Emil Wilhelm Frommel
Aus der Chronik eines geistlichen Herrn
Emil Wilhelm Frommel

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Sechstes Kapitel

Etwas von einem Erb-Onkel und noch von einem andern

Erbenwollen steckt den Leuten insgemein sehr tief im Herzen. Denn es ist freilich ein ganz angenehm Ding zu ernten, wo man nicht gesäet hat, und sich so ohne weitere Belästigung ins Volle hinein zu setzen. Bei dieser Gelegenheit kommt aber der alte Mensch oft recht unfrisiert zu Tage. Da lebt z.B. ein alter Großonkel, kinderlos und reich und hat dabei eine ansehnliche Verwandtschaft. Je älter er wird, desto interessanter wird er den Leuten. Kommt sein Geburtstag, dann kommen auch frische Sträuße oder eine Straßburger Gänsleberpastete für ihn an, und am Neujahr kommen sie nach einander, dem Herrn Großonkel »ein glückseliges neues Jahr zu wünschen, und noch viele Jahre Gesundheit und langes Leben.« Alles aus purer, reiner Nächstenliebe. Wird er krank, kommt ihn ein Fieberlein oder Schwindel an, da giebt's bedenkliche Gesichter und man läßt fragen, wie's dem Herrn Großonkel gehe, ob er eine geruhsame Nacht gehabt. Der Herr Medizinalrat wird auf der Straße angehalten und konsultiert, ob's bei dem alten Herrn wohl etwas auf sich habe, oder ob dem Wetter zu trauen sei. Aber der Herr Medizinalrat merkt, wo's hinaus will, und spricht wie das Orakel von Delphi in dunkler Rede: »Wenn's mit dem Herrn so und so geht, dann wird es auch so und so gehen.« Und die Person, die dem Onkel das Haus hält, wird auf die Seite gezogen und ihr der Herr Onkel warm ans Herz gelegt, und dann noch so etwas gesagt wie: »Wenn's aber sein sollte, wir wollen's aber nicht hoffen, daß es je mit dem Herrn Onkel anders geht, dann sind Sie so gut und lassen's uns gleich wissen. Übrigens an Himbeersaft oder einem Gläslein Champagner soll's nicht fehlen, wenn der Herr Onkel dadurch erquickt werden kann.« Und hintennach kommt noch: »Wir werden Sie gewiß nicht vergessen, Kathrine.« – Hat aber der Herr Onkel das Zeitliche gesegnet, so geht's oftmals scharf her, ganz kurz nach dem »harten Fall;« und der Notar oder Amtsrevisor weiß manchmal nicht, wo die Erben in die Schule gegangen sind, ob bei einem Herrn Professor oder bei einem Schweinehirt. Und wo's nicht gerade so schlimm hergeht, geht's doch auf andre Art nicht viel besser. Da ist eine Familie ganz in Ruhe, arbeitet fleißig und betet dabei und ist zufrieden mit dem täglichen Brot und Kleidung. Da kommt des Abends in der Dämmerung eine Base und räuspert sich erst und fängt ihren Sermon dann an, ob denn der Herr Vetter auch schon gehört hätte von dem alten Onkel, der von Urgroßvaters Seite her Nachgeschwisterkind sei. Der Vetter horcht auf, denn er hat früher nichts gewußt von diesem Besitz und bittet fortzufahren. »Ja, der ist vor stark fünfzig Jahren hinüber übers große Wasser nach Surinam, weit dahinten, und ist Euch ein steinreicher Mann geworden.