen, mit ragenden weißenden Schnurrbartspitzen und der vornehmen krummen Burgundernase und dem Monokel im Auge, das er selbst zum Schlafengehen nicht ablegte, auch nicht zum großen Schlafengehen …

Nachdenklich hob Kathrein das Glas.

»Er hat sich unsterblich gemacht, dieser Graf. Seinem Andenken!«

Ingeborg Sartorius nippte, eine Träne im Auge. Benedikt gewährte sich einen verstohlenen Schluck.

Und dann die Jahre aufsteigenden Ruhmes! … Margarete, immer wieder die unglückliche Margarete, Julie, Agathe, Senta, Elsa, Santuzza, so viele verliebte unglückliche Frauenzimmer! … So viel Jammer erleben müssen, Abend für Abend, das mache früh alt! … – – Ja, bitte, danke, Fräulein Marianne, Sie sind doch Marianne, wie, und Sie Verena, wie? Verena! Verena? … Ich muß einen Künstler finden, der mir eine Verena-Oper schreibt, der Name singt sich von selbst. Verena! … Ingeborg schöner, woher, das ist hart und grau und hat Holzschuhe und melkt in der Frühe und macht abends Butter … Was meinen Sie, ich heiße Ingeborg, kein Ton, ich heiße Käthe. Weder Senta noch Brunhild, sondern Käthe, und nicht Sartorius, sondern Schneider. Käthe Schneider, die schwarze Käthe, daheim reden sie noch jetzt von mir, tolles Zeug, sage ich Ihnen, der geistliche Herr liefe gleich davon und hielte so 'ne schöne Bußpredigt wie neulich … Ingeborg Sartorius, das ist nur die Firma. Papa Haase, der alte Heldenmädchenhändler, so hieß er bei uns, hat die feine Marke erfunden. Ja, nun, schreiben Sie auf 'ne Flasche Heidelbeersaft Chateau Larose, und er schmeckt danach … Oh, danke, Fräulein Marianne, ich bin sehr unbescheiden, aber Ihr Kaffee ist fein, ach, und bitte, bitte, bitte, noch ein Stück von Ihrem Kuchen, der ist großartig. Sie müssen mir das Rezept geben, ich mach ihn nicht nach, aber die Pauline, der alte Drachen … Ja, Santuzza. Und dann kam die Nedda dazu. Und in der Nedda, da war die zweite Entdeckung gemacht. Das Aas! Nun kamen die Aase dran, alle Arten. Carmen, bis heute hundertneunmal Carmen, Mimi, Venus – geistlicher Herr, bleiben Sie ruhig sitzen, wir haben die Türe zugesperrt – Traviata, Kundry, mit meiner Stimme reiche ich überall hin, damit gifte ich die Soprane und Alte bis zum Kontraktbruch. Alles mögliche, Schlangen, Katzen, Vampire, Hornisse, Skorpioninnen, alles das singe ich, Giftspinnen, Tigerdamen, jede Kanallje … Aber das ist die schwerste Rolle, zwischen und hinter und neben allen diesen erdichteten Biestern noch sein eigenes Biest zu bleiben, ein Mensch, ein Mensch mit seinem eigenen Herzen … Sich selbst noch weiter zu spielen und zu singen, das ist oft schwer! … Gucken Sie nicht so bange in Ihren Kaffee rein, geistlicher Herr, ich rede die Wahrheit … Aber das Aas – das Aas hat Käthe Schneider erst berühmt und zu Ingeborg Sartorius gemacht. Die Carmen. Die Nedda. Die Kundry. Und jetzt das ganz große, ganz verfluchte, süße, feine, verdorbene Hauptaas …«

Sie sprang auf und holte einen großen Notenband vom Klavier.

»Das war mein Sieg in dieser letzten Spielzeit. Mein größter Sieg. Vielleicht mein letzter? … Kennen Sie das? Nein? … Nein?! … Sie kennen das nicht? … Sie auch nicht, hochwürdiger Herr? … Haben nie davon gehört? … Ja, aber, da haben Sie ein Ereignis verschlafen! … Das heißt ja begraben leben! … Auch nichts in den Zeitungen gelesen? … Ein Musiker wie Sie? … Da habe ich die große uralte Weltviper gesungen, sagte ein Kritiker; wie ich es aufgefaßt, das sei die Tragödie an sich, sagte ein anderer … Ich gebe ja nichts darauf, wissen Sie. Wenn unsereins etwas auf das Geschmier geben wollte! … Die Kritiker schreiben doch nur, um selbst etwas zu scheinen … Was ich da geleistet, das weiß ich selbst … Eine Seuche, ein ganzes Sodom, den Ekel, das Laster, den Abgrund habe ich da hineingesungen … Es war der größte Abend meines Lebens … Aber nachher – – wie ausgebrannt … Wie eingestürzt, bitter wie eine Aloe bis ins Herz hinein, so war ich – och!« Sie schüttelte sich. »Und doch hab ich's wieder gesungen. Und gespielt. Gespielt – das war die Hauptsache! Das bißchen Gesang! … Aber das Weib da spielen, bis in seinen letzten Schauder, in die äußerste Verirrung hinein! … Mit seiner schleichenden Tollwut, mit dem blühenden Aussatz seiner Seele! … Diese Seele spielen! Das ist's! … Diese Seele singen! Uh! … Darum bin ich verliebt in die Rolle! … Ich will sie noch vertiefen, noch verfeinern, noch vertieren, verteufeln, vermenschen, verdirnen – irgendwie … Und Sie kennen das nicht? … Sie kennen das nicht? … Ah, da will ich's Ihnen erzählen … Ein bißchen markieren …«

Wieder sprang sie auf.

