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Die »Frankfurter Zeitung« hat in ihrer Weihnachtsnummer den interessanten Versuch unternommen, Wesen und Eigenart einer Reihe von Ländern und Völkern nicht von Kultur- oder Sozialpolitikern, sondern von repräsentativen Schriftstellern schildern zu lassen. Für Österreich war Egon Friedell zur Mitarbeit aufgefordert worden.
Herrn Dr. Egon Friedell, Wien.
Wir wären sehr erfreut, wenn Sie sich an unserer Weihnachtsumfrage, über deren Thema Sie aus der Beilage das Nähere ersehen, beteiligen wollten. Wir sind überzeugt, daß ihr Beitrag eine Perle werden wird. Gewiß werden Sie das Bedürfnis fühlen, sich über den Gegenstand möglichst umfassend und eingehend zu äußern: trotzdem möchten wir Sie bitten, Ihre Darstellung mit Rücksicht auf die zahlreichen anderen Zusendungen möglichst zu komprimieren.
Hochachtungsvoll Redaktion der »Frankfurter Zeitung«.
Sehr geehrter Herr Friedell!
Wir erhielten ein Couplet »In der Welt geht's drüber, drunter, aber Österreich geht net unter« aus der Feder des Salonhumoristen Eugen Friedel, dem die Post irrtümlicherweise unsere Einladung zugestellt hat. Wir schicken Ihnen anbei einen Durchschlag unseres Briefes und erwarten Ihr Manuskript in spätestens acht Wochen, das ist bis zum 15. Dezember.
Herrn Schriftsteller Hanns Sassmann, Wien.
Lieber Freund,
es wird Dich gewiß freuen, zu hören, daß mich die »Frankfurter Zeitung« zu einem Weihnachtsbeitrag aufgefordert hat. Noch selten hat mich eine Arbeit so interessiert wie diese. Endlich erinnert man sich an das Land Walthers von der Vogelweide! Das Ausland braucht uns halt doch! Und Österreich wird ihm zeigen, was es kann. Der Beitrag muß eine Perle werden. Du wirst daher einsehen, wie wichtig es ist, daß Du Dich sofort an die Arbeit machst. Aber bitte, nicht zu kurz, sonst heißt es gleich wieder, daß wir nur Plaudereien schreiben. Ich erwarte Dein Manuskript in spätestens acht Tagen.
Dein Egon Friedell.
PS: Gib acht, daß nichts vorkommt, was bei Bahr und Hofmannsthal Anstoß erregen könnte. Das ist das Wichtigste.
Lieber Friedell,
ich bin sehr erfreut und geschmeichelt, daß Du an mich gedacht hast. Auch mich hat noch selten eine Arbeit so interessiert wie diese. Nur kannst Du nicht verlangen, daß ich Dir meine wichtigsten Überzeugungen zum Opfer bringe. Warum soll man Bahr und Hofmannsthal nicht giften? Gerade bei der Behandlung eines so ernsten Gegenstandes, wo noch dazu die ganze Welt auf uns blickt, dürfen keine persönlichen Rücksichten mitsprechen. Das wäre österreichisch.
Das Manuskript erhältst Du binnen drei Tagen. Um welches Thema handelt es sich denn überhaupt?
Dein Hanns Sassmann.
Lieber Sassmann,
ich habe es kommen sehen, daß ich, sowie ich mich mit Dir einlasse, sofort Scherereien haben werde. Ich habe natürlich keine Zeit gehabt, den Brief so genau zu studieren, weil ich rasch ins Theater mußte, um ihn dort herumzuzeigen, und kann ihn jetzt absolut nicht mehr finden. Möglicherweise habe ich ihn im Café Prochaska auf dem Stammtisch liegenlassen. Im Café Grillhuber habe ich ihn bestimmt noch gehabt. Es kann auch sein, daß mir ihn in der City-Bar jemand gestohlen hat, um sich damit patzig zu machen. Ich ermächtige Dich jedoch, bei der »Frankfurter Zeitung« anzufragen, worum es sich handelt.
Lieber Friedell,
ich tue doch gewiß alles, was nur menschenmöglich ist, aber das kannst Du nicht von mir verlangen. Ich kann doch nicht an eine Zeitung schreiben, von der ich kein einziges Redaktionsmitglied persönlich kenne. Ich weiß auch gar nicht, wie man eine solche reichsdeutsche Redaktion anredet. Zum mindesten müßtest Du mir also das Konzept des Briefes aufsetzen.
Dein Sassmann.
Gestern im »Schriftstellerklub« sind alle zersprungen, weil Du mich und keinen von ihnen aufgefordert hast.
Lieber Sassmann,
zuerst hast Du die Sache mit Begeisterung übernommen, und jetzt soll ich alles für Dich machen. Große Reden führen und dann nichts leisten: das ist echt österreichisch.
Dein Friedell.
Lieber Sassmann,
habe soeben vom Zahlkellner im Café Demimonde erfahren, daß es sich um einen Artikel über Österreich handelt. Jetzt hast Du also keine Ausrede mehr.
Lieber Friedell,
über Österreich zu schreiben ist schwer. Was wird das Ausland dazu sagen?
Sassmann.
Hochverehrter Meister!
Sehr geschätzter Herr Sassmann!
In meinem Restaurant habe ich erfahren, daß Sie der Hauptmitarbeiter der »Frankfurter Zeitung« sind. Schon lange war es mein Wunsch, an diesem hervorragenden Organ ebenfalls mitarbeiten zu dürfen. Es wird Ihnen ein Leichtes sein, durch Ihre Beziehungen dies zu vermitteln. Ich habe mich zwar bis jetzt noch nicht schriftstellerisch versucht, bin aber ein langjähriger persönlicher Bekannter von Franz Werfel. Sollte Ihnen eine mündliche Aussprache erwünscht sein, so finden Sie mich täglich von zehn bis eins und drei bis sechs im Café Pyramide.
In aufrichtiger Bewunderung
Franz Zehntbauer, städtischer Marktkommissär.
Sehr geehrter Herr Friedell,
wir vermissen Ihren Beitrag. Wir rechnen um so gewisser auf sofortige Einsendung des Manuskripts, als es uns so kurz vor Weihnachten nicht mehr möglich wäre, für Sie einen Remplacanten zu finden.
Ergebenst
»Frankfurter Zeitung«.
Lieber Sassmann,
Weihnachten steht vor der Tür, und Du hast mir noch immer nicht die englische Seife für Lina besorgt. Echt österreichisch!
Dein Friedell.
Dringendes Telegramm an Egon Friedell.
Rasute blifta settmil hapta hapta 1/2.
»Trankfurter Leitung«.
Lieber Sassmann,
zu meiner Bestürzung erfahre ich im Café Eden, daß Du den Beitrag für die »Frankfurter Zeitung« richtig verschlampt hast. Damit hast Du mir ungemein geschadet; denn das hätte für mich der Anfang einer dauernden Mitarbeit werden können, und außerdem werden sie mich jetzt bei der nächsten Rundfrage möglicherweise übergehen. Ganz abgesehen vom Prestige beim Ausland. Das alles verdanke ich Dir!
Friedell.
Lieber Friedell,
ich weiß nicht, was Du noch haben willst. Erst vorige Woche war ich in drei Gesellschaften, die bisher noch nie das geringste von Dir gehört hatten und sich jetzt um mich gerissen haben, bloß weil ich mit Dir bekannt bin. Überall werde ich vorgestellt als »der Freund des berühmten Friedell, der die ›Frankfurter Zeitung‹ hat aufsitzen lassen«. Du bist die populärste Persönlichkeit von Wien. Und das verdankst Du mir. Du siehst also, daß ich doch nicht so »unzuverlässig« bin, wie Du immer behauptest.
