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Der Zeitreisende entzündete seine Pfeife, die er vor Erregung hatte ausgehen lassen, und sagte dumpf: »Sie werden zugeben, daß es eine wahrhaft entsetzliche Situation war. Eine der trostlosesten und grauenvollsten, die sich denken lassen. Eine Lage, in der sich, seit die Welt besteht, noch niemals ein Mensch befunden hat und hoffentlich nie wieder einer befinden wird. Allen Gefahren, die mich auf meiner Fahrt bedroht hatten, war ich glücklich entronnen: dem Widerstand der Erdzeit, den Kathodenstrahlen des Radiodroms, dem Zeitschatten des Seleniten, dem Sturz von stockhoher Tiefe: aber dieses Hindernis war unüberwindlich.« Er verstummte und blickte düster vor sich hin.
»Warum meinen Sie?« fragte ich unsicher.
»Aber begreifen Sie denn noch immer nicht?« rief er. »Der Fall lag doch verteufelt klar. Ich war in eine Zeit hineingefahren, in der meine Maschine noch nicht erfunden war! Wie hatte ich, ein sogenannter wissenschaftlich denkender Kopf, diese primitive Tatsache übersehen können! In einer Zeit, wo sie noch nicht existierte, konnte ich freilich mit meiner Zeitmaschine nicht reisen! Sie werden lächeln, und ich hätte es wahrscheinlich auch getan, wenn die Sache für mich nicht gar so fatal gewesen wäre...«
Es entstand eine Pause. Der Zeitreisende schwieg und stieß Dampfwolken aus.
Ich sagte: »Ich begreife. Aber die Geschichte stimmt nicht. Wann haben Sie Ihre Maschine vollendet?«
»Auf den Tag genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Aber es war Mitte Januar.«
»Nun gut! Dann hätte Ihre Maschine Mitte Januar versagen müssen, und Sie hätten dort stranden müssen, aber nicht am sechsten Dezember. Und Ihre Situation wäre dann gar nicht so verzweifelt gewesen. Denn Ihre Maschine mußte in dem Augenblick versagen, wo auch nur eine einzige Stange oder Schraube fehlte. Der Rest wäre erhalten geblieben. Sie hätten dann bloß die fast fertige Maschine vom, sagen wir, vierzehnten Januar durch diese fehlende Stange oder Schraube zu ergänzen und mit dem wieder funktionierenden Apparat in unsere Zeit zurückzufahren brauchen.«
»Ja«, sagte der Zeitreisende, »das sollte man meinen. Aber nach längerem Nachdenken kam ich darauf, daß es sich leider nicht so verhielt. Meine Maschine hatte den Widerstand der Erdzeit überwunden, sie hatte ihn nur zu gut überwunden! Denn sie hatte sich so mit Energie geladen, daß sie infolge des ihr innewohnenden Trägheitsgesetzes noch eine Zeitlang weiterlief. Dadurch erklärte sich auch die Nachtzeit. Eine Katastrophe richtet sich nicht nach meinem Zeitmesser und seiner Gradeinteilung. Irgendwann, in dem Millionenbruchteil eines Zeitmeters, war die Energie erschöpft, und die Bewegung hörte auf. Und dabei hatte ich noch Glück im Unglück gehabt: wäre ich, als die Katastrophe eintrat, nicht so langsam gefahren, sondern hätte eine höhere oder gar die höchste Geschwindigkeit gehabt, so wäre ich viel weiter geschleudert worden, vielleicht wirklich bis zu Mr. Carlyle oder ins Zeitalter der Königin Anna, und dann wäre meine Situation gänzlich aussichtslos gewesen, und wir hätten uns nie mehr wiedergesehen.«
»Den Unterschied sehe ich nicht ein«, sagte ich. »Wenn Ihre Maschine einmal fort war, so war es ziemlich gleichgültig, ob Sie sie zur Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges oder des Russisch-Japanischen Krieges verloren.«
»Ich werde Ihnen das später erklären. Ich dachte übrigens die längste Zeit genauso wie Sie, und deshalb hielt ich auch tatsächlich meine Lage für hoffnungslos. Bedenken Sie doch nur: für immer unverrückbar festgenagelt an den Abend des sechsten Dezember 1904!« Er schwieg verstört.