* * *

»Sie setzen sich auf meinen Platz, Fräulein Marianne, bitte, bitte, ja, ganz artig, auf meinen Platz. So. Und Sie, Herr Lehrer, in die andere Sofaecke. Brav. Fräulein Verena sieht von ihrem Stuhl aus vollkommen gut. Denn Sie alle müssen mich ansehen, und ich muß Sie ansehen. Sonst kann ich nicht erzählen. Ich muß mich bewegen können … Hochwürdiger Herr, Sie bleiben ruhig dort … Hier haben Sie das Notenbuch. Sie können die Musik mitlesen, Sie wissen doch, wie man das macht, mit dem inneren Ohre Noten lesen? Daß das ganze Orchester in einem rauscht? … Schön. Nur dieses Orchester können Sie sich gar nicht vorstellen. Nein. Unmöglich. Das ist instrumentiert! Gerissen – ah was, gerissen: – einfach dämonisch, niederträchtig, unerlaubt. Was instrumentieren heißt, das hat man früher überhaupt nicht gewußt. Der ganze Parsifal ist noch eine Spieldose dagegen. Hier, da sind die Violinen nicht mehr Violinen, sondern Damaszenerschwerter, Henkerbeile, zischende Nattern, Flammenzungen – nur nicht Geigen! … Die Celli spielen geronnenes Blut in schwarzen verfilzten Haaren … Aus den Flöten sickert Eiter, das ganze Orchester eine einzige Orgie – ah, das läßt sich gar nicht so schildern, das ist einfach kanalljos …«

Sie trat hinter den Stuhl, reckte sich, holte tief Atem.

»Also passen Sie auf … Nacht, orientalische Nacht, Wüstennacht. Man hört irgendwo in der Finsternis draußen die Hyänen kläffen. Grauenhaft unheimliche Stimmung. Der Mond geht auf, ein ganz böser, kranker Mond. Wie eine Frau, die aufsteigt aus dem Grab, sagt der eine; man spürt das Unglück in der Luft. Dazu macht das Orchester ein prachtvolles Scheusal von Musik: ein Motiv, das klingt wie der ferne Liebesschrei einer heißen grausamen Pantherkatze. Schauplatz: ein Vorhof der Königsburg. Unsichere, wild flatternde Fackelbeleuchtung – riesige Schatten, die in roter Rauchdämmerung herumzucken – eine Geisterschlacht … Das Schloß selbst so ein richtiges Wüstengeiernest, ein Kazr, wie es dort heißt … Ein bißchen arabischer Stil, Hufeisenbogen, ein klein wenig Alhambra, wissen Sie, nur einfacher, düsterer, schauerlicher, mehr Festung als Palast …«

Benedikt sah aus dem schwarzen Notenbuche auf.

»Machärus, etwa eine Meile östlich vom toten Meere, im Gebirge …«

Die Sängerin nickte ihm zu.

»Ganz recht. Nicht weit von Sodom und Gomorra also. Eine verrufene, verfluchte, verpestete Landschaft … Unten stinkender Sumpf, oben heulende Einöde … Man sieht in der Ferne den Spiegel des Toten Meeres blitzen, wie den Leib eines uralten riesigen Drachen … Und nun, im Vorhofe ein Brunnen, eine Zisterne, darin das Regenwasser sich sammelt. In diesem Brunnen wohnt ein Mensch. Ein Gefangener. Ein Verrückter, Verzückter, Verwilderter, ein zottiges, schmutziges Wüstentier, der Prophet, Johanaan, der Täufer. Der wohnt da drunten. Manchmal hört man das Rasseln seiner Ketten, manchmal sein dumpfes hallendes Heulen. Als wäre da drunten der Sturm angeschmiedet oder das Feuer …

»Und nun diese brütende Sündennacht über der Unheilslandschaft. Herodes gibt ein Fest. Pauken, Zymbeln, Lärm von innen. Und Königin des Festes ist sie: Salome.

»Wie schön ist die Prinzessin Salome heute nacht … Aber der Mond sieht aus wie eine Frau, die aufsteigt aus dem Grab … So reden sie draußen. Und reden vom wilden Verzückten, der drunten in seiner Tiefe heult, und vom Tetrarchen, der es verboten hat, mit diesem heiligen Narren zu sprechen … Und dazu das Motiv, der brünstige, winselnde Pantherschrei …

»Da ist einer, der liebt die Prinzessin Salome. Alle lieben und begehren sie, aber dieser am meisten, am ehrlichsten, Narraboth, der junge Hauptmann der Leibwache. Er vergeht nach ihr; er fiebert nach ihr, daß seine Rüstung klirrt; er glüht nach ihr, daß sein Harnisch schmilzt …

»Aber sie: sie liebt keinen. Alle haßt und verachtet sie, den lüsternen Tetrarchen mit seinen Maulwurfsaugen, die feilschenden Juden, die wüsten Römer, den einfältigen Narraboth. Alle haßt und verachtet sie, nicht aus Tugend, nein, aus Sünde. Weil ihre Liebe vielleicht noch zu wenig Sünde ist, zu wenig Verderbnis, zu gewöhnlich. Sie ist wie eine Schwefelquelle, die alles um sich her versengt, um die her der Boden faul ist. Und ihre Seele ist wie das tote Meer, ein Sumpf tief unter dem Tiefland, ein trüber, tödlicher Sumpf. Aber sie ist schön. Schön wie eine bunte Schlange, wie eine glattgeschmeidige Gepardin, wie ein Opal, wie eine nackte schwüle Orchidee. So schön ist sie mit ihren jungen zarten Taubenjahren, ein Kind beinahe noch, und doch schon ein uraltes Ungeheuer, die Würgerin von Ewigkeit an, die Prinzessin Salome.

