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Der Himmel und die Erde und alles, was dazwischen ist: meint ihr, es sei zum Spaß erschaffen?
Koran
Die Wende der achtziger Jahre macht eine ziemlich scharfe Zäsur. 1888 ist das »Dreikaiserjahr«: am 9. März stirbt, fast einundneunzigjährig, Wilhelm der Erste, am 15. Juni, nach neunundneunzigtägiger Regierung, Friedrich der Dritte, und es beginnt die wilhelminische Ära, deren politische Grundzüge schon in den allerersten Jahren deutlich hervortreten. 1889 wird vom Reichstag die erste Flottenverstärkung bewilligt; in demselben Jahr beginnt das französische Kapital die russische Industrie in großem Maßstab zu finanzieren, nachdem schon im Dezember des vorhergegangenen Jahres die erste russische Staatsanleihe von einer halben Milliarde Franken aufgenommen worden war, der alsbald weitere folgen. Am 20. März 1890 erfolgt der Rücktritt Bismarcks; der russische Rückversicherungsvertrag wird von dem neuen Reichskanzler Caprivi, als »zu kompliziert«, nicht erneuert; dasselbe Jahr bringt das Ende des Sozialistengesetzes, dessen Verlängerung vom Reichstag abgelehnt wird, und bei den Neuwahlen einen Sieg der Linken. Im Frühjahr 1888 hält Georg Brandes an der Kopenhagener Universität Vorträge »über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche«, die zum erstenmal die europäische Aufmerksamkeit auf dessen Werke lenken; im Januar 1889 erleidet Nietzsche seinen geistigen Zusammenbruch, fast gleichzeitig beginnt er in seinem Vaterland gelesen zu werden, ein Jahr später besitzt er die »exzessive Berühmtheit«, die er in einem seiner letzten Briefe seinem Verleger prophezeit hatte. Um dieselbe Zeit dringen Tolstoi und Ibsen erobernd nach Deutschland, England, Frankreich.
In der Saison 1889 auf 1890 wird die Berliner »Freie Bühne« eröffnet und die gleichnamige Zeitschrift gegründet, womit sich der Sieg der naturalistischen Bewegung entscheidet; ihm parallel läuft der Durchbruch des verismo in Italien. 1889 erscheinen: Strindbergs »Vater«, Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«, Sudermanns »Ehre«, Liliencrons »Gedichte«, Richard Straußens erste große Symphonie »Don Juan«, Bergsons erste Studie, die schon sein ganzes philosophisches Programm enthält; 1890 treten Hamsuns, Wedekinds, Maeterlincks, Mascagnis bedeutsame Erstlingswerke ans Licht: »Hunger«, »Frühlings Erwachen«, »Princesse Maleine«, »Cavalleria rusticana«; Leibl, Liebermann, Uhde, bisher unbeachtet, beginnen allgemeinen Verdruß zu erregen.
Es ist überaus symptomatisch, daß der Held des stärksten Dramas dieser Epoche, Oswald Alving, der geistigen Auflösung verfällt, und daß der Philosoph, der Maler und der Musiker, die das Zeitalter am eindringlichsten und repräsentativsten verkörperten: Nietzsche, van Gogh und Hugo Wolf dieselbe Katastrophe erlitten. In diesen vier großen Lebensschicksalen, welthistorischen Symbolen höchsten Ranges, erklärt der Geist der Zeit, sich tragisch gegen sich selber wendend, seinen Bankerott.
Dabei schien, bloß von außen betrachtet, das Zeitalter von höchster Vitalität erfüllt. Doch war dieser robuste Drang zur Realität in Wahrheit eine Krankheitserscheinung: als einseitige und hypertrophische Ausbildung einer Eigenschaft auf Kosten aller anderen und unbewußter Versuch, eine unheilbare Haltlosigkeit, Lebensunfähigkeit und innere Leere durch krampfhafte äußere Aktivität, einen fast manischen Bewegungsdrang zu kompensieren. Diesen paradoxen Zusammenhang zwischen Verfall und scheinbar kraftvoller Betätigung des Lebenswillens hat Nietzsche in seiner Philosophie vorbildlich zur Darstellung gebracht: die Geburt des Willens zur Macht als dem Geiste der Décadence. Im »Ecce homo« sagt er: »Abgerechnet nämlich, daß ich ein Décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz.« Der Gegensatz ist der Übermensch. Aber, und dies ist der tiefste Sinn der Nietzschischen Philosophie (den er selber sehr wohl kannte, nur zumeist nicht verstehen wollte): der Übermensch ist der Décadent noch einmal! So schwebt sein Gedankengedicht als ein erhabenes Paradigma über dem sterbenden Jahrhundert: als die tiefste Kritik des europäischen Nihilismus und als dessen höchste Inkarnation: denn einen extremeren Nihilismus als die restlose und ausschließliche Bejahung des Lebens gibt es nicht, weil das nackte »Leben«, wie Nietzsche selber unzähligemale hervorgehoben hat, nichts ist als die völlige Abwesenheit jeglicher Art von Sinn.
Im letzten Akt der Neuzeit, die mit dem Immoralismus der Renaissance anhebt und im Immoralismus Zarathustras untergeht, war Deutschland der führende Agonist. Beginnen wir mit der Betrachtung der oberflächlichsten Lebensäußerungen, des Rinden- und Bastgewebes des Zeitkörpers sozusagen, so bemerken wir Deutschland an der Spitze fast der gesamten Großfabrikation, tonangebend im Geschützbau, im Schiffsbau, in der optischen, chemischen und elektrotechnischen Industrie. Sehr im Gegensatz zum alten Deutschland: in Berlin regieren nicht mehr Fichte und Hegel, sondern Siemens & Halske und statt der Brüder Humboldt die Brüder Bleichröder, in Jena gelangt als Nachfolger Schillers Zeiß zu Weltruf, in Nürnberg werden Dürers Werke von Schuckerts Werken abgelöst, Frankfurt am Main muß vor Höchst am Main weichen und an die Stelle der Farbenlehre tritt die Farben-AG.
Eine der wesentlichsten Veränderungen im äußeren Gestus des Zeitalters ist das Heraufkommen eines neuen Tempos: eilfertige Kleinbahnen, Großomnibusse, Tramways, anfangs mit Pferden oder Dampf, bald auch elektrisch betrieben, beherrschen das Stadtbild; Blitzzüge, von Jahr zu Jahr verbesserte Telephone, täglich wachsende Telegraphenanlagen besorgen den Fernverkehr. Dieses ebenso komplizierte wie zentralisierte Kommunikationssystem verleiht dem Menschen nicht bloß eine erhöhte Beschleunigung, sondern auch Allgegenwart: seine Stimme, seine Schrift, sein Leib durchmißt jede Entfernung, sein Stenogramm, seine Kamera fixiert jeden kürzesten Eindruck. Er ist überall und infolgedessen nirgends, umspannt die ganze Wirklichkeit, aber in Form von totem Wirklichkeitsersatz. Ein erschütterndes Symbol dieses Seelenzustandes ist der Untergang der »Titanic«, des größten Luxusschiffes der Welt, das bei seiner ersten Ausfahrt den Schnelligkeitsrekord schlägt, aber um den Preis des Todes. Ins Humorhafte gewendet erscheint dasselbe Motiv in Jules Vernes »Reise um die Erde«; Phileas Fogg, dessen Leben sich bisher mit mathematischer Gleichmäßigkeit zwischen Club und Home abgespielt hat, rast um den Planeten, um zu beweisen, daß dies mit ebenso mathematischer Zuverlässigkeit in genau achtzig Tagen möglich ist: seine Romantik besteht in Eisenbahnstörungen, versäumten Schiffsanschlüssen und deren geistesgegenwärtiger Überwindung. Und noch ehe das Jahrhundert Abschied nimmt, erzeugt es die zwei größten Veränderer der äußeren Realität, die die neueren Zeiten erblickt haben: das Automobil und den Kinematographen.
Das Weltbild sowohl der theoretischen wie der praktischen Physik erfuhr eine entscheidende Umorientierung durch zwei Entdeckungen, an denen wiederum Deutschland in hervorragendem Maße beteiligt war: sie sind bezeichnet durch die Zauberworte Röntgenstrahlen und drahtlose Telegraphie. Wir erinnern uns, daß bereits im siebzehnten Jahrhundert Huygens in seiner Undulationstheorie behauptet hatte, das Licht werde durch die Schwingungen eines besonderen elastischen Stoffes, des Äthers, fortgepflanzt, aber gegen die Autorität Newtons nicht durchdringen konnte, dessen Emissionstheorie das Licht als eine feine von den leuchtenden Körpern ausgeschleuderte Materie ansah. Hundert Jahre später griff Euler, der größte Mathematiker seiner Zeit, auf Huygens zurück, indem er betonte, daß bei Lichtphänomenen niemals ein Materialverlust zu konstatieren sei, vielmehr diese ganz ebenso wie der Schall durch Schwingungen zustande kämen, nur daß hier der Äther die Rolle der Luft spiele. Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts führte Thomas Young auch die Farben auf bloße Unterschiede in der Anzahl der Schwingungen zurück, die während derselben Zeiteinheit unser Auge treffen. Je nach der Schnelligkeit, mit der die Ätherbewegung auf unsere Netzhaut einwirkt, haben wir in absteigender Ordnung die Empfindungen des Violett, Blau, Grün, Gelb, Orange, Rot. 1835 wies Ampère nach, daß auch die Wärmeempfindung in ihrer Entstehungsweise von der Lichtempfindung nicht verschieden ist. Licht und Wärme sind dieselbe Naturerscheinung: wirft ein Körper die Lichtstrahlen zurück, so nennen wir ihn leuchtend; läßt er sie permeieren, so nennen wir ihn durchsichtig; werden sie von ihm weder reflektiert noch hindurchgelassen, sondern absorbiert, so nennen wir ihn warm. Zehn Jahre später stellte Faraday fest, daß auch die Elektrizität mit Licht und Wärme wesensgleich ist: alle drei sind Bewegungen desselben Mediums. Hierauf baute 1873 Maxwell seine elektromagnetische Lichttheorie. Nach ihr ist Elektrizität nichts anderes als Erzeugung von Transversalwellen im Äther, die von sehr verschiedener Länge sein können, aber stets dieselbe Geschwindigkeit besitzen wie das Licht, nämlich dreihunderttausend Kilometer in der Sekunde. Die Richtigkeit dieser Theorie wurde von dem genialen frühverstorbenen Physiker Heinrich Hertz experimentell bewiesen; mit Hilfe eines sehr sinnreich konstruierten Apparates, des »Hertzschen Oszillators«. Er berichtete hierüber in einem Vortrag, den er 1889 vor der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Heidelberg hielt; »meine Behauptung«, erklärte er, »sagt geradezu aus: das Licht ist eine elektrische Erscheinung, das Licht an sich, alles Licht, das Licht der Sonne, das der Kerze, das eines Glühwurms. Nehmt aus der Welt die Elektrizität, und das Licht verschwindet; nehmt aus der Welt den lichttragenden Äther und die elektrischen und magnetischen Kräfte können nicht mehr den Raum überschreiten ... Wir sehen nicht mehr in den Leitern Ströme fließen, Elektrizitäten sich ansammeln; wir sehen nur noch die Wellen in der Luft, wie sie sich kreuzen, sich vereinigen, sich stärken und schwächen ... Wir erblicken Elektrizität an tausend Orten, wo wir bisher von ihrem Vorhandensein keine sichere Kunde hatten. In jeder Flamme, in jedem leuchtenden Atome sehen wir einen elektrischen Prozeß. Auch wenn ein Körper nicht leuchtet, solange er nur noch Wärme ausstrahlt, ist er der Sitz elektrischer Erregungen.« Nach Stahls »Wärmestoff« und Newtons »Lichtstoff« wurde nun also auch die Elektrizität des Rangs eines Stoffes entkleidet, dafür aber zu einer Kraft von allmächtiger Ubiquität erhoben. Elektromagnetische Wellen, die eine Länge von vier bis siebeneinhalb Zehntausendsteln eines Millimeters besitzen, wirken auf unser Auge als Licht; von da an bis zu etwa fünfzig Tausendsteln eines Millimeters empfinden wir sie als Wärme; erreichen sie eine Länge von einigen Zentimetern bis zu vielen Metern, so äußern sie sich als Elektrizität. Elektrische Wellen sind Lichtwellen von sehr großer Schwingungsdauer; beide sind Zustandsänderungen desselben Äthers. Eine unmittelbare Folge der Hertzschen Arbeiten war die Erfindung des Kohärers durch Branly, 1890, der äußerst empfindlich auf elektrische Wellen reagiert. Hieran knüpften sich die Versuche Marconis, dem 1896 durch Errichtung von Antennen die Konstruktion des ersten praktisch brauchbaren Apparats für drahtlose Telegraphie gelang.
In demselben Jahr entdeckte Becquerel die nach ihm benannten Strahlen, nachdem ihm wenige Monate früher Röntgen mit der Auffindung der X-Strahlen vorangegangen war. Auch die Becquerelstrahlen sind elektrische Phänomene wie die Lichtstrahlen; sie unterscheiden sich aber von diesen dadurch, daß sie weder reflektiert noch gebrochen, dagegen durch elektrische und magnetische Kräfte abgelenkt werden; und vor allem besitzen sie die geheimnisvolle Gabe, daß sie, obgleich selbst unsichtbar, undurchsichtige Stoffe zu durchleuchten vermögen. 1898 entdeckten Pierre und Marie Curie in der Pechblende zwei neue Elemente: dem einen gab Frau Curie, eine gebürtige Polin, den chauvinistischen Namen Polonium; das andere wurde von ihrem Gatten sehr zutreffend Radium getauft. Seine Haupteigenschaft ist nämlich die Radioaktivität, die Fähigkeit, dauernd Becquerelstrahlen auszusenden. Hierauf machte William Ramsay die noch merkwürdigere Entdeckung, daß das Radium durch Atomzerfall beständig ein Gas, die sogenannte Emanation erzeugt, die sich, nach mehreren komplizierten Zwischenprozessen, schließlich in Helium verwandelt, ein Edelgas, dessen Existenz bereits 1868 auf spektralanalytischem Wege in der Sonnenatmosphäre nachgewiesen worden war, auf Erden aber bis dahin nicht festgestellt werden konnte. Wird die »Emanation« mit Wasser in Berührung gehalten, so bildet sich ein anderes gasförmiges Element, das Neon, bringt man sie mit Kupfer- oder Silbersalzen zusammen, so entsteht ein drittes, das Argon. Das Radium ist also ein Element, das sich fortwährend in andere Elemente verwandelt. Ferner haben die Radiumsalze (das reine Metall ließ sich noch nicht isolieren) die Eigenschaft, daß sie die Luft, durch die sie ihre Strahlen senden, elektrizitätsleitend machen, »ionisieren«, und daß sie alle Körper, die sich in ihrer Nähe befinden, vorübergehend radioaktiv machen, mit »induzierter Radioaktivität« ausstatten. Man suchte dies auf dem Boden der sogenannten Elektronentheorie zu erklären, die eine Art Rückkehr zur Annahme eines »Elektrizitätsstoffs« bedeutet, indem sie als letzte Bausteine Elektronen voraussetzt, negativ oder positiv geladene elektrische Einheiten, die vieltausendmal kleiner sind als die kleinsten Atome. Die induzierte Radioaktivität würde dann darauf zurückzuführen sein, daß alle Atome aus Elektronen bestehen, die aber im Falle des Radiums labile Systeme bilden, daher aus dem Atomverband auszutreten und sich gradlinig, als sogenannte Korpuskularstrahlen, fortzubewegen vermögen. Im allgemeinen denkt man sich ein Atom wie ein Sonnensystem gebaut, worin um einen positiv geladenen Zentralkörper die negativen Elektronen als Planeten kreisen, nach denselben Gesetzen, die Kepler für die Bewegung der Gestirne aufgestellt hat. Nun ist aber die Elektronentheorie, die in ihren Grundlagen auf Helmholtz zurückgeht, mit der Hertzschen Wellentheorie offenbar ganz unvereinbar. Infolgedessen versuchte der holländische Physiker Lorentz 1892 aus beiden eine Synthese zu bilden, indem er annahm, daß alle elektrischen Vorgänge, die sich innerhalb der Körper vollziehen, auf der Basis der atomistischen Stofftheorie, also durch die Annahme von Elektronen zu erklären seien, dagegen alle elektrischen Fernwirkungen durch Schwingungen, also nur unter Zuhilfenahme des Äthers. Dieser Ausgleich ist allgemein akzeptiert worden; ich muß ihn jedoch zu meinem Bedauern ablehnen, da er, an die Abgrenzung nach Einflußsphären erinnernd, wie sie in der Kolonialpolitik üblich ist, eine reine Verlegenheitslösung, ja eine unbewußte Bankerotterklärung der gesamten theoretischen Physik bedeutet, die mit einer plumpen und einseitigen Weltformel in eine Sackgasse geraten ist, dies aber vor sich selber nicht wahrhaben will. Materialistisch läßt sich die Materie eben nicht erklären: dies verkannt zu haben, war der Grundirrtum der ganzen modernen Naturwissenschaft. Auch in der Lichttheorie hat man neuerdings, um die Elektronen um jeden Preis zu retten, zu einer Mischhypothese gegriffen, die sich als eine verkappte Rückkehr zu Newton darstellt, indem man annimmt, daß das Atom durch Übergang der Elektronen von einer höheren zu einer niedrigeren Energiestufe elektromagnetische Wellen aussendet, die sich als Lichtstrahlen kundgeben. Alle diese Theorien sind nichts als geistreiche Spielereien, deren Lebensdauer zu dem Ewigkeitsgehalt, mit dem sie sich zu brüsten pflegen, in lächerlichem Kontrast steht. Berufen sie sich darauf, daß sie »experimentell bewiesen« seien, so ist ihnen zu erwidern, daß sich alles experimentell beweisen läßt: dies hängt nur von der Geschicklichkeit und Glaubensbereitschaft des Experimentators ab. Auch das »Phlogiston« ist experimentell bewiesen worden, und obgleich es ein offenkundiges Hirngespinst war, hat dies doch keineswegs verhindert, daß Lavoisier, Haller und andere große Gelehrte mit seiner Hilfe die aufschlußreichsten chemischen Entdeckungen und die wohltätigsten medizinischen Kuren vollbracht haben. Auf Grund des ptolemäischen Systems wurden die Sonnen- und Mondfinsternisse ebenso exakt vorausgesagt wie heutzutage; was zugleich der experimentelle Beweis für seine Richtigkeit war. Theorien sind Überzeugungen; und Überzeugungen werden dadurch bewiesen, daß man sie hat. Physikalische und chemische Allgemeinbegriffe, die man für die richtigen hält, stecken immer schon im Ansatz der Anfangsgleichung, von der man ausgeht; kein Wunder, daß sie am Schluß der Operation wieder herausfallen. Was Wundt, natürlich vom »wissenschaftlich orientierten« Standpunkt, einmal gegen die spiritistischen Experimente Zöllners vorbrachte, läßt sich auf alle Experimente anwenden, auch auf die seinigen: »Wer an Zauberei glaubt, macht über sie Experimente, und wer nicht an sie glaubt, macht in der Regel keine. Da aber der Mensch bekanntlich eine große Neigung hat, was er glaubt, bestätigt zu finden, und zu diesem Zwecke sogar einen großen Scharfsinn anwendet, um sich selbst zu täuschen, so beweist mir das Gelingen solcher Experimente zunächst nur, daß die, die sie machen, auch an sie glauben.« Gerade die staunenswerten Entdeckungen der Radiologie hätten dem Naturforscher das Ignorabimus eindringlich ins Bewußtsein rufen müssen, denn durch sie wurden drei seiner Fundamentalvorstellungen depossediert, indem deren Definitionen sich vollkommen auflösten. Einer der grundlegenden Begriffe war in der Chemie bis dahin das Element, dessen Kardinaleigenschaft in seiner Unverwandelbarkeit besteht, in der Physik das Atom, dessen entscheidendes Merkmal die Unteilbarkeit ist, in der Optik der opake oder dunkle Körper, dessen Wesen darauf beruht, daß er die Lichtstrahlen verschluckt. Alle diese Definitionen sind nunmehr unhaltbar, ja fast zum Unsinn geworden.
Man hat hieran aber noch weitergehende Folgerungen geknüpft. Wenn bei dem Vorgang der Radioaktivität sich vom Atomkern Elektronen abspalten, so besteht die Hoffnung, daß dies auch künstlich bewirkt werden kann. In der Tat gelangen Rutherford (dieser Name hatte schon einmal in der Geschichte der Naturwissenschaften Epoche gemacht, da sich an ihn die Entdeckung des Stickstoffs knüpft) im Jahre 1911 solche »Atomzertrümmerungen«, wenn auch nur in sehr geringem Ausmaße und unter besonders günstigen Bedingungen. Immerhin besteht die theoretische Möglichkeit, daß man eines Tages, auf diesem Wege fortschreitend, imstande sein wird, die ungeheueren, aber für gewöhnlich gebundenen Energiemengen, deren Sitz das Atom bildet, freizumachen und zu verwerten. Es ist berechnet worden, daß durch die Dissoziation eines einzigen Pfennigstücks etwa dreizehneinhalb Milliarden Pferdekräfte aktiv werden würden. Die Entbindung der »intra- atomischen« Energie würde selbstverständlich eine vollkommene Umwälzung aller irdischen Verhältnisse zur Folge haben. Hingegen können nur sehr naive Personen glauben, daß dies auch die Lösung der sozialen Frage bedeuten würde. Da der »Normalmensch«, der freilich gar nicht der normale ist, aber unser Wirtschaftsleben beherrscht, als gedankenloser Schurke geboren wird und stirbt, so ist zu vermuten, daß derartige Errungenschaften der Technik, ganz ebenso wie die bisherigen, nur zu neuen Formen der allgemeinen Habsucht und Ungerechtigkeit führen würden. Man stelle sich vor, daß vor zweihundert Jahren jemand prophezeit hätte, in welchem Maße es der Menschheit gelingen würde, die magnetische Energie, die elektrische Energie, die Sonnenenergie, die in der schwarzen Kohle, und die Wasserenergie, die in der »weißen Kohle« aufgespeichert ist, nutzbar zu machen: welche ganz selbstverständlichen Schlüsse auf paradiesische soziale Zustände hätten die Philanthropen daraus gezogen! Statt dessen ist alles viel schlimmer geworden, und Europa zerfällt in kapitalistische Staaten, in denen die meisten Bettler sind, und in Sowjetstaaten, in denen alle Bettler sind. Nein: durch die »Aktivierung des Atoms« würden bloß die Oberen noch gieriger, die Unteren noch ärmer, also beide noch hungriger werden und die Kriege noch bestialischer; zur Lösung der sozialen Frage bedarf es einer moralischen Emanation, Strahlenerzeugung und Atomzertrümmerung.
Im Sinne einer solchen haben zu Ausgang des Jahrhunderts die »Fabier« sehr vorurteilslos und wohltätig gewirkt, weshalb sie eine besondere Erwähnung verdienen. Die Fabian Society, gegründet 1883, der Sidney und Beatrice Webb, Wells, Shaw, die später so berühmte Theosophin Annie Besant und viele andere edle und begabte Menschen angehörten, entwickelte in ihren Fabian Tracts, Essays, News, die über die ganze Welt verbreitet waren, kein bestimmtes Credo. Ihr Motto lautete: »Den richtigen Moment mußt du abwarten, wie Fabius es geduldig tat, als er gegen Hannibal kämpfte, obgleich mancher sein Zögern tadelte. Aber wenn die Zeit kommt, mußt du kräftig zuschlagen wie Fabius, oder dein Warten wird ganz vergeblich gewesen sein.« Unter Sozialismus verstand sie ganz allgemein »einen Plan, allen gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten zu sichern«. Der Sozialismus wird sich geräuschlos und ohne daß es seinen Opfern zum Bewußtsein kommt, verwirklichen: »wir stehen«, sagt Sidney Webb, »bereits mitten im Sozialismus; unsere Gesetzgeber sind schon alle, ohne es zu wissen, Sozialisten und die Wirtschaftsgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ist eine fast ununterbrochene Kette des Fortschritts im Sozialismus.« Einen verwandten Standpunkt vertrat in Deutschland eine große wissenschaftliche Schule, die sich zur »historischen« Nationalökonomie bekannte, im Gegensatz zur dogmatischen oder klassischen, deren Begründer Adam Smith und Vollender John Stuart Mill war. Diese hatte behauptet, daß es im Wirtschaftsleben eine Reihe »natürlicher Gesetze« gebe, da die elementaren Bedürfnisse des Menschen stets dieselben seien: das Wesen dieses in allen Ländern und Zeiten gleichen »homo oeconomicus« gelte es zu ergründen und in bestimmten volkswirtschaftlichen Axiomen zu fixieren. Die wichtigsten: das Bevölkerungsgesetz, das Lohngesetz, das Gesetz der freien Konkurrenz, das Gesetz des Angebots und der Nachfrage haben wir bereits kennengelernt. Hierüber entbrannte ein Gelehrtenstreit: die »deduktive« Schule, geführt von Professor Menger, bezeichnete als den Hauptinhalt der Wirtschaftswissenschaft »das Generelle, das Typische, die typischen Relationen«; die historische Schule, an ihrer Spitze Professor Schmoller, erklärte die klassischen Gesetze für »abstrakte Nebelbilder, denen jede Realität mangelt« und die Nationalökonomie für eine rein induktive Wissenschaft, die es ausschließlich mit dem konkreten Leben der Vergangenheit und Gegenwart und dessen Deskription zu tun habe. Der Zusammenhang dieser ideenfeindlichen, wirklichkeitsfreudigen Richtung, die um die Wende der achtziger Jahre allmächtig wurde, mit der gleichzeitigen naturalistischen Bewegung in der Kunst ist unverkennbar. An die Stelle des bisherigen Absolutismus, erklärten die Anhänger der historischen Schule, müsse der theoretische und praktische Relativismus treten; die Gesetze der Nationalökonomie seien überhaupt gar keine Gesetze wie etwa die physikalischen und chemischen, denn diese gälten überall und immer, jene nur unter ganz bestimmten, wandelbaren geschichtlichen Bedingungen. Sie hatten hierin insofern recht, als die Volkswirtschaft in der Tat immer nur das Produkt des jeweils gegebenen historischen Zustandes ist und ihre Lebensgesetze daher ebensowenig Ewigkeitscharakter besitzen wie dieser, übersahen jedoch, daß dies das Schicksal aller menschlichen Betätigungssphären und der aus ihnen gezogenen Wissenschaften und daher die Aufstellung von theoretischen Gesetzen hier ebenso berechtigt und ebenso unberechtigt ist wie auf anderen Gebieten. Auch die Sprachgesetze, die Naturgesetze, ja sogar die mathematischen Gesetze sind bloße Deduktionen aus den bisherigen Beobachtungen und verändern sich sofort, wenn widersprechende hinzutreten; ja es ist nicht einmal eine neue Empirie nötig, um sie aufzuheben, sondern hierzu genügt eine einfache Verschiebung des allgemeinen Weltgefühls, dessen bloße Funktion sie sind. Wissenschaften sind nichts als Stenogramme unserer Vorurteile.