Ich wußte nicht recht, was ich sagen sollte. »Wenn es Sie noch immer so erregt«, stammelte ich, »so erzählen Sie es mir lieber ein andermal. Oder nehmen Sie wenigstens ein Glas Whisky-Soda.«
»Nein«, wehrte er ab, »nur Soda ohne Whisky. Das wird mich beruhigen.« Er trank gierig. »So, und jetzt können wir fortfahren.«
»Ich brütete noch lange vor mich hin, aber ich war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Auch machte nach den vielen aufwühlenden Eindrücken, die ich gehabt hatte, nunmehr die Erschöpfung ihre Rechte geltend. Ich begab mich zu Bett und verfiel in dumpfen, unruhigen Schlummer.
Als ich erwachte, hatte ich einige Mühe, den Zusammenhang wiederzufinden. Die geschlossenen Fensterläden, der prasselnde Kamin, die ›Sunday Times‹: alles war noch da. Auch der Auerstrumpf brannte noch: selbstverständlich, er war ja eine Art Ewiges Licht. Durch den Schlaf hatte ich mich wieder so weit gesammelt und erfrischt, daß ich nach Hilfsquellen auszuspähen begann. Zunächst galt es, ein Mittel zur Kommunikation zwischen mir und der Gegenwart ausfindig zu machen: – zwischen meiner und Ihrer Gegenwart meine ich. Und als dieses ergab sich mir nach längerem Nachdenken die drahtlose Telegraphie. Der elektrische Funke hat bekanntlich dieselbe Geschwindigkeit wie das Licht: dreihunderttausend Kilometer in der Sekunde. Er bewegt sich daher mehr als sechshunderttausendmal so schnell wie die Erde; zu einem Tag braucht er weniger als eine Sechshunderttausendstelsekunde. Mit diesem Vehikel konnte ich natürlich die Spannung von fünf Monaten, die zwischen mir und meiner Zeit lag, spielend leicht überbrücken; es war eine Sache von einer Viertausendstelsekunde. Ich sandte Ihnen also das erste Telegramm. Es war ein bißchen verworren. Aber ich konnte Ihnen doch auf diesem Wege nicht alles auseinandersetzen: so lange Telegramme gibt es ja gar nicht, und am Ende hätten Sie mich erst nicht verstanden. Immerhin: die nötigsten Anordnungen ließen sich in dieser Verständigungsform treffen. Ein Mißstand war allerdings nicht zu beseitigen: es mußte ein einseitiger Verkehr bleiben. Denn Sie konnten nicht an mich telegraphieren: die Bewegung der elektrischen Energie läßt sich nicht umkehren, sie ist immer nur einsinnig nach vorne gerichtet.
Das Ziel, auf das ich meine Anstrengungen zu konzentrieren hatte, war klar umrissen: ich mußte mit allen Mitteln versuchen, meine Maschine zu rekonstruieren. Aber wie das anfangen? Zunächst fehlten mir die komplizierten rechnerischen Unterlagen. Diese ließen sich vielleicht mit großem Aufwand an Fleiß wiederherstellen; aber einige wichtige Formeln, zu denen ich erst Ende Dezember gelangt war, waren mir unwiderruflich entfallen. Und vor allem brauchte ich Radium. Woher dieses nehmen?