»Sie kommt heraus, erhitzt und doch eiskalt, wie das grüne Feuer im Auge der Tigerin. Sie will nicht drinnen bleiben bei den Juden, die um ihren Gott feilschen, den verschlagenen Ägyptern und den brutalen Römern. Der lüsterne Tetrarch ist ihr widerwärtig. Hier draußen streicht wenigstens die kühle Mondluft über die Wüste … Nein, sie will nicht mehr hineingehen; sie schickt den Sklaven des Tetrarchen zurück. Nein, sie will sich auch nicht in der Sänfte durch die Palmenhaine tragen lassen, wie Narraboth ihr anbietet. Dieser Narraboth, der Narr seit Ewigkeit! … Er verfolgt sie mit seiner zudringlichen Sorgfalt … Aber was liegt ihr an Narraboth! Sie hört das unterirdische Heulen des Propheten: das kitzelt ihr Gelüst. Den unterirdischen Propheten will sie sehen, betasten, haben. Nicht Narraboth. Den Propheten, der so böse Dinge über ihre Mutter sagt, den der Tetrarch fürchtet, mit dem zu sprechen so strenge verboten ist. Und eben darum. Der unterirdische Prophet soll vor sie geschleppt werden. Narraboth fleht. Es sei untersagt, es sei gefährlich, es dürfe nicht geschehen … Sie besteht. Oh, er weiß ja, daß er es tun wird! Und sie wird ihm morgen unter den Schleiern zulächeln, sie wird ein armes grünes Blümchen für ihn fallen lassen … Narraboth weigert sich: es sei nicht gut, nicht ratsam, nicht gestattet. Lästiger Warner! Sie will den heulenden Mann aus der Zisterne haben … Narraboth mahnt, sie knirscht: sie will den zottigen Propheten aus dem Loche haben … Narraboth beschwört, sie faucht: sie will den Propheten haben! Und er weiß ja, daß er ihren Willen tun wird … Und Narraboth gehorcht. Johanaan wird heraufgebracht. Drinnen geigt und girrt und schäumt das Gelage. Johanaan steht vor ihr in der dumpfroten Fackelnacht, hohl, starrend von Unrat, haarig, mit unheimlichen Augen, ein Gespenst …«

Ingeborg Sartorius trat zurück.

»Das also ist er … Ah! …

»Narraboth winselt. Immer stört er mit seinem Jammer! … Da sie doch nur den Propheten sehen will, den Mann, der ihre Mutter schmäht und den der Tetrarch fürchtet … Sein Fleisch muß sehr kühl sein, die Stimme, die sie schilt, däucht sie wie süße Musik, daß sie ihrer mehr zu vernehmen begehrt … Aber seine Augen, seine Höhlenaugen, in denen die Rache haust, seine Augen sind schrecklich … Und nun kommt's … Nun beginnt's … Nun fängt erst die Musik an … Diese Musik! …«

Plötzlich packte sie Benedikts Schulter.

»Können Sie das spielen? Sie können es! Sie können es! … Kommen Sie!«

Sie flammte.

Siebenschein sah zu ihr auf.

»Es ist sehr schwer und sehr fremd …«

Sie herrschte ihn an.

»Sie können es. Sie müssen es können! … Wenn ich will, so müssen Sie können! … Diese Musik! Sie gibt sich ja einem hin. Sie saugt einen in sich hinein. Oh, kommen Sie. Sie können's! … Kommen Sie rasch, ich brenne!«

Benedikt trank gierig sein Glas leer. Und gehorchte, voll eines süßen schweren Schwellens, das ihm jeden Mut gab und alles unter ihm schwinden ließ.

»Nun stehen sie voreinander, Angesicht zu Angesicht, der Heilige und Ischtar, von Ewigkeit beide. Und daneben zittert Narraboth, geschüttelt von Gram und Eifersucht, der Narr. Denn nur für den uralten Unbesiegbaren hat die uralte Siegerin Augen, Mund, Leib und Gelüst. Nur für ihn. Und drinnen lallt das Bacchanal. Und draußen singt sie ihm ihre Sehnsucht, ihre Sinne. Und in der Wüstennacht schreien die Hyänen. Und drunten blinkt das tote Sumpfmeer … Hier, ganz zart, ganz duftig und entrückt, folgen Sie nur mir …«

Und sie sang. Sie sang kosende Tauben im Weinlaub, sie sang blendende Siegsdrommeten, sie sang Purpur, Ambra, Elfenbein, wilde, schmeichelnde, wahnwitzige Gleichnisse. Sie sang des Propheten schmutzstarrende, von Ungeziefer zerfressene Haut zu Schwanengefieder; sie sang seine verfilzte, von Spinnen durchwobene Haarbrut zu Rosengärten; sie sang seinen armen schwärigen Büßerleib zu einem Tempel, zu einer seligen Insel, zu einem Paradies …

Und Benedikt spielte. Wie jener goldene fremde Wein, so ging diese fremde schwüle schluchzende Musik in ihn ein, bot sich ihm dar, steckte ihn an, daß er brannte. Wie von selbst gestaltete sich seinen Händen, was da an verwirrenden Zeichen durcheinanderschwärmte. Er erschrak nicht. Er fühlte sich mutig und stolz. Er spielte sich in einen unnennbaren Sieg hinein. Die fremde Musik überfiel ihn: aber nicht wie eine bange Finsternis, die den Weg verlegt, sondern wie der plötzliche Anblick großer letzter Dinge, vereinsamter Hochgipfel, uferloser, erschütternder Meere, die man erlöst aufweinend als Heimat begrüßt, als Geheimnis und Erfüllung. Ganz selbstverständlich wurden ihm diese betörenden Wunder und Wagnisse, selbstverständlich, als habe er seit langem ihrer gewartet; und doch so neu und überwältigend, daß sein Herz von einem- zum andernmal, von sinkendem Schwindel ergriffen, in eine blutrote Tiefe stürzte …

Sie deutete ihm Einhalt.