« Und der Vetter horcht noch mehr auf und bittet um geneigte Fortsetzung. »Ja der ist gestorben und hat keine Leibeserben hinterlassen, und der König von Holland läßt jetzt ausschellen: »Alles, was mit dem verstorbenen Christoph Friedrich Müller auf Surinam verwandt ist, soll sich bei mir melden. Wer nicht kommt, der kriegt auch nichts.« Jetzt ruft der Vetter seine Frau, denn die Sache wird ihm doch heiß und zu dick, um sie allein zu verarbeiten. Und die Base muß noch einmal alles haarklein erzählen, und der Vetter sieht auf seine Frau, was sie für ein Gesicht dazu macht. »Vetter,« sagte zuletzt die Base, »Ihr müßt Euch dran halten, drüben im Ried sind sie schon alle auf den Beinen, an denen wußelt und zappelt alles. Ihr habt ebenso gut ein Recht und seid noch näher in der Verwandtschaft.« Und der Vetter denkt: ja, das könntest du auch mitnehmen, für dich und deine Kinder, und wenn's nur ein paar tausend Gulden wären, die thäten dir schon gut. – Und der Base wird aufgewartet, was Gutes im Haus ist. Und nun geht die Unruhe los. Der Vetter macht sich auf übers Gebirg, und will sich Rats erholen und hört, daß die Verwandten schon alle Tauf- und Totenscheine beieinander haben, und ihnen der Ratschreiber einen schönen Brief an den König von Holland aufgesetzt hat, um die Sache »durchzudrücken.« Der Vetter geht auch zu seinem Herrn Pfarrer und bittet um die Tauf- und Totenscheine, und der Herr Pfarrer sagt: »Ei, Michel, wollt Ihr auswandern?« »Nein, Herr Pfarrer,« sagt der Vetter, »aber es handelt sich um was anders.« »Darf man denn fragen, wenn's erlaubt ist, um was?« Und der Vetter besinnt sich noch etwas und sagt dann: »Ha, wissen Sie denn nichts, Herr Pfarrer, von der großen Erbschaft von unsrem Großonkel hinten in Indien?« »So,« sagt der Herr Pfarrer, »da gehört Ihr also auch dazu. Horcht, Michel, laßt Euch nichts weiß machen. Der Spatz in der Hand ist besser, als der auf dem Dach.« Und der Vetter schaut den Herrn Pfarrer, groß an und fragt: »Wo so denn?« »Weil Ihr tapfer zahlen müßt. Meine Taufscheine sind noch's wenigste dabei, aber ich rate Euch: Indien ist weit, und ein Prozeß kostet Geld, und mit dem König von Holland ist bös Kirschen essen. Laßt Euch genügen an dem, was Ihr habt, und verlaßt Euch nicht aufs Erben.« Aber der Vetter denkt zum erstenmal etwas Böses gegen seinen Herrn Pfarrer und meint: der gönnt dir die Erbschaft nicht. Und jetzt muß es erst recht durch. – Die Arbeit bleibt liegen, und beim Morgensegen kommt immer der Onkel von Surinam verstohlen ins Gebet. Tagelang geht's zum Ratschreiber im Ried, und an Sporteln und Gebühren fehlt's nicht. Die Antwort vom König von Holland bleibt lang aus, denn solch ein hoher Herr, meint der Ratschreiber, hat eben mehr zu thun, als nach den Christoph Müllers sel. Erben zu fragen. Aber was lang währt wird gut, das ist auch ein goldenes Sprüchlein. Seit der Zeit ist's auch mit dem Frieden nichts mehr beim Vetter, denn er ist mißmutig und hat dreimal mehr Tage im Jahr, wo er mit dem linken Fuß aufgestanden als mit dem rechten, denn sonst.

