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Sechstes Kapitel

London am Himmel

Ärgerlich stoppte ich ab. Die Maschine stand noch immer im Turmzimmer, was meine Laune ein wenig verbesserte, denn es war immerhin recht schmeichelhaft für mich, daß es nach neunzig Jahren noch existierte. Aber bei näherer Betrachtung bemerkte ich, daß es sich einigermaßen verändert hatte. Die Wände bestanden aus einer Art flüssigem, schwach irisierendem Metall, und rings um den Plafond liefen zitternde Stangen aus einer blau-grünen Lichtmasse. Ich begab mich ins Freie, nicht ohne meine Maschine mitzunehmen; mir war nämlich noch rechtzeitig eingefallen, daß die Ankunft im Turmzimmer bei der Fahrt ins Jahr 1340 nicht ratsam sei, denn damals stand es noch nicht: ich wäre also in der Luft gelandet und zwei Stockwerk tief zu Boden gestürzt. Ich lehnte den Apparat ans Haus und blickte um mich. Von Pflanzenwuchs war keine Spur: weithin nichts als eine homogene glasig schimmernde Fläche. Rings in der Luft kein Laut: denn es gab auch offenbar keine Tiere; andrerseits auch kein Grammophon. Ja ich möchte sogar sagen, daß es auch keine Luft gab: sie atmete sich völlig geschmacklos und erinnerte in ihrer Fadheit an destilliertes Wasser. Ich hob den Feldstecher: aber ich konnte weit und breit kein London entdecken. Als ich ihn sinken ließ, bemerkte ich in meiner nächsten Nähe einen jungen Mann von intelligentem, aber teilnahmslosem Gesichtsausdruck, der unbeweglich vor einer lackschwarzen Lichtschlange stand. Er grüßte mit einem Senken der Augenlider und sagte: »Der Herr ist Hochschotte?«

»Nein«, erwiderte ich etwas verwundert. »Warum meinen Sie?«

»Weil Sie die altertümliche Nationaltracht anhaben, die nur noch von den Bauern in Hochschottland getragen wird.«

Daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich nahm mich allerdings in meinem ›Pfeffer und Salz‹-Anzug, dem hohen Kragen und den steifen Manschetten neben meinem Gegenüber etwas sonderbar aus, dessen ganze Kleidung in einer enganliegenden gelblichen Asbesthaut bestand. Ich sagte: »Nein, das hat einen anderen Grund. Sie haben doch sicher schon etwas von einer Zeitmaschine gehört?«

»Nein«, erwiderte der unbewegliche Mann, »davon habe ich nichts gehört.«

Es erschien mir unter meiner Würde, nähere Erklärungen zu geben, und ich sagte bloß: »Darf ich fragen, weshalb Sie sich dann hier aufhalten?«

»Ich bin Observer bei der Energiefaktorei Savory & Son.«

»Und welche Arten von Energie erzeugen Sie?«

»Welche Arten? Es gibt doch nur eine! Und wir erzeugen selbstverständlich alles: Pelze, Eier, Holz, Salz, Milch, Gemälde, Urmetall!«

»Und für wen machen Sie das alles?«

»Na, für die Londoner!«

»Aber wo ist London?«

Der Asbestmann deutete mit den Augenlidern nach oben. Ich blickte in die Höhe und sah ein Häusermeer mit Markthallen, Kasernen, Rennbahnen, Theatern, Kathedralen – am Himmel! London lag nicht mehr ›überm Meer‹, sondern über der Erde! Wie das zustandegekommen war, genierte ich mich, den Mann an der Lichtschlange zu fragen: er hätte mich sonst wirklich für einen schottischen Gebirgsanalphabeten gehalten. Übrigens ließ es sich so ziemlich kombinieren: es war offenbar gelungen, die Gravitationsenergie zu bemeistern und mit deren Hilfe die Höhenlage der Körper beliebig zu verschieben. Ich dachte: für die Luftkurorte ist diese neue Lage Londons jedenfalls eine ruinöse Sache; aber der Londoner Nebel dürfte sich dadurch nicht gerade verringert haben – im Gegenteil! Und vorsichtig, um meine Ignoranz nicht allzusehr zu verraten, fragte ich nebenhin: »Und wie ist man mit dem Wetter zufrieden?«

»Mit unserem Wetter war noch jeder zufrieden«, sagte mein Gegenüber. »Glauben Sie, Savory hätten sonst schon seit vier Jahren für ganz Südengland das Wettererzeugungsmonopol? Es heißt ja nicht umsonst eine Redensart: ›zuverlässig wie Savorys Wetter‹. Und dabei schlagen unsere Wolkenpreise jede Konkurrenz. Aber allen kann man es natürlich nicht recht machen. Wenn wir kondensieren, heißt es: bei dem Regen geht kein Mensch in die Luftspiele! Und wenn wir sublimieren, heißt es: an einem so schönen Tag nimmt sich kein Mensch ein Stratotaxi! Und gut geht's ja ohnehin niemandem.«