»Er weist sie von sich ab. Zurück, du Schlange, du Otterngezücht, du Seuche, du Tochter des Teufels, du Unheil der Welt! … Er will sich von ihr nicht berühren lassen, er brüllt sie an, er schnaubt, seine schwarzen Seheraugen verdammen sie … Und Narraboth wimmert: Schau ihn nicht so an, Prinzessin, wie schaust du ihn denn an? Und winselt: Laß ab von diesem Menschen, Prinzessin, von diesem Heiligen des Herrn, laß ab von ihm, es ist nicht gut! … Wer ist Narraboth? Verliebte Hundeseele! Den Heiligen des Herrn will sie haben. Keinen anderen. Den will sie streicheln, salben, liebkosen. Und da er es ihr weigert, beschimpft sie seinen Leib, den Leib aus Sandelholz und Elfenbein, den sie so gepriesen, die Locken aus hangenden Rosen, die ihr so geduftet … Beschimpft sie. Schreit wie eine wütende Katze. Heißt seinen Leib einen Schlammpfuhl, eine einzige große Krätze, eine Pest, einen Haufen der Verwesung! Schreit, kreischt, kläfft, schäumt. Sie will seinen Leib doch gar nicht. Sein Leib ist doch eine ekle Schwäre, ein Schlangengarten, ist eine sickernde Wunde voll Fäulnis … Ist ein Pfuhl, eine ätzende Kröte, ein anbrüchiges Tier voll Maden und Fliegen … Sie will seinen Leib doch gar nicht, noch sein Haar, das so schwarz ist wie eine Nacht, in der die Sterne sterben … Aber seinen Mund will sie haben, seine süßen Samtlippen, die wie Kissen der Liebe sind … Den Mund will sie haben, küssen, in sich hineinschlürfen … Da ersticht sich Narraboth. Das hält er nicht aus … Was ist uns Narraboth? Lieg da. Kadaver. Phö! … Was haben wir mit Narraboth zu schaffen? Verreck, du Jammeraas. Phö! … Die Lippen des Propheten wollen wir küssen. Uns daran verbrennen. Vergiften … Weiter; hier …«

Und sie sang die Trunkenheit von den schmelzenden Fruchtlippen des Heiligen, von seinem geliebten sanften reinen Munde, der wie junger Mohn ist, noch ungepflückt, noch unberührt, und darum so berauschend; der wie eine reife Traube ist, wie ein schweres, saftiges, von Süßigkeit gespanntes Beerenpaar, röter und seliger als alles in der Welt; röter wie die Tiefe der Purpurschnecke, röter wie der Abgrund des Abendmeeres, röter als die zarten Füße der heiligen weißen Tauben im Tempel … Und Benedikt spielte die verwirrenden unkeuschen Geigen, die lechzenden Celli, die kitzelnden Flöten; er spielte die schwingenden, schwebenden, wiegenden, ringenden, schluchzenden Stimmen, die voll heimlicher Wut sind, voll Mohn und Nachtschatten und Bilsenkraut … Und vor seinen Sinnen war nichts als ein blutiges Mohnfeld, weit hinaus, bis an den Rand der Welt … Alles rot, eine rote Nacht, eine Ewigkeit von brennenden Blumen, Fackeln, Mündern … »Ich will deinen Mund küssen, Johanaan, deinen Myrrhenmund, deinen sanften girrenden Taubenmund …« Ihre Stimme ist wie Tau, wie Wein, wie Weihrauch, steil wie eine Lilie, schlank wie eine Klinge … »Laß mich deine Honiglippen küssen, Johanaan, deine Nardenlippen, deinen Granatapfelmund …« Plötzlich, mitten in den Fluchten jagender Bilder, steht vor Benedikt eine Vision auf: der mystische Urwald von Subiaco, wo zwischen Zypressen und Ölbäumen verwitterte Götzenbilder stehen … Da lebt der Heilige und reift und wartet, und die nackten Göttinnen steigen von ihren grauen Sockeln herunter und umdrängen ihn mit ihren verlangenden Brüsten … Und er reißt sich die härene Kutte vom jungen Leibe, daß die Geißelmale rot aufbrennen in der weißen Alabasterhaut … Und er wirft sich in die Nesseln, daß ihr scharfes Feuer jene Flamme in ihm verbrenne, daß die Wundenmale schwären und Blasen treiben … Das Gesicht taucht hinab … »Ich will deinen Mund küssen, Johanaan, deinen Mund will ich küssen – laß mich deinen Mund küssen, Johanaan …«

Sie deutete Schweigen; Benedikt ließ die Hände von den Tasten gleiten.