Sassmann.
Lieber Sassmann,
in Österreich wird man eben nur zum großen Mann, wenn man etwas auffällig nicht tut. Kaiser Josef hat unter größtem Aufsehen keine Reformen durchgeführt, Laudon hat unter allgemeiner Aufmerksamkeit Friedrich den Großen nicht besiegt, und Lueger hat unter ungeheurem Zulauf nichts für Wien geleistet. Für die »Frankfurter Zeitung« haben schon viele nicht geschrieben, aber keiner ist dadurch der Mittelpunkt Wiens geworden. Weil die anderen eben alle kein Talent hatten. Zumindest kein österreichisches Talent.
Friedell.
Von der Steuerbehörde für den 18. beziehungsweise 19. Bezirk, Wien, Niederösterreich.
Herrn Dr. Egon Friedell, Chefredakteur der »Frankfurter Zeitung«.
Auf Grund der amtlichen Erhebungen werden Sie auf Grund Ihrer Lohngenüsse beziehungsweise dauernden Emolumente aus Ihrer Tätigkeit als ausschließlicher Verfasser der periodischen Druckschrift »Frankfurter Zeitung« für die Jahre 1926 bis 1929 in die Gruppe Ia der allgemeinen Erwerbssteuer, respektive Ib der temporären Einkommensteuer eingereiht. Die Höhe der vorauszuzahlenden Nachtragssteuer wird aus der Einkommenstufe für das zweite Semester der unmittelbar dem dazwischenliegenden Jahre des vorhergehenden dritten Halbquartals als zweite Rate der Zuwachsstaffel vorgeschriebenen Katasterumlage, jedoch vermehrt um den mit der Steuernovelle vom 3. Jänner 1921 für die nicht in die für die unter Befreiung von der direkten Einkommensmehrertragssteuer fallenden vorgesehenen kommunalen Erwerbszuschlag, jedoch abzüglich der bereits für die der Versteuerungsperiode vorausgegangenen letzten drei – soweit sie noch in diese Periode fallen – schuldigen Vermehrungssteuerquoten bis spätestens zum als Stichtag geltenden 1.Dezember 1926 eingezahlten Beträge errechnet.
Die zünftigen Gelehrten pflegen alle historischen Werke, die sich nicht mit dem geistlosen und unpersönlichen Zusammenschleppen des Materials begnügen, hochnasig Romane zu nennen. Aber ihre eigenen Arbeiten entpuppen sich nach höchstens ein bis zwei Generationen ebenfalls als Romane, und der ganze Unterschied besteht darin, daß ihre Romane leer, langweilig und tatenlos sind und durch einen einzigen »Fund« umgebracht werden können, während ein wertvoller Geschichtsroman in dem, was seine tiefere Bedeutung ausmacht, niemals »überholt« werden kann.
Wir haben uns daran gewöhnt, in einem Dichter einen Menschen zu sehen, der irgendwo außerhalb, ganz an der Peripherie des wirklichen Lebens in einem Zimmer sitzt, Stoffe und Materialien sammelt, nachdenkt, schreibt, innehält, ausstreicht, wieder nachdenkt, wieder schreibt, zusammensetzt und umarbeitet, und wenn er schließlich viele Bogen mit vielen weisen oder schönen Dingen gefüllt hat, ein gedrucktes Buch herausgibt, kurz: einen Menschen, der die eine Hälfte seines Daseins mit Lesen und die andere mit Schreiben verbringt und dessen Lebenssymbol das Buch ist.
Diese Vorstellung scheint uns so selbstverständlich, daß wir uns gar nicht denken können, daß man es jemals anders aufgefaßt hat. Und dennoch ist dieser Begriff vom Dichter verhältnismäßig noch sehr jung, er ist eine Neuerwerbung des achtzehnten Jahrhunderts. Damals wurde in ganz Europa die Literatur übermächtig. Jene Art der menschlichen Geistestätigkeit, die uns heute fast als das Kulturferment schlechtweg erscheint, hat sich erst damals ihre Vorherrschaft erobert. In England entstand der Typus des schreibenden Gelehrten, der schreibt, schreibt, nicht bloß um seine eigene Forschung zu fördern, sondern auch um andere zu unterweisen, und seitdem versorgt England den ganzen Kontinent mit weltläufiger, lehr- und lernbarer Wissenschaft: Wissenschaft als Literaturprodukt. Gleichzeitig wurde in Frankreich die Figur des Publizisten konzipiert, der alles: Leben und Kunst, Glauben und Staat in geschickter, aktueller, interessanter Form zu behandeln weiß; an der Spitze Voltaire, der vollendetste Journalist, der je gelebt hat. Diese Strömungen rannen dann zusammen in das, was wir »Aufklärung« zu nennen pflegen. Alles wurde mit einemmal ein Gegenstand der Literatur: die Politik, die Gesellschaft, die Religion. Gott wurde nicht mehr in inbrünstiger Ekstase hinter düstern Klostermauern gesucht wie im Mittelalter, nicht mehr mit der Pike oder der Sense in der Hand erkämpft wie in den Zeiten der Reformation, nicht mehr im Kunstwerk verherrlicht wie in der Renaissance, sondern er begab sich in Bücher, Broschüren und Flugschriften, lehrhafte Romane und philosophische Dialoge: er war eine literarische Angelegenheit geworden. Und dazu kam dann die Ausdehnung der Presse, gefördert durch das neue billige Holzpapier, die Druckmaschine, die Erfindung schnellerer Verkehrsmittel, und vollendete diese ganze Entwicklung. Das, was wir heute zusammenfassend »Geistesleben« nennen, ruht zu drei Vierteln auf dem Schrifttum.
Es ist aber durchaus nicht immer so gewesen. Die Griechen hatten große Dichter und Philosophen, aber gar keine Berufsschriftsteller. Auch so ausgezeichnete Autoren wie Thukydides, Xenophon oder Plato schrieben immer nur gewissermaßen im Nebenamt: ihre literarische Tätigkeit war nur eine Fußnote und Randglosse zu ihrem wirklichen Leben. Erst mit dem Verfall der griechischen Kultur, mit dem Alexandrinertum, beginnt das Bibliothekswesen, die Polyhistorie und die Vielschreiberei. Auch Homer hat eigentlich nicht für die Griechen geschrieben, denn seine Dichtungen wurden durch mündliche Überlieferungen fortgepflanzt, und seine lebendige Wirkung bestand nicht darin, daß man ihn las, sondern darin, daß man ihn rezitierte.
In der darauffolgenden Zeit, im Mittelalter konnte von öffentlicher Schriftstellerei überhaupt keine Rede sein, und zwar aus einem sehr betrüblichen Grunde: weil die meisten Leute nicht lesen konnten. Und übrigens konnten auch viele Dichter nicht schreiben.