Die Vertreter der historischen Richtung entwickelten aber auch eine sehr bemerkenswerte praktische Wirksamkeit. Sie lehrten, der Staat sei »das Organ der moralischen Solidarität« und habe daher nicht das Recht, der Not eines Teils der Bevölkerung gleichgültig gegenüberzustehen: die Zentralgewalt sei verpflichtet, die wirtschaftlichen Beziehungen auf allgemein befriedigende Weise zu regeln. Die Aufrechterhaltung des Privateigentums sei jedoch zur Steigerung der Produktion unerläßlich, da nur sie die individuelle Initiative der Wirtschaftssubjekte in Spannung erhalte. Der Propaganda der Staatssozialisten, wie sie sich nannten, sind eine Reihe von Gesetzen und Kontrollmaßnahmen zum Schutz der Arbeiter zu verdanken; von den Gegnern im liberalen Lager erhielten sie den Spottnamen »Kathedersozialisten«, weil sich unter ihnen viele Professoren befanden, Bismarck aber erklärte, er sei selber Kathedersozialist. In Frankreich vertraten die »Interventionisten« ähnliche Prinzipien.
Auch die Versuche, den gelehrten Unterricht zu reformieren, ergaben sich unmittelbar aus den naturalistischen Tendenzen der Zeit. Die Angriffe, die sich in Deutschland Ende der achtziger Jahre gegen das humanistische Gymnasium richteten, kamen hauptsächlich aus zwei Lagern: von den industriell interessierten Kreisen der höheren Bourgeoisie und von der militaristisch orientierten preußischen Hofpartei. Die ersteren erhoben die jedermann bekannten Einwände von der praktischen Nutzlosigkeit der toten Sprachen und plädierten für die Verdrängung der klassischen Bildung durch eine sogenannte »realistische«, das heißt: für Annäherung an die Gewerbeschulen; die letztere wies darauf hin, daß die vorwiegende Beschäftigung mit dem Altertum dem Patriotismus nachteilig sei, und forderte einen Unterricht auf »nationaler« Grundlage, also etwa im Rahmen der Kadettenschulen. Andrerseits läßt sich nicht leugnen, daß der Gymnasialunterricht in der Tat noch einen fast mittelalterlichen Charakter trug und in seiner formalistischen Verknöcherung noch sehr deutlich seine Herkunft von den Klosterschulen verriet; eine wirklich harmonische Bildung, die alle Gebiete des Menschlichen gleichmäßig umfaßt und allein ein Recht darauf gehabt hätte, klassisch zu heißen, vermittelte er nicht. 1890 fanden die »Dezemberkonferenzen« statt, Zusammenkünfte von Schulmännern, in denen nach langen Debatten einige Erleichterungen durchgesetzt wurden: Entfall der Reifeprüfung aus Geschichte bei genügenden Klassenleistungen, aus Geographie überhaupt; Verminderung der Unterrichtsstunden in den alten Sprachen; Auflassung des lateinischen Aufsatzes und des Gebrauchs der lateinischen Sprache beim mündlichen Examen. Damit war niemand zufriedengestellt: die Anhänger des Alten weinten um den lateinischen Aufsatz (obgleich dieser niemals etwas anderes gewesen war als eine Komödie des freien Sprachgebrauchs, denn er bestand in bloßer mechanischer Permutation einer Handvoll ciceronianischer Phrasen) und um die lateinische Unterrichtssprache (obgleich diese eine vollkommene Posse war, denn was konnte es Närrischeres geben als einen röllchengeschmückten bebrillten Kleinbürger, der sich gegen seine Mitmenschen der Redeweise eines römischen Quiriten bediente); die Radikalen aber wollten überhaupt kein Latein und Griechisch. Diese Menschen gingen von der naiven Ansicht aus, daß der Wert einer Sprache sich lediglich nach ihrer Verwendbarkeit als Verständigungsmittel bemesse. Sie vergaßen dabei, daß jede, auch die »tote« Sprache der Niederschlag einer einmaligen menschlichen Seelenform ist, und im Falle der beiden klassischen Sprachen einer sehr hohen, in welche man auf anderem als philologischem Wege nicht eindringen kann. Indes ließe sich dies vielleicht noch verschmerzen; aber man kann ohne Latein und Griechisch nicht bloß das Altertum, sondern auch die gesamte Kultur der Neuzeit nicht verstehen, die mit Dantes Göttlicher Komödie, der höchsten »Summa« der lateinischen Scholastik, anhebt und in Goethes Faust, der Tragödie des »Erzhumanisten«, ausklingt: alles, was dazwischen liegt, ist »Renaissance«, Wiedererweckung der Antike. Kein Philosoph, kein Dichter von europäischem Range ist ohne die Kenntnis der Alten zu begreifen, unsere gesamte abendländische Wissenschaft ist von ihren ersten bis zu ihren jüngsten Tagen von antiken Quellen gespeist, und auch die »realistischen« Disziplinen: die Medizin, die Physik, die Technik sind bis in ihre alltäglichste Terminologie hinein extrem klassizistisch. Ja sogar die eigene Muttersprache kann man nur auf dem Wege über die toten Sprachen beherrschen: man wird ohne die Schule des Lateinischen nie ein vollkommen, präzises, klares und flüssiges Deutsch und ohne Bekanntschaft mit dem Griechischen nie ein philosophisches Deutsch schreiben lernen; und in der Tat hat es keinen klassischen deutschen Stilisten gegeben, der der klassischen Sprachen unkundig gewesen wäre, wie denn auch deren früher viel allgemeinere Verbreitung im Mittelstand die Ursache ist, warum man bis in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Briefen, Tagebüchern und allen anderen schriftlichen Äußerungen so selten auf elendes Deutsch trifft, während dieses seither, durch die Zeitungen mächtig gefördert, im Privatverkehr beinahe zur Regel geworden ist. Was das Gymnasium wert ist, beweist sich weniger an denen, die es besucht, als an denen, die es nicht besucht haben.
Die Dezemberkonferenzen waren von Kaiser Wilhelm einberufen worden, der überhaupt für die äußeren Tendenzen des Zeitalters, freilich nur für die äußeren, stets einen leuchtenden Kristallisationskern gebildet hat. Es kann belacht, beklagt, verflucht, aber von niemandem geleugnet werden, daß der Name dieses Herrschers dreißig Jahre lang für Millionen ein feuriges Fanal, eine schmetternde Fanfare, eine berauschende Parole gewesen ist. Seit Fridericus hatte man es auf deutschem Boden nicht mehr erlebt, daß ein ganzes Zeitalter Stempel und Etikett eines Fürsten trug.
Wenn das Wort »tragisch« nicht bloß in der Kunst, sondern auch im Leben irgendeinen anwendbaren Sinn haben soll, so muß man das Schicksal Kaiser Wilhelms ein tragisches nennen, ja ein shakespearisches, das nur noch keinen Shakespeare gefunden hat. Die Tragik, die von jedem Thron magisch ausstrahlt, war auch die seine: die dämonische Versuchung des Menschen, sich höher zu achten als die anderen Sterblichen, weil er durch äußere Umstände höher gestellt wurde, der gefährliche Glaube des von der Krone Gezeichneten, mit irdischen Seelen und Schicksalen frei schalten zu dürfen, weil er scheinbar die Macht dazu bekommen hat, während doch kein einziges geschaffenes Wesen das Recht besitzt, eine andere Kreatur auch nur einen Atemzug lang von ihrem eigenen gottgewiesenen Weg abzubiegen. »Wer soll Kaiser sein? Der Bescheidenste«: diese schlichte und schlagende Formel, die der »Rembrandtdeutsche« verkündet, war in Kaiser Wilhelm leider nicht Fleisch geworden. Aber ist diese Verirrung nicht sehr menschlich? Sind wir alle ihr nicht ebenso verfallen, jeder in seiner Sphäre? Und bloß deshalb weniger schuldig, weil unser Machtkreis ein kleinerer, die Gelegenheit zur Versündigung an fremdem Wollen weit geringer ist?
Überhebung und Sturz, Glanz und Verblendung, der mystische Reiz des trügerischen Gottesgnadentums: von Ödipus bis Jarl Skule ein ewiger Stoff für den Dichter. Richard der Zweite, Richard der Dritte, Heinrich der Vierte, Heinrich der Sechste: alle Königsdramen kreisen um diesen Punkt. Im ersten Akt seines historischen Trauerspiels hatte Kaiser Wilhelm bereits den Keim gelegt zu allem, was an verhängnisvollen Verwicklungen später folgen sollte: damals, als er im Übermut der Neugekrönten den weisen Seher von sich stieß, der jahrzehntelang das Herz und Hirn, das klare Auge seines Landes gewesen war; und von da an wandelte er wie unter einem geheimen Fluch, Fehler auf Fehler häufend, in allem scheiternd, auch edle Absichten zum bösen Ende führend. Er versuchte sich dem deutschen Arbeiter zu nähern, wie kein Hohenzoller vor ihm, und mußte sehen, daß er sich dem Proletariat verhaßter machte als irgendeiner seiner Vorgänger; er setzte die deutsche Zukunft auf das Wasser, und das Wasser wurde das Grab der deutschen Zukunft; er hob den deutschen Wohlstand, und dieser Wohlstand wurde das Gift der deutschen Seele; er wollte ein Weltreich schaffen und was er erreichte, war der Weltkrieg.
Sein ganzer Fehler bestand im Grunde nur darin, daß er sich auf einem Posten der menschlichen Gesellschaft befand, dem er nicht völlig gewachsen war. Dieser Posten war der höchste, den Deutschland zu vergeben hatte, und Wilhelm der Zweite war eben leider nicht der höchste Mann, den Deutschland zu vergeben hatte: ein Fall, der, wie man weiß, sich auf Thronen ziemlich häufig ereignet. Er war also, da nicht die vollkommenste moralische und geistige Kraft ihn zum Herrscher legitimierte, wie fast alle seine Kollegen darauf angewiesen, daß entweder der ererbte Glaube der Menschen an seine göttliche Bestimmung oder aber daß das Glück ihn legitimieren werde. Aber dieser Glaube fand gerade in seinem Zeitalter immer weniger Erben; und er hatte auch kein Glück. Besiegte Führer kommen vors Kriegsgericht, siegreiche aufs Postament. Sowohl Friedrich der Große wie Bismarck waren für den Fall eines österreichischen Sieges zum Selbstmord entschlossen; Bazaine war bis zum Jahre 1870 der Abgott Frankreichs und von da an ein infamer Landesverräter; Clemenceau, während des ganzen Krieges von seinen Landsleuten der »Tiger« genannt, wäre im Falle einer Niederlage zweifellos in Stücke gerissen worden; Tirpitzens Bart hätte nach einem Siegfrieden das deutsche Volk in Marmor, Stearin, Erz, Schokolade an allen Straßenecken begrüßt; auch wäre es schwer gewesen, einen Pfeifenkopf oder Bierfilz aufzutreiben, den nicht das Bildnis Ludendorffs geschmückt hätte.
Ja man darf sogar sagen, daß Wilhelm der Zweite in gewissem Sinne tatsächlich die Aufgabe eines Königs vollkommen erfüllt hat, indem er fast immer der Ausdruck der erdrückenden Mehrheit seiner Untertanen gewesen ist, der Verfechter und Vollstrecker ihrer Ideen, der Repräsentant ihres Weltbildes. Die meisten Deutschen der wilhelminischen Ära waren nichts anderes als Taschenausgaben, verkleinerte Kopien, Miniaturdrucke Kaiser Wilhelms. Dies ist der Punkt, allerdings der einzige, worin er sich mit Napoleon berührte; und dies hat sogar das Ausland sehr deutlich empfunden. Er hieß schlechtweg »le Kaiser«, »the Kaiser«, wie man Napoleon in ganz Europa »l'empereur« nannte.
Während die »Modernen« ihn unablässig als rückläufig, amusisch, zeitfeindlich bekämpften, übersahen sie, daß er in seiner ganzen seelischen Struktur sehr deutlich die Züge seiner Epoche trug, denn er war ganz zweifellos ein »homme du fin de siècle«, nämlich Impressionist und Décadent. Seine vielgerügte Fahrigkeit, Impulsivität, Unberechenbarkeit war nichts als Impressionismus, denn auf eine ganz allgemeine psychologische Formel gebracht, ist dieser nichts als Ideenübervölkerung, eine Invasionierung durch Mengen neuer Vorstellungsmassen, für die noch keine ordnenden Dominanten gefunden sind. Und was die Dekadenz anlangt, so ist nach Nietzsche ihr Wesen »die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonie ... wenn der Erschöpfte mit der Gebärde der höchsten Aktivität und Energie auftrat, dann verwechselte man ihn mit dem Reichen ... die interessantesten Menschen gehören hierher, die Chamäleons ... ihre Zustände liegen nebeneinander. Sie wechseln, sie werden nicht.« Eine gewisse neurotische Grundlage war möglicherweise auch dadurch gegeben, daß der Kaiser das Produkt einer mehrfachen Rassenkreuzung war: als Sohn einer Britin, die ihrerseits wieder eine Halbdeutsche war. Aber während Viktoria zeitlebens eine Stockengländerin geblieben ist, hatte er von ihr weder die Zähigkeit noch die Skrupellosigkeit überkommen, der die englische Politik so viele Siege verdankt. Shaw machte über ihn, mitten im Kriege, die ebenso vorurteilslose wie witzige Bemerkung: »Der Kaiser ist ein naiver Vorstadtsnob, was ganz natürlich ist, denn er ist ja der Sohn einer Engländerin.« Auch von der fast philiströsen Besonnenheit seines Vaters und der geräuschlosen Noblesse seines Großvaters hatte er nichts geerbt; hingegen von einigen seiner Vorfahren, und gerade den bedeutendsten: Friedrich Wilhelm dem Vierten, dem Großen Kurfürsten, Friedrich dem Großen einen gewissen Mangel an Feingefühl. Es wurde am Schlusse des dritten Buches erzählt, daß auch Napoleon vorgeworfen wurde, sein ärgster Feind sei der gute Geschmack. Als unbefugter Kunstkritiker scheint auch Alexander der Große wilhelminische Züge aufgewiesen zu haben; wenigstens würde eine Anekdote darauf hindeuten, die berichtet, daß eine Marmorstatue des Bukephalos, die ein berühmter griechischer Künstler angefertigt hatte, vom König bekrittelt, vom Modell selber aber mit freudigem Wiehern begrüßt wurde, worauf der Bildhauer gesagt haben soll: »dieses Roß versteht mehr von der Kunst als du.« Von Friedrich dem Großen wurde behauptet, seine Taktlosigkeiten hätten die Koalition des Siebenjährigen Krieges zustande gebracht. Auch Luther war zweifellos keine sehr zartfühlende Persönlichkeit. Aber für das Genie ist es nicht recht wohl möglich, durch Takt zu exzellieren. Sein Wesen besteht ja eben darin, alle »vor den Kopf zu stoßen«, rücksichtslos seiner Mission zu leben und sich gründlich unbeliebt zu machen. Überhaupt muß jeder geniale Mensch schon dadurch den guten Geschmack verletzen, daß er ununterbrochen und ungefragt die Wahrheit redet und mit Vorliebe Dinge erörtert, über die die Menschen niemals zu sprechen pflegen, wie wenn sie einen geheimen Kontrakt geschlossen hätten, sie ein für allemal nicht zu berühren. Die Genies Hamlet und Tasso benehmen sich fortwährend taktlos, zum Unterschied von ihren Gegenspielern Polonius und Antonio. Wehe also dem taktvollen Menschheitsführer! Er hat mit der Wirklichkeit nichts zu schaffen. Er wird die Menschheit zu gar nichts führen.
Nun wird man vielleicht sagen können, daß Wilhelm der Zweite eine lebhafte geistige Aktivität und Anpassungsgabe, ein originelles und kräftiges Talent vorstellte, aber Genialität wird man ihm keinesfalls zusprechen können. Denn diese besteht in der Verbindung einer eigentümlichen Nüchternheit, die in den Dingen über den Dingen steht, mit höchster Kühnheit, die, Konventionen mißachtend, ja nicht einmal bemerkend, den Tatbeständen vorauseilt; und diese beiden Eigenschaften fehlten ihm vollkommen. Infolgedessen waren die zahlreichen Ärgernisse, die er erregte, bloß Ärgernisse, zur aufreizenden Verzerrung vergrößert im Hohlspiegel seiner Machtposition.
Der »Zickzackkurs« seiner Politik, wurzelnd in einer seelischen Labilität, die überraschend von Depressionen zu manischem Bewegungsdrang hinüberwechselte und ebenso plötzlich wieder in Tatlosigkeit verfiel, wirkte an so überbelichtetem Platze fast wie folie circulaire. Das Zentralmotiv in der Seele des Kaisers war der infantile Wunsch, von aller Welt geliebt zu werden, immer im Mittelpunkt zu stehen: er wollte, wie Bismarck sagte, alle Tage Geburtstag haben. Hieraus rekrutierte sich seine Unfähigkeit, Haß und Angriff zu ertragen: eine neurotische Überempfindlichkeit für Eitelkeitskränkungen und eine ebenso neurotische Neigung zu episodischen Reaktionen, pseudoenergischen Gegenhieben: etwa dem, was Alfred Adler den »männlichen Protest« genannt hat. Infantil war auch seine Freude an Aufzügen, Festivitäten, Verkleidungen (er wechselte bisweilen ein halbes dutzendmal im Tage das Kostüm und erschien im »Fliegenden Holländer« in Admiralsuniform; der Berliner Witz erwartete, daß er sie auch bei der Eröffnung des Aquariums anlegen werde). Auch seine Reden, nicht selten durch glänzende Formulierungen packend, zeigten diese Freude an gleißendem Ausstattungswesen, opernhaftem Requisitenflitter: schimmernde Wehr, Fehdehandschuh, gepanzerte Faust, geschliffenes Schwert, Nibelungentreue, König Etzel (wobei ihm die Metapher bisweilen durchging, wie es das letzte Beispiel zeigt: das Hunnengleichnis ist während des Weltkrieges von der Ententepropaganda sehr erfolgreich exploitiert worden). All dies hatte etwas Rührendes; und wäre völlig harmlos geblieben, wenn Wilhelm der Zweite ein bloßer Bürger, etwa Leiter einer Großbank oder eines Theaterkonzerns, und eben nicht Kaiser gewesen wäre. Trotz allem ist die deutsche Nation geradezu verpflichtet, diesem Herrscher eine gewisse Pietät zu bewahren; und zwar aus Pietät gegen sich selbst. Denn ein Kulturvolk wird allem Ehrfurcht entgegenbringen, das einmal Macht über sein Leben besessen hat, wird seine früheren Leitsterne auch dann noch bejahen, wenn es eines Tages erkennt, daß sie Wandelsterne waren, denn irgendwie waren sie ja doch ein Stück seines Himmels; es wird in einem solchen Falle den Edelmut besitzen, zu sagen: ich habe geirrt, und der weithin sichtbare Exponent meines Irrtums war nicht schlechter, nicht törichter, nicht gottloser als ich, nur exponierter.
Einer der wenigen, die durch den glänzenden Vorhang der Gegenwart in die graue Zukunft zu blicken vermochten, war Bismarck, der in seinen »Erinnerungen« prophezeite, die Krisen würden um so gefährlicher sein, je später sie einträten, und in jener gedeckten Tonart seiner letzten Jahre, die durch ihre scheinbare Leidenschaftslosigkeit doppelt vernichtend wirkt, hinzufügte: »Die Befreiung von aller Verantwortlichkeit hatte bei meiner Ansicht über den Kaiser und seine Ziele viel Verführerisches für mich.«
Die Auflösung der Firma Bismarck und Sohn, wie man sie zum Verdruß des jungen Monarchen nannte, nahm ihren Ursprung in einer Meinungsverschiedenheit über die Arbeitergesetzgebung. Bismarck hielt ein direktes staatliches Eingreifen zugunsten der Sonntagsruhe für inopportun, es sei denn, daß man den Arbeiter für sechs Tage ebenso hoch entlohne wie bisher für sieben; andernfalls entziehe man ihm eine Erwerbsmöglichkeit: dies sei nicht Arbeiter schutz, sondern Arbeiter zwang, der Zwang, weniger zu arbeiten; eine Aussicht, den Verdienstentgang auf die Unternehmer abzubürden, bestehe aber nur, wenn die anderen großen Industriestaaten gleichmäßig verführen. Der Kaiser beharrte auf seinem Standpunkt (»Ideal Seiner Majestät schien damals populärer Absolutismus zu sein«), und Bismarck beschloß, aus dem Gebiet jener Kontroverse auszuscheiden, dem Handelsministerium, in dessen Ressort die Arbeiterfrage gehörte. Weitere Uneinigkeiten, besonders über die Kompetenzen des Ministerpräsidenten und das Verhältnis zu Rußland, legten ihm den Gedanken des völligen Rücktritts nahe, doch ehe er hierüber mit sich zu einer Entscheidung gelangt war, erhielt er durch den Chef des Militärkabinetts General von Hahnke die brüske Aufforderung, seinen Abschied einzureichen. Der Kaiser spendete ihm aus diesem Anlaß den Herzogtitel und sein lebensgroßes Porträt, worauf er von dem Meister der delikaten Ironie die Antwort erhielt: »Ich fühle mich hochbeglückt durch die Verleihung des Bildnisses, welches für mich und die Meinigen ein ehrenvolles Andenken bleiben wird... Eure Majestät wage ich aber alleruntertänigst zu bitten, mir die Führung meines bisherigen Namens und Titels auch ferner in Gnaden gestatten zu wollen.« Bei Bismarcks Abreise waren auf dem Bahnhof militärische Ehrenbezeigungen angeordnet, die er ein Leichenbegängnis erster Klasse nannte. Sein Nachfolger Caprivi holte von ihm nicht die geringsten Informationen ein, wozu er im dritten Bande der »Erinnerungen« bemerkt: »Es ist mir nie vorgekommen, daß eine Pachtübergabe nicht eine gewisse Verständigung zwischen dem abziehenden und dem anziehenden Pächter erfordert hätte. In der Regierung des Deutschen Reiches mit allen ihren komplizierten Verhältnissen ist ein analoges Bedürfnis aber nicht hervorgetreten.« Als er zwei Jahre später zur Hochzeit seines Sohnes nach Wien reiste, erteilte ihm Kaiser Franz Joseph auf seine Anfrage, ob er in Audienz erscheinen dürfe, eine zustimmende Antwort; die deutsche Regierung erhob aber Einspruch. Bismarck fühlte sich hierdurch so beleidigt, daß er einen Augenblick daran dachte, Caprivi zu fordern. Als zu seinem achtzigsten Geburtstag der Reichstagspräsident den Vorschlag machte, ihm den offiziellen Glückwunsch auszusprechen, hatte die Majorität des Hauses die Schamlosigkeit, ihre Zustimmung zu verweigern; der Kaiser sprach Bismarck hierüber telegraphisch die »tiefste Entrüstung« aus. Dieser aber schrieb an eine Freundin: »All diesen Leuten gegenüber habe ich nur das Gefühl des Götz von Berlichingen am Fenster, auch den Kaiser nehme ich nicht aus.« Es ist das Endgefühl, das auch den großen Friedrich zu Grabe geleitete.
Wenige Monate nach Bismarcks Abgang wurde der »Sansibarvertrag« abgeschlossen, worin die deutsche Regierung von der englischen Helgoland erwarb und dafür Witu, Uganda und die Anrechte auf Sansibar, einen der wichtigsten ostafrikanischen Handelsplätze, abtrat. Daß dies für Deutschland ein sehr unvorteilhafter Handel war, ist von zwei allerersten Kapazitäten in afrikanischen Dingen, einer deutschen und einer englischen, ausgesprochen worden: Peters bemerkte, das Reich habe zwei Königreiche gegen eine Badewanne eingetauscht, und Stanley sagte, es habe für eine neue Hose einen alten Hosenknopf bekommen. Ihnen schloß sich Bismarck an, der die Preisgabe eines so ausgedehnten Gebietes mißbilligte und im Besitz Helgolands nur die Nötigung erblickte, aus ihm ein Gibraltar zu machen: bisher sei es für den Fall einer französischen Blockade der deutschen Küsten durch die englische Flagge gedeckt gewesen; eine Auffassung, die natürlich mit einer französisch-englischen Entente noch nicht rechnet, zugleich aber zeigt, daß Bismarck durchaus nicht ohne Verständnis für die Interessen des kolonialen Imperialismus war, wie immer wieder axiomatisch behauptet worden ist.
Der Imperialismus ist, wie alle großen politischen Neuorientierungen, eine englische Erfindung. »Empire and extension« lautete die zauberkräftige Devise der achtziger und neunziger Jahre. Ihr Sänger war Rudyard Kipling, ihr Inseratenchef der Zeitungsfürst William Northcliffe. Damals tauchte zum erstenmal vor der britischen Phantasie der Gedanke eines ungeheuern transafrikanischen Reichs empor, der erst durch den Weltkrieg seine Verwirklichung gefunden hat. Die Marschroute lautete Kap-Kairo. Die erste Etappe bildete die Besitzergreifung der Nilmündungen. Um die Wende der achtziger Jahre legte Cecil Rhodes, einer der gewaltigsten Konquistadoren der ausgehenden Neuzeit, Beschlag auf Rhodesia und andere riesige Landstriche im Süden des Erdteils. Zwischen 1896 und 1898 eroberte Kitchener, eine Art moderner Cortez, den anglo-ägyptischen Sudan, auf zusammenlegbaren Dampfschiffen, Feldeisenbahnen, improvisierten Heerstraßen ebenso behutsam wie energisch vordringend. Dies führte 1898 zum Faschodakonflikt. Der Hauptmann Marchand, der den Engländern zuvorkommen wollte, hißte bei Faschoda am oberen Nil die französische Flagge. Kitchener forderte die Räumung des Platzes. Als Marchand sich weigerte, erschien ein britisches Geschwader vor Tunis. Eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den beiden größten Kolonialmächten schien unmittelbar bevorzustehen. Aber Frankreich war zur See nicht gerüstet und wich zurück.
An der Südspitze Afrikas besaß England bereits das Kapland, das es während der napoleonischen Kriege an sich gebracht hatte; nördlich davon aber bestanden noch große holländische Freistaaten, in deren Gebiet Gold- und Diamantfelder lagen. Die Bewohner der »Burenrepubliken« waren richtige Bauern mit allen Tugenden und Mängeln ihres Standes, dabei strenggläubige Kalvinisten von der ganzen Tapferkeit und Härte ihrer Konfession. Der Krieg, der 1899 ausbrach, setzte zur allgemeinen Überraschung Europas mit großen Siegen der Buren ein; diese aber waren zu schwerfällig und ungeschult, um sie in vernichtender Offensive auszunützen; gleichwohl hielten sie sich in zähem Kleinkrieg zweieinhalb Jahre gegen die Übermacht. Im Frieden von Pretoria verloren sie zwar ihre Unabhängigkeit, erhielten aber eine allgemeine Amnestie, zinsfreie Vorschüsse für den Wiederaufbau ihrer Gehöfte, Bürgschaften für die Erhaltung der holländischen Sprache und Zusicherung der Autonomie, die 1906 in Kraft trat; 1910 wurde ganz Südafrika Bundesstaat mit eigenem Parlament. England herrschte nun im Norden und im Süden. Dazwischen aber lag als Keil Deutsch-Ostafrika.
Auch Italien hatte versucht, sich am Ostrand Afrikas einzunisten, indem es die Kolonien Eritrea (am Roten Meer) und Somalia gründete. Zwischen diesen lag Abessinien, dessen Besitz erst dem Länderkomplex eine ernsthafte wirtschaftliche und politische Bedeutung verliehen hätte. 1889 proklamierten die Italiener ihr Protektorat über dieses Reich, aber 1896 wurden sie vom abessinischen Kaiser bei Adua entscheidend geschlagen, was den Sturz Crispis zur Folge hatte.