»Aber der Heilige des Herrn donnert sie zurück. Weich von mir, du Gestank, du Unflat, du Höhle der Verwesung! … Ich will deinen Mund küssen, Johanaan … Rühr mich nicht an, du Sünde! Nur einer ist, der dich vielleicht erlösen kann von deinem uralten Fluche! Und er sagt ihr von dem, der am Strande des blauen Sees unter den demütigen Fischern lebt, der das Licht ist und die Barmherzigkeit. Zu dem möge sie gehen in ihrer Verirrung. Vor dem möge sie sich in den Staub beugen und seine Füße küssen und seine Schuhriemen mit Tränen netzen … Vielleicht, daß er in seiner goldenen Huld sie von ihrer Seuche reinigt … Hier, ich will es versuchen …«

Und in tiefem, holdem Alt sang sie des finsteren Propheten Verheißung, so weich, so gütig, daß sie erstrahlte wie ein tränenklarer Herbsttag zwischen zwei zerrissenen Sturmnächten. Wie ein sanfter, satter Edelstein, der tief erfüllt ist von seiner Farbe und geläuterten Ruhe, so leuchtete ihre Stimme. Ein Segnen und Verzeihen ging von ihr aus, ein Heiligenschein, der fiel weit hinaus in den blauen See Tiberias und seine weißen Segel und die Lahmen und Blinden, die an seinem Gestade harrten …

»Aber davon will sie nichts wissen … Deinen Mund will ich küssen, Johanaan … Sie hält sich die Ohren zu: deinen Mund will ich küssen, laß mich ihn küssen, deinen Mund … Ihre Krallen spreizen sich an ihren Panthertatzen; ihr schmaler Leib zuckt nach dem Sprung. Da steigt er hinab in seine taube Tiefe, in die Finsternis, ins Vergessen, ins Schweigen der Steine … Johanaan versinkt …«

Benedikt atmete schwer, seine Pulse sprangen wie auf blinder Flucht.

»Da kommt Herodes mit seinem Gefolge, feilschenden Juden, Gauklern, Dirnen, mit der alten Wölfin, Herodias. Ihm ist schwül, er will im Freien weiter tafeln. Er hält es in den dumpfen Sälen nicht mehr aus. Fackeln, Blumen, Teppiche! … Ah, da ist Salome! Warum wollte sie nicht wieder hineinkommen zum Gelage? … Es ist hier draußen auch schwül … Nein, schneidend kalt … Nein, doch schwül … Die Hitze des schweren Mantels würgt … Der Rosenkranz auf dem Haupte macht so heiß … Und seltsam, dies Rauschen in den Höhen … Der Mond sieht aus wie ein verbuhltes, wahnwitziges Weib, trunken taumelt er durch die Wolken … Die Luft ist voll von kühlen Flügeln, voll rauschender Totengeier, voll Eulen, voll Gräberwind, voll Gewissen … Seltsam. Es ist eine böse Unrast in den Höhen … Nur Herodias will's nicht sehen. Nein, der Mond ist wie eben der Mond, und die Luft ist still und kein Wind geht um, nur Herodes ist trunken, trunken vom Weine, trunken vom Anstarren Salomes. Er soll sie nicht so ansehen, immerzu schaut er sie an, die anzublicken ihm verboten ist nach dem Gesetz … Nein, Salome will nicht mit dem Tetrarchen trinken noch von seinen Früchten essen. Sie ist ungezogen, die Tochter der Herodias … Ganz recht hat sie, sie ist von königlichem Blut und eine Prinzessin von Judäa, des Herodes Vater aber war nur ein Kameldieb … Aus der Tiefe der Steine heult die Stimme des Propheten. Diese schreckliche Stimme! Herodias hält sich die Ohren zu. Sie will sie nicht mehr hören, diese bohrende Stimme. Was liefert der Tetrarch den gefährlichen Narren nicht den Juden aus, da sie doch nach seinem Blute lechzen? … Er hat Gott gelästert, denn er sagt, er habe ihn gesehen … Und seit Elias hat niemand Gott gesehen, und selbst von ihm weiß man nicht, ob er Gott wahrhaft gesehen hat, oder vielleicht nur den Schatten Gottes … Ah, er fürchtet sich vor dem unterirdischen Propheten, der Tetrarch, der Sohn des Kameldiebes! … Er fürchtet sich vor ihm, und darum sagt er, Gott habe ihn mit seinem Finger angerührt … Nein, Herodes fürchtet ihn nicht. Und er opfert ihn nicht. Und er befiehlt der kläffenden Blutwölfin zu schweigen … Denn nicht sie will er hören, sondern Salome, die süße Salome. Er ist so traurig in dieser Nacht, sie möge ihm tanzen … Nein, meine Tochter wird nicht tanzen, und du sollst sie nicht so ansehen … Tanz für mich, Salome, und die Hälfte meines Reiches soll dein sein … Du wirst nicht tanzen, meine Tochter … Tanz für mich, Salome, jeden Lohn, den du begehrst, schwöre ich dir zu … Ah, du schwörst, Tetrarch? … Ich schwöre, Salome, bei allem, was mir heilig ist, bei Göttern und Kronen und Gräbern … Du hast einen Eid geschworen, Tetrarch! … Ich will nicht haben, daß meine Tochter tanze, während der da drunten schreit … Tanz für mich, Salome, ich bin so traurig zu dieser Nacht … Die Luft ist voll Raunen und Geiern und Eulen, es ist heiß, gießt mir Wasser über die Hände, Eiswasser! … Tanze, Salome! … Der Tetrarch fleht, schmeichelt, verheißt. Ihm ist so bang, er vernimmt von einem Manne, der umgeht im Lande und die Toten erweckt, er hört die Stimmen des Unheils in den Wolken, er sieht den schaudernden Mond, er sieht die Schatten über sich kreisen … Tanze, meine Taube, meine Königin, Salome, tanze für mich, und dein soll sein, was du begehrst … Du hast einen Eid geschworen, Tetrarch! … Sie soll nicht tanzen, meine Tochter, sie darf nicht, sie wird nicht … Ich bin bereit, Tetrarch … Ein Blitz huscht durch sie hindurch, sie erstarrt, ihre Augen glimmen … Ich bin bereit, Tetrarch …