Dann in der Renaissancezeit hatten die Leute ganz andere Dinge im Kopfe. Zunächst wurde ein großer Teil der Energien vom öffentlichen Leben absorbiert. Jeder mußte für sich einstehen, man lebte unter dem Drucke einer fortwährenden Lebensgefahr, ganz Italien war eine organisierte Anarchie. Das Leben befand sich in fortgesetzter Vibration, man hatte nicht oft die Möglichkeit, beschaulich im Zimmer zu sitzen. Sodann: man wollte auch gar nicht. Es drängte jeden hinaus in das Glücksspiel der politischen Karriere: die Aussicht, Herzog oder Kardinal zu werden, war eigentlich für jeden begabten und tatkräftigen Menschen vorhanden. Und endlich: der Ehrgeiz und die Schöpferkraft des Menschen richtete sich auf die bildende Kunst. Ein großer Mann war der, der schöne Bildsäulen oder Gemälde machen konnte. Benvenuto Cellini war einer der populärsten Menschen in ganz Italien, und war doch nur ein einfacher Goldschmied. Die große aufwühlende Wirkung, die heutzutage ein Werk wie der »Faust« oder der »Zarathustra« hat, hatte damals eine Marmorgruppe oder ein Kolossalgemälde. Allerdings verstand man auch unter einem bildenden Künstler damals etwas anderes als heute. Man erwartete von ihm nicht nur eine besonders treue oder besonders eigenartige Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern auch Gedanken, ein vollständiges Weltbild: seine ganze geistige Persönlichkeit mit allen ihren Höhen und Tiefen, seine ganze Anschauung von Gott, Leben und Menschheit mußte in dem Werk enthalten sein. Man kann daher sagen, daß die führenden Maler und Bildhauer für jene Zeit genau dasselbe waren, was für uns heute ein führender Schriftsteller ist. Man dichtete eben damals in anderem Material.
In England, das nicht viel später seine Blüte erreichte, wurden allerdings vorwiegend Dramen, Gedichte und Abhandlungen produziert. Aber sie waren dennoch auch dort nicht wesentlich schriftstellerische Dinge. Sondern: der Ausdruck und Abglanz eines bestimmten bewegten Lebens. Sie waren nur der Schatten, den die Wirklichkeit warf, und diese Wirklichkeit war das, worum es sich drehte. Shakespeare war durchaus kein Schriftsteller; er war ein Theatermensch. Man könnte sagen: er machte Theaterstücke und schrieb sie nebenher auf, aus dem ganz mechanischen Grunde, weil die Schauspieler sie sonst nicht hätten auswendig lernen können. Es wäre Shakespeare niemals eingefallen, ein großes Drama zu dichten, ohne an eine Aufführung zu denken, wie es Goethe mehr als einmal getan hat. Erst das achtzehnte Jahrhundert hat aus Shakespeare eine Sache der Literatur gemacht. In England selbst wurde er nicht als Schriftsteller behandelt, seine Dramen lebten nur als Rollenhefte weiter. Man hat den Engländern vorgeworfen, sie hätten ihren Shakespeare nicht zu würdigen gewußt, sonst hätten sie seine Bücher nicht so verkommen lassen. Aber dieser Vorwurf ist ungerecht: die Unachtsamkeit ist begründet im Geist der Zeit, man hatte damals noch keinen Respekt vor geschriebenen Dramen, es fiel niemandem ein, daß diese Schauspiele auch außerhalb der realen Bühne, eingesargt in gedruckte Bücher, noch ein Leben haben könnten. Der Schriftsteller war damals noch nicht erfunden.
Heute aber steht er auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung und seines Einflusses. Er ist der geistige Repräsentant des Menschengeschlechts. Er hat fast alle denkenden Berufe in sich aufgesaugt. Das Organ der Politik ist nicht mehr die Rednertribüne, sondern die Presse. Das Organ des Handels ist nicht mehr der Marktplatz, sondern das Kontor, in dem geschrieben wird. ... da also heutzutage nahezu jeder Mensch, der geistig wirken will, auf das Schreiben hingewiesen ist, darf es uns nicht verwundern, daß der Dichter, der dieser Tätigkeit näher steht als irgendein anderer Mensch, heute Schriftsteller ist, und nichts als Schriftsteller.
Diese ganze Entwicklung ist aber allem Anschein nach im Begriff, ihren Höhepunkt zu überschreiten. Es ist nicht ausgemacht, daß die Literatur von nun an ein für allemal das wichtigste geistige Ausdrucksmittel bleiben wird. Zunächst aus einem äußerlichen Grunde. In früheren Zeiten konnte der Schriftsteller nicht dominieren, weil die Verkehrstechnik zu unvollkommen entwickelt war. Es gab keine organisierte Post, keine billigen Transportmittel, keine internationale Gütersekurität. Das geschriebene Wort hatte keinen wesentlichen Vorsprung vor dem gesprochenen. Es ist aber nun sehr wohl möglich, daß sich in der kommenden Zeit gerade das Umgekehrte ereignen wird: der Schriftsteller wird zurücktreten, weil die Technik zu vollkommen entwickelt ist. Man wird wieder auf die persönliche Wirkung zurückkommen können. Zunächst werden die Entfernungen immer geringer: wie schnell und leicht ein Mensch vorwärtskommen kann, ist nur noch ein praktisches Problem, eine Kraftfrage; theoretisch ist der Sache gar keine Grenze vorauszusagen. Ferner stehen Einrichtungen wie Telephon, Grammophon und Kinematograph ja erst ganz am Anfang ihrer Entwicklung, sie sind der unbeschränktesten Vervollkommnung fähig. Höchstwahrscheinlich steht uns auch die Erfindung des Fernsehers bevor. Nimmt man nun alle diese Dinge ein wenig im Geiste vorweg, so darf man sagen: es ist gar nicht ausgeschlossen, daß es in hundert Jahren eine Art der publizistischen Wirksamkeit geben wird, die der Schriftstellerei an Eindringlichkeit, Vielseitigkeit und Beweglichkeit ebenso überlegen ist wie das Buch und die Tageszeitung dem Kanzelredner und Wanderprediger.
Der souveräne Mensch durchschaut das ganze Leben als belanglose Komödie, die man von oben herab kalt und lächelnd zu betrachten hat. Aber dieser überlegene Standpunkt muß aus der Güte hervorgehen, aus dem liebevollen Verstehen, nicht aus bornierter Mißgunst und kleinlichem Mißtrauen. Das ist die richtige Ironie, die das gutmütige, das verstehende, das liebevolle Lachen auslöst. Aber eine Ironie, die das freche Hohnlachen der Schadenfreude auslöst, ist ein gefährliches Giftattentat, das den Haß unter den Menschen noch mehr befördert.
Damit ist aber keineswegs gesagt, daß die Dichter verschwinden werden. Im Gegenteil: wenn die Dichtkunst aufhört, wird es mehr Dichter geben und größere. Die Dichter, die wir bis jetzt gesehen haben, haben alle ihre verfügbare Poesie und Romantik auf lyrische Gedichte abgezogen oder in einen Roman eingedünstet. So bleibt nichts für das Leben übrig. Auch von den Theaterkomikern wird ja behauptet, daß sie im Leben zumeist recht morose Leute seien.
Es ist außerdem auch gar nicht ausgemacht, daß zum Dichten notwendig »Werke« gehören. Ja, es ist noch sehr die Frage, ob jene Genialität nicht höher steht, die sich in den täglichen improvisierten Lebensäußerungen eines Menschen offenbart. Die »Werke« zeigen uns ja immer nur eine präparierte Genialität, die die Frucht langer Erwägungen, Übungen und Versuche ist. Vielleicht wäre der größte Künstler derjenige, der sagen könnte: »Das einzige Kunstwerk, das ich geschaffen habe, ist meine Biographie. Bei anderen floß die Genialität in die Feder oder in den Pinsel. Aber ich verzettelte mein Genie nicht mit diesen Dingen und hatte diese Instrumente nicht nötig. Ich hätte sie nicht einmal brauchen können, denn sie wären für mich viel zu plump gewesen.« Ein solcher Dichter wäre größer als Dante und Homer und unsterblicher. Unsterblicher. Denn die »Odyssee« und die »Göttliche Komödie« sind etwas Fertiges, etwas Abgeschlossenes und daher gewissermaßen etwas Totes. Ein Menschenleben aber wirkt weiter, indem es sich fortwährend in den Augen der Nachwelt verwandelt. So hat zum Beispiel Goethe eine Dichtung geschaffen, die höher steht und länger und tiefer wirken wird als der »Faust«, der »Tasso« und seine anderen Meisterwerke. Sie heißt: »Das Leben Johann Wolfgang Goethes, 1749-1832.«
Goethes Leben und Goethes Dichtungen hängen allerdings genau zusammen, aber in besonderer Weise. Nämlich: seine Dichtungen hätte er niemals schreiben können ohne ein solches Leben, aber ein solches Leben hätte er wohl führen können, ohne eine Zeile zu dichten. Daß er der einzige Mensch war, der den »Faust« schreiben konnte, das war das spezifisch Goethische; daß er den »Faust« schrieb, war ein Zufall. Die Kunst ist immer nur ein Nebenprodukt. Das Wort »Berufsdichter« ist ein Unsinn. Der Beruf des Dichters ist der jedes anderen Menschen: leben, assimilieren und assimiliert werden, Energien anhäufen und weitergeben, eine von den Millionen Komponenten der Weltbewegung bilden.