Bisher hatte es als selbstverständliches Axiom gegolten, daß nur europäischen Mächte ein Recht auf Kolonien hätten. Im spanisch-amerikanischen Krieg, der 1898 ausgefochten wurde, meldeten sich aber auch die Vereinigten Staaten als imperialistische Macht. Seine Ursache war die Insel Kuba, die »Perle der Antillen«, deren reiche Zucker-, Kaffee- und Tabakplantagen die Union zu besitzen wünschte. Der Kampf endete mit einer vollständigen Niederlage Spaniens, das, mit elenden Geschützen und vorsintflutlichen Fahrzeugen ausgerüstet, dem Gegner zu sehr billigen Seesiegen verhalf, aber auch, was man nicht erwartet hätte, zu Lande versagte. Die Vereinigten Staaten »befreiten« nicht bloß Kuba und Portorico, sondern annektierten auch, gegen den Willen der Eingeborenen, die asiatischen Philippinen, was eine offenkundige Durchbrechung des Monroeprinzips war, denn dieses kann selbstverständlich nur so ausgelegt werden, daß Amerika sich, wie es keine Einmischung außeramerikanischer Mächte duldet, auch seinerseits jedes Eingriffs in fremde Erdteile enthält. Es war, wenn man sich den Mittelmeerschauplatz zum planetarischen erweitert denkt, eine ähnliche welthistorische Entscheidung, wie sie im Jahr 264 vor Christus die Regierung der »Vereinigten Staaten Mittelitaliens« traf, als sie sich entschloß, auf Sizilien hinüberzugreifen. Ob die weitere Entwicklung so weit analog verlaufen wird, daß sie mit einer nordamerikanischen Weltherrschaft endet, ist nicht abzusehen; lange und große Auseinandersetzungen von der Art der Punischen Kriege werden aber kaum zu vermeiden sein.
Denn schon war am Horizont ein neues Karthago erschienen. Der Eintritt Japans in die Weltpolitik ist eines der wichtigsten äußeren Ereignisse der neuesten Zeit. Bis zum Jahr 1868 war Japan ein mittelalterlicher Feudalstaat, dessen Bevölkerung sich fast ausschließlich der Agrarwirtschaft und der Hausmanufaktur widmete, beherrscht von einer hierarchisch gegliederten Aristokratie: an der Spitze standen die Shogune oder Kronfeldherren, deren Gewalt etwa der der Hausmeier der Merowingerzeit entsprach, diesen zunächst die Daimyos oder Territorialherren, gestützt auf die Kaste der Erbkrieger oder Samurai; der Tenno oder Mikado war, als bloßes religiöses Oberhaupt, ohne Einfluß auf die Regierung. In jenem Jahr nahm sich der junge Kaiser Mutsuhito die politische Macht zurück, die der Tenno schon tausend Jahre früher vor der Herrschaft der Shogune besessen hatte, und verwandelte das Staatswesen zunächst in einen zentralisierenden Absolutismus mit organisierter Bürokratie und stehendem Heer, wie er sich in Europa im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ausgebildet hatte. 1889 erließ er eine Konstitution. Binnen weniger Jahrzehnte wird der Läufer vom Telegraphen, die Sänfte vom Expreßzug, die Barke vom Großdampfer abgelöst, das Münzwesen, die Rechtspflege, der Kalender europäisiert, der Impfzwang, der Schulzwang, die Gewerbefreiheit, die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, die Industrie und die Armee nach deutschem Muster vollkommen modernisiert. Japan hat innerhalb eines Menschenalters die Entwicklung vom fränkischen Lehensstaat über den bourbonischen Polizeistaat und die friderizianische Aufklärung zum demokratischen Imperialismus Chamberlains und Roosevelts und vom Sichelschwert zum Maschinengewehr, vom Analphabetismus zur Setzmaschine zurückgelegt: ein »Schnellsiederkurs«, der ebensosehr Bewunderung wie Bedenken erregt. Es liegt in dieser grenzenlosen Aufnahmsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit etwas Feminines, und es regt sich der Verdacht, daß die japanischen Musterleistungen vielleicht ebensoviel wert sind wie die ebenfalls fast immer vorzüglichen Prüfungsergebnisse der Gymnasiastinnen und Doktorandinnen. Bis dahin hatte Japan mit ebenso gewandter Kopierkunst die chinesische Kultur abgeschrieben.
Das japanische Volk, mit zahlreicher Nachkommenschaft, aber nicht allzu reicher Bodenproduktion gesegnet, blickte mit begreiflicher Begehrlichkeit nach den Eisen- und Kohlenschätzen der Mandschurei, den Reis- und Baumwollfeldern Koreas. Der unvermeidliche Zusammenstoß mit China erfolgte 1894. Er begann mit der Besetzung Koreas, das zwar dem Namen nach ein unabhängiger Pufferstaat war, von jeher aber in die chinesische Einflußsphäre gehört hatte. Die Chinesen entsandten ein Heer und eine Flotte, wurden aber, da sie an moderner Ausrüstung und Ausbildung mit den Japanern nicht entfernt wetteifern konnten, vollständig besiegt und mußten im Frieden von Shimonoseki nicht bloß Korea preisgeben, sondern auch die große Insel Formosa und Port Arthur mit der Halbinsel Liaotung, den Schlüssel zum Gelben Meer, abtreten und außerdem eine hohe Kriegsentschädigung zahlen. Nun aber begann sich Europa einzumischen. Die Kabinette von Paris, Berlin und Petersburg erhoben gemeinsam Einspruch und erzwangen die Rückgabe Port Arthurs. Auch die koreanische Frage blieb ungelöst. Hingegen erreichte Rußland von China die Erlaubnis zum Bau und militärischen Schutz einer Eisenbahn durch die Mandschurei und die »Verpachtung« Port Arthurs und der Halbinsel Liaotung, während in ähnlicher Form das gegenüberliegende Weihaiwei an England, Kuangtschouwan an Frankreich und Kiautschou an Deutschland fiel. So war nicht nur Japan um die wertvollsten Früchte seines Sieges gebracht worden, sondern auch China hatte durch seine Beschützer größere Verluste erlitten als durch den Feind. Die Hauptlast des ostasiatischen Hasses hatte aber Deutschland zu tragen, da der Kaiser in höchst ungeschickter Weise sich bei diesem gemeinsamen Piratenstück in den Vordergrund drängte und deplacierte Phrasen vom Schutz vor der gelben Gefahr und der Wahrung der heiligsten Güter einmischte. Bismarck hielt mit seiner Kritik nicht zurück.
Die Volkswut gegen die »weißen Teufel« kam im Aufstand des »Faustbunds« zum Ausbruch, einer über ganz China verbreiteten Geheimorganisation fanatischer Nationalisten, die, weil sie sich für den bevorstehenden Kampf gegen die Fremden durch Leibesübungen zu stählen suchten, von diesen spottweise die Boxer genannt wurden. Die Episode ging rasch vorüber, wiederum von pathetischen Drohreden des deutschen Kaisers begleitet, deren Akzent zum Anlaß in keinem Verhältnis stand. Sehr im Gegensatz zu dieser von Indianerromantik beeinflußten Politik stand die kluge und kühle Haltung Englands, das, aus den Gegebenheiten die praktischen Konsequenzen ziehend, zu einer Allianz mit Japan schritt. Es war dies das erste formelle Bündnis Englands seit dem Krimkrieg. 1902 garantierten die beiden Mächte einander den ostasiatischen Besitzstand; für den Fall, daß der Schutz dieser Interessen zu einem Krieg mit einem dritten Staat führen sollte, versprachen sie einander wohlwollende Neutralität, für den Fall eines Angriffs durch zwei Gegner Hilfeleistung. Dieser Vertrag war ganz offenkundig gegen Rußland, im weiteren aber auch gegen Frankreich gerichtet, das allein unter jener »zweiten Macht« verstanden werden konnte.
Eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Rußland und Japan konnte in der Tat nur mehr eine Frage der Zeit sein, seit die Petersburger Regierung einen japanischen Ausgleichsvorschlag, wonach Korea den Japanern, die Mandschurei den Russen zufallen sollte, brüsk zurückgewiesen hatte; eine sehr törichte Handlungsweise und nur durch unbelehrbaren moskowitischen Hochmut erklärbar, denn der unangefochtene Besitz der Mandschurei wäre für Rußland ein unschätzbarer Gewinn gewesen, während Korea von rein seestrategischer Bedeutung war, als Bindeglied zwischen den beiden östlichen Haupthäfen Port Arthur und Wladiwostock. Die Verhältnisse drängten zur Eile, denn nur solange die transsibirische Bahn, die Moskau mit Wladiwostock verband, noch eingleisig war, hatten die Japaner einige Aussicht, nicht gegen eine erdrückende Übermacht kämpfen zu müssen. Sie richteten daher im Januar 1904 an Rußland das unannehmbare Ultimatum, die Mandschurei zu räumen und die japanische Vorherrschaft in Korea anzuerkennen. Eine besondere Kriegserklärung erfolgte von keiner der beiden Seiten.
Der russisch-japanische Krieg hatte wenig Ähnlichkeit mit den bisherigen, am ehesten noch mit dem Sezessionskrieg. Seine unterscheidenden Hauptmerkmale waren die lange Dauer der Schlachten und die Eingrabungstaktik, von der in bescheidenem Umfange bereits die Buren Gebrauch gemacht hatten: die Japaner bedienten sich auch schon beim Angriff des Spatens, unter dem Schutz überlegener Artillerie. Neu war auch die Verwendung des Maschinengewehrs, das Vorrücken in Nachtmärschen, das bisher nur in besonders dringenden Fällen stattgefunden hatte, und die Minentechnik beim Festungskrieg, die, seit der Türkenzeit außer Gebrauch, nun in moderner Form wieder auflebte: ohne sie wäre Port Arthur nicht zu bezwingen gewesen. Der japanische Sieg ist auf die Unfähigkeit des russischen Generalstabs zurückzuführen, ferner auf die Tatsache, daß Rußland nicht ernstlich glaubte, der Gegner werde sich in einen so gefährlichen Kampf wagen, und daher ungenügend vorbereitet war, vor allem aber auf die heroische Begeisterung, mit welcher die Japaner in diesen Krieg gingen, von dem ihre ganze Zukunft abhing. Die Ethik des »Bushido«, des »Ritterwegs«, eigentlich der Ehrenkodex der alten Feudalen, dessen Hauptgebot lautete: »lieber schön sterben als unwürdig leben«, war tief ins Volk gedrungen. Für Rußland hingegen war es kein Nationalkrieg, der Muschik wußte überhaupt nicht, worum es sich handelte.
Die strategische Hauptaufgabe der Japaner bestand darin, auf Liaotung und Korea genügend Truppen zu landen, Port Arthur einzuschließen und die Russen am Entsatz zu verhindern. Zur Sicherung der Transporte überfiel der Admiral Togo die im Hafen von Port Arthur versammelte russische Flotte und brachte ihr schwere Verluste bei; den Rest zwang er durch Streuminen zur Untätigkeit. Nachdem die erste japanische Armee unter General Kuroki ausgeschifft war, drängte sie die Russen über den Yalu, den Grenzfluß zwischen Korea und der Mandschurei. Diese verstärkten sich in befestigter Stellung bei Liaoyang, wurden aber von drei konzentrisch vereinigten Armeen des Marschalls Oyama in zehntägigem Kampf geschlagen. Ein Versuch der Russen, zum Angriff überzugehen, führte zur Schlacht am Tshaflusse, die unentschieden blieb. Inzwischen hatte der vom Zaren befohlene Durchbruch der Flotte mit dem Verlust der ausgelaufenen Schiffe geendet, die teils auf neutralem Gebiet desarmiert wurden, teils den Japanern in die Hände fielen. Am 1. Januar 1905 fiel Port Arthur, wodurch die Belagerungsarmee des Generals Nogi frei wurde; aber auch die Russen hatten Zuzüge über Sibirien erhalten. Ende Februar kam es zur vierzehntägigen Entscheidungsschlacht bei Mukden, in der noch mehr Truppen gegeneinander rangen als bei Königgrätz. Sie endete mit dem Rückzug der Russen, die von Nogi überflügelt wurden. Für diese bestand nun die einzige strategische Möglichkeit in der Absendung ihrer Ostseeflotte, durch deren Eingreifen sie hoffen durften, die Japaner am Transport weiterer Truppen und der Verproviantierung der bereits gelandeten zu verhindern, um sie dann mit der erdrückenden Übermacht der sich stetig auffüllenden mandschurischen Heere zu zermalmen. Das Baltische Geschwader hatte jedoch den ungeheuern Weg von Libau bis Ostasien zurückzulegen: ein Teil der Schiffe nahm die Route über das Mittelmeer durch den Suezkanal, das Gros segelte sogar um das Kap der Guten Hoffnung; bei Madagaskar vereinigten sie sich. Als sie ankamen, waren sie vollkommen kampfunfähig und erlitten eine furchtbare Niederlage: von den achtunddreißig Schiffen wurden fünfunddreißig versenkt, erobert oder entwaffnet. Die inzwischen ausgebrochene russische Revolution gefährdete auch den Nachschub zu Lande.
Indessen befand sich auch Japan am Ende seiner Kräfte: seine wirtschaftlichen und militärischen Mittel waren nahezu erschöpft, die ältesten Jahrgänge bereits eingestellt, Kriegskredite kaum mehr aufzubringen. Infolgedessen nahmen beide Parteien die Vermittlung des Präsidenten Roosevelt an. Im Frieden von Portsmouth zahlte Rußland keine Kriegsentschädigung, zedierte den Japanern Liaotung und die südliche Hälfte der Insel Sachalin und erkannte ihr Protektorat über Korea an; in der Mandschurei trat China wieder in seine alten Rechte ein, von der Eisenbahn kam der nördliche Teil unter russische, der südliche unter japanische Verwaltung. Dies waren im Verhältnis zu den ungeheuern Opfern nur magere Erfolge. Außerordentlich war jedoch der moralische Gewinn, den das japanische Reich aus dem Kriege davontrug: es zählte von nun an als achte Großmacht, was seine äußere Dokumentierung in der Errichtung von Botschaften fand, und galt als unbestrittene Vormacht Ostasiens. England erneuerte das Bündnis unter noch günstigeren Bedingungen, indem die beiden Partner nunmehr gegen jeden nicht herausgeforderten Angriff auch einer einzelnen Macht einander bewaffnete Hilfe zusicherten. Hierdurch erhielt Japan freie Hand in Korea: 1910 wurde der Kaiser zur Abdankung gezwungen und das Land in aller Form annektiert. Der Vertrag schützte aber auch umgekehrt England vor jedem russischen Angriff in Indien. Hätte Deutschland nach dem chinesisch-japanischen Krieg eine einigermaßen geschicktere Haltung eingenommen, so hätte es leicht an die Stelle Englands treten und eine ähnliche Rückendeckung erlangen können, denn bis dahin hatten bei den Japanern begeisterte Sympathien für das deutsche Volk geherrscht, das ihr militärischer und wissenschaftlicher Lehrmeister gewesen war. Einen Zweifrontenkrieg gegen Deutschland und Japan hätte Rußland, einen Angriff auf Deutschland hätten die Westmächte allein niemals wagen können; womit die ganze Entente von Osten her aufgerollt worden wäre.
Das russisch-französische Militärabkommen vom Jahr 1891, in dem der Zweibund zum erstenmal greifbare Gestalt gewann, war damals noch fast ebensosehr gegen England gerichtet, das de gefährlichste Nebenbuhler Rußlands in China und Vorderasien, Frankreichs in Afrika war: besonders die letztere Rivalität führte fast alljährlich zu ernsten Reibungen. Sie wurden jedoch, unmittelbar nach dem Faschodakonflikt, durch den Sudanvertrag vom Jahr 1899 beseitigt, worin das westliche Nordafrika für französische, das östliche für englische Interessensphäre erklärt wurde. Hierdurch nervös gemacht, meldete Rom neuerlich seinen Anspruch auf Tripolis an, dessen Anerkennung es auch im darauffolgenden Jahre von Frankreich, für den Fall einer »Tunisierung« Marokkos, erreichte; was den Wert des Dreibunds für Italien, das ihn hauptsächlich im Hinblick auf seine afrikanischen Ambitionen geschlossen hatte, sehr herabsetzen mußte. Alsbald folgte denn auch, im Jahr 1902, ein Rückversicherungsvertrag Italiens mit Frankreich nach deutsch-russischem Muster, in dem der Republik strikte Neutralität zugesichert wurde, aber nicht bloß für den Fall, daß sie angegriffen werden sollte, sondern auch »wenn sie durch Herausforderung zum Schutz ihrer Ehre und Sicherheit zur Kriegserklärung gezwungen würde«: also auf jeden Fall; womit der Dreibund nahezu illusorisch gemacht war.
Eine Gelegenheit zu vorteilhafter Umgruppierung und Sprengung der französisch-russischen Umklammerung ließ sich Deutschland während des Burenkrieges entgehen. Als Präsident Krüger hilfesuchend Europa bereiste, wurde er bei seiner Landung in Marseille bejubelt und in Paris aufs ehrenvollste aufgenommen; auch in Moskau und Petersburg kam es zu großen antienglischen Kundgebungen. Infolge dieser Volksstimmungen erwogen Frankreich und Rußland den Gedanken, einen gemeinsamen Druck der Kontinentalmächte auf England auszuüben, und versuchten, sich zu diesem Zweck mit der deutschen Regierung ins Einvernehmen zu setzen. Diese lehnte aber ab und bewahrte dadurch England vor einer katastrophalen diplomatischen Niederlage. Läßt sich jedoch hier immerhin noch fragen, inwieweit die freundschaftliche Gesinnung, was wenigstens Frankreich anlangt, aufrichtig war oder doch, wie lange sie es geblieben wäre, so muß das Verhalten gegenüber den völlig ehrlich und ernst gemeinten Angeboten, die von Seiten Englands erfolgten, schlechterdings unbegreiflich erscheinen. Gegen Ende des Jahrhunderts begann nämlich England die Politik der splendid isolation zu verlassen und einen »Kontinentaldegen« gegen Rußland zu suchen. Hierfür empfahl sich an erster Stelle Deutschland. 1895 bot Salisbury: Eintritt Englands in den Dreibund und Teilung der Türkei, wobei Deutschland die Gebiete Anatoliens, einstige Stätten blühendster Kultur und riesige Aufnahmsbecken für Bevölkerungsüberschüsse, zugefallen wären. 1898 und 1899 wiederholte England den Bündnisantrag, unter Hinzufügung der atlantischen Küste von Marokko. 1901 trat es noch einmal an Deutschland heran, diesmal in der allervorteilhaftesten Form, indem es schon mit großer Wahrscheinlichkeit den Eintritt Japans in die Koalition in Aussicht stellen konnte. Ein englisch-deutsch-japanischer Block hätte die Diktatur über den Planeten bedeutet und Deutschland eine ähnliche Vormacht im Dreibund verschafft, wie sie Preußen im Norddeutschen Bund besessen hatte. Aber alle vier Angebote wurden abgelehnt. Chamberlain sagte: »Ich habe ganz den Mut verloren. Mit den Leuten in Berlin will ich nichts mehr zu tun haben. Wenn sie so kurzsichtig sind, nicht zu bemerken, daß eine ganz neue Weltkonstellation von ihnen abhängt, so ist ihnen einfach nicht zu helfen.« Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Bismarck mit beiden Händen zugegriffen hätte: er suchte stets verzweifelt nach tragfähigen Koalitionen. Zur Zeit seiner Kanzlerschaft stand ihm nur Rußland zur Verfügung, das für eine enge Allianz zu präponderant und präpotent war, während Österreich und Italien umgekehrt keinen genügend starken Druck auf die Waagschale des europäischen Gleichgewichts auszuüben vermochten. England aber wollte damals noch keine Bündnisse. Die Bedenken der deutschen Regierung entsprangen schwachsichtigem Dilettantismus und überspitztem Bürokratismus. Daß die Anträge Englands durchaus seriös zu nehmen waren, geht schon ganz einfach aus der Tatsache hervor, daß eine solche Gruppierung ihm mindestens ebenso große Vorteile geboten hätte wie Deutschland: es bestand zwar schon um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts die Handelsrivalität, die später zur Einkreisung geführt hat, aber diese wäre von Großbritannien gern und leicht ertragen worden als Kaufpreis für die fast völlige Ausschaltung des viel gefährlicheren und expansiveren russischen Imperialismus und die Lahmlegung Frankreichs in Afrika und Indochina. Als Bundesgenosse war ein zaristisches Rußland (und nur mit einem solchen konnte man damals rechnen) weit kostspieliger als Deutschland, auch für den Fall eines siegreichen Krieges, denn es hätte dann keinesfalls auf Gesamtpolen und Konstantinopel verzichtet, wodurch es zur erdrückenden europäischen Vormacht und einer dauernden Bedrohung Ägyptens geworden wäre. In Deutschland aber hätte man einsehen müssen, daß für keine Macht der Welt die Möglichkeit besteht, gleichzeitig gegen England und Rußland zu reüssieren, was verkannt zu haben der größte, ja vielleicht einzige politische Fehler Napoleons gewesen war. Prinzipiell ist Rußland überhaupt unbesieglich. Nach Clausewitz besteht der Zweck des Krieges darin, »den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem ferneren Widerstand unfähig zu machen«; hierzu genüge es nicht, daß die Streitkraft vernichtet werde, sondern das Land müsse erobert werden, »denn aus dem Lande könnte sich eine neue Streitkraft bilden«. Daß dies bei einem Mammutreich, für das der riesige europäische Abschnitt nur ein Glacis bedeutet, undurchführbar ist, bedarf keiner Erörterung. Rußland ist seit seinem Eintritt in die Weltpolitik fast immer entscheidend geschlagen worden (die Schlacht bei Pultawa ist der einzige größere Sieg in seiner neueren Geschichte) und hat dabei seine Grenzen ununterbrochen erweitert; es war nur durch innere Kräfte niederzuringen. Auch im japanischen Kriege war es ja nur durch den Ausbruch der Revolution zum Friedensschluß genötigt worden. England hinwiederum wäre nur durch den festen Zusammenschluß aller kontinentalen Großmächte zu besiegen gewesen, eine Konstellation, die es immer gefürchtet und immer vereitelt hat, indem es stets umgekehrt eine europäische Koalition gegen die jeweils stärkste Kontinentalmacht zustande brachte. Inzwischen aber hatte sich die Situation von einer europäischen zur planetarischen erweitert, und hier bot zweifellos ein Bündnis mit Deutschland und Japan die festesten Garantien gegen ein Hinausgreifen der beiden Landkolosse Rußland und Nordamerika in die Weltmeere. Aber auch vom völkerpsychologischen Standpunkt gewährte eine Allianz mit dem durch Rasse, Weltanschauung, Zivilisationsform nahe verwandten Deutschland mehr Aussicht auf Bestand als die Liaison mit der autokratischen und reaktionären, im Falle einer Revolution völlig unberechenbaren und auf jeden Fall kulturell und ethisch artfremden Ostmacht. Die dauernde Brücke hätte Holland gebildet, das schon mehrfach eine Zollunion mit Deutschland erwogen hatte. An die Niederkämpfung einer »germanischen« Front, die von den Shetlandinseln über die Rhein- und Maasmündungen bis Basel gegangen wäre, hätte Frankreich niemals auch nur denken können; und der Eintritt der Niederlande in den deutschen Reichsverband hätte auf Jahrhunderte die Kolonialfrage gelöst. Es wäre, um es mit einem Worte zu bezeichnen, das Europa Carlyles gewesen. Durch ein deutsch-englisches Bündnis wäre aber auch die italienische Frage definitiv gelöst worden. Es war niemals ein Geheimnis, daß Italien infolge seiner exponierten Seelage nur an der Seite Englands kämpfen konnte, unter gewissen Umständen sogar kämpfen mußte. Eine Drehung der Irredentafront von Osten nach Westen hätte Italien nur Vorteile gebracht: eine antifranzösische Liga hatte Tunis und Algier, Nizza und Korsika zu bieten, Besitzungen, die an Wert Triest und Trient bedeutend überragt hätten, und eine vernünftige österreichische Regierung hätte übrigens auch auf Welschtirol verzichten können, das auf die Dauer ja doch nicht zu halten war, wenn ihr dafür entsprechende Kompensationen auf der Balkanhalbinsel zugefallen wären. Auf jeden Fall wäre dann der von Bismarck gewünschte italienische Trommler auf den Alpen am Platze gewesen, und der Schlieffenplan wäre nicht gescheitert. Dieser war ganz darauf gestellt, daß der rechte deutsche Umfassungsflügel unüberwindlich stark war. Zwei Momente vereitelten dies: die Gefühlsstrategie Kaiser Wilhelms, der zwei Armeekorps herausnahm und nach dem gefährdeten Ostpreußen schickte, wo sie nach dem Sieg von Tannenberg eintrafen, also gar nicht mehr nötig waren, und die unbedingte Neutralität Italiens, die es Joffre ermöglichte, die Beobachtungskorps vom Süden abzuziehen und zu einer überraschenden Gegenumfassung zu verwenden, wodurch das »Marnewunder« zustande kam. Hätten nun auch noch die britischen Hilfstruppen an der Westfront gefehlt, so wäre ein Riesensedan vollkommen unvermeidlich gewesen. Überhaupt rechnete der Schlieffenplan immer mit der Neutralität Englands; diese zu sichern, wäre eben Sache einer von langer Hand vorbereiteten Bündnisdiplomatie gewesen.
Der Geburtstag der Tripelentente ist der 8. April 1904, der das französisch-englische Abkommen brachte: darin wurde die Verständigung über Afrika in bindender Form erneuert und Frankreich die »tunification« oder, wie man sich noch euphemistischer ausdrückte, »pénétration pacifique« Marokkos zugestanden, Deutschland als quantité négligeable behandelt, was ein Jahr später zur ersten Marokkokrise führte: Kaiser Wilhelm landete ostentativ in Tanger; auf der Algeciraskonferenz wurde ein Arrangement getroffen, das niemand befriedigte. Der Petersburger Vertrag vom Jahr 1907, worin Nordpersien als russische, Ostpersien mit Afghanistan als englische Einflußsphäre erklärt wurde, bereinigte die Differenzen zwischen England und Rußland in ähnlicher Weise wie die englisch-französischen: das »herzliche Einvernehmen« war komplett. Bei einer Zusammenkunft, die im darauffolgenden Jahre zwischen Eduard dem Siebenten und Nikolaus dem Zweiten stattfand, wurden noch viel weitergehende weltpolitische Dispositionen getroffen: es wurde akkordiert, daß Rußland Konstantinopel und die Meerengen, England freie Hand in Ägypten, Arabien, Mesopotamien, Persien erhalten solle, also: Rußland im Mittelmeer herrschend, England vom Nil bis Indien, im Besitz der Landbrücke Kairo-Kalkutta, die in den großartigen Plänen des britischen Imperialismus als östliches Pendant zur Südlinie Kairo-Kapstadt gedacht war; ganz offenbar war in der Kombination Rußland an die Stelle Deutschlands getreten. Im nächsten Jahr trafen sich der Zar und der König von Italien in Racconigi, wo dieser in die Öffnung der Dardanellen, jener in die Besetzung Tripolitaniens willigte; ganz offenbar bröckelte Italien ab, das nunmehr mit allen drei Ententemächten in freundschaftlichen Beziehungen stand: mit Frankreich durch den Neutralitätsvertrag von 1902, mit England laut ausdrücklichem Vorbehalt im Dreibundvertrag. 1911 kam es zur zweiten Marokkokrise: Frankreich nahm einen Aufstand gegen den Sultan zum Vorwand, um in Fez einzurücken. Wiederum erschien ein deutsches Schiff, das Kanonenboot »Panther«, drohend vor der Küste. Es scheint, daß England damals zum Kriege entschlossen war: der englische General French inspizierte die nordfranzösischen Befestigungen, die englische Flotte wurde auf Kriegsfuß gesetzt, die englische Großfinanz inszenierte einen Run auf die deutschen Banken, die Landung von 150000 Mann britischer Truppen in Belgien ist zumindest erwogen worden. Da aber Rußland, das soeben erst mit Deutschland ein Abkommen über Persien getroffen hatte, sich reserviert verhielt, kam noch einmal ein Ausgleich zustande: Deutschland erhielt als Kompensation eine ansehnliche, aber sumpfige Partie des französischen Kongo zur Abrundung seiner Kamerunkolonie. Sowohl die deutschen wie die französischen Nationalisten waren enttäuscht: diese, weil sie fanden, daß dadurch der Besitz in Mittelafrika zerschnitten sei, der ein französisches Brasilien hätte werden können, jene, weil sie auf Westmarokko oder zumindest den ganzen französischen Kongo gehofft hatten.