Und die Frau hat's auch nicht mehr so gut, und erlebt manches, was sie an ihrem Michel sonst nie erlebt. Und mit einemmal geht nach Jahren die Sache aus, wie's Hornberger Schießen, denn der König von Holland schreibt, daß der Onkel schon zu lang verstorben sei, und er sich nicht mehr aufs Teilen einlassen könne; und die Sache sei verjährt. Es thue ihm leid, aber er könne nichts dafür. Wenn sie aber sonst etwas wollten, herzlich gern. – So ist's einem gegangen, den der Verfasser auch noch von weither gekannt hat, und es wäre ihm just nicht schwer, noch etliche andere Exempel beizubringen aus andern Gegenden, denn der Mensch ist sich so ziemlich gleich im Württembergischen wie im Bairischen und wie im Preußischen, wenn's auf diese Dinge angeht, und wenn's nur auf die Verkehrtheit ankäme, dann wäre Nord- und Süddeutschland bald einig. Denn die Leute über dem Main sind grad so habsüchtig, als die hüben, und jeder will die »Mein-Linie« so weit als möglich vorrücken. Notabene nicht erst seit 1866.

Nun aber zu meinem Erb-Onkel.

Damit wir aber von vorneherein allen Geschmack an solchen Erbgeschichten verlieren sollten, unterließ es die Mutter nicht, bei betreffenden Gesprächen, die so etwas vom Erbenwollen verlauten ließen, mit bedeutungsvollem Blick nur einzuschalten: »Denkt an den Kolmarer Onkel!« Es brauchte freilich nur dieser Mann zitiert zu werden, um plötzlich alle Täuschungen in Wasser zerfließen zu lassen. In der alten Stadt Kolmar im Elsaß lebten nämlich von großmütterlicher Seite, mütterlicherseits her, zwei steinalte Leutlein, und ebenso steinreich. Sie hatten keine Kinder gehabt, und alle nächsten Verwandten waren von ihnen überlebt, so daß nur noch zwei Erben vorhanden waren, einer von der Seite der alten Frau, und eine von seiten des alten Herrn, welches unsere Großmutter war. Jener war reich mit seiner ganzen Sippschaft, die Großmutter aber mußte sich tapfer mit der täglichen Not herumkämpfen. Die beiden steinalten Leutlein aber hatten einen Kontrakt mit einander gemacht, der lautete: »Stirbt der Mann zuerst, so erbt die Frau und der Frau Sippschaft das Vermögen, stirbt aber die Frau zuerst, so erbt der Mann und des Mannes Sippschaft. Also geschehen Kolmar am so und so vielsten 1700 so und so viel.« – Da dachten die Sippschaften aber jede: Wenn's doch sein müßte, daß die zwei Leutlein stürben, so möchte doch lieber immer der andere Teil zuerst sterben, und der liebe Gott solches geraten lassen. Aber die Leutlein lebten noch immer fort, und es ging ihnen, wie einem uralten Mütterlein, das dem Verfasser einst klagte, der liebe Gott habe es wohl vergessen, daß sie noch auf der Welt sei, denn es kamen lauter Junge an die Reihe zum Sterben, und sie bleibe noch immer da, und sie gehe doch alle Tage auf den Kirchhof, um den lieben Gott daran zu erinnern, daß sie noch auf der Erde herumlaufe. –

Endlich aber wurden die beiden Leutlein krank; sie hatten bisher alles mit einander erlebt, so teilten sie sich auch in die Krankheit, und man wußte nicht, wer von beiden den größern Teil gekriegt. Sie lagen nebeneinander in den Betten, in den weißen Schlafmützen, die Hände über der Brust gefaltet, der Odem ging bei beiden gleich hart und der Puls so langsam, wie die alte Stockuhr, aber bei beiden gleich. Es war, wie wenn zwei Lichtstümplein auf ein »Hauserle« gesteckt wären und so langsam herunterbrennten, bald flammte das eine mehr, bald wieder das andere. Und von beiden Seiten waren die Verwandten da, und der Herr Doktor fehlte auch nicht, und weder die Verwandten noch der Doktor konnte sagen, zu welcher Sippe das Zünglein neigte. Da schaute plötzlich das alte Herrlein so starr darein, als wollte er durch das Fenster hinein in den Himmel schauen – noch ein Seufzer und er hatte Abschied genommen. Und der Herr Doktor legte das Ohr ans Herz und ließ ihn noch reiben mit warmen Tüchlein und Essenzen, aber das Herrlein war tot. Über den starken Essenzen aber bekam das alte Mütterlein einen Hustenanfall und wiewohl man sie in die Höhe hob, so konnte sie doch nicht mehr an den Atem kommen und verschied. – Das war zwanzig Minuten später als das Herrlein. Daher erbte sie den Mann laut dem Kontrakt und ihre Sippschaft konnte nicht genug sagen, wie leid es ihr sei, daß der »Zufall« es also gewollt, daß die Frau Großtante den Mann noch überlebe; sie hätten immer die gegenteilige Ansicht gehabt und gehofft, daß es auch so käme. – Die Großmutter aber küßte die beiden alten toten Leutlein und gönnte die reiche Erbschaft von 200,000 Franken den andern, denn sie wußte, wer der Herr über Leben und Tod ist, und von wem Geld und Gut kommt, und wanderte wieder heim so arm sie gekommen und auch so fröhlichen Herzens.

Aber die Lehre war auch 200,000 Franken wert, die sie allen Kindern und Kindeskindern hinterlassen: »Ihr lieben Kinder, vertraut auf den Herrn, und verlasset euch nicht auf Erbschaften, und rührt eure Hände tapfer in der Welt, und schämt euch keiner Arbeit, und gedenket an ein Erbe, das nicht auf einem zweifelhaften Kontrakt steht: »das euch behalten ist im Himmel.« Daher wird der geneigte Leser auch an den Kolmarer Onkel denken, und wiewohl er eigentlich mir gehört, will ich mich doch, wenn er bei Gelegenheit ihn braucht, mich in ihn teilen.

Hätte diese erste Geschichte nicht ausgereicht, um uns zu überzeugen, daß es mit dem Erbenwollen so einen Haken habe, so war noch eine zweite im Vorrat, von der weiteren Verwandtschaft her. Denn wenn's auch glückt, daß man richtig dran kommt, und die Erbschaft einmal auf die »rechte« Seite kommt, so fragt sich's ja immer noch, ob's denn ein großes Glück ist. Hat doch mancher schon ein Katzenhärlein darin gefunden, das ihm bös aus dem Halse gegangen ist.