Um es zusammenzufassen: Es gibt eben dreierlei Sorten von Dichtern. Die einen sind die außermenschlichen Heroen und Idealgestalten der Kunst. Die sind selten und gleichsam ein glücklicher Zufall. Sodann die, welche ebenso Großes singen, aber ohne Größe. Sie erfassen jedoch häufig irgendein allgemeines Gefühl, das die Zeit gerade bewegt: Patriotismus, Liebe, Freundschaft, Frömmigkeit. Solcherart waren die Vaterlandsdichter der Freiheitskriege, die Minnesänger des Mittelalters, die Freundschaftslyriker des achtzehnten Jahrhunderts, die religiösen Lyriker der Reformationszeit. Und die dritten: die wollen wir die Dichter der Straße nennen.
Es sind die verschiedenen Kostüme der menschlichen Seele. Die Werke der ersten Art sind die großen Prunkstücke der Menschheit, ihre Herrschafts- und Krönungsinsignien, die von unbeschränkter Dauer sind und nur durch irgendeine gewaltige Umwälzung der ganzen Kulturschicht hinweggetragen werden können, sie werden immer wieder hervorgeholt und bezeichnen durch die Jahrhunderte unverblaßt den höchsten Glanz und die höchsten Machtmöglichkeiten des menschlichen Geistes, es sind Dekorationsobjekte von düsterer Feierlichkeit oder flammender Leuchtkraft: ihre Auffassung verändert sich im Laufe der Zeiten, wie ja auch die Auffassung von der Bedeutung des Königsmantels und der Krone; aber alle Zeiten sind sich darin einig, daß es die dauernden Merkmale der Größe sind.
Die zweiten sind den ersten in der Form ähnlich, aber nur in dieser. Sie sind die Maskenstücke einer bestimmten Zeit und wandern zum Plunder, wenn diese Zeit sich gewandelt hat. Sie haben nur die Attitüde der Größe, es sind die Draperien und Ausstattungsstücke des Komödianten, der den König macht. Sie wirken auf ihre Zeit oft ebenso stark wie die wirklichen Prachtgewänder, wie ja auch der Schauspieler dies vermag; aber sie sind es nur für einen Augenblick. Nach einiger Zeit wird die Bude abgerissen, die Lichter werden abgedreht, und das bunte Zeug kommt in den Müllkasten. Es gibt Zeiten, die nur solche Werke hervorbringen, die alle Kostüme haben und doch keines, kein einziges nämlich, das ihr Eigentum wäre. Solche Zeiten pflegt man dann in Bausch und Bogen auf den Kehricht zu werfen.
Die dritten schließlich scheinen weniger zu geben und geben doch in Wirklichkeit unendlich viel mehr. Sie nähen nämlich ganz einfach am Kleide der Zeit, das schlicht genug aussieht, und nur an diesem. Ihre Werke sind Fabrikate weder für besondere festliche Anlässe noch für Maskenaufzüge und Schaustellungen, sondern für den Tag und die Stunde; sie haben daher vor allem die Eigenschaften des Werktagskleides: sie sind praktisch, aus solidem Material und keineswegs übermäßig kostbar, man kann sie ruhig anfassen und verwenden; sie stehen auf der Höhe der letzten technischen Vervollkommnungen, denn sie sind ja Kinder ihrer Zeit, und sie sind jeder Lebensweise, jeder Berufsart, jeder Witterung und jedem Aufenthaltsort angepaßt. Kurzum: die ersten sind Staatskleider, die zweiten Gewänder für Schauspielergarderoben und die dritten wirklich historische Trachten, Stücke aus der Kostümkunde; und in der Geschichte der Kostüme bewahren sie sich auch ihren dauernden Platz.
Es ist diesen Dichtern der dritten Art eigentümlich, daß man sie sich nicht mit einer Leyer denken kann, ja kaum mit einem Lorbeerkranz. Sie haben mit diesen ewigen Symbolen nichts zu tun. Sie haben sie weder mit auf die Welt gebracht wie jene ersten noch sich in einem Antiquitätenladen ausgeliehen wie die zweiten. Sie dienten der Stunde, die keine Leyern und Lorbeerkränze zur Verfügung hat.
Der Dichter, von dem wir später handeln werden, ist ein Dichter der Straße; wenn man will, sogar in der geringschätzigen Nebenbedeutung. Er geht über die Straße: dies ist eigentlich seine ganze dichterische Tätigkeit. Er geht durch die Zimmer der Heutigen, durch ihre Kinderzimmer, ihre Speisezimmer, ihre Schlafzimmer, ihre Soiréesäle und Dirnenlokale, ihre Landvillen und Caféhäuser. Er ist ein richtiger Straßendichter und Straßensänger: der Schilderer und Verherrlicher des kleinen Lebens der Stunde. Er trägt keinen Samtrock und fliegenden Schlips, auch innerlich nicht. Er trägt einen Hornkneifer.
Er hat die kleinen Leiden seiner Zeit aufgefangen. Wir können gar nicht intimer von ihm reden, als indem wir von seiner Zeit reden.
Der Bauch gilt als profanes Organ, weil in ihm die Verdauung vor sich geht, aber vielleicht werden wir eines Tages sogar darüber umlernen und finden, daß die Verdauungstätigkeit ein Vorgang ist, der unser Seelenleben mehr beeinflußt als so mancher andere minder prosaische. Soviel läßt sich jedenfalls sagen, daß gewisse, besonders subtile, besonders mysteriöse und besonders subjektive Empfindungen bisweilen schon heute im Sonnengeflecht lokalisiert sind. Jeder Verliebte wird dies schon empfunden haben: es ist ein Gefühl, das langsam vom Zwerchfell heraufsteigt, eine eigenartige prickelnde Nervosität in der Magengegend erzeugt und die »Kehle zuschnürt«, wie die bekannte Redensart in den Romanen lautet, in der wir aber nur die Beobachtung einer Nebenerscheinung erblicken dürfen. Vielleicht wird der Romancier der Zukunft einmal ebenso pathetisch sagen: »Er erblickte ihre geliebten Schriftzüge, und sein Sonnengeflecht erzitterte« oder »Das Zwerchfell krampfte sich ihm zusammen, als er sie wiedersah«.