Eine Art Generalprobe der Einkreisung, die nur noch nicht vollkommen funktionierte, war die Annexionskrise vom Jahr 1908. Das jungtürkische »Komitee für Einheit und Fortschritt« hatte von Sultan Abd ul Hamid die Verfassung erzwungen. Der neue nationalistische Kurs bewirkte eine straffere Auffassung des Verhältnisses zu Bulgarien, das nominell noch Tributärstaat war, und zum »Okkupationsgebiet«: man plante, für Bosnien und die Herzegowina Wahlen ins türkische Parlament ausschreiben zu lassen. Die Folge war, daß Österreich-Ungarn, ohne sich vorher mit den Signatarmächten ins Einvernehmen gesetzt zu haben, die Annexion der beiden Länder aussprach und an demselben Tage Bulgarien als unabhängiges Königreich proklamiert wurde. Die Türken antworteten mit dem Boykott der österreichischen Waren und Schiffe; Serbien verlangte als Kompensation eine »Luftröhre« ans Adriatische Meer; auch in Italien herrschte große Erregung und österreichische Truppen erschienen im Trentino; die Tschechen veranstalteten Sympathiedemonstrationen, die Kaiser Franz Joseph nötigten, am Tage seines sechzigjährigen Regierungsjubiläums den Ausnahmezustand über Prag zu verhängen. Aber Deutschland trat energisch hinter Österreich, und da sich Frankreich in der Rüstung nicht weit genug, Rußland durch den japanischen Krieg noch zu geschwächt fühlte, mußte Serbien zurückweichen, indem es in einer offiziellen Erklärung die Annexion anerkannte und sich verpflichtete, »die Haltung des Protestes und Widerstandes aufzugeben«. Andrerseits verzichtete Österreich auf sein Besatzungsrecht im Sandschak Novibasar und erstattete ihn an die Pforte, die außerdem eine Geldabfindung erhielt, zurück, womit es nicht nur die Tür nach Saloniki preisgab, sondern auch den Riegel löste, der Serbien und Montenegro im Fall eines gemeinsamen Angriffs auf die Türkei getrennt hätte. Der Regisseur des Coups, Minister des Äußern Graf Ährental, erwarb sich den Titel eines »österreichischen Bismarck«, und in Petersburg hieß es von jetzt an: der Weg nach Konstantinopel geht über Berlin.
Indes ist weder am Zarenhof noch in Rom und Paris, Wien und Berlin eine einheitliche und zielbewußte Politik gemacht worden, sondern nur in London. Die Neuzeit, die mit der Grundsteinlegung der englischen Seeherrschaft anhebt, schließt mit deren Vollendung. Durch den Weltkrieg erlangte der britische Imperialismus alles, was er sich erträumt hatte: den Länderblock Kap-Kairo-Kalkutta, die Abschaltung Rußlands von Vorderasien, Deutschlands vom Welthandel. Der Geist Bacons und Cromwells, die wahre Seele der Neuzeit, triumphierte über die Erde, wobei ihm nur ein einziger Rechenfehler unterlief: daß im Augenblicke seines höchsten Sieges die Neuzeit zu Ende war.
Dieses Weltbild erreichte seine konsequenteste Formulierung um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts im Pragmatismus. Er nahm seinen Ausgang von Oxford; sein Hauptvertreter ist der Amerikaner William James, der außer dem 1905 erschienenen Werk »Pragmatism« und religionsphilosophischen Schriften auch eine ausgezeichnete empirische Psychologie verfaßt hat, die beste, die sich überhaupt schreiben läßt. Nach der Auffassung des Pragmatismus ist auch unser theoretisches Denken nur eine praktische Betätigung, eine Form des Tuns und Lassens. Das Kennzeichen der Wahrheit ist ihre Nützlichkeit. »Objektive« Wahrheit ist die Summe dessen, was von der menschlichen Gemeinschaft als nützlich erkannt worden ist. »Die reichere Einsicht unserer modernen Zeit«, sagt James, »hat erkannt, daß unsere inneren Fähigkeiten an die Welt, in der wir weilen, von vornherein angepaßt sind; in dem Sinne, daß sie unsere Sicherheit und Wohlfahrt in ihrer Mitte schützen ... Wichtige Dinge erfüllen uns mit Interesse, gefährliche mit Furcht, giftige mit Ekel und notwendige mit Begierde. Kurz: Geist und Welt haben sich gegenseitig entwickelt und passen deshalb zueinander ... Die verschiedenen Arten, wie wir empfinden und denken, sind so geworden, wie wir sie kennen, wegen ihres Nutzens für die Gestaltung der Außenwelt.« Diese Konzeption ist extrem darwinistisch, puritanisch und merkantilistisch; zudem enthält sie auch ein wenig vom cant, dessen Wesen ja darin besteht, das Opportune für das Legitime zu halten. Der Prüfstein für die Richtigkeit unserer Gedanken ist ihr Erfolg: dies ist die Philosophie des Kaufmanns; und ihr Erfolg bei der Majorität: dies ist die Logik der Demokratie; und dieser Erfolg ist prädestiniert: dies ist die Dogmatik des Calvinismus. Kurz, eine Sache ist wahr, weil sie zu mir paßt: dies ist die Metaphysik des Engländers.
Wenn man will, ist dies der höchste Realismus; aber man kann es auch im Sinne eines extremen Idealismus deuten. Dies ist von deutscher Seite geschehen. Für Nietzsche ist »Erkenntnis« nichts als eine Form des Willens zur Macht, »Wahrheit«: was lebenfördernd wirkt oder erscheint; »wir stoßen nie auf Tatsachen«. Und Vaihingers Philosophie des »Als ob«, von der bereits im zweiten Buche gehandelt wurde, erklärt das Denken für ein bloßes »Instrument der Selbsterhaltung« zum Orientieren in der Wirklichkeit, ohne daß es deren Abbild wäre; auch die Vorstellung der dreidimensionalen Ausdehnung ist »ein von der Psyche eingeschobenes fiktives Hilfsgebilde, um das Chaos der Empfindungen zu ordnen«. Erst recht gilt dies von allen religiösen, metaphysischen, ethischen, ästhetischen Vorstellungen. Man kann dasselbe auch optimistischer ausdrücken und sagen: das gesamte menschliche Leben setzt sich aus Idealen zusammen. Diese sind nicht wirklich, verleihen aber dem Dasein erst seine Weihe. Unser Leben ist Schein, aber sinnvoller Schein oder, mit einem anderen Wort, Spiel. Dies heißt die ganze Welt, auch sich selbst und sein eigenes Tun und Leiden, unter der Optik des Künstlers sehen, und genau dies war die Weltanschauung Schillers: So betrachtet, erscheint Nietzsches Agnostizismus nur als der erhabene Gegengipfel des deutschen Klassizismus.
Noch viel weiter als Vaihinger, der immerhin einräumte, daß der Erfolg unseres praktischen Handelns auf eine gewisse Übereinstimmung zwischen der gedachten und der wirklichen Welt hinweise, ging Ernst Mach, der eigentlich Physiker war und es ausdrücklich abgelehnt hat, für einen Philosophen gelten zu wollen, als solcher aber gleichwohl eine tiefe Wirkung geübt hat. Schon in seiner Geschichte der Mechanik, die der Dühringschen an Klarheit, Gründlichkeit und Stoffreichtum ebenbürtig ist, erwies er sich, und hierin im stärksten Gegensatz zu dieser, als eine Art Freidenker vom andern Ende her, indem er nämlich die Toleranz, die der Liberale irreligiösen Ansichten entgegenzubringen pflegt, umgekehrt gegen Meinungen walten ließ, die von der Aufklärungsdogmatik verdammt werden: ein Mangel an Zelotismus, der sich unter den Priestern der Wissenschaft höchst selten findet. Seine Aufsatzreihe über »die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen« erschien 1885 in erster und erst 1900 in zweiter Auflage, der aber dann während der nächsten zwei Jahre drei weitere folgten. Der geistige Stammbaum Machs weist nach England: auf Locke, der die gesamte Erfahrung für einen Komplex von Elementarvorstellungen, ideas, und auf Hume, der den Begriff der Substanz aus der gewohnheitsmäßigen Zusammenfassung derselben Merkmale und das Ich für ein bloßes Bündel von Vorstellungen erklärt hatte. »Meine sämtlichen physischen Befunde«, sagt Mach, »kann ich in derzeit nicht weiter zerlegbare Elemente auflösen: Farben, Töne, Drucke, Wärmen, Düfte, Räume, Zeiten usw.« Also auch die kantischen »reinen Anschauungsformen«, Raum und Zeit, sind für ihn nichts als Empfindungen, denn sie haben, sobald sie in unserer Erfahrung auftreten, immer schon einen bestimmten Ort, eine bestimmte Ausdehnung, eine bestimmte Dauer, setzen sich also einfach aus Elementareindrücken des Gesichts und Getasts zusammen. Räumlich und zeitlich verknüpfte Komplexe von Farben, Tönen, Drucken werden als Körper bezeichnet und erhalten besondere Namen; absolut beständig sind aber solche Komplexe keineswegs. Als relativ beständig zeigt sich ferner der Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird. Die Abgrenzung des Ichs stellt sich instinktiv her, wird geläufig und befestigt sich vielleicht sogar durch Vererbung. Infolge ihrer hohen praktischen Bedeutung für das Individuum und die Gattung treten die Zusammenfassungen »Ich« und »Körper« mit elementarer Gewalt auf. Alle Körper sind nur Gedankensymbole für Komplexe von »Elementen«. Vor diesem Standpunkt besteht kein Gegensatz zwischen Welt und Ich, Ding und Empfindung, Physik und Psychologie. Eine Farbe ist ein physikalisches Objekt, wenn wir auf ihre Abhängigkeit von der Lichtquelle achten, ein psychologisches Objekt, wenn wir auf ihre Abhängigkeit von der Netzhaut achten. Der Stoff ist in beiden Fällen derselbe, nur die Untersuchungsrichtung verschieden. Es gibt keine Kluft zwischen Psychischem und Physischem, zwischen Drinnen und Draußen, zwischen innerer Empfindung und äußerem Ding; es gibt nur einerlei Elemente, die, je nach der Betrachtung, drinnen oder draußen sind. Die Elemente der materiellen Welt heißen in der psychischen Welt Empfindungen; Aufgabe der Wissenschaft ist die Erforschung des Zusammenhanges, der gegenseitigen Abhängigkeit aller dieser Elemente. Mach spricht hier nicht als Philosoph, sondern als Physiker: »ich wünsche«, sagt er in einer Fußnote, »in der Physik einen Standpunkt einzunehmen, den man nicht sofort verlassen muß, wenn man in das Gebiet einer andern Wissenschaft hinüberblickt, da schließlich doch alle ein Ganzes bilden sollen. Die heutige Molekularphysik entspricht dieser Forderung entschieden nicht.« In durchaus folgerichtiger Entwicklung dieser Auffassung ersetzt Mach den Ursachenbegriff durch den mathematischen Funktionsbegriff: Kausalität ist die funktionelle Abhängigkeit, in der die Elemente zueinander stehen. Der Funktionsbegriff hat gegenüber dem starren Ursachenbegriff den Vorteil, daß er sich jeder neuen Tatsache anzupassen vermag; worin überhaupt nach Mach das Ziel aller Naturwissenschaft besteht. Sie ist Anpassung der Gedanken an die Tatsachen oder Beobachtung und Anpassung der Gedanken aneinander oder Theorie. Beide sind nicht scharf zu trennen, denn jede Beobachtung ist in gewissem Grade schon Theorie und jede Theorie fußt auf Beobachtung; »die große scheinbare Kluft zwischen Experiment und Deduktion besteht in Wirklichkeit nicht«. Das Resultat dieser unaufhörlich erweiternden und berichtigenden Arbeit sind die Naturgesetze, die aber, wie Mach in seinem letzten Werk »Erkenntnis und Irrtum« betont und an vielen Beispielen erläutert, nur durch Vereinfachung, Schematisierung, Idealisierung der Tatsachen entstehen.
Philosophiegeschichtlich eingereiht, ist Machs Weltbild die schärfste, durch nichts mehr zu überbietende Zuspitzung des Nominalismus, des durchlaufenden Themas der Neuzeit. Dieser hatte gelehrt, unser Seelenleben bestehe nur aus Einzelvorstellungen, die aber als bloße »Zeichen« keinerlei Ähnlichkeit mit den Dingen zu haben brauchen; es sei, wie die englischen Empiristen in Fortführung dieser Doktrin erklärten, ein bloßes Spiel ein- und austretender, sich verbindender und trennender Sensationen: unser Gehirn, sagt Locke sehr anschaulich, ist nichts als ein Audienzzimmer; in ähnlicher Weise behaupteten Condillac und die französischen Enzyklopädisten, alle psychischen Tätigkeiten seien umgeformte Empfindungen. Nun zieht Mach den Schlußstrich, indem er erklärt: es gibt nicht nur keine Begriffe, keine Substanzen, keine apriorischen Anschauungsformen, sondern überhaupt keine Objekte, auch keine »den Empfindungen unähnliche«, denn die Objekte sind nichts weiter als die Empfindungen selbst. Zugleich aber ist Mach der klassische Philosoph des Impressionismus, indem er keine andere psychische Realität anerkennt als die »Elemente«, die isolierten Einzeleindrücke, die sozusagen das ABC unserer Erfahrungswelt bilden, als deren letzte und einzige Tatsachen. Es gibt nun offenbar zwei Möglichkeiten: man kann als gewissenhafter »Realist« bei den Elementen stehenbleiben, indem man sich begnügt, sie bloß zu registrieren; und man kann zu buchstabieren versuchen, aber mit dem vollen Bewußtsein, damit eine unverantwortliche Phantasietätigkeit auszuüben, denn gegeben sind dem Buchstabierenden als Material nicht mehr die realen Empfindungen a, b, c ..., sondern bloß deren ideelle Erinnerungsbilder , , , ..., die er zu »Komplexen« (Körpern, Ichgefühlen, Gedanken, Stimmungen und allen übrigen höheren Produkten des Seelenlebens) zusammenfaßt. Genau dies nun sind die zwei polaren Möglichkeiten des Impressionismus, von denen wir im vorigen Kapitel gesprochen haben. Man könnte meinen, daß nur die erstere Form dem Impressionismus wesentlich sei, die letztere hingegen ihm mit aller Kunst gemeinsam; indes besteht auch hier ein großer Unterschied, indem der Impressionismus sich bei seinen Synthesen stets voll bewußt bleibt, daß die Einzelempfindung sein einziges Baumaterial bildet und daß das Gebäude Fiktion ist.
Die Betonung der »Welt als Fiktion« ist das Gemeinsame aller noch so heterogenen philosophischen Richtungen des ausgehenden Jahrhunderts. In Frankreich hat der hervorragende Mathematiker Henri Poincaré den Standpunkt des Pragmatismus sogar für die scheinbar sicherste und allgemeingültigste Wissenschaft, die Geometrie, vertreten. In seinem Buch »La valeur de la science« sagt er: »Wir kennen im Raume gradlinige Dreiecke, deren Winkelsumme gleich zwei Rechten ist. Aber wir kennen auch krummlinige Dreiecke, deren Winkelsumme kleiner als zwei Rechte ist. Den Seiten jener den Namen Gerade geben, heißt: die euklidische Geometrie annehmen; den Seiten dieser den Namen Gerade geben, heißt: die nichteuklidische Geometrie annehmen ... Augenscheinlich wollen wir, wenn wir sagen, daß die euklidische Gerade eine wirkliche Gerade sei, die nichteuklidische aber nicht, damit nur ausdrücken, daß die erstere Anschauung einem wichtigeren Gegenstande entspricht als die letztere ... Wenn die euklidische Gerade wichtiger ist als die nichteuklidische, so bedeutet das hauptsächlich, daß sie von gewissen wichtigen natürlichen Gegenständen wenig abweicht, von denen die nichteuklidische Gerade stark abweicht.« Das System der Mathematik ist eine Konvention: »es ist weder wahr noch falsch, es ist bequem.«
Weitaus der einflußreichste französische Philosoph seit Comte war jedoch Henri Bergson, für die Vorkriegszeit in seiner nationalen Wirkung auf Literatur, Kunst, Lebensanschauung fast Descartes vergleichbar. Er setzt die Metaphysik in betonten Gegensatz zur Wissenschaft. Die angestammte Tätigkeit der positiven Wissenschaft ist die Analyse. Das Verfahren der Analyse besteht darin, daß sie ihren Gegenstand auf schon bekannte Elemente zurückführt, das heißt also: sie versucht ein Ding durch etwas auszudrücken, das nicht dieses Ding selbst ist. Jede Analyse ist also eine Übersetzung, eine Entwicklung in Symbolen. Das Instrument der Metaphysik ist die Intuition. »Intuition ist jene Art von intellektueller Einfühlung, kraft deren man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um auf das zu treffen, was er an Einzigem und Unausdrückbarem besitzt. ... Wenn es ein Mittel gibt, eine Realität absolut zu erfassen, anstatt sie relativ zu erkennen, sich in sie hinein zu stellen, statt Standpunkte zu ihr einzunehmen, sie ohne jede Übersetzung und symbolische Darstellung zu ergreifen, so ist dies die Metaphysik selbst. Die Metaphysik ist demnach die Wissenschaft, die ohne Symbole auskommen will.« Es gibt also einen außergedanklichen Weg, die Wirklichkeit zu rekonstruieren, den Weg des unmittelbaren Erlebens. In der Intuition erlebt sich die Seele als ein Wesen, das nicht durch körperliche Vorgänge bedingt ist. Von diesen ist sie in ihren Empfindungen abhängig; aber schon die Erinnerung, in der die Empfindung reproduziert wird, ist ein rein geistiger Prozeß. Die Seele ist nicht im Raum und in der Zeit, die nur auf die Materie Bezug haben. Raum und Zeit lassen sich quantitativ messen, die Lebensäußerungen der Seele nicht; im Raum herrscht das Nebeneinander, in der Zeit das Nacheinander, in der Seele das Ineinander. Die Seele ist das Reich der Freiheit. Es gibt keine Dinge, es gibt keine Zustände, es gibt nur »actions«.
Die Zentralmacht erblickt diese dynamische Philosophie in der »Lebensschwungkraft«, dem élan vital, der, in einem dauernden schöpferischen Rausch begriffen, stetige Versuche anstellt, um durch den Geist die Materie zu besiegen. Im Menschen hat er sich zum Denken aufgerafft, das dieser aber mit dem Verlust seines Instinkts bezahlen mußte: »Alles geht vor sich, als ob ein Wesen nach Verwirklichung getrachtet und sie nur dadurch erreicht hätte, daß es einen Teil seiner Natur unterwegs aufgab. Diese Verluste sind es, die in der übrigen Tierheit, ja auch in der Pflanzenwelt aufbewahrt sind.« Der Instinkt ist nicht etwa eine niedrigere Form des Verstandes, sondern eine von ihm generell verschiedene Fähigkeit. Sein Erkenntnismittel ist die »Sympathie«, die »Fernwitterung«; im Menschen, insbesondere im Künstler, äußert er sich als Intuition. Für gewöhnlich sorgt der Verstand aus praktischen Gründen dafür, daß aus der dunkeln Tiefe des Instinkts nur das ins Bewußtsein tritt, was der Selbsterhaltung dient: der Verstand ist der »Gefängniswärter« der Seele. Nur ein am Existenzkampf Uninteressierter, ein Träumer, ein »Zerstreuter« erfaßt die Wirklichkeit ganz, ohne Abzüge, ohne Entstellungen. Leben heißt: von den Dingen nur den nützlichen Eindruck aufnehmen und durch geeignete Reaktionen darauf antworten. »Zwischen uns und die Natur, ach, was sage ich: zwischen uns und unser eigenes Bewußtsein legt sich ein Schleier, der für den gewöhnlichen Menschen dicht ist, leicht aber und fast durchsichtig für den Künstler und Dichter. Welche Fee hat diesen Schleier gewoben? War's eine gute; oder war's eine böse?« Auch an Bergson zeigt sich, daß der Pragmatismus die Möglichkeiten zu einer radikalen Künstlerphilosophie in sich birgt.
Im äußersten Gegensatz zu Bergsons Irrationalismus befand sich die »Marburger Schule«, deren Glieder sich, mit geringer Berechtigung, Neukantianer nannten; aber auch zu Mach stehen sie in Antithese. Hatte dieser gelehrt, es gebe nur Empfindungen, so behaupteten sie, es gebe nur Begriffe; diese seien die einzigen Realitäten. Gleichwohl wird sie niemand mit den mittelalterlichen »Realisten« verwechseln, deren Glaube an die Universalien in lebensvoller Frömmigkeit wurzelte, während der ihre aus seichtem Verstandeshochmut floß. Ihr Haupt war Hermann Cohen. In seiner »Logik der reinen Erkenntnis«, »Ethik des reinen Willens«, »Ästhetik des reinen Gefühls«, Gebrauchsanweisungen zur dialektischen Falschspielerei, deren Gaunersprache nur engeren Metiergenossen zugänglich ist, wird Kant auf eine höchst sterile Manier beim Wort genommen, überspitzt und überkantet. Ganz willkürlich wird ein Stück aus dem System der Vernunftkritik herausgebrochen und zur Universalphilosophie erhoben, die scholastische Kategorienlehre, gerade die entbehrlichste und anfechtbarste Partie. In Wirklichkeit waren die Neukantianer in ihrem Panlogismus späte Schüler Hegels, ohne dessen schöpferische Architektonik und weltumspannende Geistesfülle.
Eine Art Professorenphilosophie, aber von sympathischerer und fruchtbarerer Art, war auch die umfassende Lebensarbeit Wilhelm Wundts. Nach seiner eigenen Definition ist die Philosophie »die allgemeine Wissenschaft, welche die durch die Einzelwissenschaften vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System zu vereinigen hat«. Danach wäre also der Philosoph nur eine Art Sammler und Registrator, Klärer und Zusammenfasser, ein Kopf, der über alles scheinbar Ungereimte ehrlich und genau nachdenkt, Alternativen klug und sauber entscheidet, Beobachtungen an Beobachtungen reiht, Tatsachen verknüpft, vorsichtige Schlüsse zieht und schließlich einen faßlichen Handkatalog, eine übersichtliche Landkarte des intellektuellen Zustandes entwirft, in dem wir uns gerade befinden. Das ist eine recht bescheidene Mission; und diese hat Wundt denn auch redlich erfüllt. In seinen vielen dicken Büchern ist in der Tat das gesamte geistige Inventar der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts protokolliert, das ganze wissenschaftliche Leben zweier Menschenalter wie in einer musterhaften Käfersammlung sorgsam präpariert, lückenlos aufgespießt, kundig geordnet und mit instruktiven Etiketten versehen. Die Welt verlangte damals von einem Philosophen ja wirklich nichts anderes, als daß er eine Art Cicerone und Mentor sei, der sie, ausführlich kommentierend, durch die bis an die Decken gefüllten Vorratsspeicher ihrer Bildung spazieren führe, damit sie dort in aller Behaglichkeit überblicken könne, wie aufgeklärt und fortgeschritten, zu welcher Schärfe der Methoden, Feinheit der Unterscheidungen, Breite und Solidarität des Gesamtwissens sie emporgestiegen sei.
Etwas Philiströses war denn auch dem ganzen Schaffen Wundts deutlich aufgeprägt. Dieser Wesenszug offenbarte sich zunächst in der schüchternen Behutsamkeit, mit der er jedem allzu raschen und kühnen Gedanken sorgfältig auswich, in der (für den deutschen Bürger so charakteristischen) Angst vor »Widersprüchen«: nur um Gottes Willen nichts Paradoxes!, in der prinzipiellen Bevorzugung des goldenen Mittelweges, auf dem ja tatsächlich die meisten praktischen Wahrheiten, aber fast niemals die genialen Entdeckungen liegen: nur ja keine Extreme! Und diese schöne bürgerliche Fähigkeit, in allen Angelegenheiten die vernünftige, gerechte Mitte zu erblicken, hat ihn in der Tat in den meisten philosophischen Streitfragen, die seine Zeit bewegten, ein besonnenes und unbestochenes Verdikt fällen lassen. Er vermittelte in der Erkenntnistheorie zwischen Idealismus und Realismus, in der Ethik zwischen Apriorismus und Empirismus, in der Naturphilosophie zwischen Atomistik und Energetik, in der Biologie zwischen Mechanismus und Vitalismus, in der Soziologie zwischen Individualismus und Kollektivismus, als ein bon juge, der alle verurteilt, aber zugleich allen Bewährungsfrist gibt. Eine gewisse Pedanterie lag auch in seiner ganzen Vortragsweise, doch hat gerade sie ihn befähigt, seiner Zeit die komplettesten und seriösesten Lehrbücher zu schenken, die sie sich wünschen konnte. Und schließlich und vor allem manifestierte sich jener spießbürgerliche Geist in der rückhaltlosen Prostration vor der Welt der Tatsachen, die man mit Hebeln und Schrauben peinlich verhören, durch Reagenzgläser entlarven, in vergleichende Tabellen einfangen und mit einem Koordinatennetz festhalten kann. Diese Anbetung der Realität geht durch Wundts ganzes Denken, und sie wird dadurch nicht desavouiert, daß er auf die breite physikalische, physiologische und ethnologische Basis, die er seinem System gegeben hat, ein sehr luftiges und leeres Stockwerk von halb kantischem, halb leibnizischem Idealismus setzte, das den unabweislichen Eindruck eines recht entbehrlichen Luxusbaues macht und offenbar nicht für Wohnzwecke, sondern nur für gelegentliche feierliche Repräsentation gedacht ist. Man darf aber nicht vergessen, daß dieser realistischen Geistesrichtung Wundts auch der Ausbau zweier großer neuer Disziplinen zu verdanken ist: der physiologischen Psychologie und der Völkerpsychologie, deren um vieles aufschlußreichere heutige Kenntnis in erster Linie seiner scharfsinnigen Ausdauer und treuen Hingabe zu verdanken ist. Seine wichtigste Entdeckung auf diesen beiden Gebieten ist die Erkenntnis, daß im Seelenleben nicht das Gesetz der rein mathematischen Summation herrscht: jeder Komplex, der aus einfachen Vorstellungen oder einfachen Gefühlen entsteht, ist nicht bloß quantitativ, sondern auch qualitativ etwas Neues, die Volksseele mehr und etwas anderes als der Inbegriff einer bestimmten Anzahl von Individualseelen. Ein anderer origineller Gedanke Wundts war das »Gesetz von der Heterogonie der Zwecke«. Er verstand darunter »die allgemeine Erfahrung, daß in dem gesamten Umfange freier menschlicher Willenshandlungen die Betätigungen des Willens immer in der Weise erfolgen, daß die Effekte der Handlungen mehr oder weniger weit über die ursprünglichen Willensmotive hinausreichen und daß hierdurch für künftige Handlungen neue Motive entstehen, die abermals neue Effekte hervorbringen«. In der Sprache gewöhnlicher Sterblicher ausgedrückt, würde dies etwa soviel bedeuten wie: du glaubst zu leben und du wirst gelebt; du bereitest dich mit deinem Hirn, deinen Nerven, deiner Gestaltungskraft auf ein bestimmtes Erlebnis vor, in dem dir Ziel und Sinn des Daseins zu liegen scheint; aber unversehens kommt die Wirklichkeit in ihrer Selbstherrlichkeit und verrückt dir das Konzept: die Ereignisse haben sachte und unmerklich, während du sie erlebtest, ja gerade dadurch, daß du sie erlebtest, eine Achsendrehung gemacht und eine ganz neue, ganz verschiedene Pointe bekommen. Dieses Gesetz wird vermutlich einmal auf Wundt selbst Anwendung finden, ja vielleicht ist dies bereits geschehen. Während nämlich seine Zeitgenossen in ihm einen großen Wettermacher erblickten, war er wahrscheinlich von der Vorsehung nur dazu bestimmt, ein Barometer zu sein, an dem man einfach ablesen kann, welcher Luftdruck geherrscht hat, als es in Funktion stand.