Indes, eines Tages – aber das ist falsch ausgedrückt: für mich gab es ja nur einen Tag – stieß ich auf einen wertvollen Bundesgenossen, an den ich unbegreiflicherweise bisher gar nicht gedacht hatte. Es war die kleine Zeitmaschine. Sie war nicht nur ein unschätzbares Modell für den Bau der großen, sondern sie konnte auch selbständig in die Zeit reisen. Jetzt war auf einmal die Möglichkeit eines gegenseitigen Verkehrs und sogar eines Transports gegeben! Voll Eifer traf ich die Vorkehrungen, die Ihnen bekannt sind. Mittels dieses kleinen Fahrzeugs konnte ich hoffen, bei einiger Geduld und Zähigkeit alles Fehlende zu ersetzen. Meine Laune hatte sich bedeutend gebessert.«
»Aber warum schickten Sie mir dann so wütende Telegramme?« »Weil das Maschinchen niemals ankam!«
»Aber ich hatte es doch ganz genau adressiert!«
»Ich weiß«, sagte der Zeitreisende. »Eben weil Sie so genau adressiert hatten... Ich mache Ihnen selbstverständlich keinen Vorwurf. Es war nicht Ihre Schuld, sondern die meinige oder, sagen wir, die Schuld der Verhältnisse. Aber ich konnte es mir damals nicht erklären und war natürlich außer mir. Ich glaube, ich depeschierte etwas von einem Nilpferd?«
»Nein«, sagte ich, »es war ein Rhinozeros. Aber das tut nichts zur Sache.«
»Ich zerbrach mir den Kopf«, fuhr der Zeitreisende fort, »aber ich fand keine Lösung. Vielleicht, dachte ich zunächst, lag es daran, daß ich keine genaue Tageszeit angegeben hatte? Aber daran konnte es nicht liegen. Bei Ihrer bekannten Gefälligkeit und Zuverlässigkeit – bitte, das soll kein Kompliment sein – mußte ich annehmen, daß Sie sich meines Auftrags so rasch wie möglich entledigen würden. Dann mußte die Maschine so um elf Uhr vormittags eintreffen. Das war zwar nicht die richtige Zeit, aber gar kein Unglück. Denn dann mußte sie am Abend schon da sein. Böse wäre es nur gewesen, wenn Sie sich bis spät nachts Zeit gelassen hätten. Aber das war nicht anzunehmen, um so mehr, als ich Sie um schnelle Erledigung ausdrücklich ersucht hatte.«
»Ich entsandte die Maschine um zehn Uhr neununddreißig.«
»Na, sehen Sie!« nickte der Zeitreisende. »Dann fiel mir der Widerstand der Erdzeit ein. Den hatte doch die kleine Zeitmaschine ebensogut zu überwinden wie die große. Davon wußten Sie aber noch nichts, und so hatte sie offenbar bei der Rücksendung versagt. Übrigens hätte Ihnen mein Gegenmittel, auch wenn Sie es gekannt hätten, nichts geholfen. Denn Sie konnten die kleine Zeitmaschine wohl in die Zukunft schicken, aber nicht mitfahren. Nach einigem Nachdenken erkannte ich jedoch, daß auch diese Deutung nicht in Betracht kam. Denn ich selber hatte ja die Maschine in die Zukunft geschickt, und als sie bei Ihnen ankam, war sie schon mit einer Energie von fünf Monaten, also hundertfünfzigfacher Erdzeit, geladen.
Aber wenn auch nicht die Ursache, die Tatsache war klar genug: keine Zahlen, kein Material; und nun war das kostbare Modell auch weg! Damit schien mir jede Hoffnung auf Rückkehr in die Heimatzeit abgeschnitten. Ich gab meinen Fall auf.
Es ist ein sehr sonderbarer Zustand, wenn die Zeit sich nicht mehr bewegt. Keine Hoffnungen, aber auch keine Befürchtungen. Keine Spannung, aber auch keine Sorge. Natürlich auch keine Nahrungssorgen. Ich stand damals gerade vor den abschließenden theoretischen Vorarbeiten für den Bau meiner großen Maschine. In solchen Fällen, wenn mich etwas ganz okkupiert, pflege ich mich, um ungestört arbeiten zu können, in meinem Hause gewissermaßen zu verbarrikadieren, und so hatte ich auch diesmal wie bei einem Belagerungszustand für Vorräte an Holz, Tabak, Konserven, Bier, Zwieback und dergleichen ausgiebig vorgesorgt. Die Fensterläden öffnete ich angesichts der unerträglich feuchten und stürmischen Winternacht natürlich niemals. Das hätte auf die Dauer unangenehm werden können: aber zum Glück hatte ich mir einige Monate vorher einen vorzüglichen neuen Ventilator einbauen lassen, der meinen Lufthunger vollkommen befriedigte. Aber das fortwährende Leben bei künstlicher Beleuchtung ging mir sehr auf die Nerven. Ich bin wirklich ein ›Freund der Sonne‹, wie die beiden schrecklichen Nilmänner mich anzureden beliebten, und gar kein Nachtmensch; auf Soireen und Redouten werde ich seekrank; Sie haben mich oft deswegen verspottet.