Sie sind der Extrakt der ganzen Menschheit, und darum sind sie natürlich auch der Extrakt ihrer Zeit; aber das ist nicht ihr Wesentliches. Hamlet ist ein Puritaner der elisabethinischen Renaissance, jene merkwürdige Kreuzung aus Bigotterie und Freidenkertum, die damals emporkam: er glaubt zwar noch an Gespenster, aber er hat auch schon Montaigne gelesen. Indes: er ist doch auch unendlich viel mehr: er ist einfach der Mensch, der zu viel weiß, um noch handeln zu können, sagen wir rundheraus: der Kulturmensch. Er könnte auch heute auf der Straße spazierengehen: in Paris, in Berlin, in Petersburg und im Garten des Epikur und in den »Wäldern«, die Thoreau beschrieben hat, und zu jeder Zeit, die reif genug ist, um Menschen hervorzubringen, die der Welt des Irrsinns und Verbrechens, in der sie leben, müde und überlegen ins Auge blicken können. Hebbel hat den »Faust« das vollkommenste Gemälde des Mittelalters genannt, das je geschrieben wurde, und das ist zweifellos richtig; aber er ist auch das vollkommenste Gemälde des achtzehnten Jahrhunderts und das vollkommenste Gemälde des neunzehnten; Faust ist Abälardus und Thomas Aquinas, Magier, Scholastiker und Gottsucher, aber er ist auch Fichte, der der zwiespältige Held des Zeitalters war, mit seinem ewigen Drang, sich in das Rätsel von Ich und Welt zu verkriechen, und einem gleich heftigen Trieb, in derselben Welt zu wirken und zu leben. Und er ist die ganze Versuchung des Menschen von heute, die sich in tausend Masken und Verkleidungen anschleicht: als Alkoholismus, als Sexualität, als Nihilismus, als Übermenschentum; und dabei ist er der vorbildliche Unbefriedigte, in allem Einzeldasein sich wiedererkennend, mit allem Leben mitleidend und qualvoll nach der Einheit der Erscheinungen suchend, und immer vergeblich, eine Gestalt, die es immer gegeben hat und immer geben wird, sagen wir kurz: das Genie. Und sein Gegenspieler, namens Hjalmar Ekdal, besitzt die überhaupt vollkommenste Ubiquität, die sich denken läßt. Er ist der Mensch, der mit der gegebenen Wirklichkeit kreuzzufrieden ist, nie verlegen um eine schmackhafte Auslegung peinlicher Sachen, Virtuose im Vorbeisehen an strapaziösen Verantwortungen oder störenden Realitäten und stets darauf bedacht, sich das Leben mit billiger Poesie zu verhängen wie mit einer Art schützender Glasmalerei, mit einem Wort: der Philister. Können wir uns denken, daß er in irgendeiner Sphäre der menschlichen Kultur nicht bestanden hat, ja daß er nicht zu allen Zeiten den Grundstock der Menschheit gebildet hat? Es ist die fleischgewordene Gewöhnlichkeit, aber der Dichter zeigt ihre Unvergänglichkeit.
Es sind die drei Typen der Menschheit. Oder vielmehr: es sind die drei Seelen, die in jedem Menschen wohnen, aus denen er sich aufbaut und die sich in ewigem Kampf und Gleichgewicht befinden. Jeder Mensch ist Skeptiker und Hamlet; jeder Mensch ist Idealist und Faust; jeder Mensch ist Realist und Hjalmar. Wer hätte nicht schon gesagt: »Aber wozu eigentlich das alles? Wir sind ein Narrenhaus. Taten sind Tollheit. Warum sich hineinmischen? Alles das hat ja gar keinen Sinn. Genug.« In diesem Augenblick war er Hamlet. Wer hätte nicht schon gesagt: »Alles ganz schön. Aber jetzt möchte ich ein Butterbrot und eine Flasche Bier.« In diesem Augenblick war er Hjalmar. Und wer hätte nicht trotzdem empfunden: »Einerlei. Es nützt nichts. Wir müssen weiter hinauf! Dazu sind wir auf der Welt.« In diesem Augenblick war er Faust.
Was ist nun der Sinn: die reife Skepsis, das ewige Streben oder das Butterbrot? Der Dichter antwortet: »Wir sind Menschen. Wir müssen zweifeln. Wir müssen streben. Wir müssen Bier trinken.«
Es gibt eine bestimmte, ziemlich kleine Zahl von unveränderlichen Wahrheiten. Aber die Stellung, die die einzelnen Menschen zu diesen Wahrheiten einnehmen, ist eine recht verschiedenartige. Der Durchschnittsmensch zweifelt sie an. Das Talent macht den vergeblichen Versuch, sie zu vermehren. Und das Genie wiederholt sie.
Es gibt keine Vergangenheit ohne Zukunft.
Die menschliche Phantasie war von jeher damit beschäftigt, sich allerlei Wundergeschichten auszudenken. In den Märchen, die jedes Volk besitzt und die sich alle so sonderbar gleichen, fliegt einer mit Fledermausflügeln durch die Luft, oder er hat ein silbernes Horn, das unsichtbare Armeen herbeibläst, oder er steht im Banne einer Fee oder Hexe. Blicken wir aber in die Wirklichkeit, so bemerken wir, daß sie nicht so lächerlich plausible, rationalistische Dinge schafft, sondern sich viel gewagter, utopischer und unlogischer benimmt. Edison hat der Realität ganz andere Zaubermaschinen entlockt als die paar armseligen Fledermausflügel; Cäsar und Napoleon haben ganz andere magische Trompeten besessen als jenes bescheidene Silberhorn. Und wenn wir die geheimnisvolle Anziehungskraft beobachten, die von der Anmut einer schönen Frau ausgeht, so müssen wir sagen: es gibt in der Wirklichkeit einflußreichere Feen und gefährlichere Hexen als bei Grimm und Musäus. Ja wenn wir bloß das alltägliche Leben des einfachsten Menschen ein einziges Mal so zu sehen vermöchten, wie es sich wirklich abspielt, so müßten wir erkennen, daß jene erdichteten Märchen nichts sind als kindische, phantasiearme Geschichten, blasse und schwächliche Kopien jener wunderbaren, viel unwahrscheinlicheren Märchen, die sich in jeder Minute überall ereignen. Sie glauben die Wirklichkeit zu übertrumpfen und bleiben in Wahrheit weit hinter der Wirklichkeit zurück.
Das Leben der menschlichen Seele ist das tiefste und wunderbarste Märchen. Die Hexen, Elfen, Zauberer und Drachen sind ja wirklich da, nur inkognito. Dornröschen ist angeblich ein Phantasiegebilde. Aber es schläft ja wirklich, vielleicht schon im nächsten Nachbarhause, und der Prinz fährt eben um die Ecke. Und Undine existiert und Loreley und der Zauberer Merlin, sie sind alle vorhanden: man muß sie nur zu finden wissen; dazu ist eben der Dichter da.
Betrachten wir zum Beispiel die Skizze »Melusine«. Die Romantiker behaupteten, es habe einmal eine Waldquellnixe gegeben, die vom Grafen Raimund als Gattin heimgeführt wurde; aber bisweilen mußte sie in ihr ursprüngliches Element zurücktauchen, für eine Zeitlang wieder Waldquellnixe werden, um sich dann neugestärkt ins gewöhnliche Leben begeben zu können. Das ist nun nicht wahr. Aber wozu Waldquellnixen und Märchengrafen? Es gibt ja Verkäuferinnen in kleinen Konditoreien, die ebenso romantisch sind.