Ins Gebiet der Philosophie müssen auch zwei mehr essayistisch angelegte Werke gerechnet werden, die ein starkes und berechtigtes Aufsehen erregten, »Geschlecht und Charakter« und »Rembrandt als Erzieher«, jenes 1903, dieses 1890 erschienen, ohne den Namen des Verfassers Julius Langbehn und noch in demselben Jahre vierzigmal aufgelegt. In seiner temperamentvollen Orientierung an durchlaufenden Kontrastbegriffen wie Zivilisation und Kultur, Literatur und Kunst, Demokratie und Volksstaat, Bourgeois und Bürger, Stimmrecht und Freiheit, Politik und Musik erinnert es an Thomas Manns »Betrachtungen eines Unpolitischen«, die aber noch farbiger, persönlicher und differenzierter sind; und ebenso wie diese ist es ausgesprochen zeitpolemisch: »Schiller überschrieb sein erstes Werk: in tyrannos; wollte jemand heute ein allgemeines Wort an die Deutschen richten, so müßte er es überschreiben: in barbaros. Sie sind nicht Barbaren der Roheit, sondern Barbaren der Bildung.« Das klingt deutlich an den »Bildungsphilister« der ersten Unzeitgemäßen an, wie der Titel an die dritte Unzeitgemäße und gleich einer der ersten Sätze des Buches: »die gesamte Bildung der Gegenwart ist eine alexandrinische, historische, rückwärtsgewandte« an die zweite Unzeitgemäße: der Professor, heißt es, sei die deutsche Nationalkrankheit, die derzeitige Jugenderziehung eine Art von bethlehemitischem Kindermord; in einer Zeit, die sogar »denkende Dienstmädchen« verlange, müßte man auch das Recht haben, denkende Gelehrte zu verlangen; die deutsche Universität sollte von Rechts wegen »Spezialität« heißen, denn sie enthalte nur Spezialitäten. »Der Spezialist hat seine Seele hingegeben; ja man darf sagen, daß der Teufel ein Spezialist ist; wie Gott sicher ein Universalist ist.« Der Idealismus des vorigen Jahrhunderts habe die Welt aus der Vogelperspektive gesehen, der Spezialismus des jetzigen Jahrhunderts sehe sie aus der Froschperspektive, das nächste werde sie hoffentlich aus der menschlichen Perspektive ansehen. Bei der Kritik Wagners wird man wiederum an Nietzsche erinnert: »Seine Gefühle sind ekstatisch oder sie zerschmelzen; auf ebener mäßiger Höhe, da wo das eigentlich Gesunde wohnt, halten sie sich nicht; sie sind raffiniert. Shakespeare ist Kaiser, Wagner ist empereur.« (Doch handelt es sich bei allen diesen Urteilen nicht um eine direkte Beeinflussung durch Nietzsche, sondern bloß um eine interessante geistige Duplizität.) Rembrandt eignet sich zum deutschen Führer gerade durch sein gemischtes Wesen: »Hell und Dunkel, Skepsis und Mystik, Politik und Kunst, Adel und Volk sind eins .. . weil sie uneins sind. Aus der Zweiheit gebiert sich die Einheit; das ist der glorreiche Lauf der Welt.«
Als »Geschlecht und Charakter« erschien, war Otto Weininger dreiundzwanzig Jahre alt; ein halbes Jahr später erschoß er sich im Sterbehaus Beethovens. Die Grundthese, von der seine Untersuchung ausgeht, ist die Annahme zweier polarer Seelenformen, des Mannes und des Weibes, die er M und W nennt; sie stellen ideale Grenzfälle dar, die in der Wirklichkeit immer nur vermischt und in unzähligen Abstufungen auftreten. Das Gesetz der sexuellen Attraktion beruht darauf, daß immer ein ganzer Mann und ein ganzes Weib zusammenzukommen trachten, also zum Beispiel ¾ M + ¼ W mit ¾ W + ¼ M; woraus folgt, daß auch das konträre Geschlechtsgefühl nur einen Spezialfall des Naturgesetzes darstellt. W geht im Geschlechtsleben, in der Sphäre der Begattung und Fortpflanzung vollkommen auf, während M nicht ausschließlich sexuell ist. Ferner ist die Sexualität bei M streng lokalisiert, bei W über den ganzen Körper diffus ausgebreitet. Die Tatsache, daß die Sexualität beim Manne nicht alles ausmacht, ermöglicht ihm ihre psychologische Abhebung und ihr Bewußtwerden. Es zeigen sich bei W zwei angeborene entgegengesetzte Veranlagungen, die sich auf die verschiedenen Frauen in verschiedenem Verhältnis verteilen: die absolute Mutter und die absolute Dirne; zwischen beiden liegt die Wirklichkeit. Die absolute Dirne interessiert nur der Mann, die absolute Mutter nur das Kind. Allem W eigentümlich ist die organische Verlogenheit und, was damit zusammenhängt, die Seelenlosigkeit: »es ist ganz unrichtig, wenn man sagt, daß die Weiber lügen, das würde voraussetzen, daß sie auch manchmal die Wahrheit sagen«; »Undine ist die platonische Idee des Weibes«. Die Frau ist keine Monade. Sie ist nie einsam, sie kennt nicht die Liebe zur Einsamkeit und nicht die Furcht vor ihr, sie lebt stets, auch wenn sie allein ist, in einem Zustand der Verschmolzenheit mit allen Menschen, die sie kennt: alle Monaden aber haben Grenzen. Vielleicht hat der Mann bei der Menschwerdung durch einen metaphysischen außerzeitlichen Akt die Seele für sich behalten. Dieses sein Unrecht büßt er nun in den Leiden der Liebe, in der er der Frau eine Seele schenken will, weil er sich des Raubes wegen vor ihr schuldig fühlt. Die Aussichtslosigkeit dieses Versuches erklärt, warum es glückliche Liebe nicht gibt. Der einzige Ausweg besteht in der Verneinung und Überwindung der Weiblichkeit, das heißt: der Sexualität. Das Weib wird nur so lange leben, bis der Mann seine Schuld gänzlich getilgt, bis er die eigene Sexualität wirklich überwunden hat. »Darum kann es auch nicht sittliche Pflicht sein, für die Fortdauer der Gattung zu sorgen, wie man das so oft behaupten hört. Es ist diese Ausrede von einer außerordentlich unverfrorenen Verlogenheit; diese liegt so offen zutage, daß ich fürchte, mich durch die Frage lächerlich zu machen, ob schon je ein Mensch den Koitus mit dem Gedanken vollzogen hat, er müsse der großen Gefahr vorbeugen, daß die Menschheit zugrunde gehe; oder ob jemals einer an die eigene Berechtigung geglaubt hat, dem Keuschen vorzuwerfen, daß er unmoralisch handle.«
Weiningers Werk, eine jener großen Konfessionen, in denen sich ein frühreifer solitärer Geist restlos ausspricht und zugleich ausgibt, als kühne und konsequente Konzeption eines eigenwilligen Weltbilds viel mehr als eine neue und tiefer schürfende Psychologie der Geschlechter, läßt keinen reinen Eindruck zurück. Denn in ihm vermischen sich auf eine unheimliche Weise kantisches Ethos, ibsensche Höhenluft, schopenhauerischer Erlösungsdrang, nietzschische Seelenkunde mit moralistischem Hochmut, intellektualistischem Nihilismus und einer unterirdischen Faszination durch das Böse, zu deren Abwehr dieser tragische Denker sein ganzes Gebäude aufgerichtet hat, ja sogar, wie Äußerungen aus seinen letzten Tagen vermuten lassen, aus dem Leben geschieden ist. In »Geschlecht und Charakter« dämmert bereits die Selbsterkenntnis des Menschen der Neuzeit, indem dessen Dialektik, ihr Gift gegen sich selbst kehrend, in den Skorpionsstich flüchtet.
Der dämonische Plastiker dieser höllischen Innenschau, die vom Weibe bloß ihren Ausgang nimmt, war August Strindberg, den die expressionistische Dichtergeneration in ähnlicher Weise zu ihrem Schutzheiligen erhob wie die naturalistische Ibsen: Ibsen, hieß es, stellt Rechenexempel auf, Strindberg ballt Visionen, Ibsen ist ein trockener Doktrinär, Strindberg ein blutvoller Bekenner, kurz: der »Magus aus dem Norden« war depossediert und als Apotheker entlarvt. Ein Landsmann Strindbergs hat den Gegensatz folgendermaßen formuliert: »Ibsen ist lauter simplifizierter Zusammenhang, Strindberg lauter blühendes Chaos.«
Selbst wenn man dies nun zugeben wollte, so wäre zunächst noch gar nicht ausgemacht, ob denn gerade das Chaotische das Wesen des schöpferischen Menschen sei und nicht vielleicht im Gegenteil seine Hauptkraft in der planvollen Besonnenheit, der kunstvollen Bändigung und Zusammenfassung, Ordnung und Harmonisierung des seelischen Rohstoffs, kurz in der Klärung des inneren Chaos bestehe. Sonst gäbe es nämlich zwischen einer hysterischen Frau und einem Künstler keinen wesentlichen Unterschied; denn »blühendes Chaos« findet sich auch bei dieser, hingegen »Zusammenhang«, und zwar höchst simplifizierter, gerade bei einigen künstlerisch recht bedeutenden Personen, zum Beispiel: Sophokles, Bach, Plato, Calderon, Goethe. Aber dies ist eine Streitfrage für sich, und es handelt sich im Falle Strindbergs noch um etwas ganz anderes.
Es gibt gewiß viele poetische Werke, bei denen man den Eindruck hat: so sieht die Welt ja gar nicht aus! Das beweist jedoch noch gar nichts gegen diese Werke, sondern es kommt auf den Nachsatz an, den man dann gewöhnlich noch unwillkürlich dazudenkt. Man kann im Geiste hinzufügen: aber so könnte die Welt aussehen. Die Fähigkeit, diesen Eindruck zu erwecken, nennen wir Dichtkunst. Man kann sich aber auch sagen: so müßte die Welt aussehen, wenn es richtig zuginge. Diese Wirkung erzielen nur die ganz großen Kunstwerke. Und nun gibt es noch eine dritte Gruppe, bei der wir die Empfindung haben: so dürfte die Welt ja gar nicht aussehen! Zu dieser Gruppe gehören die Schöpfungen Strindbergs, und deshalb muß man sie pathologisch nennen. Es ist natürlich nicht die Aufgabe des Dichters, die Wirklichkeit nachzuzeichnen. Sondern er hat einen ganz anderen Beruf: er hat ein Ideal aufzuzeichnen, nach dem sich die vorhandene Wirklichkeit richten soll. Nun ist ja jede Veränderung der Wirklichkeit ein Idealisieren, auch die Karikatur, denn sie vereinfacht, verkürzt, konzentriert die Realitäten ins Lächerliche. Und man kann die Welt ins Lebensfeindliche oder ins Verkehrte idealisieren, und das hat Strindberg getan. Also: daß die Welt nicht so ist, wie Strindberg sie darstellt, bildet noch keinen Einwand gegen seine Dichtungen, sondern dieser besteht darin, daß seine poetische Welt keine wünschbare Welt ist. Auch die Welt Hebbels ist kaum eine wünschbare, denn es ist durchaus nicht erstrebenswert, daß die Menschheit aus bösartigen Hegelianern bestehe. Aus einem ähnlichen Grund müssen auch Wedekinds Dramen pathologisch genannt werden, denn wenn es im Leben so zuginge wie in diesen Stücken, so müßte man glauben, die Welt sei ein einziger großer Phallus. Auch dies ist ein Ideal, aber ich glaube: es ist ein falsches.
Lastende, lähmende, tiefbeklemmende Seelenverfinsterung ist die Atmosphäre, in der Strindbergs Wesen hausen, Haß, blutroter, weißglühender Haß ist das Feuer, von dem die Bewegungen seiner Dramen gespeist werden. Haß tropft von den Wänden der Zimmer, schwirrt in Millionen Bazillen durch die Luft, dampft erstickend aus der Erde herauf. Und was die Furchtbarkeit des Eindrucks noch erhöht: man hat niemals das Gefühl grausamer Willkür, sondern spürt mit der größten Bestimmtheit: diese Menschen müssen so sein, wie sie sind, müssen sich gegenseitig unnützes Leid zufügen, bis sie zerfleischt zusammenbrechen.
Es sind im Grunde einige wenige Motive, die Strindberg fast manisch immer wiederkehren läßt. Zum Beispiel: jemand trinkt in der Küche die gute Bouillon weg und gibt dem anderen den kraftlosen Aufguß; jemand nimmt in der Speisekammer den Rahm von der Milch; jemand kauft die Schuldscheine eines anderen auf und bedrängt ihn; jemand stiehlt die Gedanken eines anderen und gibt sie für seine aus; jemand weiß von einem anderen heimliche Untaten und gewinnt so Macht über sein Leben. Nun wäre ja auch das noch kein berechtigter Einwand gegen Strindbergs Dichtungen. Es widerspricht durchaus nicht der Natur des Genies, gewisse Leitgedanken unaufhörlich zu wiederholen, ja im Gegenteil, darin besteht sogar sehr oft sein Wesen. Auch wird niemand ernstlich behaupten dürfen, daß die Kunst bloß erquicken soll. Im Gegenteil: sie soll beunruhigen, alarmieren und aufrütteln, sie hat die Mission, das schlechte Gewissen ihres Zeitalters zu sein. Aber sie soll zugleich die Welt durch ihre Betrachtung schöner, liebenswerter und gottähnlicher machen. Der Blick, den sie auf die Dinge wirft, soll diese bereichern und verjüngen. Aber Strindbergs Blick ist ein böser Blick. Er verhäßlicht und entzaubert die Welt und verlästert sie im eigentlichen Sinne des Wortes, indem er sie mit Lastern bevölkert, die erst er ans Licht beschworen hat, die vielleicht ohne ihn ewig geschlummert hätten. In mehreren seiner Dramen kommen Personen vor, die die Rolle des Vampirs spielen: sie nähren sich von Geist und Blut ihrer Mitmenschen. Aber Strindberg ist selbst ein solcher Vampir: er saugt den Menschen, die so unvorsichtig sind, sich von seinen Dichtungen anlocken zu lassen, das Blut aus Herz und Hirn, Adern und Knochen, raubt ihnen Lebenssaft und Lebensluft, macht sie völlig anämisch. Er ist ein Seelenfresser, und das ist wahrscheinlich etwas viel Gefährlicheres als ein Menschenfresser.
Der Sündenfall der Menschheit ins Sexuelle, Kampf und Höllenfahrt der Geschlechter: dies ist das dunkle Thema aller grandiosen Haßsymphonien, die Strindberg aus sich herausgeschleudert hat, in jenem flammenden wetterträchtigen Furioso und berückenden gedrängten Stakkato, das ihm in der Weltliteratur niemand vorgemacht und niemand nachgemacht hat. In diesen infernalisch unbarmherzigen Duellen und Messerkämpfen ist die Frau stets der grausame Teufel, der Mann das unschuldige Opfer. Aber ist dies auch richtig gesehen? Wenn wahr ist, was Strindberg in künstlerische Gestalt und Weininger in ein philosophisches System gebracht hat: daß nämlich die Frau vom Manne geschaffen ist, daß sie im Grunde nichts anderes ist als eine Art Schattenwurf und Projektion seines Geistes, dann ist ja gerade der Mann der Satan in Person. Aber es ist offensichtlich, daß die ganze Betrachtungsart Strindbergs eine rein mythologische ist. Die Frau als Teufel, die Frau als Hexe: diese Idee gehört in dieselbe Rubrik wie die Ansicht, daß der Himmel ein blaues Kuppelgewebe sei, in das Sterne gestickt sind. Indes, wie gesagt: es ist das beneidenswerte Vorrecht des Dichters, das Leben in einfachere und eindringlichere Formen umzustilisieren; aber warum dann nicht lieber aus der Frau eine Fee und einen Engel machen? Novalis liebte die dreizehnjährige Sophie von Kühn. »Historische Forschungen« haben ergeben, daß sie nur ein unbedeutender kleiner Backfisch gewesen ist. Sollen wir daraus schließen, daß Novalis sich in ihr geirrt hat, daß er in ihr mehr sah, als sie war, daß er der Düpierte gewesen ist? Nein, wir werden sagen müssen: eine Frau, die Novalis liebte, kann kein unbedeutender Backfisch gewesen sein, kann niemals etwas anderes gewesen sein als ein wundervolles poetisches Gedicht. Sieh in der Frau ein nichtiges, niedriges, boshaftes Geschöpf, so wird sie genau das sein, nicht mehr; sieh in ihr ein mysteriöses höheres Wesen, eine zarte Zaubergestalt und himmlische Gnadenspenderin, den »Stern deines Daseins«, so wird sie dir dieser Stern sein. Was wir in die Dinge »hineintragen«, das geben sie uns getreulich zurück: ein sehr einfaches Naturgesetz.
Und nun kommt noch hinzu, daß Strindbergs stahlharter Haß, der auf seinen Höhepunkten die Gewalt und Farbenpracht eines Naturereignisses hat, in den Alterswerken zu schwächlicher Gehässigkeit zusammenschrumpft. Dieser Abendhaß brüllt nicht mehr heroisch, sondern keift senil, ist stumpf geworden und will nicht mehr recht schneiden. Er hat keine Zähne mehr oder richtiger gesagt: nur noch ein falsches Gebiß.
Sollen wir also nach alledem sagen: es wäre besser gewesen, Strindberg hätte gar nicht gedichtet? Nun, wir werden uns hüten, das zu sagen. Denn Naturen vom Schlage Strindbergs sind für die Evolution der Menschheit ebenso wichtig wie die großen Bejaher. Die Welt braucht beide. Wir brauchen harmonische Geister, die die Welt stützen und das Leben als lebenswert und berechtigt erscheinen lassen; aber wir bedürfen ebensosehr jener anderen: der dämonischen Geister, die die Welt erschüttern und das Leben als fragwürdig und unberechtigt erscheinen lassen. Die Menschheit ist eine Waage, auf der Glauben und Zweifel sich immer von neuem ausgleichen müssen.
Wenn man gesagt hat, Ibsen sei der Messias der modernen Bewegung gewesen, so könnte man Strindberg ihren Prometheus nennen. Ihm war die schmerzlichere und undankbarere Aufgabe zugefallen. Er gehörte zu den Märtyrern der Geschichte, zu jenen, die nie ans Ziel kommen. Und so könnte man über sein Leben und Schaffen als Motto die Worte setzen, die sein großer Gegenspieler den König Hakon über der Leiche Jarl Skules sprechen läßt: »Er war Gottes Stiefkind auf Erden. Das war das Rätsel an ihm.«
Kurz vor dem Zusammenbruch Nietzsches, dessen geistige Verwandtschaft mit Strindberg früh bemerkt worden ist, traten die beiden Denker auch in persönliche Berührung. Die (noch heute wenig bekannte) Korrespondenz vermittelte der Generalagent der europäischen Literatur, Georg Brandes. Ende 1888 schrieb Strindberg an Nietzsche: »Geehrter Herr, ohne Zweifel haben Sie der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt... Ich schließe alle Briefe an meine Freunde: Lest Nietzsche! Das ist mein Carthago est delenda! Jedenfalls wird Ihre Größe von dem Augenblick an, da Sie bekannt und verstanden werden, auch schon erniedrigt, und der süße Pöbel fängt an, Sie zu duzen wie einen der seinen. Es ist besser, daß Sie die vornehme Zurückgezogenheit bewahren und uns andere, zehntausend Höhere, eine geheime Pilgerfahrt nach Ihrem Heiligtum machen lassen, um dort nach Herzenslust zu schöpfen. Lassen sie uns die esoterische Lehre behüten, um sie rein und unverletzt zu erhalten.« Nietzsche schrieb an Peter Gast: »Es war der erste Brief mit welthistorischem Akzent, der mich erreichte.« Die letzten Nachrichten Nietzsches an Strindberg tragen bereits die Narben geistiger Umnachtung: er teilt mit, er habe einen Fürstentag nach Rom zusammenbefohlen, um den jungen Kaiser füsilieren zu lassen, und unterzeichnet sich »Nietzsche Cäsar« und »der Gekreuzigte«. Das Allersonderbarste aber ist, daß die Antwort Strindbergs ebenso wahnsinnig war. Sie beginnt mit den Worten: » Carissime Doctor! Θέλω, ϑέλω μανήναι! Litteras tuas non sine perturbatione accepi et tibi gratias ago; (Teuerster Doktor! Ich will, ich will rasend sein! Ihren Brief habe ich nicht ohne Erschütterung empfangen und danke Ihnen dafür)« und ist signiert mit: »Strindberg, Deus optimus, maximus«. Man hat den Eindruck, daß der Dichter den dunkeln Schrei des zerstörten Propheten wie einen befreundeten Gruß aus der Unterwelt empfand.
Im Gange der neueren europäischen Kultur steht die Gestalt Nietzsches als der formidable Schatten eines herkulischen Petardeurs und Petroleurs. Er war ein Sprengmittel, ein wissenschaftliches, in dem sich elementare Naturkräfte mit siegreicher Technik zu rasanter Wirkung vereinten. Der Tunnel öffnet sich, vom gigantischen Bohrwerk bezwungen, und neue Fernsichten, neue Verkehrswege liegen nun frei. Ein solcher »Zerstörer« war Nietzsche.
Dies aber macht ihn zu einer der tragischsten Figuren der gesamten Weltliteratur. Er war ein tollkühner Avantageur, der Vollbringer eines gewaltigen Vorstoßes in fremdes Gebiet, der vorausgeeilt ist, zu weit voraus; seine Mission war die schwierigste und gefährlichste: die »Aufklärung«, und sein Schicksal das fast unentrinnbare des Kundschafters: zu fallen, ohne den Sieg zu schauen. Nietzsche ist an seiner Philosophie zugrunde gegangen; aber dies ist kein Einwand gegen sie, sondern im Gegenteil ihr höchster Beweis.
Es ließe sich vielleicht auch so ausdrücken: wenn Nietzsche gesagt hat, Schumann sei nur ein deutsches Ereignis gewesen, Beethoven aber ein europäisches, so könnte man von ihm selber sagen: er war ein tellurisches Ereignis, nicht bloß sein Volk, nicht bloß den Erdteil, sondern die Erde erschütternd und durch ein langandauerndes Beben beunruhigend. Er läßt sich auch mit einem Ertrinkenden vergleichen. Er sucht Tiefen auf, die ihn verschlingen, und mit dem Bewußtsein, daß sie ihn verschlingen werden. Er ist eine Warnung: hier ist's tief! Aus jedem seiner Worte spricht die ergreifende Mahnung: folget mir nicht nach! Er hat sich zum Opfer dargebracht, als die ungeheuerste Sühnegabe im Moloch des europäischen Nihilismus und Positivismus. Mit Recht bezeichnete er eines seiner Hauptwerke als »Vorspiel einer Philosophie«; gleichwohl, oder vielmehr gerade deshalb, kann man sein Oeuvre aber auch ein Finale nennen.
Nietzsches Nachfolge ist das traurigste Kapitel seiner Geschichte. »Starke Wasser«, sagte er selbst bereits in einer seiner frühesten Schriften, »reißen viel Gestein und Gestrüpp mit sich fort, starke Geister viel dumme und verworrene Köpfe.« Man hat seine Bücher als Gifte bezeichnet. Das sind sie auch in der Tat. Man muß daher einen großen Bruchteil der Menschheit von ihnen fernzuhalten suchen: die Unmündigen und die Geisteskranken, die geschwächten Tonikumsucher und die überreizten Sensationslüsternen, die Selbstmörder und die Giftmischer; und unschädlich werden sie sich nur erweisen für die ganz Feigen und die ganz Unbeteiligten, die Immunen und die Ärzte.
Nietzsches Gesamtproduktion läßt sich zwanglos in drei Perioden gliedern: die erste, 1869 bis 1876, steht im Zeichen der Antike, Wagners und Schopenhauers und umfaßt die Geburt der Tragödie, die vier unzeitgemäßen Betrachtungen und einige bedeutende nachgelassene Schriften wie die Basler Antrittsrede über Homer, die Vorträge über die »Zukunft unserer Bildungsanstalten« und das Fragment »Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen«; die zweite, 1876 bis 1881, in mehreren großen Aphorismenbänden repräsentiert, ist ausgesprochen positivistisch und rationalistisch: der erste Band von »Menschliches, Allzumenschliches«, der sie eröffnet, war Voltaire, »einem der größten Befreier des Geistes«, gewidmet und trug als Motto einen Satz aus Cartesius: »Eine Zeitlang erwog ich die verschiedenen Beschäftigungen, denen sich die Menschen in diesem Leben überlassen ... genug, daß für meinen Teil mir nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem Vorhaben bliebe, daß heißt: wenn ich die ganze Frist meines Lebens darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden« (in der Neuausgabe vom Jahre 1886 waren charakteristischerweise sowohl Widmung wie Motto weggelassen). Der wichtigste Abschnitt ist die »Umwertungszeit«, 1881 bis Ende 1888, die mit der »Fröhlichen Wissenschaft« einsetzt und mit dem schwindelerregend fruchtbaren Jahr 1888 schließt, in dem die »Götzendämmerung«, der »Fall Wagner«, »Ecce homo«, die »Dionysos-Dithyramben« entstanden und von dem unvollendeten Monumentalwerk »Der Wille zur Macht« das erste Buch ausgearbeitet, der Rest eingehend skizziert wurde; im Mittelpunkt dieser Periode steht, zeitlich und inhaltlich, der Zarathustra. Es ist höchst merkwürdig, daß das letzte Manuskript, an dem Kant arbeitete, ebenso betitelt war, es heißt :»Zoroaster oder die Philosophie im Ganzen ihres Inbegriffs unter einem Prinzip zusammengefaßt.« Kant soll geäußert haben, dieses Werk werde sein wichtigstes sein; dasselbe fand bekanntlich auch Nietzsche vom »Zarathustra«. Die Ähnlichkeit erstreckt sich auch darauf, daß beide unvollendet geblieben sind, denn der nietzschische Zarathustra ist ebenfalls ein Torso, und zwar nicht bloß in dem äußerlichen Sinn, daß er keinen Abschluß hat, sondern der ganzen Konzeption nach. Man braucht ihn bloß neben die beiden einzigen Werke der Weltliteratur zu halten, die mit ihm verglichen werden können, den Faust und die Göttliche Komödie, um dies sogleich zu erkennen. Nietzsche schrieb 1883 an Gast: »Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser Zarathustra? Ich glaube beinahe, unter die Symphonien.« Aber es genügt, an Beethoven zu denken, um einzusehen, daß diese Symphonie nicht durchinstrumentiert worden ist.