»Und tanzt. Dieser Tanz! Ah …« Ingeborg Sartorius dehnte sich mit einem wilden Seufzer. »Dieser Tanz! Pauken, Zymbeln, Hackviolinen, ein Schlangentanz. Der Tanz der sieben Schleier.« Die Sängerin wiegte sich in den Hüften. »Haben Sie jemals indische Gaukler gehört? Nein? Es ist keine Musik, was sie mit ihren Fideln und Flöten machen, es ist ein wirres, häßliches Jahrmarktgeheul, Budengetrommel, Menagerieskandal. Man hört immer schon das Fauchen und Knurren und Aufheulen großer bunter Katzen in unsichtbaren Käfigen. Man riecht rohes Fleisch und den beizenden, brünstigen Raubtierdunst. Und doch ist es irgendwie Musik; erst recht Musik. Schrecklich aufregend, aufreizend, bannend. Es ist Musik, die foltert und wahnsinnig macht. Man könnte schließlich dazu Feuer schlucken und auf Dolchen tanzen. So beginnt das … Die zusammengeringelte Schlange erwacht. Hebt den herzrunden Kopf. Züngelt. Dehnt den Hals, richtet sich auf, sieht drohend umher. Zischt. Spielt mit der gierigen Zungengabel. Bläht sich. Hebt sich noch höher, bis sie nur mehr auf einer Schleife ihres Körpers steht. Da fällt die wilde Musik besänftigend ab, beginnt von neuem, ganz dumpf und trocken und hohl und lähmend. Und die Wüstenschlange beginnt sich auf der Schlinge nach dem Takte zu wiegen. Wiegt sich, windet sich, spannt sich, atmet stille Krämpfe. Ihre grünen Schuppen glitzern im Fackelschein. Von ferne, aus den Bergen der Leoparden, aus den Schluchten der Löwen schreit die heiße Nacht. Die tausendäugige Nacht, die mit ihren Tatzen auf der Erde liegt und ihr Blut trinkt. Drunten in der Tiefe voll Brodem blinkt der tödliche Asphaltsumpf … Das ist der Tanz der Wüstenschlange, der Prinzessin Salome.

»Die Musik wird wilder, werbender. Die Schlange verwandelt sich. Sie wird zur Flamme und weht und leckt und duckt sich und springt. Immer schneller. Knisternde Feuerbüschel sprühen von ihr ab und zerstieben droben in der Nacht. Sie schießt empor und sinkt zusammen und sträubt sich auf und droht zu verlöschen – da schmilzt die Musik in unsäglichen Wohllaut über, und aus der sterbenden Flamme blüht Salome selber hervor. Salome, die der unterirdische Prophet verschmäht hat, der heilige Tor …

»Und Salome tanzt alles, was sie ihm gegeben hätte, dem schaurigen Propheten. Alles tanzt sie, alle Süßigkeit, alle Sehnsucht, alle Sinne, alle Sünde. Sie tanzt ihren eigenen jungen knospigen Leib, ihre brennenden Augen, ihr dunkelweinrotes Haar, sie tanzt ihre drängenden Brüste, ihre schmalen Lenden, sie tanzt das hohe Lied! … Liebesnächte tanzt sie, Liebesnächte, die sie dem Heiligen geschenkt hätte, auf nardenduftendem Lager, umhangen mit Rosen, die Lippen mit Myrrhen gewürzt … Sie tanzt purpurne Raserei, eine Orgie, den Biß ihrer Liebe, den Tatzenhieb ihrer weißen Mädchenhände, die stöhnende, lechzende, hochaufgebäumte Wut ihres Körpers, wallenden, wirbelnden, wogenden, erlösenden Untergang, das selige Grauen der Erstarrung … Und stürzt zusammen, dem Tetrarchen vor die Füße …«

Ingeborg Sartorius schöpfte Atem, fuhr sich mit der Hand über die Stirn, strich das Haar zurück.

»Herodes ist außer sich. Johlt und blökt vor Entzücken. Vor ihm steht Salome, totenblaß, zitternd wie eine Gazelle. Welchen Lohn sie begehre, alles wolle er ihr geben, alles. Da bricht es wie eine süße Blüte aus ihrem jungen Munde: Sie will auf einer silbernen Schüssel … Aber gewiß, auf der kostbarsten unter den getriebenen Schüsseln, sicherlich, und wenn es die herrlichsten Juwelen des Kronschatzes wären! Was begehrt die schöne, geliebte, reizende Salome, aller Prinzessinnen entzückendste? … Auf einer silbernen Schüssel nur das Haupt des Johanaan! … Wie eine Liebkosung lächeln es ihre holden Lippen …