Stellen wir uns vor, jemand hätte in soundso viel hundert Jahren die Aufgabe, von unserer Zeit ein Charakterbild zu entwerfen. Wohin wird er sich zuerst wenden? Die politischen Verhältnisse eines Zeitalters sind niemals völlig klargestellt: wir selbst wären ja in Verlegenheit, wenn wir über das heutige Staatsleben etwas ganz Definitives auszusagen hätten. Hier gibt es immer große Geheimnisse, und das liegt in der Natur der Sache, denn man kann nicht auf dem Markt Politik treiben. Aber der Zustand der allgemeinen Zivilisation ist eine offenkundige Tatsache, die sich auch in den kleinsten Lebensäußerungen unzweideutig ausprägt. Indes: diese Dinge sagen wenig von unseren wirklichen psychologischen Verhältnissen. Telephon und Setzmaschine, Kinematograph und Untergrundbahn hat es freilich vorher niemals gegeben, aber alle diese Dinge sind nur eine Außenseite, die erst verständlich wird, wenn man den Kern kennt. Unsere Schulen und Kirchen, unsere Parlamente und Ballsäle sind noch weniger geeignet, Aufschluß zu geben; sie gehören gar nicht zu uns. Diese Erscheinungen verraten fast gar nichts von unseren wirklichen Wünschen und Abneigungen, unseren Vorzügen und Fehlern; denn sie sind Institutionen, und Institutionen sind immer rückständig. Unser modernes Straßenbild mit seinen fünferlei und sechserlei Kommunikationsmitteln, die hintereinander, durcheinander und übereinander weg sich kreuzen, unsere Kaufhäuser und Kontore mit ihrem hastigen und dabei doch so präzisen Verkehr, unsere ganz neuartige Beherrschung von Raum und Zeit, dies alles ist ja gewiß ein Stück unseres Wesens, aber nur ein sehr äußerliches und gewordenes. Es ist für eine Pflanze natürlich sehr charakteristisch, wie ihr Rindengewebe, ihr Bastgewebe, ihr Holzkörper beschaffen ist, aber diese Bestandteile ihres Baues sind verhältnismäßig tot und nichts als der Ausdruck gewisser bildnerischer, innerer Lebenskräfte, die erst erschlossen werden müssen, wenn man diese Produkte überhaupt begreifen will.
Die innere Struktur, kurz gesagt: die psychische Mechanik eines Zeitalters wird uns nur verständlich durch gewisse Kräfte, die vom Alltag völlig abgelöst scheinen und dennoch die einzigen sind, die das Leben einer Zeit mit allen seinen Schicksalen, seinen Höhen und Tiefen zum plastischen Bilde zusammenfassen. Es sind die Werke der Kunst und Philosophie. Plötzlich werden uns eine Menge von unbegreiflichen Absonderlichkeiten des täglichen Lebens klar, wenn wir die Philosophie und Dichtung um Rat befragt haben. Diese Dokumente machen die übrigen kulturhistorischen Daten nicht überflüssig, aber sie rücken sie erst ins rechte Licht. Denn die Philosophen und Künstler sind die wenigen Menschen in jedem Zeitalter, die reden können. Die anderen sind stumm oder sie stammeln. Ohne Dichter und Philosophen wüßten wir nichts von vergangenen Zeiten: wir hätten bloß fremde Hieroglyphen, die uns verwirren und enttäuschen. Wir brauchen einen Schlüssel für diese Geheimschrift. Gerhart Hauptmann hat einmal den Dichter mit einer Windesharfe verglichen, die jeder Lufthauch zum Erklingen bringt. Halten wir dieses Gleichnis fest, so könnten wir sagen: im Grund ist jeder Mensch ein Instrument mit solchen empfindlichen Saiten, aber bei den meisten bringt der Stoß der Ereignisse die Saiten bloß zum Erzittern, und nur beim Dichter kommt es zum Klang, den jedermann hören und erfassen kann.
Die Philosophie und Kunst einer Zeit ist daher nicht verschieden von der Kultur einer Zeit, denn sie ist nichts als die Niederschrift dieser Kultur. Die Philosophen und Dichter sind zu allen Zeiten die menschlichsten Menschen gewesen, und darum kann man auch sagen: sie waren die historischsten Menschen.
Da hätten wir also schon einen zweiten Nutzwert des Dichters. Er ist seiner Zeit wertvoll als ihr Photogramm, für ihr gegenwärtiges und ihr zukünftiges Leben. Hier, in dieser klaren, reinen Platte, die für jeden kleinsten Lichtunterschied so empfindlich ist, lernt sie ihr Antlitz betrachten und ihre Gestalt erkennen, mit allen ihren Stärken und Gebrechen, ihren Gesundheiten und Krankheiten, ihren Ernsthaftigkeiten und Lächerlichkeiten. Und wenn sie vorüber ist, nimmt der Spätere dieses Bild in die Hand und erkennt sie wieder. Der Dichter bewahrt sein Zeitalter auf; ohne ihn würde es nicht erhalten bleiben. In diesem verkleinerten, dauerhaften Porträt vermögen auch die Späteren wieder Licht und Dunkel nachzuprüfen und in sich nachzuerleben.
Wie sieht nun der Mensch unserer Zeit aus? Der Mensch, der uns entgegentritt auf der Straße und im Salon, im Hörsaal und in der Volksversammlung, in der Tageszeitung und im Couplet, in Kassenstücken und Saisonromanzen? In allen diesem Dingen steckt noch nicht sein wahres Wesen. Es muß vielmehr aus diesen verwirrenden und trübenden Hüllen herausgezogen, extrahiert werden. Wo ist er, dieser Extrakt?
Wir finden ihn niedergelegt in den Büchern und Bildern der Dichter.
Dieser Mensch: – er kennt sich selbst nicht. Er ist der Ansicht, das Auto sei eine gute Erfindung und Telephone seien recht vorteilhaft für den Schnellverkehr. Bisweilen äußert er, er lebe in einer Zeit der zunehmenden Kolonialpolitik und der abnehmenden Religiosität. Über die Abstammung des Menschen denkt er verschieden; über den Niedergang des Kleingewerbes ist er sich hingegen vollkommen klar; ob aber die Kunst das Leben wiedergeben solle, erscheint ihm wieder mehr als eine offene Frage. Mehr weiß er nicht von sich; das andere in ihm ist der Dichter. Dies war niemals anders.
Schließlich ist ja jeder Mensch ein Dichter; aber der große Unterschied besteht darin, womit einer dichtet, und auf welcher Stufe er stehenbleibt. Ob einer bei seiner »Menschlichkeit« stehenbleibt und sich darauf beschränkt, bloß mit diesem Material zu hantieren. Das ist die erste Stufe: die Dichter des häßlichen Lebens, die große Majorität der Menschheit. Sodann: ob einer die Kraft hat, aus seiner Menschlichkeit in die Welt der Lügen, das heißt: der Bücher zu flüchten. Das ist die zweite Stufe: die Dichter der schönen Bücher, also das, was man so für gewöhnlich Dichter nennt. Ferner: ob einer die größere Kraft hat, in die Welt der Bücher das Gesetz des Lebens, das heißt: das Gesetz der Wahrheit zu tragen. Das ist die dritte Stufe: die Dichter der häßlichen Bücher, die Naturalisten. Und endlich, ob einer die größere Kraft hat: die Häßlichkeit des Lebens Lügen zu strafen und schön zu machen.
In jedem solid und kundig geübten Handwerk liegt etwas, das zur Verehrung, ja zur Bewunderung herausfordert. Um einen Schrank, einen Rock, eine Uhr wirklich gut zu machen, dazu gehört eine gewisse Sittlichkeit: Achtung vor dem gottgeschaffenen Material, Selbstzucht, Nachdenken, treue Hingabe an die Sache, Sinn für das Wesentliche. Ein Meister ist allemal etwas sehr Schönes, ob er einen Schuh macht oder einen Dom.
Jena, den 18. September 1791. Vor Döbereiners Gastwirtschaft »Zum grünen Baum«. Freiherr v. Roßstock. Dr. Kiefer.
Der Freiherr Wer war denn der korpulente Herr, der eben ins Haus trat?
Der Doktor Der Geheimrat von Göthe.
Der Freiherr Göthe? Kenn' ich nicht. Titular oder in einem Amt?
Der Doktor Er führt die Oberaufsicht über die dasigen Landesanstalten für Wissenschaft und Kunst.