Es wurde im ersten Buche darauf hingewiesen, daß Luther in seiner Biographie Häckels »Biogenetisches Grundgesetz« verkörpert habe, indem er den ganzen Entwicklungsgang des Mittelalters in seinem eigenen Lebenslauf rekapitulierte. Dasselbe gilt von Nietzsche im Hinblick auf die Neuzeit. Er nimmt, als Sproß eines pastoralen Milieus, seinen Ausgang vom deutschen Protestantismus. Er empfängt seine Jugendbildung auf dem Gymnasium Schulpforta, dem Sitz der edelsten humanistischen Traditionen. Er studiert in Bonn und Leipzig unter berühmten Lehrern Theologie und alte Philologie und lehrt in Basel, der Stadt des Erasmus, als jüngster Kollege Jacob Burckhardts. Der Oberlauf seines Lebensstromes fließt durch die Geisteswelt der Reformation und der Aufklärung, des Pietismus und des Klassizismus. Darauf folgt eine ausgesprochen romantische Epoche und dieser eine ausgesprochen naturwissenschaftliche, schließlich eine agnostizistische und ganz zuletzt deutet sich eine mystische an. Kurz, er hat alle Phasen der Neuzeit von Wittenberg bis zum Weltkrieg durchlaufen. Er war Lutheraner, Cartesianer, Wagnerianer, Comtist, Darwinist, Pragmatist, vorübergehend sogar Nietzscheaner. Auf seine Stellung in der Geschichte der Philosophie geprüft, müßte er zweifellos als Schopenhauerianer angesprochen werden; sein »System« läßt sich auf die Formel bringen: die Welt als Wille zur Macht.
Vor der Erinnerung der Nachwelt wird er wohl immer in seiner letzten und stärksten Metamorphose stehenbleiben: der düstern und magisch umglänzten Gestalt des einsamen Wanderers, der durch die blaue Eiswelt der Berghöhen irrt, bisweilen zu Tal steigend, aber auch im Gewühl der bunten Städte immer allein und fremd; Prophetenworte formend, die ihm aus einem unterirdischen Brunnen zuströmen; schließlich sogar sich selber fremd, in fassungslosem Staunen erschauernd vor dem überreichen Wunder seines Schaffens und eines Tages aus dem eigenen Schatzhause auswandernd: wohin?
Die ganze Borniertheit des Zeitalters hat sich in der Ahnungslosigkeit bekundet, mit der es vor dem Phänomen dieser Katastrophe stand: es wollte sie allen Ernstes medizinisch erklären! Im Rückblick offenbart sich deutlich, daß dieser Ausgang in diesem Leben vorgeprägt war, dessen Tempo stets das Prestissimo war und in den letzten Jahren ins Furioso übersprang. Wir erkennen dies freilich erst hinterher, was eine sehr billige Weisheit ist (den gelehrten Ignoranten trotzdem immer noch zu »riskant«); Nietzsche aber hat es vorausgesehen. Bereits 1881 schrieb er an Gast: »ich gehöre zu den Maschinen, welche zerspringen können!« In der Tat ist eine Produktivität, wie sie das Jahr 1888 aufwies, einer Steigerung, ja auch nur einer Fortsetzung nicht mehr fähig: das Manometer, wir sagten es schon einmal, stand auf hundert. Aber dies gilt nicht bloß in dem mehr äußerlichen, extensiven Sinne; es waren auch innere Gegenkräfte im Spiel. Die Entwicklung Nietzsches war offenbar bei einer Krise angelangt; die Kurbel völlig herumzudrehen und nach einer so unermeßlich reichen Lebensarbeit gewissermaßen einen neuen geistigen Äon zu beginnen, war eine Aufgabe, die die Kraft auch des stärksten irdischen Geistes überstieg.
Die geheimnisvolle Verrechnung, die zwischen dem Genius und der Welt vor sich geht, ist bei Nietzsche, im Gegensatz zu Wagner, noch nicht zu einem vorläufigen Abschluß gelangt. Klar umrissen ist bis jetzt erst seine artistische Bedeutung, die zu der Wagners insofern ein Pendant bildet, als er für die deutsche Prosa eine ähnliche Rolle gespielt hat wie dieser für die Sprache der Musik. Jeder nach Nietzsche geborene Schriftsteller (und dies bezieht sich sogar fast auch auf das Ausland) steht ganz unentrinnbar unter dessen Einfluß, wofern er überhaupt auf diesen Titel Anspruch erheben will. Thomas Mann, selber einer der begnadetsten Erben und reifsten Schüler dieser Prosa, hat dies in seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen« eindringlich bekannt. Seit diese noch weit über Lessing hinausschießende Feder- und Stoßkraft der Satzbildungsstrategie, dieser betäubende und befeuernde Rhythmus eines in solcher Ariosität deutsch noch niemals vernommenen Tonfalles, diese verschwenderisch reiche und doch niemals lastende Fülle von schwebenden, opalisierenden, hintergründigen Wortgeburten, diese Reinheit und Buntheit einer mit tausend Pinseln haarscharf schattierenden Ausdruckskunst erklang, besitzt die deutsche Sprache ein neues Tempo, ja mehrere neue Tempi und zahllose neue Valeurs. Wie sich das Meer am Schiffskiel unaufhörlich anders koloriert, bald orange oder fleischrosa, bald purpurrot oder glasblau und dann wieder milchweiß, giftgrün, schwefelgelb oder lackschwarz: so wechselt diese Prosa ruhelos unheimlich ihre Farbe; aber stets glaubt man, sie könne in diesem Augenblick, dieser Situation, diesem Konnex unmöglich anders getönt sein.
Da Stil an sich schon Psychologie ist, so erflossen ganz von selber aus Nietzsches Sprachmeisterschaft seine völlig neuen psychologischen Methoden, die ungeheure Fortschritte bedeuteten, ganz unabhängig von ihren mehr zufälligen und oft forcierten Resultaten. Er sagt selber einmal: »Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden mindestens ein ebenso wichtiges Ergebnis der Forschung als irgendein sonstiges Resultat.« Man weiß in der Philosophie erst seit Nietzsche, was komplexe Psychologie ist: er hat das Stereoskop Flauberts, das Mikroskop der Goncourts, das Tiefseelot Dostojewskis auf das Gebiet des reinen Denkens angewendet, wo sie noch viel schwieriger zu handhaben sind als im Roman. Bisher hatte man eine solche Abgründlichkeit der Menschenkenntnis und eine solche Spannweite der Weltschau nur an religiösen Genien erblickt; und wenn man nach Nietzsches Verwandtschaft fragt, so darf man sie nicht, indem man sich höchst äußerlich am Inhalt orientiert, im Bezirk der Freigeisterei, etwa eines Stirner, suchen, sondern im Familienkreis eines Augustinus oder Pascal. Sein Positivismus war nichts als das Zeitkostüm, dem sich bekanntlich niemand entziehen kann, und außerdem ein Reaktionsphänomen, der Versuch einer Selbstheilung von der Romantik; er spielte in der Ökonomie seines Lebens dieselbe Rolle wie der Klassizismus bei Goethe. Alle Philosophie ist notwendig »Krankheit«, insofern sie überhaupt nur in einem Dekadenztypus möglich ist; alle hohen Gedankenschöpfungen: der Buddhismus, der Taoismus, der Platonismus, die Gnosis, von den neueren Systemen gar nicht zu reden, haben eine späte Welt zur Voraussetzung. Nietzsche war der einzige Dekadent seines Zeitalters, der diesen Zusammenhang mit voller Klarheit durchschaute und aus diesem Gegensatz heraus seine Philosophie entwickelte, was diese aber bloß zu einem anderen Symptom der Dekadenz macht. Sein Voluntarismus, den er dem Nihilismus entgegensetzte, ist dasselbe Krankheitsphänomen mit umgekehrtem Vorzeichen: die Hyperbulie, die eine bloße Variante der Abulie bildet. Es scheint aber, daß er selbst dies gewußt hat, und es scheint sogar, daß sich in ihm bereits unterirdisch eine mystische Lösung des Konflikts vorbereitete: zumal einige nachgelassene Entwürfe zu den unausgeführten Teilen des Zarathustra und dem vierten Buch des »Willens zur Macht« weisen darauf hin.
Nietzsche fühlte sich mit vollem Recht als der Gegenspieler seines Zeitalters: man könnte ihn in dieser Hinsicht mit Savonarola vergleichen, an den er vor allem durch die fanatische Unbedingtheit seines Wahrheitswillens und die grausame Askese der Selbstzerfleischung erinnert; aber ebensosehr war er auch der stärkste Ausdruck jener Gründerzeit: in seiner Vergötterung des Lebens und seinem anthropozentrischen Sophismus. Die Sophistik, deren Weltbild in dem Satz beschlossen ist: »der Mensch ist das Maß aller Dinge«, ist nämlich keine griechische Spezialität, sondern die unausweichliche Philosophie aller geistreichen Niedergangszeiten. Es gibt auch eine indische und eine arabische Sophistik; die Spätscholastik, mit der wir uns im ersten Buche beschäftigt haben, trägt deutliche sophistische Züge; die gesamte Philosophie des Rokokos war sophistisch orientiert. Nietzsches »Lebensphilosophie«, unnietzschisch flach, eine schale Tautologie: das Leben will das Leben, zu der es wahrhaftig keines dämonischen Alleszermalmers bedurft hätte, läßt sich nur begreifen aus der Konterimitation des Theologen in ihm.
Und dies führt uns zu dem wahren Kern seiner Wesenheit. Es kann, wie wir bereits angedeutet haben, gar keinem Zweifel unterliegen, daß er in die Geschichte des Christentums gehört: als eine Art »gewendeter« Christ, als Antichrist malgré lui und zugleich als Christ malgré lui, als die letzte und seiner Zeit einzig mögliche Form des Christen. Sein Antichristentum ist nichts als eine Metamorphose des Christentums, eine »allotrope Modifikation«, wie die Mineralogen sich auszudrücken pflegen: es verhält sich zu diesem wie die düster glühende Kohle zum Diamanten, äußerlich unverwechselbar verschieden, in Wirklichkeit von ganz demselben Stoff. Sein Vater, seine beiden Großväter und ein Urgroßvater waren Pastoren. Die Karten, die er nach seinem Zusammenbruch nach allen Windrichtungen aussandte, führen zumeist die Unterschrift: »der Gekreuzigte«, seltener »Dionysos«. Dies war überhaupt das Grundproblem seines Lebens gewesen: Dionysos oder der Gekreuzigte! Hierin ein Neuheidentum zu erblicken, wie dies platte und vorlaute Nietzschepfaffen jahrzehntelang verkündet haben, war ein abgrundtiefes Mißverständnis und nur in Deutschland möglich, das zu allen Zeiten die größten Philosophen und die dümmsten Philosophenschulen besessen hat. Die Alternative zwischen Kreuz und Hellas überhaupt nur zu stellen, war völlig unheidnisch. Denn der echte Heide ist kein Antichrist; er erblickt Christus überhaupt nicht. Deshalb ist das Judentum unter allen europäischen Bekenntnissen das einzige legitim heidnische (was sehr natürlich ist, denn es ist die einzige antike Religion). Von den anderen außerchristlichen Sekten, wie den Monisten, den Sozialisten, den Freimaurern, den Illuminaten, gilt dies nicht: sie alle haben eine unterirdische Beziehung zum Christentum. Daß aber gerade in der Umnachtung (die man ebensogut als den Einbruch der höchsten Erleuchtung ansehen kann, freilich nicht mehr auf einer rein empirischen Ebene) die Gestalt des Erlösers bis zur Identität die Seele Nietzsches zu erfüllen begann, zeigt, daß auch am Lebensende dieses größten Apostaten die Worte stehen: du hast gesiegt, Galiläer!
Auch diese Zusammenhänge hat Nietzsche selber erkannt. Im »Ecce homo« heißt es: »Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tages heilig spricht. Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst. Vielleicht bin ich ein Hanswurst.« Hier empfindet er sich deutlich als die erhabene Trinität aus dem Narren, dem Ketzer und dem Heiligen, die das Wesen aller religiösen Genies bildet. Sie erscheint bereits in der Gestalt des Sokrates verkörpert, der als ein Narr gelebt hat, als Ketzer verurteilt wurde und wie ein Heiliger gestorben ist. Seiner äußeren Form nach unterscheidet sich Nietzsches Erdenwallen in nichts von einer Heiligenlegende. Vom niederen Volke verehrt, von seinen Freunden mißbraucht oder mißverstanden, in der Bedürfnislosigkeit und Weltflucht eines Eremiten dahinlebend, niemals ein Weib berührend, von steten körperlichen Leiden und seelischen Anfechtungen geplagt, Tag und Nacht mit seinem Gott ringend, unermüdlich das Heil seiner Brüder suchend, geht er den Weg des Martyriums bis zur Selbstvernichtung. Niemand bemerkte den Heiligenschein über seinem Haupt; aber auch das gehört zum echten Heiligen. Der Weltgeist liebt es, sich in den sonderbarsten Verkleidungen zu offenbaren: einmal in einem Bettler wie dem heiligen Franziskus, einmal in einem Prinzen wie Buddha, in einem Bauernmädchen wie Jeanne d'Arc, einem Schuster wie Jakob Böhme, einem Komödianten wie Shakespeare, warum nicht auch einmal in einem sanften deutschen Professor?
Nietzsche sagt in der »Morgenröte«: »Diese ernsten, tüchtigen, rechtlichen, tief empfindenden Menschen, welche jetzt noch von Herzen Christen sind: sie sind es sich schuldig, einmal auf längere Zeit versuchsweise ohne Christentum zu leben, sie sind es ihrem Glauben schuldig.« Seine Abkehr von der Religion war nur eine der Formen seiner Askese; er verbot sie sich, wie die Romantik, wie Wagner, wie Schopenhauer, wie alle seine Heiligtümer. Und in der Tat war dieses Ausbiegen vor dem Glauben unbedingt nötig zum neuen Glauben, einer der unerläßlichen Umwege in der menschlichen Heilsgeschichte: das Christentum war zu billig geworden, wie am Ende des Mittelalters der Papismus. Hier liegt der wahre Sinn des nietzschischen Bildersturms, ja vielleicht der Sinn des ganzen Intermezzos der Neuzeit.
Paul de Lagarde, einer der wenigen Christen, die im neunzehnten Jahrhundert gelebt haben, sagt in seinen »Deutschen Schriften«: »Im Evangelium liebt man die Menschen, weil man in tiefster Bescheidenheit mehr ist als sie: im Liberalismus, weil man denselben geringen Wert hat wie sie. Im Evangelium stammt die Menschenliebe von oben, aus der Freude und der Demut: im Liberalismus von unten, aus der Furcht und dem Schuldbewußtsein ... Jesus heißt uns unsere Feinde lieben, um Kinder unseres himmlischen Vaters zu sein, der seine Sonne über Gute und Böse aufgehen lasse. Es kommt ihm mithin nicht auf die Menschenliebe an sich, sondern auf das Streben nach Gottähnlichkeit, nach Vollkommenheit an.« Aus diesen und ähnlichen Aussprüchen Lagardes, die vor Nietzsche niedergeschrieben wurden (der seinerseits von Lagarde nicht beeinflußt worden ist), erkennt man, daß der Übermensch im Grunde eine christliche Konzeption ist; wie der Immoralismus eine Steigerung der vulgären Ethik. »Wenn man das Temperament hat«, sagt Nietzsche im Nachlaß, »so wählt man instinktiv die gefährlichen Dinge, zum Beispiel die Abenteuer der Immoralität, wenn man tugendhaft ist.« Der Immoralismus ist nichts als Hypertrophie der Tugend. Selbstverständlich kann nur ein Mensch der höchsten und tiefsten, stärksten und zartesten Sittlichkeit die Moral überwinden. Der Immoralismus rechnet mit Menschen, die durch die ganze Schule und Entwicklung der Moral bereits hindurchgegangen sind, aber nicht mit Menschen, die noch nicht einmal moralisch sind, das heißt: mit Nietzscheanern.
Kurz: Nietzsche war die letzte große Glaubensstimme des Westens, wie Dostojewski die letzte aus dem Osten war; und wenn wir diesen als den letzten großen Byzantiner und Luther als den letzten großen Mönch bezeichnet haben, so könnte man Nietzsche den letzten Kirchenvater nennen. Und zugleich ist er eine der ausgeprägtesten Nationalgestalten, die das Schrifttum seines Vaterlandes hervorgebracht hat. Er selbst glaubte bekanntlich, das deutsche Volk zu hassen, indem er es mit dem deutschen Publikum verwechselte. Die drei Potenzen, die er mit Vorliebe gegen das Deutschtum ausspielte, waren das Renaissanceitalienische, die Antike und das Französische. Aber seine eigene Vitalität ist eine ganz andere als die des Cinquecento, seine Diesseitigkeit weit verschieden von den hellenischen, sein Kunstwille nichts weniger als die l'art pour l'art-Konfession der Franzosen. Er ist die stärkste und feinste Spitze des idealistischen, sentimentalischen deutschen Ethos; ähnlich wie Goethe, der auch glaubte, Realist, Artist und Klassiker zu sein, und zeitlebens ein großer deutscher Sucher geblieben ist. An der Wiege der Völker Europas schenkte Gott dem Engländer das Talent zum Erfolg, dem Franzosen die Gabe der Form, dem Deutschen aber die Sehnsucht. Einer ihrer vorbildlichen Meister war Friedrich Nietzsche, der ebenbürtige Geistesbruder Rembrandts und Beethovens. Aber in seinen letzten Schriften verwirrte sich dieser edle und kräftige Geist. Er wurde, so kann man wenigstens allenthalben vernehmen, von Größenwahn erfaßt. Er hielt sich nämlich für Friedrich Nietzsche.
Diese letzten Schriften stellen zugleich den Versuch dar, den Impressionismus, in dem Nietzsche das Kernwesen der Dekadenz erkannt hatte, zu überwinden: sowohl als Weltbild wie als Form. Es ereignete sich aber die Paradoxie, daß gerade Nietzsche den Impressionismus für Europa endgültig legitimierte und für Deutschland überhaupt erst heraufführte. In den neunziger Jahren verfällt alles dem Impressionismus, sogar die Gebiete, die ihm ihrer innersten Natur und Bestimmung nach völlig zu widerstreben scheinen: er bemächtigte sich in Rodin der Plastik, in Debussy der Musik, in Kaiser Wilhelm der Politik, in Alfred Kerr der Kritik. Mit diesem Panimpressionismus steht auch eine Steigerung des Naturgefühls im Zusammenhang, die den Rousseauismus des achtzehnten Jahrhunderts auf einer höheren Spiralebene wiederholt. »Die Gärten unserer Voreltern«, sagt Maeterlinck in einem Aufsatz über »alte Blumen«, »waren noch fast öde. Der Mensch verstand noch nicht, um sich zu schauen und das Leben der Natur mitzugenießen.« Dies ist sehr begreiflich: die Menschen konnten die Natur noch nicht schauen, weil sie selbst dazu gehörten. Im letzten Kapitel von »Plisch und Plum« erscheint ein Mister namens Pief, der ununterbrochen durch sein Fernglas blickt und diese seltsame Handlungsweise mit folgendem Monolog begründet: »Warum soll ich nicht im Gehen, spricht er, in die Ferne sehen? Schön ist es auch anderswo und hier bin ich sowieso.« Eines der vielen tiefen Philosopheme Buschs: das Schöne ist immer das »Anderswo«, das Hier lockt niemals, weil wir da eben »sowieso« sind. Daher kann lyrische Naturbegeisterung immer nur von städtischen Kulturen ausgehen. Der erste »Vorgarten« entstand gleichzeitig mit den Städten der anbrechenden Neuzeit, der »englische Park« mit dem Aufstieg Londons zur Großstadt und der Alpensport mit der Geburt der modernen Weltstädte. Eine ganz analoge Entwicklung nahm die Landschaftsmalerei. Ihre Blütezeit beginnt mit den Stadtkulturen Italiens und Hollands und kulminiert mit dem Emportauchen der Riesenstädte im second empire, im viktorianischen und im wilhelminischen Zeitalter. Das Mittelalter kannte bloß Gemüsegärten, empfand vor Bergen und Schluchten nur Angst oder Abscheu und hat nie das Bedürfnis gehabt, sie abzubilden, zu erforschen oder zu besingen.
Inzwischen war jedoch, und zwar zunächst in der Malerei, der Impressionismus in sein zweites Stadium getreten: er wird phänomenalistisch. Es wurde bereits im vorigen Kapitel ausgeführt, daß neben der realistischen auch diese Möglichkeit der Weltinterpretation in ihm angelegt ist. Zunächst erschienen die »Neoimpressionisten«, die, weil sie, an Monets Kommata anknüpfend, eine radikale Tüpfeltechnik beobachteten, »Pointillisten« oder auch, weil sie das Gesichtsbild in seine letzten Elemente zerlegten, »Divisionisten« genannt wurden. Mit einem Wort: sie malten Mach. Außerdem verwendeten sie bloß einfache Farben. Sie gingen dabei offenbar von der Erwägung aus, daß das Phänomen der Mischtöne erst durch einen psychophysiologischen Vorgang zustande kommt, während in der Wirklichkeit nur die reinen Spektralfarben nebeneinander vorkommen, und versuchten nun, diese so auf die Leinwand zu setzen, daß das Auge gezwungen ist, sie in der geforderten Weise zu kombinieren. Sie verlegten also den Mischprozeß von der Palette in die Netzhaut. Damit erreicht die Rationalisierung und Verwissenschaftlichung der Kunst ihren Höhepunkt: wie bei Zola der Dichter sich zum Sozialstatistiker, Lokalreporter, Gerichtspsychiater, Vererbungsbiologen macht, so wird hier der Maler zum Spektralanalytiker, Chemiker und Experimentalpsychologen. Ein pointillistisches Gemälde macht erst aus entsprechender Entfernung den richtigen Eindruck, was ebenfalls dem Vorgang in der Wirklichkeit entspricht. Dies ist scheinbar der Gipfel des Impressionismus, tatsächlich aber bereits dessen Auflösung; denn tritt man weit genug zurück, so erscheint die Kontur. Ja noch mehr: das Glasmosaik. Und so verhielt es sich denn auch in der Tat bei dem einzigen bedeutenden Pointillisten, Giovanni Segantini, den Österreich für sich reklamierte, weil sein Geburtsort, das südtirolische Grenzstädtchen Arco, damals noch nicht zu Italien gehörte, der aber nach Abstammung, Wohnsitz und Bildungsgang und selbst in seinem Stoffkreis ganz Romane war, da er fast alle seine Motive dem Hochgebirge der ladinischen Schweiz entnahm. Er hat die Strichelmanier zur höchsten Meisterschaft gebracht, indem er die Pinselpunkte wie Mörtel aneinandersetzte und seine Höhenvisionen auf prachtvolle Weise in eine dicke Schneedecke, fette Pflanzendecke und fast tastbar dichte Luftdecke hüllte.
Wenn der Pointillismus den Beschauer zwingen will, die Komposition des Bildes selbsttätig vorzunehmen, so verlangt er von ihm einen Akt der Abstraktion. Und von da bedarf es nur eines Schrittes, um auch den Schöpfungsprozeß des Kunstwerks wieder zur Abstraktion zu machen. Diesen Schritt von der Analyse zur Synthese tat van Gogh. Er »formuliert«, manchmal sogar zu schroff, indem er gleichsam nur die Grammatik der vitalen Funktionen eines Menschen- oder Tierkörpers und das wahrere (weil aus allen verflossenen Impressionen zusammengeschaute) Traum- und Erinnerungsbild einer Landschaft gibt. Seine Gemälde, in denen Greco, Goya und Daumier, die unheimlichsten Maler des neueren Europa, zu schreckhafter Wiedergeburt auferstanden sind, wirken wie gespenstische Albdrucke, zermalmende Karikaturen, peinigende Verzeichnungen, diabolische Versuchungen; bisweilen denkt man mit Schauder, so müßten Klopfgeister malen.
Man hat für diese phänomenalistische und synthetische Phase des Impressionismus später das überflüssige und verwirrende Neuwort »Expressionismus« geprägt. Aber wenn van Gogh Expressionist ist, so ist Cézanne bereits Nachexpressionist. Er ist das Modell des Claude Lantier in Zolas »Oeuvre«, des revolutionären Künstlers, der radikal mit der ganzen Vergangenheit bricht. Dazu gehörte für ihn auch schon der Impressionismus. Er malt bereits wieder die Vision, die platonische Idee, aber als einer, der durch den ganzen Impressionismus hindurchgegangen ist, ihn hinter sich, unter sich erblickt. Er malt niemals Impressionen, also Abbilder von Einzelgegenständen, sondern immer den Gegenstand an sich, die Summe aller Krüge, Orangen, Bäume der Welt. Man sollte glauben, daß dann nur ein Abstraktum übrigbleibt; es entsteht aber ein höchstes Konkretum. Er ist also sozusagen ein malender »Realist«, aber nicht im sensualistischen Sinne der Neuzeit, sondern im mittelalterlichen des » universalia sunt realia«. Er malt aber auch die Farbe an sich, wie sie, nicht als Bildkomponente, sondern als eine Idee der Schöpfung, losgelöst vom Dienst der Form, ein selbstherrliches Eigenleben führt.
Van Gogh war Holländer; und es ist überhaupt bemerkenswert, daß die stärksten künstlerischen Anregungen jenes Zeitraums in kleinen Ländern ihr Quellgebiet hatten: in Norwegen, Schweden, Dänemark, Belgien, Irland. Es ist das kein Novum in der Kulturgeschichte: große geistige Erneuerungen sind, worauf schon im ersten Buch hingewiesen wurde, fast immer von Zwergstaaten ausgegangen. Nach unseren heutigen Begriffen war das perikleische Athen und das medizeische Florenz eine mittlere Kreisstadt, das Wittenberg Luthers und das Weimar Goethes ein größeres Landnest. Es handelt sich hier um das, was wir bei einer anderen Gelegenheit die »schöpferische Peripherie« genannt haben. Kulturell genommen, fällt auch das Rußland Tolstois und Dostojewskis unter den Begriff der Peripherie und des Kleinstaates: denn es war nichts als eine riesenhaft ausgedehnte Bauernsiedlung mit einigen künstlich inokulierten Stadtgebilden.