»Der Tetrarch brüllt zurück … Nein, nein! … Herodias zischt: Ah, das hast du gut gesagt, meine Tochter … Nein, nein, das kann nicht sein. Er hat nicht recht gehört … Das ist nicht ihr Ernst … Sie scherzt nur, weil er sie mit seinen Blicken so belästigt … Das kann nicht sein … Wo er doch so schöne Dinge hat, daraus sie nach Belieben wählen mag … Nichts davon: auf einer silbernen Schüssel das Haupt des Johanaan … Salome, meine Prinzessin, du hörst nicht auf mich. Ich habe die herrlichsten Schätze der Welt, die edelsten Renner, die erlesensten Windhunde, die köstlichsten Gärten. Ich habe hundert weiße Pfauen, die in heiligen Hainen wohnen … Nichts davon. Auf einer silbernen Schüssel das Haupt des Johanaan … Salome, mein Kind, meine süße Prinzessin, höre auf mich! Ich habe Schicksalssteine, die noch niemand gesehen hat, Juwelen, die Frauenhände niemals noch berührten, ich habe Perlen und Topase, wie sie keinen Tempel der Welt schmücken … Ich will dir alles geben, alles, nur den Kopf jenes Mannes, den Gott berührt hat … Nichts davon. Ich wünsche auf einer silbernen Schüssel das Haupt des Johanaan. Du hast einen Eid geschworen, Tetrarch … Salome, ich habe Steine des Zaubers, der Verführung, der Liebe. Salome, höre mich doch, sieh nicht so starr! Salome, ich habe Stirnbänder mit Rubinen so rot wie die Augen der weißen Tauben … Salome, ich habe unterirdische Schätze, davon niemand ahnt … Berylle, wie sie keine Königin der Erde jemals trug, Perlen so groß wie reife Weinbeeren, Opale, die so schön sind wie du selbst … Nichts von dem: Ich wünsche auf einer silbernen Schüssel das Haupt des Johanaan! Du hast geschworen, Tetrarch … Salome, was hast du vom Haupte jenes heiligen Mannes? Es ist nicht gut, gefällte Köpfe zu berühren. Du weißt es nur nicht, Salome … Und der alte Raubvogel kreischt: Das hast du gut gesagt, meine Tochter! Siehst du, sie ist von meinem Blut, meine Tochter! … Salome, ich habe Saphire so groß wie Datteln … Salome! Ich will dir geben, was du begehrst! Den Mantel des Hohepriesters mit den zwölf Steinen? … Den Vorhang des Tempels, willst du ihn haben? … Den Tempel selbst, alles, den Himmel, den Mond, die Sterne? … Nichts von dem: ich will auf einer silbernen Schüssel den Kopf des Johanaan … Da sinkt er zusammen. Man soll ihr geben, was sie verlangt … Und der Todesring wird ihm vom Finger gestreift …

»Das Orchester schwirrt, schaudert, fiebert, röchelt. Die Geigen feilen, hacken, bohren, schaben, nageln, endlos … Salome horcht über den Brunnenrand hinunter in die hallende Tiefe. Ihre Nägel kratzen den Stein, die Violinen trommeln vor Angst. Sie keucht, sie kläfft, sie winselt … Noch immer nicht. Noch immer nicht. Der schwarze Henker hat den Mut verloren. Er hat Furcht vor dem Propheten, der Feigling! … Der Prophet hat ihn mit seinen bösen Büßeraugen angesehen … Naaman, Naaman, schlag doch zu, Memme! … Weicht zurück vor dem hohlen Blick und hat doch ein breites Schwert … Der Hund! … Da, oh! … Es ist etwas zu Boden gefallen, es ist etwas zu Boden gefallen, zu Boden gefallen … Das Schwert, das Schwert … Er hat das Schwert fallen lassen, das Henkerschwert … Steigt hinunter, geht doch hinunter! Tetrarch, befiehl deinen Leuten hinabzusteigen! Sie wollen mir nicht geben, was mir gehört! … Sie wollen mir das Haupt des Johanaan stehlen. Sie sind feige. Hast du gehört, Tetrarch! … Gebiete deinen Leuten hinabzusteigen, daß sie mir das Haupt des Johanaan holen! Du hast es mir geschworen! … Hierher, Soldaten … Er hat das Schwert fallen lassen … Es ist etwas heruntergefallen … Es ist etwas gefallen!« … Die Sängerin sprang zurück, ihre Stimme schrillte … »Und da wächst der haarige Riesenarm aus der Erde hervor und bietet auf silbernem Schilde das Haupt des Johanaan, das schwarze, klaffende Haupt …

»Und Salome nimmt es. Wie man eine Blume nimmt. Wie man sein Liebstes und Letztes und Heiligstes und Einzigstes nimmt. Sein Haupt! Mit dem Munde, der wie eine sanfte, duftende Frucht gewesen! … Mit dem linden Haar, das ihn umkränzt, wie ein Rosengarten! … Das stumme arme Haupt ihres Geliebten! … Denn er war doch ihr Geliebter gewesen! … Ihm hatte sie sich doch gesalbt und bereitet, ihm hatte sie doch die jungen Rehe ihrer Brüste geschenkt, er war es doch, der zum Myrrhenberge gehen durfte und zum Weihrauchhügel! … Oh! … Und sie nimmt sein wundes, triefendes Haupt ganz kostbar zwischen ihre zarten Kinderhände. Wie man den Kopf eines kranken Kindes aufhebt von den schwülen Fieberkissen … So hält sie seine blutige Maske vor sich hin … Oh, was hast du mich nicht küssen wollen, Johanaan? … Was hast du mich nicht ansehen wollen, Johanaan? … Du hättest Salome sehr lieb gehabt … Und nun wird Salome dich den Hunden vorwerfen oder den Geiern … Was hast du mich nicht küssen wollen, Johanaan, du von deinem Gotte Geblendeter? … Jetzt bist du mein, und ich kann dich küssen, wenn ich will, und du mußt deine bösen Augen geschlossen halten … Und ich darf in dein kühles Fleisch hineinbeißen, da nicht Wein noch Äpfel mein Begehren stillen … Und ich kann dich den Schakalen vorwerfen, und den Hyänen, die draußen in der Wüste bellen …

»Und sie singt ihm. Sie singt ihm noch einmal alles, was sie ist und was sie hat, ihre ganze paradiesische Hölle, ihren ganzen verdammten Himmel … Und die Schatten der Wolkengespenster schauern über sie hin … Hören Sie …«