Der Freiherr Ah, dann kenne ich ihn ja. Ein sehr schwieriger Herr. Ich habe mit ihm einen dreiwöchigen Schriftenwechsel gehabt. Aber warum nennt er sich jetzt Göthe?
Der Doktor Er hat immer so geheißen.
Der Freiherr Aber damals unterschrieb er sich immer Go-ethe.
Der Doktor Das spricht sich Göthe. Es ist eine altertümliche Schreibung.
Der Freiherr Oder vielmehr eine neumodische Gothomanie? Ist es ein Kriegsname?
Der Doktor Nein. Er schreibt und amtiert unter demselben Namen.
Der Freiherr Was schreibt er denn?
Der Doktor Meist Wissenschaftliches. Hat sehr schöne Experimente über Farben gemacht. Auch über Pflanzenwachstum. Jetzt arbeitet er, wie ich höre, an einem Buch über chemische Wahlverwandtschaften. Übrigens hat er auch Belletristisches verfaßt.
Der Freiherr Das interessiert mich schon mehr. Am Ende gar Romane? Das interessiert mich am meisten.
Der Doktor Ja. Auch ein Roman ist darunter. Es ist aber schon so an die fünfzehn Jahre her, daß er erschienen ist. Aber nein: was rede ich denn da? Siebzehn Jahre ist's her. Ich war ja damals noch nicht Kandidat.
Der Freiherr Aber wie hieß er denn?
Der Doktor Werthers Leiden. Des jungen Werthers Leiden.
Der Freiherr Was? Des Werthers Leiden von Georg Goethe? Aber das kenne ich ja! Und ob ich es kenne! Das war doch einen Winter lang das Gespräch auf allen Assemblées. Und sogar auf den Dörfern. Ich erinnere mich noch wie heute: in Neckargemünd wurde es als Moritat gezeigt. Hortense wollte sich totlachen, wir waren damals gerade verlobt. Aber ein Vetter von mir, der lange Einsiedel, wollte sich nicht totlachen, sondern im Gegenteil: totschießen! Er war nämlich ebenso unglücklich verliebt wie Werther: in die Philine Radziwill, die nach Wien verheiratet war. Dort hab' ich ihr, als ich in geheimer Mission am kaiserlichen Hof war, die ganze Geschichte erzählt. Sie sagte: aber das muß ja ein entzückendes Buch sein, das müssen Sie mir verschaffen! Das war aber gar nicht so leicht, denn es war in Österreich verboten. Aber schließlich hat sie es doch zu Gesicht bekommen. Und wissen Sie wo? Im Prater als Feuerwerk!
Der Doktor Und der lange Einsiedel?
Der Freiherr Hat sich natürlich nicht erschossen. Übrigens der Herr von Goethe ja auch nicht. Am Ende hat er gar seine Lotte geheiratet.
Der Doktor Er ist überhaupt nicht verheiratet. Das heißt: nur zur linken Hand.
Der Freiherr Ach, interessant. Also mit keiner Geborenen?
Der Doktor Nein. Mit einer Demoisell Vulpius.
Der Freiherr Vulpius? Am Ende eine Verwandte von Christian Vulpius.
Der Doktor Seine Schwester.
Der Freiherr Nein! Die Schwester des großen Vulpius? Des unsterblichen Verfassers von Rinaldo Rinaldini? Und das sagen Sie mir nicht gleich? Da muß ich diesen Herrn von Goethe doch unbedingt kennenlernen. Was für eine wunderbare Fortune! Kommen Sie rasch! Er zieht den Doktor ins Haus.
Alle berühmten Bücher sind gut, und fast alle guten Bücher sind berühmt, wenn es auch manchmal einige Zeit dauert, bis sie es werden, und die Klage, daß es so viele unbekannte Talente gebe, stammt fast immer von Menschen, die bloß unbekannt sind. Alles Gute, Wertvolle hat die Tendenz, sich den Menschen mitzuteilen, es greift infolge eines, man möchte sagen: physikalischen Naturgesetzes um sich. Ein Mensch fasse irgendwo, in irgendeinem Winkel der Erde einen neuen, schönen und tiefen Gedanken, und dieser Gedanke wird sich so sicher und unwiderstehlich ausbreiten wie Gras.
Meinen Abgang vom Theater wird niemand erfahren. Denn was würden sie erst mir sagen, wenn schon ein Mann wie Tyrolt, der über ein halbes Jahrhundert lang so fabelhaft Theater gespielt hat, bei seinem Abschied ungefähr die folgenden Reden erleben mußte.
Der Vertreter der Regierung:
Hochverehrter Herr Doktor!
Ich glaube, nicht bloß im eigenen Namen, nicht bloß im Namen der Regierung, nein, im Namen aller zu sprechen, wenn ich sage: der heute von uns geht, war ein Schauspieler! (Anhaltender Beifall.) Aber Sie waren nicht bloß ein Schauspieler – das sind viele –, sondern eines der seltensten Exemplare dieser Gattung, nämlich zugleich ein gebildeter Mensch. Ihrem soliden Wissen verdanken Sie es, daß es Ihnen schon in verhältnismäßig jungen Jahren gelang, sich den Doktorhut zu erringen, und wer weiß, ob Sie es nicht, wären Sie bei Ihren edlen Studien geblieben, bis zum Professor gebracht hätten! Aber es war in Ihrem Schicksalsbuche anders bestimmt, und da Sie sich diesen Titel nicht aus eigener Kraft zu erwerben vermochten, so hat sich die Regierung entschlossen, ihn Ihnen honoris causa zu verleihen. Herr Professor, ich gratuliere!
Der Rektor der Universität (von einem Zettel ablesend):
Verehrter Jubilar!
Viele Jahre haben Sie hier gewirkt, und zwar als (blickt in den Zettel) als ... Mitglied. Jawohl, das waren Sie! Die Universität begrüßt Sie als scheidendes Mitglied des (blickt in den Zettel) ... des Deutschen ... Volkstheaters, das seinerzeit, als Sie noch auf der Höhe Ihres Schaffens standen (blickt in den Zettel), ... erbaut wurde. Ich darf wohl heute bei Ihrem Abgang sagen: nicht bloß Ihnen, auch dem Deutschen Volkstheater kann man gratulieren!
Der Präsident der Akademie der Wissenschaften (mit steigender Wärme):
Auch wir wollen in der Reihe der Gratulanten nicht fehlen. Gerührt feiern wir in Ihnen den prächtigen Menschendarsteller, den vorzüglichen Charakteristiker, den wirksamen Interpreten, den verwendbaren Rollenträger, die nicht verderbende Utilität!
Der Sprecher der Kollegen (weinend):
Was wir an dir verlieren, ist in Worten gar nicht auszudrücken. Einen solchen Kollegen wie dich wird es sobald nicht wieder geben: treu und ohne Falsch ... Nie konntest du dich verstellen; was du auch tatest, immer warst du derselbe: unser lieber Tyrolt!
Der Sprecher der Eleven:
Gestatten Sie auch der Jugend ein Wort der begeisterten Huldigung. Es ist für uns ein ergreifender Glücksfall, daß es uns noch vergönnt war, Sie sehen zu dürfen. Unseren Enkeln werden wir erzählen können: Ja, wir haben noch den Tyrolt gekannt, der die große Haizinger gekannt hat!
Der Präsident der »Concordia«: Über Ihre schauspielerischen Qualitäten sollen Ihre Kollegen urteilen. Ich, als Vertreter der Schriftsteller, habe die hohe Ehre, in Ihnen als Verfasser entzückender Theaterplaudereien ebenfalls einen Kollegen begrüßen zu dürfen. Über Ihr Mimentum mögen die Meinungen geteilt sein, über Ihre Meisterfeuilletons kann nur eine Stimme herrschen.