Gegenüber den neuen Phänomenen hat die zünftige Kritik in einer besonders grotesken Weise versagt. So schilderte zum Beispiel, um ein Exempel für hundert zu geben, der Literarhistoriker Hans Sittenberger die Situation um 1890 folgendermaßen: »Bourget mit seinem psychologischen Spintisieren gab den Einschlag. Dazu gesellte sich der Einfluß des schwachköpfigen Mystikers Maeterlinck. ... Hie und da findet man auch Anklänge an die blutarme, lächerlich aufgedunsene Wissenschaftlichkeit Strindbergscher Schöpfungen ... Von Ibsen lernten sie das Vollpfropfen des Dialogs mit Gedanken und Anspielungen ohne Rücksicht auf die jeweilige Situation, die aufdringliche, ganz veraltete Selbstcharakteristik der Personen ... Ihr Dialog gemahnt, wie derjenige ihres Meisters, an die primitiven Narrenspiele vor Hans Sachs, allwo die Personen mit großer Höflichkeit sich selber vorstellen: ich bin der und der, und so und so ist meine Art.« Wollte man einen Preis für Anticharakteristiken ausschreiben, so müßte man ohne Zweifel jenen krönen, der von Maeterlinck aussagte, daß er schwachköpfig, von Strindberg, daß er blutlos, und von Ibsen, daß seine Technik nicht einmal hanssachsisch, sondern vorhanssachsisch sei. 1893 erschien Max Nordaus vielgelesenes Buch »Entartung«, eine mehrere hundert Seiten lange ununterbrochene Anpöbelung aller führenden modernen Künstler, in der, um wiederum nur ein Beispiel anzuführen, Ibsen als »bösartiger Faselhans«, »Modernitätsmarktschreier« und »Thesenschwindler« bezeichnet wird und die Schlußnote erhält: »Die einzige Einheit, die ich in Ibsen entdecken kann, ist die seiner Verdrehtheit. Worin er sich wirklich immer gleich geblieben ist, das ist seine vollständige Unfähigkeit, einen einzigen Gedanken deutlich zu denken, ein einziges der Schlagworte, die er seinen Stücken hie und da aufpinselt, zu begreifen, aus einem einzigen Vordersatz die richtige Folgerung zu ziehen.« Durch derartige Blamagen nervös gemacht, hat die literarhistorische
Kritik sich neuerdings der umgekehrten Taktik in die Arme geworfen, indem sie jeden modischen Schund, der eine halbe Saison lang berühmt ist, gewissenhaft registriert und ängstlich zergliedert, ein Vorgehen, das, nicht weniger albern und ahnungslos als das frühere, an den Clown erinnert, der mit ernsthaftem Eifer die Kunststücke des Jongleurs wiederholt.
Die geistigen Ahnen Ibsens sind in dessen eigenem Lande zu suchen: in dem Norweger Holberg und den Dänen Andersen und Kierkegaard. Holberg ist oft mit Molière verglichen worden, den er an philosophischer Kultur und Eleganz der Form nicht entfernt erreicht, aber an Saftigkeit der Satire und Schärfe der Federzeichnung noch übertraf. Die Erinnerung an den scheinbar harmlosen Andersen mag im ersten Moment überraschen, aber nur solange man vergißt, daß dieser Jugendautor einer der tiefsten Menschendurchleuchter und stärksten gestaltenden Ironiker der Weltliteratur gewesen ist. Zu Kierkegaard verhält sich Ibsen etwa wie Wagner zu Schopenhauer, Hebbel zu Hegel, Shaw zu Carlyle, Schiller zu Kant: er hat von ihm einen Teil seines Ideenrüstzeugs bezogen, wobei er bisweilen von dem schönen Vorrecht der Künstler Gebrauch machte, die Philosophen mißzuverstehen. Von großer, man möchte sagen: verkehrstechnischer Bedeutung war für die damalige Dichtergeneration auch der Däne Brandes, der, eine Art literarischer Kingmaker, mit starker Witterung für die treibenden Kräfte der Zeit dem gebildeten Europa die reiche Literatur seiner Heimat erschloß und umgekehrt den Strom der europäischen Bildung nach Skandinavien leitete, freilich bei allem Geschmack und Anpassungsvermögen immer nur die oberen Schichten der Künstlerpersönlichkeiten berührend, indem er sich nie über das Niveau des feingeistigen Literaturessays erhob, das die Wunder der Tiefsee in gepflegten Bassins zur Schau stellt. Im übrigen läßt sich die norwegische Literatur von der dänischen ebensowenig trennen wie die holländische Malerei von der belgischen. Norwegen gehört ganz zum dänischen Kulturkreis, dem es vom Anfang des sechzehnten Jahrhunderts bis zum Wiener Kongreß auch politisch eingegliedert war. Mehrere Jahrhunderte hindurch war im ganzen Lande die Sprache der Kirche, des Gesetzes und der Gebildeten das Dänische, und erst im neunzehnten Jahrhundert begannen Wiederbelebungsversuche durch Aufnahme von Elementen der norwegischen Volkssprache in die dänische Schriftsprache. Ibsen und Björnson schrieben ein norwegisch tingiertes Dänisch.
In den »Kronprätendenten« sagt der Skalde Jatgejr: »Kein Lied wird bei hellem Taglicht geboren.« Von dieser Art waren die Lieder des Skalden Ibsen: geboren im Lande der Mitternachtssonne, seltsam klar und düster, beschattet vom Gestern, erhellt vom Morgen, in doppelsinniges Zwielicht getaucht, dämmerig zwischen den Zeiten webend. So steht die Gestalt Ibsens vor dem staunenden Gedächtnis der Nachwelt: als die finstere Flamme des Nordens, der geheimnisvolle Sänger aus Thule.
Will man Ibsen katalogisieren, so muß man ihn zweifellos in die Familie der Klassiker einreihen. Unter einem Klassiker ist nicht ein Dichter zu verstehen, der in bestimmten Formen schafft, zum Beispiel in Versfüßen, oder bestimmte Stoffe bevorzugt, zum Beispiel tragische oder antike; sondern jeder Dichter, dessen Werke nicht bloß Produkte der Vitalität, des Erlebens und Erleidens, sondern auch der Rationalität, der planvollen Berechnung und edeln Besonnenheit sind, jeder Dichter, in dem Leidenschaft sich zur Wissenschaft geläutert hat, ist ein Klassiker. Solche klassische Werke sind alle uns bekannten griechischen Trauerspiele: Schöpfungen des gereiftesten Kunstverstandes, sorgsam in allen Teilen durchkomponiert und abgewogen wie ein alter Tempel oder Altarschrein, vermöge der reichsten und sichersten Kenntnis des Handwerks, des Materials, der Gesetze und Proportionen; solche Werke sind die Dramen Goethes und Schillers, Corneilles und Racines, in denen alles sich gegenseitig hebt, verdeutlicht, beschattet und beleuchtet, bis für jede Einzelheit eine vollendete Bühnenperspektive entsteht, und die Dialoge Lessings und Molières mit ihrer leichten und lichten, gegliederten und geschlossenen Architektur. Der letzte Klassiker dieser Art war Henrik Ibsen; der vollendetste, weil er der komplizierteste war. Von ihm gilt in noch höherem Maße, was Goethe von Shakespeare gesagt hat: »Seine Menschen sind wie Uhren mit Zifferblatt und Gehäuse von Kristall; sie zeigen nach ihrer Bestimmung den Lauf der Stunde an; und man kann zugleich das Räder- und Federwerk erkennen, das sie treibt.« Ja; Ibsen sah durch die Menschen hindurch, als ob sie transparent wären, erkannte das verborgene Gerüst, das unsere Welt trägt, das stille Herz, das in ihr unermüdlich schlägt; sein Auge sandte geheimnisvolle X-Strahlen durch das dunkle Erdengeschehen.
Ibsen bezeichnet den Zenith des bürgerlichen Realismus: seine Psychologie und Technik entspricht der Theaterform, die, gleichzeitig mit der Bourgeoisie zur Herrschaft gelangt, durch den völlig verdunkelten Zuschauerraum, die scharf isolierte, grell beleuchtete Bühne, den Plafond, das »praktikable« Möbel und drei geschlossene Wände gekennzeichnet ist. Im dritten Buche wurde der technische Unterschied zwischen Goethe und Schiller dahin charakterisiert, daß dieser bühnenpsychologisch mit nur drei Wänden und gemalten Türen, jener aber mit der vollen Wirklichkeit, nämlich vier Wänden und richtigen Türen operiert hat, wodurch aber, infolge einer Überdimensionalität, die Bühnenwirkung nicht gesteigert, sondern beeinträchtigt wurde. Genauer müßten wir jetzt noch, indem wir Ibsen auf seine dramatische Kapazität prüfen, dessen Unterschied von Schiller dahin präzisieren, daß beide eminente Theatraliker waren, aber Schiller der Theatraliker der Soffitte, der Kulisse und der ausgeschnittenen Tür, Ibsen der Bühnenmeister der festen Decke, der »gebauten« Wand und der massiven Tür, die aber doch eine gestellte Phantasietür ist. Es ist, mit einem Wort, der höchste erreichbare Theaterrealismus.
Diesem unverbrüchlichen und oft sogar ungewollten Realismus gegenüber wirken alle Diskussionen rationalistischer Psychologen höchst deplaciert, sowohl die skeptischen, die mißtrauisch untersuchen, ob auch »alles stimmt«, wie die bejahenden, die begeistert besondere »Feinheiten« konstatieren. Beide Standpunkte beruhen auf einer völligen Verkennung des poetischen Schöpfungsakts. Von den Produkten der Kunst gilt ganz ebenso wie von denen der Natur der aristotelische Satz, daß das Ganze früher da ist als die Teile. Der Grieche war, wie wir im dritten Buche erörtert haben, aufs tiefste davon überzeugt, daß die »Idee«, die »Form«, der »Begriff« (diese drei Vorstellungen bedeuteten für ihn auf geheimnisvolle Weise dasselbe) das Primäre sei, die »Wirklichkeit«, die »Materie«, das »Einzelne« nur die Folge davon. Nicht anders verhält es sich beim Künstler: das Erste, Ursprüngliche und Zeugende ist die »Gestalt«, aus ihr fließen mit unfehlbarer, von ihm unabhängiger Notwendigkeit alle »Züge« und »Handlungen«; sie ist ein Organismus und entwickelt sich daher nicht nach einer mechanischen Kausalität, die von außen lenkbar wäre, sondern nach der »vitalen«, die ihr Gesetz in sich selbst trägt. Infolgedessen muß alles »stimmen« und alles in gleich hohem Maße; und infolgedessen ist alle psychologische Kritik an Kunstwerken nicht etwa »respektlos«, sondern sinnlos, als ein Ausfluß völliger Ignoranz in ästhetischen Dingen. Nicht weniger banausisch aber ist das bewundernde Hinweisen auf »geniale Einzelheiten«, weil in einer echten Dichtung alle Einzelheiten genial sind und keine genialer als die andere. Alle sind genial, weil alle natürlich sind. Alle sind natürlich, weil alle göttlich sind. Lobende oder einschränkende Urteile sind hier ebenso albern wie die ergötzlichen Schöpfungskritiken der Barockdichter, die den Tieren und Pflanzen Zensuren erteilten, zum Beispiel der Raupe wegen ihrer widrigen Erscheinung ernste Mißbilligung aussprachen, hingegen ihrer Metamorphose zum hübschen Schmetterling rückhaltlose Anerkennung zollten.
Es gibt im Leben jedes Menschen zwei Zustände, in denen er ein vollendeter Dichter ist: Traum und Kindheit. Kinder haben niemals schiefe, verengte, leblose Bilder vom Dasein; das glauben bloß die Erwachsenen. Im Traum ist jedermann ein Shakespeare. Leider verlieren die meisten Menschen im wachen und erwachsenen Stadium diese ihnen offenbar angeborene und völlig organische Gestaltungskraft und werden schrecklich talentlos, indem ihr Verstand, dieser feige und impotente Besserwisser, sich überall einmischt. Nur der Künstler, das ewig träumende Kind, bewahrt sich diese Gabe. Und daher ist eine »verzeichnete Dichtung« eine ebensolche Unmöglichkeit wie ein »falscher Traum«. Hingegen sind, ganz wie bei den Erscheinungen des Lebens, Sympathie- und Antipathieurteile ohne weiteres zulässig. Auch hier können uns die Kinder als Lehrer der Ästhetik dienen. Sie hassen den Wolf und die Spinne: in der Natur, in Menschengestalt und in der Dichtung. Und ebenso ist es durchaus denkbar, daß gewisse Dichtungen als »böse« empfunden werden, indem deren Welt von uns verneint wird, womit aber keineswegs ausgedrückt werden soll, daß sie unrichtig sei. Eine Welt kann niemals unrichtig sein.
Gegen diese Theorie, daß alle Figuren und Vorgänge eines Dramas (um zunächst nur bei dieser Kunstform zu bleiben) gleich vollkommen seien, spricht jedoch dreierlei: daß es tatsächlich völlig mißlungene Theaterstücke gibt, daß auch die geglückten von sehr verschiedenem Wert sind und daß selbst die höchsten unter ihnen Nieten enthalten. Diese Einwände beantworten sich jedoch auf sehr einfache Weise. Die »mißlungenen« Theaterstücke sind nämlich überhaupt keine Dichtungen, sondern von diesen ebenso generell verschieden wie eine Gliederpuppe von einem Menschen. Es gibt sehr rohe Puppen und sehr kunstvolle; gemeinsam ist ihnen allen aber, daß sie mechanische Produkte sind. Wodurch erkennt man nun, daß sie es sind? Durch das »Gefühl«, dasselbe Gefühl, das uns noch nie eine Auslagenfigur mit einem Ladenbesucher, ein Panorama mit einer Landschaft hat verwechseln lassen und das untrüglich in jedem Menschen lebt; bloß in den sogenannten »Theaterfachleuten« sehr oft nicht: diese haben nämlich durch das fortwährende Leben im Panoptikum die normale Unterscheidungsfähigkeit eingebüßt. Dies führt uns zu der Erklärung der »Nieten«. Sie stammen nämlich ausnahmslos nicht vom Dichter, sondern von den »Verbesserern«: den Intendanten, Dramaturgen, Regisseuren, Schauspielern, die angeblich den »Notwendigkeiten des Theaters« Rechnung tragen, in Wahrheit den Bedürfnissen ihrer eigenen Kunstfeindlichkeit und eines fiktiven, von ihnen für dumm gehaltenen Publikums. Durch die Jahrhunderte klingt die Klage der Verleger, Zeitungsherausgeber, Konzertagenten, Bühnenleiter: man dürfe dem Publikum nun einmal nichts Neues, nichts Tiefes, nichts Ernstes vorsetzen, sein Geschmack sei immer nur auf platte Unterhaltung, auf Kitsch und Konvention gerichtet. Das ist aber ganz einfach eine Umkehrung des wahren Sachverhalts: die rückständigen, ordinären und oberflächlichen Elemente sind die Fachleute. Das Publikum ist nichts als ein aufgesperrtes Riesenmaul, das alles in sich hineinschlingt, was man ihm vorsetzt. Daß es aber lieber Gutes verschlingt als Schlechtes, steht außer allem Zweifel. Das erweist sich sofort ganz unzweideutig, wenn man den Blick auf größere Zeiträume ausdehnt. Woher kommt es, daß von all den Moderomanen und Theaterschlagern, die seinerzeit so gierig konsumiert wurden, heute nur noch ein paar Seminaristen etwas zu erzählen wissen? Warum leben die erfolgreichen Gassenhauer und Schmachtfetzen zwar in aller Munde, aber immer nur eine Saison lang? Und umgekehrt: gibt es eine einzige Zelebrität, die mehr als hundert Jahre alt ist und nicht verdiente, eine Zelebrität zu sein? Sind Homer und Dante denn nicht wirklich die größten Epiker, Plato und Kant die größten Philosophen? Und wenn man eine Theaterstatistik der letzten hundert Jahre aufstellen wollte, so würde sich als meistgespielter Dramatiker ganz bestimmt Shakespeare herausstellen. Wer hat also diesen Männern den ihnen gebührenden Platz mit so untrüglich sicherem Urteil angewiesen? Etwa die Literaturprofessoren? Die nehmen ein Genie doch erst ernst, wenn es schon der letzte Postbeamte verdaut hat. Niemand anders als das Publikum trifft diese kunstsinnigen und verständnisvollen Entscheidungen; man muß ihm nur ein wenig Zeit lassen. Wird ihm von der niedrigen Gesinnung der sogenannten kompetenten Faktoren minderwertige Nahrung geboten, so akzeptiert es auch diese, aber nur weil es keine bessere bekommt; und früher oder später wird es von seinem Instinkt, trotz allen Hemmungen, die ihm die leitenden Kreise bereiten, doch an die richtige Quelle geführt werden. Es gibt Protisten, die sich zu »Zellvereinen« oder »Zellkolonien« zusammentun: diese Tierchen besitzen dann zwei Seelen, nämlich eine Individualseele und eine sogenannte Zönobialseele, die sich als Gemeingefühl des ganzen Zellenstocks äußert; ähnlich ergeht es dem Menschen als Publikum: zu seiner Individualseele bekommt er eine zweite hinzu: die Publikumsseele, in der der weise Wille der Gattung regiert. Und wenn Chamfort die Frage gestellt hat: wieviel Dummköpfe müssen denn zusammenkommen, damit ein Publikum entsteht?, so ließe sie sich vielleicht dahin beantworten, daß man natürlich nur von Fall zu Fall entscheiden kann, wie viele es sein müssen, daß aber jedesmal, wenn genug von ihnen beisammen sind, etwas entsteht, das viel gescheiter ist als sie.
Was nun noch die unbezweifelbare Hierarchie der dramatischen Dichtungen anlangt, so bedeutet auch sie keine Widerlegung der Ansicht, daß ihnen allen unanfechtbarer Wirklichkeitswert zukomme; denn eine Rangordnung gibt es ja auch in der Wirklichkeit und unter den lebenden Menschen. Wodurch bestimmt sich nun deren verschiedener Wert? Ich glaube: eben durch ihren Gehalt an Realität. Wenn wir zum Beispiel Bismarck mit Bethmann- Hollweg oder Goethe mit Gottsched vergleichen, so müßten wir, wenn wir den Unterschied auf die kürzeste Formel bringen wollten, ganz einfach sagen, daß Goethe und Bismarck die realeren Persönlichkeiten waren. Deshalb hat Nietzsche Napoleon das ens realissimum genannt. Ganz ähnlich ergeht es uns im täglichen Leben. Gewisse Menschen erscheinen uns massiver, beglaubigter, lebender als andere, weil sie einen größeren Bruchteil der Welt spiegeln, sozusagen einen stärkeren Tonnengehalt besitzen. Aber »psychologisch richtig« sind alle.
Für die Tatsache, daß es einem echten Dichter gar nicht möglich ist, eine Figur zu verzeichnen, auch wenn er den besten Willen dazu hat, möchte ich nur ein einziges Beispiel anführen. Alfred Loth in »Vor Sonnenaufgang« ist zweifellos als eine Art Sprachrohr des Dichters gedacht, als der Held des Stücks, der recht behalten soll, mit dem sich Hauptmann geradezu identifiziert. In Wirklichkeit ist er aber ein dürrer und engherziger Prinzipienreiter, der durchaus nicht Anspruch auf unsere ungeteilte Sympathie hat. Im zweiten Akt sagt er zu Helene Krause über »Werther«, das sei ein dummes Buch, ein Buch für Schwächlinge. Als Helene ihn fragt, ob er ihr etwas Besseres empfehlen könne, erwiderte er: »Le ... lesen Sie ... noa! ... kennen Sie den Kampf um Rom von Dahn? Es malt die Menschen nicht, wie sie sind, sondern wie sie einmal werden sollen. Es wirkt vorbildlich.« Und als ihn Helene daraufhin fragt, ob Zola und Ibsen große Dichter seien, antwortet er: »Es sind gar keine Dichter, sondern notwendige Übel, Fräulein.
Ich bin ehrlich durstig und verlange von der Dichtkunst einen klaren, erfrischenden Trunk. Ich bin nicht krank. Was Zola und Ibsen bieten, ist Medizin.« Hier spricht plötzlich nicht mehr die Seele des Dichters, sondern ein aufgeblasener grobdrähtiger Schulmeister. Daß der »Kampf um Rom« dem »Werther« vorzuziehen sei, kann niemals Hauptmanns Ansicht gewesen sein. Was war geschehen? Die Figur hatte sich einfach selbständig gemacht.
Vergleicht man aber nun parallele Gestalten Hauptmanns und Ibsens, so bemerkt man, daß die letzteren mehr Realitätsgehalt besitzen; sie verhalten sich zu jenen wie Rundplastiken zu Reliefs. Gregers Werle und Relling stehen genau so in der »Wildente« wie Loth und Doktor Schimmelpfennig in »Vor Sonnenaufgang«. Aber Schimmelpfennig ist nur ein Profil und eine Diagnose: wir erfahren von ihm bloß, daß er ein skeptischer Landarzt ist und daß die Familie Helenens an Trunksucht leidet. In Relling hingegen ist ein ganzes widerspruchsvolles Menschenschicksal gestaltet und zugleich eine ganze Lebensphilosophie, die denselben Titel führen könnte wie vier der nachgelassenen Abhandlungen Nietzsches: »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«. Und in Gregers Werle vollzieht sich die ganze Leidensgeschichte des tragikomischen Menschheitsapostels, der, umgekehrt wie Mephisto, stets das Gute will und stets das Böse schafft. Oder man vergleiche die Behandlung des Vererbungsproblems in »Vor Sonnenaufgang« und den »Gespenstern«: dort ist es die Angelegenheit eines ärztlichen Pareres und eines monistischen Dogmas, hier der Kreuzungspunkt aller moralischen und sozialen Fragen der Gegenwart; dort wird es auf die denkbar primitivste Weise, hier überhaupt nicht gelöst. Das ist das Verhältnis des Einmaleins zur Wahrscheinlichkeitsrechnung des Infinitesimalkalküls.
Dies ist überhaupt das Unvergänglichste an Ibsens Dramatik, worin er nur bisweilen von Shakespeare erreicht wird: daß es ihm gelingt, die Vieldeutigkeit und Abgründigkeit des Lebens zu wiederholen. Man hat von seinen Menschen den Eindruck, daß sie eigentlich nur bei ihm zu Besuch sind. Sie kommen von irgendwo draußen, gehen eine Zeitlang im Stück herum und begeben sich dann wieder nach draußen. Sie waren auf der Welt, ehe das Stück anfing, und leben weiter, wenn das Stück aus ist. Auch hat man die Möglichkeit, die Bekanntschaft mit ihnen durch öfteres Beisammensein intimer zu gestalten, ganz wie das bei wirklichen Menschen der Fall ist. Ganz auskennen wird man sie aber niemals. So sind zum Beispiel zwei so sachliche und gründliche Kenner Ibsens wie Paul Schlenther und Roman Woerner über die Abstammung der Hedwig Ekdal ganz verschiedener Ansicht; jener hält es für ausgemacht, daß sie die Tochter des alten Werle, dieser, daß Hjalmar ihr Vater ist. Die erstere Auffassung, die sich auf die Vermutung stützt, daß die Augenkrankheit Werles auf Hedwig vererbt sei, ist die allgemein verbreitete; für die letztere läßt sich ihr Zeichentalent anführen und die Tatsache, daß auch die Mutter Hjalmars augenleidend war; nach der allerneuesten Psychologie müßte man auch darauf hinweisen, daß Hedwig in Hjalmar verliebt ist, also offenbar einen »Vaterkomplex« hat; aber man kann auch ebensogut annehmen, daß sie sich in Hjalmar einen »Vaterersatz« geschaffen hat. Derlei Kontroversen wären aber ganz nach dem Geschmack des Dichters; denn er will ja gar keine Klarheit, sondern das Leben. Als er einmal gefragt wurde, ob Engstrand das Asyl angezündet habe, erwiderte er: »Zuzutrauen wär's dem Kerl schon!«
Es ist sogar dem Realismus Ibsens einmal das Unerhörte gelungen, glaubwürdig ein obskures Genie zu schildern. Gewöhnlich sind Tragödien, die sich um ein Manuskript drehen, der Gefahr der Lächerlichkeit ausgesetzt; und überhaupt sind Schriftsteller als dramatische Helden meist undankbare Aufgaben. Für Goethes Tasso ist es, wie schon einmal hervorgehoben wurde, ganz unwesentlich, daß er das »Befreite Jerusalem« geschrieben hat, und Laubes Schiller müssen wir die »Räuber« einfach kreditieren. In »Hedda Gabler« aber sind wir aufs tiefste überzeugt, daß wirklich ein unersetzlicher literarischer Wert verbrannt wird, während wir, um wiederum Hauptmann zum Vergleich heranzuziehen, bei der Arbeit Johannes Vockeradts durchaus nicht an eine überragende Leistung glauben. Ibsen hat aber etwas noch Größeres und Unbegreiflicheres geschaffen: die platonische Idee des Durchschnittsmenschen in Hjalmar Ekdal.
Die Natur, in gewisser Hinsicht äußerst verschwenderisch, ist doch wiederum in anderer Hinsicht ungemein sparsam. Sie streut Tausende von Formen aus, gelangt zu den bizarrsten Bildungen, kann sich gar nicht genug tun in immer neuen Abwandlungen, so daß es bisweilen scheint, als herrsche in ihr derselbe unersättliche Spieltrieb, der den Künstler zu einem so ruhelosen Wesen macht; aber sieht man näher zu, so erkennt man, daß sie bei alledem immer nur einige wenige einfache Gedanken verwirklicht. So geht zum Beispiel durch die fast unübersehbare Fülle von Gestalten, die wir unter dem Namen der Säugetiere zusammenfassen, ein einziges sehr leicht übersehbares Bildungsgesetz, sie sind alle nach demselben einförmigen Bauplan geschaffen: immer wird der Hals aus sieben Wirbeln gebildet, ob es sich um einen Maulwurf oder eine Giraffe handelt, immer besteht das Herz aus zwei Kammern und zwei Vorkammern, beim Elefanten wie beim Eichhörnchen. Und ganz ebenso ist die Natur beim Menschen verfahren. Denn obwohl es nicht zwei menschliche Seelen gibt, die einander völlig gleichen, so kehren doch in dem Ungeheuern und vielfach gestuften Geisterreich dieselben Typen immer wieder. Es gibt im Grunde nur drei: den Idealisten, den Realisten und den Skeptiker.
Die drei größten Dichter der germanischen Rasse haben diese drei Kristallisationsformen der menschlichen Seele in drei leuchtenden Gestalten verkörpert. Shakespeare schuf die Figur des Skeptikers in Hamlet, Goethe die Figur des Idealisten in Faust und Ibsen die Figur des Realisten in Hjalmar. Hamlet ist ein Aristokrat der elisabethinischen Renaissance, jene merkwürdige Kreuzung aus Bigotterie und Freidenkertum, die damals emporkam: er glaubt zwar noch an Gespenster, aber er hat auch schon Montaigne gelesen. Indes ist er doch auch unendlich viel mehr; er ist einfach der Mensch, der zu viel weiß, um noch handeln zu können, sagen wir rund heraus: der Kulturmensch. Er könnte auch heute auf der Straße spazieren gehen: in Paris, in Berlin, in London und im Garten des Epikur und in den amerikanischen Wäldern Thoreaus und zu jeder Zeit, die reif genug ist, um Menschen hervorzubringen, die der Welt des Irrsinns und Verbrechens, in der sie leben, müde und überlegen ins Auge blicken. Hebbel hat die Fausttragödie das vollkommenste Gemälde des Mittelalters genannt, was zweifellos richtig ist; aber sie ist auch das vollkommenste Gemälde des achtzehnten Jahrhunderts und das vollkommenste Gemälde des neunzehnten. Faust ist Abälardus und Thomas Aquinas, aber auch Fichte und Nietzsche, sagen wir kurz: das Genie. Und sein Gegenspieler Hjalmar besitzt die überhaupt vollkommenste Ubiquität, die sich denken läßt. Er ist der Mensch, der mit der gegebenen Wirklichkeit kreuzzufrieden ist, nie verlegen um eine schmackhafte Auslegung peinlicher Sachen, Virtuose im Vorbeisehen an strapaziösen Verantwortungen und stets darauf bedacht, sich das Leben mit billiger Poesie zu verhängen wie mit einer Art lichtdämpfender Glasmalerei, mit einem Wort: der Philister. Können wir uns denken, daß er in irgendeiner Sphäre der menschlichen Kultur nicht bestanden, ja daß er nicht zu allen Zeiten den Grundstock der Menschheit gebildet hat? Er ist die fleischgewordene Gewöhnlichkeit, aber der Dichter zeigt seine Unvergänglichkeit.