So war's bei einem »weitläufigen« Großonkel einstens der Fall. Gab's einen Mann, der, wie unsere Tante zu sagen pflegt, »durchhinein gut« war, wie ein Kallwyl-Apfel, der innerlich keinen Untadel hat, – so war's dieser Onkel gewesen, gegen seine Kinder nicht bloß, sondern gegen alles, was ihm nahe kam. Wiewohl er kein reicher Mann war, sondern das Einmaleins gehörig bei seiner Besoldung in Anwendung bringen mußte, um am Ende des Jahres nicht mit einem Minus aufzuhören, so war doch Schenken und Freudemachen seine Lust. Kam er in die Stadt, so hatte er die Taschen voll von allerhand ländlichen Erzeugnissen, und an der Kirchweih wurde für die ganze Verwandtschaft gebacken, denn so gute Käs-, Zwiebel-, Äpfel- und Streußel-Kuchen konnte niemand backen als die Tante. Bald steckte er dem oder jenem seiner Patenkinder oder Neffen einen Kronenthaler in die Sparbüchse, und gar manchmal mußten die Verwandten wehren und sagen: »Herr Onkel, Ihr thut Euch weh und schenkt Euch noch blutarm, denkt doch, daß Ihr auch Kinder habt.« Aber der Onkel lachte und dachte: »Wer was zu schenken hat, der hat also etwas, und wer etwas hat, ist nicht arm; wer aber nichts schenkt, der hat nichts, und wer nichts hat, der ist arm.« – Da geschah's, daß er unversehens an einem Tag an eine reiche Erbschaft kam, aus einer alten, längst verschollenen Sache her, die sein Vater schon geführt hatte, und die unterdes in Zinseszins aufgelaufen war, so daß die Summe, die ihn traf, bare 40,000 Gulden betrug. Da war er denn auf einmal ein reicher Mann, und alles, was er verschenkt, ihm reich ersetzt. »Nun diesmal ist's einmal an den rechten Mann gekommen!« so ging's in der ganzen Verwandtschaft und namentlich bei denen, deren er sich immer so freundlich angenommen, und alle gratulierten ihm, und zwar aufrichtig, denn jeder gönnte es ihm von Herzen. »Jetzt kann er Gutes thun nach Herzenslust, dachte wohl der eine, »denn jetzt hat er das Geld dazu.« Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, und es kann ein Schifflein noch im Hafen scheitern. – Der Großonkel war seit jener Stunde, daß er den Brief mit dem großen Siegel bekommen hatte, nicht mehr zum Kennen. Allerhand dunkle Gerüchte kamen an das Ohr der Verwandten, aber keines wollte sie glauben. Das erste Mal aber, als er wieder in die Stadt kam, merkte man wie viel Uhr es geschlagen. Er brachte nichts mit, und war so steif, als hätte er einen Ladstock im Nacken sitzen. Aber die Steifigkeit saß nicht im Nacken, sondern im Herzen, denn sein Herz war ihm in den Geldbeutel gefallen, wie denn der Herzbeutel und der Geldbeutel in naher Blutsverwandtschaft stehen. Das viele unverhoffte Geld ward in einen eisernen Geldschrank gesperrt und konnte nicht wieder heraus, denn er hatte das Wörtlein verloren, auf das der Geldschrank allein aufzuschließen war und das kurzweg »Liebe« heißt. Da steht denn so ein kalter eiserner Schrank wie ein Götze da, spricht nicht und hört nicht, geht nicht auf und ist akkurat wie sein Herr. Wo aber die Liebe fehlt, da schrumpft und schnurrt das Herz zusammen, wie ein Renettenapfel in der kalten Kammer. So ging's dem Großonkel. Er teilte unter seine Kinder sein Hab und Gut; hat ihnen aber wenig Segen gebracht. Er selbst wurde immer mürrischer und unleidiger. Das Geld aber der Kinder zerrann unter ihren Händen, und bei einem Bankerott ging die Hauptsache verloren. Es ist eben gar selten, daß man, wenn man so viel Geld erbt, nicht auch noch obendrein unversehens einen großen Kieselstein miterbt, der sich dort festsetzt, wo andere Leute das Herz haben.

Item: Mit dem Erben ist's so eine Sache und kann sich jeder dabei in Acht nehmen, daß ihm sein Herz keinen bösen Streich spielt. Darum verlaß dich nicht aufs Erben auf Erden, und fällt dir ein Erbe zu, so hänge das Herz nicht daran und denke an die beiden Onkels. Die haben dem Verfasser schon manchmal gute Dienste gethan.


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