Ein unbekannter Greis:
Seit fünfzig Jahren, mein lieber Tarhold, sind deine klassischen Gestaltungen die Höhepunkte meines Lebens. Unzähligemal und mit stets neuer Bewunderung habe ich sie genossen. Unvergeßlich eingeprägt leben vor meinem geistigen Auge dein köstlicher Lumpazi im »Verschwender«, dein Scharmanter im »Fünften Gebet« und dein ... in ... also der in dem dritten Stück.
Der Direktor des Burgtheaters:
Verehrter Meister!
Wohl niemand hat so viel Ursache, Ihren Abgang aufs tiefste zu bedauern wie ich. Denn ich muß das beschämende Geständnis machen, daß ich bis jetzt noch nicht dazugekommen bin, Sie zu sehen. Und nun stehe ich vor der niederschmetternden Tatsache, daß Ihre herrliche, unvergleichliche Kunst mir für immer unbekannt bleiben soll. Der Schmerz, den alle hier Versammelten empfinden, ist also bei mir ein verdoppelter, denn die anderen haben wenigstens die Erinnerung, ich aber habe von Ihnen gar nichts. Schuld trägt daran allerdings auch die sattsam bekannte Wiener Verkehrsmisere, die mich auch heute zu spät eintreffen ließ. Zu spät: dieses Donnerwort wird noch lange in meiner Seele nachhallen.
Der Bürgermeister von Wien:
Hochverehrter Herr Professor!
Man hat Sie heute auf eine Weise gefeiert, die wohl einzig dastehen dürfte. Ich aber sage nicht: Es lebe der Schauspieler, der Kollege, der Schriftsteller Tyrolt, meine Huldigungsgruß gilt Ihrer größten und edelsten Eigenschaft, ich rufe: Es lebe Rudolf Tyrolt, der Bürger von Wien! (Beifall der Sozialdemokraten, Zischen bei den Christlichsozialen)
Der Präsident des Bühnenvereins:
Gestatten Sie, daß ich als Vertreter aller, mit denen Sie in Ihrer Kunst vereinigt sind, das heutige erhebende Fest mit nur wenigen Worten beschließe. Ja, eigentlich genügen schon zwei Worte, um die Gefühle dieses Abends auszudrücken, zwei Worte, einen teuren Namen umfassend, der unsere Herzen in Dankbarkeit, Liebe und Bewunderung erzittern macht: Heinrich Laube!
Der Gefeierte:
Meine lieben Freunde!
Ich werde nie wieder die Bühne betreten ... (Tosende Bravorufe, der Rest wird von den rauschenden Zustimmungskundgebungen verschlungen)
Die Dinge sind nur groß, wenn man die Möglichkeit hat, sie von oben zu sehen. Um zu erkennen, daß der Montblanc groß ist, muß ich ihn von seiner Spitze oder vom Luftballon aus betrachten. Solange ich ihn besteige, sehe ich ihn überhaupt nicht.
Daß man das Weltalter, das um zwei bis drei Jahrtausende jünger ist als das unsere, das Altertum nennt, beruht auf derselben naiven Optik, nach der wir uns unseren Großpapa unter allen Umständen als alten Herrn vorstellen, während er doch in Wirklichkeit jünger war als wir, nämlich wärmer, unkomplizierter, kindlicher.
Die Geschichte der Gegenwart hat zu ihrem Mundstück bloß den Geist des »Herausgebers«, eines verschlagenen, zelotischen, mit der eisernsten Entschlossenheit zur Lüge gepanzerten Geschöpfs, das nur sich und seinem Parteidogma dient: ob es sich hierbei um die Herausgabe von Schulbüchern oder Blaubüchern, diplomatischen Noten oder Generalstabsberichten oder aber um wirkliche Journale handelt, macht keinen Unterschied: alle Beiträge zur Gegenwartsgeschichte haben den Wahrheitswert der Zeitung.
Vergangenheitsgeschichte ist kaum möglich, Gegenwartsgeschichte unmöglich, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: eben weil sie von der vorhandenen, sichtbaren, körperlichen Gegenwart handelt. Denn es gibt nichts Unverständlicheres als den Augenblick und nichts Unwirklicheres als die physische Existenz. Der Nebel der Ungewißheit, statt sich zu lichten, verdickt sich mit jedem Tage der Annäherung an das Heute, und wir haben von Zeitläuften, Personen, Ereignissen, die »zu uns gehören«, ungefähr ebenso treffende Bilder wie von unseren nächsten Familienangehörigen, denen wir Liebe oder (seit Freud) Haß entgegenbringen, aber niemals Erkenntnis.
Der Zeitgenosse sieht ein historisches Ereignis nie im Ganzen, immer nur in Stücken; er empfängt den Roman in lauter willkürlich abgeteilten Lieferungen, die unregelmäßig erscheinen und nicht selten ganz ausbleiben. Dazu kommt noch, daß die Entfernung bei der Zeitvorstellung eine andere Bedeutung hat als bei der Raumvorstellung, nämlich die umgekehrte: sie verkleinert nicht, sondern wirkt im Gegenteil wie ein Vergrößerungsglas. Hierdurch gewinnen Bewegungen, die wir aus einer gewissen Zeitdistanz betrachten, eine Deutlichkeit, die sie für die Mitlebenden nicht hatten; sie erscheinen uns allerdings auch weit schneller, als sie in Wirklichkeit waren, aber auch dies erleichtert ihr Verständnis.
Das Ideal ist zweifellos ein Ensemble von Prominenten, in dem einer am anderen sich mißt und steigert und aus der Reibung starker entgegengesetzter Polaritäten Funken und Flammen entstehen. Ein solches Ensemble war im alten Burgtheater bei Reinhardt, bei Brahm. Neuerdings aber dürfen wir die Prominenten nur als Solokrebse genießen, derartige deutsche Importeure halten sich in fast allen Wiener Theatern feil, aber immer nur in der Einzahl. Hiermit ist jedoch glücklich das Niveau der Operette erreicht, in der ebenfalls ein einzelner blendender Star vorzuhüpfen pflegt mit der Versicherung: »Ich bin die Sprudelfee«, während zehn andere junge Damen, die ihn im Halbkreis umgeben, nichts zu tun haben als kräftig zu bestätigen: »Ja, ja, die Sprudelfee!« Dies wäre aber noch immer erträglicher als die nunmehr ins Werk gesetzte Einschleppung ganzer reichsdeutscher Ensembles, bestehend aus wohldressierten, trostlos guten Schauspielern, die der Besitzer der Theaterfakturei lediglich nach den Gesichtspunkten der Billigkeit durch gleichgültige Agenten anwerben läßt (auf dieselbe kulturlose Art, wie Parvenus sich heutzutage durch ihre Sekretäre ganze Bibliotheken zusammenstellen lassen), ein System, das in Wien weder geübt wird noch dasselbe Resultat haben könnte: denn die Tatsache, daß in dieser Stadt jeder Einspännerkutscher und jeder Briefträger eine Individualität ist, kommt, so nachteilig sie der Post und Personenbeförderung sein mag, der Schauspielerei sehr zugute. Diese Methode muß, dauernd und allgemein angewandt, unfehlbar zur Verbofelung des Theaters führen, zum künstlerischen Wertheim und Kempinski: man wird Beefsteaks und Hummer, gebackene Austern und Trüffelpastete vorgesetzt bekommen, aber alles wird ganz gleich schmecken, weil es aus ein und derselben patentierten Universalmasse hergestellt sein wird. Wir verzichten auf den Import solcher minderwertiger Fertigware; lieber sollen doch Gabor Steiner und Miksa Preger die Berliner Staatstheater übernehmen.