Sie deutete Benedikt den Einsatz. Und sie sang und hielt das schwere tropfende Haupt des Propheten zwischen ihren Händen; sie sang, daß es ihn überlief, daß ihm graute, daß er zitterte. So schön sang sie; so verzehrend und unwiederbringlich. Sie koste mit ihrer Seidenstimme die hohlen Wangen voll eisiger Schatten; sie umflocht mit ihrer Rosenstimme seine kantigen trotzigen unnahbaren Schläfen, die harte Stirne, über die scharlachtriefende Haarnattern hereinlecken; sie hob in der funkelnden Schale ihrer Stimme sein starres Antlitz an ihre Lippen wie einen Trank, und küßte es, küßte es, verküßte ihr glühendes Leben an den aloenbitteren Mund des Todes … Der Mond droht vom Himmel herabzustürzen … Die Sterne erblinden … Ein eisiger Sturm fährt um die Burg … Manasse, Isaschar, Ozias, verlöscht die Fackeln, reißt den Mond herab, die Sterne, erstickt sie, ich will nichts sehen! Der Tetrarch taumelt vor Grauen … »Du hast mich nicht küssen wollen, Johanaan; warum hast du mich nicht küssen wollen? Du hättest besser getan, mich zu küssen. Nun sind deine Augen blind, und dein Mund ist bitter worden …« Der Mond bricht wieder hinter den rasenden Wolken hervor, in vollem Lichte steht sie wie eine träumende Lilie … »Dein Mund ist bitter worden, Johanaan … Sie sagen, daß die Liebe bitter schmecke … Allein was tut's? Ich habe deinen Mund geküßt, Johanaan …« Und sie schreckte mit einem Schrei zusammen und schleuderte das purpurschwarze Haupt von sich, und es rollte dumpf durch die Stube und blieb liegen …

Ingeborg Sartorius sah alt aus, aschenkalt, verloschen. Ihre Augen waren trüb. Ihre Stimme erstickte.

* * *

Benedikt begleitete sie nach dem Eggerhofe. Sie sprachen kaum. Sie ging langsam und sah ihn nicht an. Die Abenddämmerung hing voll Gewitter, es blitzte in den Fernen, dann und wann murrten die Wolkenlöwen.

Nun standen sie vor dem Zauntor. Ingeborg Sartorius streckte die Hand aus. »Ich danke Ihnen sehr. Sie sollten werden, der Sie sind. Leben Sie wohl. Gute Nacht. Vielleicht sehen wir uns noch einmal. Irgendwo draußen in der Welt. Vergessen Sie mich nicht. Leben Sie wohl.«

Langsam ging sie ins Haus hinein.

Die schwülen Grillen sangen in den Wiesen. Das Gewitter kam schwarz und groß herauf.

Benedikt kehrte nach dem Pfarrhofe zurück, betäubt, vergiftet.

In den oberen Stuben brannte Licht. Man hatte wohl die geweihten Kerzen angezündet. Zum Schutze gegen den Strahl. Steinern malmte der Donner durch die Abgründe der Himmel.

Der Pfarrer war noch nicht heimgekommen. Große harte Tropfen tappten auf. Bei solchem Wetter blieb er sicherlich unter gastlichem Dache. Gerade nach der Stadt zu sah es aus, als sei die Nacht auf die Gebirge heruntergefallen.

Benedikt tastete sich die enge Stiege hinan. Oben stand schon die Mali und wartete auf ihn mit hochgehaltenem Lichte. Sie war froh, daß er noch vor dem Ausbruche das Haus erreicht hatte.

Benedikt starrte wirr und warm auf das Fräulein herunter. Er fühlte sich aus furchtbaren Urwäldern plötzlich zu lieben, guten Menschen zurückgekehrt.

Er lachte unsicher. Er schwankte.

»Der hochwürdige Herr Doktor ist gewiß noch recht bös auf mich?«

»Böse, warum?«

Sie stand ganz dicht vor ihm.

»Wegen dem anderen – der Herr Doktor weiß schon …«

Er lachte prahlend heraus.

»Der andere, Fräulein Mali, der andere – ist ein Narr! … Und ich – ich bin auch ein Narr!«

»Der Herr Doktor muß ins Bett gehen … Der Herr Doktor ist krank …«

»Ins Bett? … Nein, ich werde nicht ins Bett gehen … Ich bin sehr gesund … Ja, sehr gesund …«

Fräulein Mali erschrak. Und doch stand er ganz sicher da auf beiden Beinen, nur seine Augen flackerten unsicher, und auf seinen schmalen Wangen brannte ein gefährliches Feuer.

»Fräulein Mali …«

Sie sah weich zu ihm auf.

»Fräulein Mali – ich bin so froh – daß ich wieder bei Ihnen bin – und mir ist heute überhaupt so leicht – so ganz anders …«

Sie schlug den Blick zu ihrem Schürzenzipfel nieder.

»Und ich bin auch so froh, daß mir der Herr Doktor das net übel genommen hat – das andere … Der Herr Doktor weiß schon … Der Herr Doktor weiß ja selber net, wie gut daß ich's mit ihm mein … Alles möcht ich dem Herrn Doktor geben, was ich hab – – – alles …«

Er würgte noch etwas zurück.

»Wirklich, Mali?«

Sie rang den verblaßten fettigen Türkisring an ihrem Finger.

»Ja, Herr Doktor … Wenn der Herr Doktor nur ein bissel gut und lieb zu mir is … Man hat ja so nix vom Leben …«

Da sah er jählings in den uralten Krater voll Glut und Geheimnis hinab; hinab in die Tiefe, hinab in den Schoß der Erde. Und ihm schwindelte, sein Blut schoß brausend zusammen, in seinen Pulsen klang und girrte und schluchzte Salome; er sah Salome, er sah sie überall, sie stand vor ihm, sie verlangte nach ihm, sie breitete ihm die Arme aus … Sein Blut schoß singend in seine Knie nieder und drängte zum Sprunge … Er hielt sich noch, er sah in aufblitzendem Gesichte den Hain der nackten Göttinnen, den rauhen Brennesselbusch … Er schlug um sich und ließ sich los und stürzte schwer in den Abgrund hinunter.

Der volle Regen rauschte; die geweihten Kerzen brannten.


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