Übrigens entdeckte ich auch einiges Tröstliche. So zum Beispiel auf dem untersten Regal eines Bücherschranks, neben Frazers ›Wörterbuch der angewandten Chemie‹, eine ganze Batterie Romanée, Pommard und Nuits. Es ist ein eigentümlich prickelnder Genuß, seinen eigenen Burgunder zweimal zu trinken. Außerdem waren auch die sechs Flaschen Canadian Club Whisky wieder da, der wie uralter Cognac schmeckt. Aber auch der wiedergeborene Hummersalat von Croß & Blackwell war nicht übel.
Im ganzen aber war meine Lage nichts weniger als scherzhaft. Denken Sie doch: ein Mensch ohne Zukunft! Ich kam mir vor wie ein moderner Peter Schlemihl: ein Mensch ohne Schatten. Denn wir Menschen werfen unseren Schatten voraus, nicht hinter uns. ›Die Menschen‹, sagt Emerson, ›sind wandelnde Prophezeiungen der Zukunft.‹ Vor mir aber war eine schwarze Wand Ich hatte mir zu viel Zeit angemaßt und war dafür jetzt dazu verurteilt, den Rest meines Lebens ohne Zeit zu verbringen. Denn auch die Vergangenheit gehörte mir nicht mehr. Es gibt keine Vergangenheit ohne Zukunft.
Wenn man solchen Gedanken konsequent nachgeht, kann man verrückt werden. Ich versuchte daher, mich abzulenken. Zunächst diente mir dazu der Burgunder. Ein geheimnisvolles Getränk feurig und bleiern, beflügelnd und beschwerend zugleich, ähnlich wie der Ihnen so verhaßte Carlyle. Lange Zeit befand ich mich in einem dauernden leichten Dusel, man sieht es mir vielleicht ein wenig an? Aber in meiner Lage wäre selbst General Booth zum Potator geworden.
Dann suchte ich Trost in Büchern. Aber nicht in Werken der exakten Fächer, die bisher meine Hauptlektüre gebildet hatten denn die Wissenschaft war mir verleidet. Deshalb betrat ich auch nie wieder mein Laboratorium. Die meiste Stärkung aber fand ich in einer alten Mystikerbibliothek, die ich noch von meinem Vater geerbt und früher nie beachtet hatte. Am schönsten von allen fand ich das Wort Meister Eckharts, das mir wie für mich geschrieben schien: ›Es ist alles ein Nun.‹ Und ich mußte an die Legende vom Mönch von Heisterbach denken, der in einem Tag ein Jahr tausend durchwandelte, denn vor Gott macht das keinen Unterschied: ›Ihm ist ein Tag wie tausend Jahre, und tausend Jahr sind ihm wie ein Tag.‹
Und verhält es sich etwa anders? Ist denn unser ganzes Dasein mehr als eine Viertelstunde Regenbogen, ein Lichtstreif zwischen zwei Unendlichkeiten? Gelangt die Seele, auch wenn sie hundert Jahre lebt, näher an die Ewigkeit als in einem Tag? Und könnt umgekehrt ein Weiser, der einen Tag lang wahrhaft gelebt hätte indem er geduldig und inbrünstig seiner Seele lauschte, vom Pulsschlag der Ewigkeit nicht alles vernehmen, was uns in unsere irdischen Lebensform überhaupt zu Ohren zu dringen vermag Und war dieses kristallene ›ewige Nun‹, in dem ich thronte, nicht im Grunde der erhabenste und eines Menschen würdigste Zustand? Aber zu groß, zu erhaben für einen schwachen Menschen.
Ich sagte laut vor mich hin: ›Die Zeit steht still.‹ Und ich horchte andächtig auf ihr Schweigen.
In diesem Augenblick durchfuhr mich ein panischer Schreck. Meine durch die dauernde Stille und die tiefe Sammlung geschärften Ohren hörten, wie ganz deutlich, wenn auch ungemein leise, eine Uhr schlug. Und zwar in meinem Hause! Es war wie eine gespenstische Replik. Die Zeit stand also doch nicht still? Die Schläge kamen von oben. Einen Augenblick war ich wie versteinert, dann stürzte ich in rasender Eile, drei Stufen auf einmal nehmend, in mein Laboratorium.