»Aber erlauben Sie, wenn Sie alles, was es gibt, erzeugen, kann es doch keine Not geben!«

»Ja, das ist eben das Rätsel! Je mehr wir kriegen, desto weniger haben wir! Das war doch im kleinen schon in den Vierzigerjahren so, als das Goldland Ophir entdeckt wurde. Sind wir vielleicht dadurch reicher geworden? Im Gegenteil! Ebenso war es doch auch, als in Europa noch die Zollschranken bestanden, mit den Einzelländern: je mehr Waren eines hatte, desto ärmer war es! Oder sehen Sie mich an: als Observer habe ich bloß dazustehen, für den Fall, daß wider Erwarten etwas nicht klappen sollte, wie der Souffleur im Theater. Ich habe also eigentlich gar nichts zu tun. Infolgedessen bin ich elend bezahlt. Und warum? Weil die verdammte Energiefaktorei mit ihren Atomdissoziatoren von zwölfeinhalb Milliarden Pferdekräften alles ganz von alleine macht! Dabei kämpfen wir seit Jahren vergeblich um den Zweiundzwanzigstundentag.«

»Zweiundzwanzigstundentag? Ja, um Gotteswillen: wann schlafen Sie denn dann?«

Der Asbestmann riß die Augen auf. »Schlafen? Ja gibt's denn bei Ihnen zuhause kein Ultraviolett?«

»Nicht... überall«, stotterte ich verlegen.

»Da werden Sie aber bei dem heutigen Überangebot schwer mitkommen. Denn sehen Sie: bei der derzeitigen Lage des qualifizierten Arbeiters... «

Das Gespräch drohte ins Sozialpolitische überzugehen, ganz wie die Gespräche von 1905. Ich sagte daher ablenkend: »Kann man hier irgendwo baden und frühstücken? Ein Glas Bier würde mir genügen.«

»Bier? Was ist das? Aber wenn Sie frühstücken wollen, so nehmen Sie doch oben in der Stadt am ersten besten Automatenzerstäuber einen Sauerstoffimbiß! Und ein Bad können Sie sogar gratis haben. Da brauchen Sie bloß links hinters Haus ins ultrarote Feld zu treten. Übrigens«, fügte er etwas geringschätzig hinzu, »Sie kommen wohl von sehr weit her?«

»Ja«, beendigte ich das Gespräch, »ich komme aus einer ziemlich entfernten Gegend.«

Ich hatte genug vom Jahr 1995. Ich brauche das wohl nicht näher zu begründen. Indem ich hastig auf meinen Apparat zustrebte, stolperte ich – und fiel durch den Asbestmann. Er war projiziert.

Ich machte mich daran, meine Maschine zu besteigen, deren Sitz mir etwas breiter vorkam, und hantierte an den Hebeln. Sie funktionierten schon wieder nicht! Aber diesmal nicht nur der für Vergangenheit, sondern auch der für die Zukunft! Der dicke Angstschweiß trat mir auf die Stirn. Eine unausdenkbare Vorstellung, für immer hier bleiben zu müssen, in diesem scheußlichen Jahr 1995 , wo Gemälde in Energiefaktoreien hergestellt wurden und ein Regenbogen ein Konkurrenzgeschäft war! Wo es zum Lunch Sauerstoff und zum Mittagessen Kunsteier gab und in Kleidern hinterm Haus gebadet wurde! Und wo die Erholung statt in acht Stunden Federbett in Bestrahlung mit Ultraviolett bestand und die Geselligkeit in Gesprächen mit Kerls, die von weiß Gott wo übertragen waren! In diesem Moment bekam ich jedoch einen Rippenstoß, und eine näselnde Stimme sagte: »Herr, was machen Sie auf meinem Radiodrom?« Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß man jemandem für einen Rippenstoß so dankbar sein könnte! Ich hatte mich geirrt: es war gar nicht meine Zeitmaschine. Sie stand unversehrt ein paar Schritte daneben. Ich hörte noch, wie ein Mensch in einer phosphoreszierenden Bluse mit einem Lichthelm, indem er mit einem tadellosen Sprung auf den anderen Apparat aufsaß, aufgebracht murmelte: »Was fällt Ihnen ein, an meinem Kathodensammler herumzuspielen? Das größte Malheur kann passieren. Schauspielerbagage. Scheren Sie sich lieber auf Ihre Theaterprobe! Und überhaupt hasse ich historische Stücke!« – aber gleich darauf war er mit einem dumpfen Knall verschwunden, nichts als den zischenden Streifen einer veilchenblauen Flamme hinter sich zurücklassend.


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