Dies sind die drei Typen der Menschheit. Oder vielmehr: es sind die drei Seelen, die in jedem Menschen wohnen, ihn aufbauen und sich in ewigem Kampf und Gleichgewicht befinden. Wer hätte nicht schon gesagt: »Aber wozu eigentlich? Wir sind ein Narrenhaus. Warum sich hineinmischen? Alles das hat ja gar keinen Sinn.« In diesem Augenblick war er Hamlet. Wer hätte nicht schon gesagt: »Alles ganz schön. Aber jetzt möchte ich ein Butterbrot und eine Flasche Bier.« In diesem Augenblick war es Hjalmar. Und wer hätte nicht trotzdem immer wieder empfunden: »Einerlei. Wir müssen weiter, hinauf! Dazu sind wir auf der Welt.« In diesem Augenblick war er Faust. Was ist nun der wahre Sinn des Lebens: die reife Skepsis, das ewige Streben oder das Butterbrot? Der Dichter antwortet: »Wir sind Menschen. Wir müssen zweifeln. Wir müssen streben. Wir müssen Bier trinken.«
Nichts hat, merkwürdigerweise, die Norweger so erbittert wie die Tatsache, daß der größte Gestalter des scheidenden Jahrhunderts ein Norweger war: schon sein Debüt auf dem Theater erregte die heimische Entrüstung, die sich von Drama zu Drama steigerte; der »Bund der Jugend« konnte bei der Uraufführung in Christiania kaum zu Ende gespielt werden; die Haltung, die die »kompakte Majorität« gegen die »Gespenster« einnahm, gab Ibsen die Idee zum »Volksfeind«. Der Dichter verließ das undankbare Vaterland und wurde in Rom und München Kosmopolit. Aber nun ereignete sich etwas, das man die Rache Norwegens nennen könnte. Alle modernen Dramen Ibsens spielen nämlich in Norwegen, nicht bloß äußerlich, was ganz gleichgültig wäre, sondern auch innerlich: das Nora-, das Alving-, das Stockmann-, das Heddaproblem ist nur in dieser Europaferne und Halbinselenge, diesen verhängten Himmelsgegenden und verlegten Meerbuchten, dieser verschnörkelten Duodez- und Winkelwelt möglich. Nicht als ob diese Konflikte: Weib und Ehe, Individuum und Masse, Genie und Welt nicht allgemein menschliche wären, aber sie würden sich in Paris in anderer Färbung und Perspektivik, unter anderen Atmosphärilien abspielen. Und daher ist paradoxerweise Sardou bei aller Oberflächlichkeit seiner Menschenbelichtung, Billigkeit seiner Philosophie, Brutalität seiner Lösungen, Rückständigkeit seiner Mechanik der europäischere Dramatiker.
Es ist sehr oft auf gewisse Zusammenhänge zwischen Ibsen und der französischen Sittenkomödie hingewiesen worden. Daran ist so viel wahr, daß Ibsen in der Tat deren Technik, als die für die bürgerliche Guckkastenbühne gegebene, unentbehrliche und einzig mögliche, übernommen und aufs höchste vergeistigt hat. Alle stehenden Figuren des Pariser Gesellschaftsdramas kommen, durch meisterhafte Charaktermasken gehoben, bei ihm wieder zum Vorschein: der Räsonneur (Lundestad, Relling, Brack, Mortensgard), der falsche Biedermann (Stensgaard, Bernick, Peter Stockmann, Werle), der confident (Doktor Herdal, Foldal), der edle déraciné (Brendel, Lövborg), die mangeuse d'homme (Hedda, Rita), die geläuterte Gefallene (Rebekka), die incomprise (Ellida, Nora), die ingénue (Hilde Wangel). Ferner gibt es bei ihm auch die Technik der Entlarvung: im »Bund der Jugend« und in den »Stützen der Gesellschaft« noch ganz deutlich, in »Puppenheim«, »Volksfeind«, den »Gespenstern« und der »Wildente« verdeckter. Ja sogar die von den Franzosen erfundene »Technik der Metapher« hat er akzeptiert, wobei man aber am deutlichsten sehen kann, um wie viele Stufen er sich über seine Vorbilder erhoben hat. Diese besteht darin, daß irgendein Gleichnis, Bild oder Aperçu in das Zentrum der Handlung und zumeist auch in den Titel gesetzt wird. Das klassische Beispiel hierfür ist »Demi-monde«. Dort sagt der Räsonneur plötzlich: »Lieben Sie Pfirsiche? Also: Sie gehen zu einem Obsthändler und verlangen seine beste Sorte. Er wird Ihnen einen Korb mit wundervollen Früchten bringen, die durch Blätter getrennt sind, damit sie einander nicht durch die Berührung verderben: sie kosten, sagen wir, zwanzig Sous das Stück. Sie blicken um sich und bemerken bestimmt in der Nähe einen zweiten Korb mit Pfirsichen, die, von den anderen kaum zu unterscheiden, bloß enger aneinandergepreßt sind. Sie erkundigen sich nach dem Preis: fünfzehn Sous. Sie fragen natürlich, warum diese Pfirsiche, ebenso schön, ebenso groß, ebenso reif, ebenso appetitreizend, weniger kosten als die anderen? Darauf wird Ihnen der Verkäufer einen ganz kleinen schwarzen Fleck zeigen, der der Grund des niedrigeren Preises ist. Sehen Sie, mein Lieber: Sie befinden sich hier in dem Korb der Pfirsiche zu fünfzehn Sous. Die Frauen, die Sie umgeben, haben alle einen kleinen Fehler in ihrer Vergangenheit, einen kleinen Fleck auf ihrem Namen; sie drängen sich aneinander, damit man es so wenig wie möglich bemerke, und obgleich sie dieselbe Herkunft, dasselbe Exterieur, dieselben Manieren und Vorurteile besitzen wie die große Gesellschaft, befinden sie sich doch nicht mehr darin und bilden das, was man die Halbwelt nennt, die weder Aristokratie noch Bourgeoisie ist, sondern wie eine schwimmende Insel im Ozean von Paris treibt.« Nach Dumasscher Technik müßte Relling etwa sagen: »Haben Sie schon einmal eine Wildente beobachtet? Nun denken Sie sich: sie wird angeschossen. Eine Zeitlang wird sie vom blauen Himmel träumen, vom tiefen Teich und vom dichten Schilf, in dem sie sich tummelte. Aber allmählich wird sie die Freiheit vergessen und zufrieden und fett ihren dumpfen Stall in der Dachkammer für die Welt halten. Eh bien, mon cher: wir befinden uns in einem Wildentenstall.«
Ist der Parallelismus zwischen der französischen und der Ibsenschen Technik nur unter sehr beträchtlichen Vorbehalten gültig, so ist die ebenfalls sehr häufig angestellte Vergleichung mit der antiken Dramenführung völlig deplaciert. Denn während die griechische Tragödie bloß zu einem längst bekannten Resultat auf kunstvolle Weise einen neuen Weg entwickelt, wird bei Ibsen dieser Weg selbst erst entschleiert; dort handelt es sich um die originelle Ableitung einer eingelebten Kultwahrheit, hier um die unantik spannende Auflösung eines Rebus. Beide Formen sind »analytisch«, aber so verschieden wie geometrische und chemische Analyse, indem dort eine gegebene rationelle Gleichung bloß anschaulich nachkonstruiert, hier ein unartikulierter Tatbestand erst beobachtet und ergründet wird; dort erfährt man die Motivation, hier die Konstitution. Die Entwicklung ist im »Ödipus« ein dialektischer, in den »Gespenstern« ein experimenteller Prozeß; es besteht ein ähnliches Verhältnis wie zwischen hesiodischer und darwinischer Kosmogonie, zwischen der Idee bei Plato, die der zeugende Urgrund, und der Idee bei Kant, die das gesuchte Endziel ist.
Um das wahre Vorbild Ibsens zu finden, braucht man weder nach Paris noch nach Athen zu gehen: es ist die isländische und norwegische Saga seiner Heimat, die Ballade. Mit ihr hat er alle Züge gemeinsam, die für seine innere Grundform entscheidend sind: das schwüle Drängen auf die Katastrophe, die von Anfang an so gewiß ist, daß, wie man freilich erst später erkennt, das Drama mit ihr anhebt; den immer wieder, immer drohender auftauchenden Refrain; die schlagende Konzentration; das doppelte Dunkel der Änigmatik und Tragik; die latente Romantik. Wer vermöchte heute noch daran zu zweifeln, daß die Geschichte von Ellida und dem fremden Mann, von der kleinen Hilde und dem großen Solneß eine Romanze ist, daß die weißen Rosse von Rosmersholm und die Rattenmamsell aus der Polterkammer stammen und daß die »Gespenster« ein wirkliches Gespensterstück sind? Es sind, was sie nur um so großartiger und unbegreiflicher macht, Nixen im Waschkleid, Nachtmahre im Bratenrock, Legenden im elektrischen Licht.
Ganz unvergleichlich ist hierbei die Durchdringung von Realität und Symbolität. Wir haben darauf hingewiesen, daß selbst ein so penetranter Naturalist wie Zola ganz wider Willen und gleichsam unter der Hand zu großen Personifikationen gelangte. Doch sind diese bei ihm mechanische Produkte der Summierung, ungeheure Kollektivwesen, daher bloß rationale »Wahrzeichen« oder bestenfalls kalte Allegorien. Bei Ibsen aber haben sie die volle Irrationalität, Doppelbodigkeit und Unheimlichkeit des Zaubermärchens. Sie werden, in einer aufsteigenden Reihe, immer geheimnisvoller und dabei, merkwürdigerweise, konkreter. Man braucht sie bloß zu nennen: die lecke »Indian girl« in den »Stützen«; das »Puppenheim«; des Kammerherrn Alving brennendes Asyl; die verseuchte Badeanstalt im »Volksfeind«; der Dachboden in der »Wildente«; Rosmersholm; das Meer in der »Meerfrau«; der Turm in »Baumeister Solneß«: lauter phantastische, alltägliche, irreale, greifbare Schreckgebilde.
Wie bei Nietzsche lassen sich auch bei Ibsen ziemlich deutlich drei Perioden unterscheiden: die erste, 1863 bis 1873, umfaßt im wesentlichen die großen Historien und Versdichtungen, die zweite, die bis 1890 reicht, die revolutionären Gesellschaftsdramen, die letzte die mystischen Dichtungen. Von 1877 bis 1899 hat Ibsen mit großer Regelmäßigkeit alle zwei Jahre ein neues Stück erscheinen lassen, das immer in irgendeiner Weise die Fortsetzung eines vorhergehenden war. Aber alle haben im Grunde dasselbe Thema, das er in einem Brief an Brandes in die Worte zusammengefaßt hat: »Überhaupt gibt es Zeiten, wo die ganze Weltgeschichte mir wie ein einziger großer Schiffbruch erscheint es gilt, sein Selbst zu retten.« Der Ton, der durch alle späteren Werke weiterklingt, ist schon in seinem ersten Drama »Catilina« angeschlagen, dessen Held als der Typus des nihilistischen Gesellschaftsfeinds gilt, eigentlich aber, zumindest in der Auffassung Ibsens, ein revolutionärer Neuschöpfer sein wollte. In Ibsen, dem grübelnden Kämpfer aus Nordland, ist wieder einmal der protestantische Geist des Protestes Fleisch geworden, der Geist Luthers und Huttens, Miltons und Carlyles; und der Geist der kantischen Höhenmoral, wie sie in Brand und Rosmer lebt. »Ich empfing die Gabe des Leids«, sagt Jatgejr, »und da ward ich Skalde. Es mag andere geben, die den Glauben oder die Freude brauchen - oder den Zweifel. Aber dann muß der Zweifler stark und gesund sein.« Dieser unbändige, lebensstarke Zweifel, der furchtlos mit allem ringt, auch mit sich selbst, war Ibsens Kraftborn; aus ihm schöpfte er seine dunkeln Lieder, die die Welt erleuchteten. Die bösen Geister aber, gegen die er auszog, waren die »Ideale«, auf denen sich das satte Zeitalter zur Ruhe gesetzt hatte. Mit unermüdlichem Hohn wies er auf ihre Fadenscheinigkeit, ihre Leere, ihre Verlogenheit und auf die Notwendigkeit neuer Sternbilder. Aber mit diesen neuen Idealen ist er nie recht zustande gekommen. Daher konnte auch Hermann Türck in seinem gar nicht schlechten Buch »Der geniale Mensch« ihn als Typus des Anarchisten und »Misosophen« hinstellen, freilich ohne zu bedenken, daß gerade sein ungeheures moralisches Verantwortungsgefühl ihm das Verneinen näher legte als das Aufbauen. Doktor Allmers, der Held von »Klein Eyolf«, arbeitet an einem Buch über die menschliche Verantwortung, das nie fertig wird. An diesem Buch hat auch Ibsen sein Leben lang geschrieben; aber es ist nie komplett erschienen. Seine letzten Geheimnisse hat dieser große Zauberer ins Grab genommen. Aus Scham, wie der Skalde Jatgejr; aus Stolz, wie Ulrik Brendel, der von sich sagt: »Meine bedeutsamsten Werke, die kennt weder Mann noch Weib. Kein Mensch außer mir. Weil sie nicht geschrieben sind. Und warum sollte ich auch meine eigenen Ideale profanieren, wenn ich sie in Reinheit und für mich allein genießen konnte?«; vielleicht auch ein bißchen aus Schadenfreude. Vor allem aber, weil er ein großer Dichter war. Denn die tiefsten Dichtungen sind nur mit dem Herzen aufgezeichnet und haben eine Scheu davor, zu Buchstaben zu gefrieren. Seine letzte geoffenbarte Weisheit verkündet der Held seiner letzten Dichtung: »Wenn wir Toten erwachen, dann sehen wir, daß wir nicht gelebt haben.« Dieses Werk nannte er selbst einen Epilog, und es erschien, wiederum ein Vorgang von hoher Symbolik, genau am Schluß des Jahrhunderts, in den letzten Dezembertagen des Jahres 1899.
Eine Art Epilog enthält aber auch schon die Schlußszene seines vorletzten Dramas. Seltsam gemahnt Borkmans Tod an das Ende Tolstois. In beiden erwacht, kurz vor ihrem Verlöschen, ein geheimnisvoller Wandertrieb: sie verlassen das schützende Dach ihres Hauses und irren hinaus in die unwirtliche Ferne. Es ist eine Art Flucht aus der Realität.
»(Die Landschaft, mit Abhängen und Höhenzügen, verändert sich fortwährend langsam und nimmt einen immer wilderen Charakter an.) Ella Rentheims Stimme: Aber warum brauchen wir denn so hoch zu steigen? Borkmans Stimme: Wir müssen den gewundenen Pfad hinauf. (Sie sind bei einer hochgelegenen Lichtung im Walde angelangt.) Ella: Auf der Bank da saßen wir oft zuvor. Borkman: Es war ein Traumland, in das wir damals hinausblickten. Ella: Das Traumland unseres Lebens war es. Und jetzt ist das Land mit Schnee bedeckt. Und der alte Baum ist abgestorben. Borkman: Siehst du den Rauch, der von den großen Dampfschiffen aufsteigt, draußen auf dem Wasser? Ella: Nein. Borkman: Ich sehe ihn. Sie kommen und sie gehen. Sie knüpfen Bündnisse über die ganze Erde. Und dort unten am Fluß hörst du? Die Fabriken sind im Gang. Meine Fabriken! Die Räder wirbeln und die Walzen blitzen immer im Kreis, immer im Kreis! Siehst du die Bergketten dort in der Ferne? Die eine hinter der andern. Sie erheben sich. Sie türmen sich. Dort ist mein tiefes, endloses, unerschöpfliches Reich! Ella: Ach, John, es haucht einen aber so eisig an von dem Reiche her! Borkman: Der Hauch wirkt auf mich wie Lebensluft. Der Hauch weht mir entgegen wie ein Gruß von untertänigen Geistern. Ich liebe euch, ihr lebenheischenden Werte mit all euerm glänzenden Gefolge von Macht und Herrlichkeit! Ich liebe, liebe, liebe euch! (Schreit auf und greift sich an die Brust.) Ah! Ella: Was war das, John! Borkman: Es war eine Eishand, die mich ums Herz packte. Nein, keine Eishand. Eine Erzhand war es. Frau Borkman (kommt zwischen den Bäumen zum Vorschein): Schläft er? Ella: Einen tiefen und langen Schlaf, glaube ich. Frau Borkman: Ella! (gedämpft) Geschah es freiwillig? Ella: Nein. Frau Borkman: Also nicht durch eigene Hand? Ella: Nein. Es war eine eisige Erzhand, die ihn ums Herz packte. Es war die Kälte, die ihn tötete. Frau Borkman: Die Kälte die hatte ihn schon längst getötet. Ella: Ja, und uns zwei in Schatten verwandelt. Frau Borkman: Da hast du Recht. Und so können wir zwei einander die Hände reichen, Ella. Wir Zwillingsschwestern über ihn hinüber, den wir beide geliebt haben. Ella: Wir zwei Schatten über ihn, den Toten. (Frau Borkman, die hinter der Bank, und Ella, die davor steht, reichen einander die Hände.)«
Dieses Finale (das gekürzt wiedergegeben wurde, um den Leitgedanken stärker hervortreten zu lassen) bildet das vollkommene Gegenstück zun Schluß des »Faust«. Dieser klingt in den höchsten Optimismus aus, in dieselbe beglückende Vision menschlicher Tatkraft und Arbeit, die Ella Rentheim erschaudern macht, denn was einst Traumland war, ist nun mit Schnee bedeckt, und der Lebensbaum der Menschheit ist abgestorben. Immer im Kreis drehen sich die Räder und Walzen, immer im Kreis: zum sinnlosen Selbstzweck geworden. Borkman hebt diese Werte einer scheinbaren Macht, für ihn sind sie Lebensluft: aber was er für Leben hält, ist der Tod. Die Eishand der Herzenskälte packt ihn, die Erzhand der Materie. Und zurück bleiben Schatten über einem Toten. Borkman hat in der Tat dort fortgesetzt, wo Faust aufgehört hat. Den ganzen Planeten wollte er der menschlichen Kraft unterwerfen, der Erde ihre Schätze entreißen, das Meer, die Berge, den Himmel zur Brücke, die Nacht zum Tage, alles Land zum Fruchtgarten machen. Und das Ende war die bittere Weisheit des Herzogs in »Maß für Maß«: »du bist der Narr des Todes nur.« Wir sagten im ersten Buche, der »Faust« sei ein Kompendium der Neuzeit. »John Gabriel Borkman« ist deren Testament.
In diesem Zusammenhang erschließt sich uns die eigentlichste Bedeutung Ibsens: er war, nächst Shakespeare, der größte Historiendichter des neueren Europa. Ganz wie dieser wird er erst zur vollen Wirkung gelangen, wenn die Kleider seiner Gestalten Kostüm geworden sind. Ihn »modernisieren« zu wollen, ist eine ebenso kunstfremde Spielerei wie der »Hamlet im Frack«. Oswald und Hjalmar können nur in Samtjoppe und flatternder Lavallièrekrawatte, Bernick und Borkman nur in altmodischem Gehrock und weißer Atlasbinde glaubhaft wirken, wie Nora nur in Cul und Ponyfrisur und Hedda in Prinzeßkleid und Chignon. Wenn diese Tracht dem Publikum einmal so fern sein wird wie die Adrienne der Lady Milford und der Haarbeutel Franz Moors, wird es erkennen, daß es sich um Ewigkeitsdichtungen handelt, obgleich oder vielmehr weil sie vom Dichter ebenso als tendenziöse Zeitdichtungen konzipiert wurden wie die Räuber und Kabale. Waren denn Shakespeares Königsdramen, Kleists »Hermannsschlacht« und »Prinz von Homburg« nicht ebenfalls tendenziös, ja geradezu parteipolitische Reißer? Wir bemerken das nur heute nicht mehr. Denn die »Ideen«, die damals die Hauptsache waren, sind verweht, die Menschen, die bloß ihre Träger waren, sind geblieben. Es wäre aber gleichwohl sehr töricht, wenn man bedauern wollte, daß diese Dichter nicht sogleich bloß »gestaltet« haben; denn gerade diese vergänglichen Ideen waren es, die dem Werk den unvergänglichen Elan, die Kraft zur Gestalt, das »Stichwort zur Leidenschaft« verliehen. Wir empfinden vorläufig bei Ibsen nur, daß seine Probleme nicht die Probleme unserer Zeit sind; aber eines Tages wird man an ihm gerade am meisten bewundern, wie erschütternd plastisch er die Probleme seiner Zeit gestaltet hat. Und hier befindet sich auch der Schlüssel für die sonderbare Kurve der öffentlichen Anerkennung, die, wie im vorigen Kapitel dargelegt wurde, bei fast allen großen Dramatikern zu beobachten ist. Zunächst wirken sie als schreckenerregende Revolution, lebensgefährliches Attentat auf alles Bisherige und werden daher aufs erbittertste bekämpft; dann erkennt man in ihnen die geistigen Befreier und feiert sie überschwänglich wie Messiasse; hierauf wendet man sich, in dem Maße, als das von ihnen verfochtene neue Weltbild sich eingelebt hat, von ihnen als großen Überflüssigkeiten, Megaphonen ausgelaugter Binsenwahrheiten ab; und schließlich gelangt man zu der einzig angemessenen Würdigung: der rein menschlichen und künstlerischen. Man erkennt ihren wahren Wert darin, daß sie die stärksten, schärfsten und reinsten Spiegel ihrer Zeit waren, eine Art Riesenteleskope, durch die man in die Vergangenheit blicken kann. Und man erkennt, daß sie die größten Menschen ihrer Zeit waren. Auch die Dichter sind nichts Vollkommenes, nur flackernde, suchende Irrlichter, Zwittergeburten aus Wunsch und Irrtum. Aber daß sie, sie allein unter allen, wahr, daß sie ganz waren, kann nie vergessen werden. Es bleibt; und wird hinüberspringen von einer Milchstraße zur anderen.
Von Ibsens Dramen der ersten Periode fanden zunächst nur die »Kronprätendenten« den Weg auf die deutsche Bühne, indem man sie offenbar mit jenen staubigen Ritterstücken verwechselte, die damals sehr beliebt waren: sie kamen bei den Meiningern und im Burgtheater zur Aufführung. Die elende Übersetzung begann bereits beim Titel: ein so moderner Begriff wie »Prätendenten« wirkt vollkommen irreführend (wir haben bereits erwähnt, daß der Name des Stücks unübersetzbar ist: er heißt wörtlich »Königsmaterie« oder »Holz, aus dem Könige geschnitzt werden«; am ehesten könnte man es vielleicht »Der Königsgedanke« nennen, denn um diesen geht die ganze innere Handlung). Die »Stützen« wurden 1878, bereits ein Jahr nach ihrem Erscheinen, in Berlin an drei Bühnen gleichzeitig aufgeführt (da skandinavische Literaturprodukte damals in Deutschland noch nicht geschützt waren), wiederum in einer miserablen Reclamübersetzung. Auch das »Puppenheim« erschien schon ein Jahr nach der norwegischen Ausgabe, 1880, bei Reclam und auf mehreren großen deutschen Bühnen, in Wien bei Laube, in Berlin mit Hedwig Niemann-Raabe. Beide Male wurde der Titel in »Nora« verwässert und der Dichter zu einer Fälschung des Schlusses überredet: Nora bleibt, der Kinder wegen (was, wenn man sich überhaupt auf eine Diskussion einlassen will, schon als bloße Motivierung das ganze Stück umwirft, denn sie geht ja eben der Kinder wegen, weil sie erkennt, daß sie moralisch noch nicht Mutter ist). Hier zeigte sich wieder einmal ganz deutlich, daß Laube, in der Beurteilung schauspielerischer Talente von genialem Flair, für dramatische Dichtkunst nur den stumpfen Blick des Theaterzimmermanns aufzubringen vermochte. Die gefeierte Francillon hatte erklärt, auf diesem Schluß bestehen zu müssen, weil sie ihre Kinder nie verlassen würde: sehr interessant, aber mehr eine Privatangelegenheit; auch hatte sie bei den französischen Lebedamen derartige Inkongruenzen mit ihrer eigenen Biographie nie als Hemmungen empfunden.
Über die »Gespenster« sagte Paul Heyse: »solche Bücher schreibt man nicht«; was von ihm aus ganz richtig war. Diese, 1881 erschienen, wurden erst 1886 zum erstenmal deutsch gespielt: von den Meiningern, die sie im Januar 1887 auch in Berlin vorführten, aber nur in einer einzigen Matinee, da die Zensur mehr Aufführungen nicht gestattete; auch die »Wildente« durfte, im Herbst 1888, bloß einmal an einem Vormittag gespielt werden. Der »Frau vom Meere« hingegen öffnete sich im März 1889 das Königliche Hoftheater, allerdings nur zu einer richtigen Hoftheateraufführung, in der bloß Emanuel Reicher als Wangel und Paula Conrad als Hilde ernst zu nehmen waren. Dasselbe Jahr aber brachte den Durchbruch mit der Eröffnung der »Freien Bühne«.
Die Natur, die sich immer nur vorübergehend ihre Rechte schmälern läßt, trat wieder in ihre Herrschaft ein, ein wilder Heißhunger nach Realität brach hervor und wurde die Signatur der Zeit. Und wiederum, wie schon so oft, glaubte die junge Generation, sie hätte die Natur zum erstenmal entdeckt. Die ganze Bewegung ist infolge ihrer elementaren Heftigkeit sehr überschätzt worden, sie war im Grunde nur ein Gegenstoß, der seine lebendige Energie weniger aus sich selbst als aus der Gewalt des Zusammenpralls zog; aber sie hat sehr reinigend gewirkt. Den Anfang machte Michael Georg Conrad in München mit der Begründung der Zeitschrift »Die Gesellschaft«: »Wir wollen«, hieß es im Geleitwort, »die von der spekulativen Rücksichtnehmerei auf den schöngeistigen Dusel, auf die gefühlvollen Lieblingstheorien und moralischen Vorurteile der sogenannten Familie arg gefährdete Mannhaftigkeit im Erkennen, Dichten und Kritisieren wieder zu Ehren bringen ... Fehde dem Verlegenheitsidealismus des Philistertums, der Moralitätsnotlüge, der alten Parteien- und Cliquenwirtschaft.« Bald darauf konstituierte sich in Berlin der Verein »Durch«, dem unter anderen Arno Holz, die Brüder Hart, Bruno Wille, Wilhelm Bölsche angehörten; sein Leitsatz lautete: »Unser höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die Moderne.« In diesem Sinne verfiel der Klassizismus einer betonten Geringschätzung, die sich besonders gegen Schiller richtete: in Otto Ernsts Lustspiel »Jugend von heute« nennt ihn ein Vertreter der Moderne einen »Blechkopp«, und Gottfried Keller geriet einmal im Bierhaus durch einen fremden jungen Mann, der sich am Nebentisch ähnlich äußerte, in solche Rage, daß er ihm eine Ohrfeige versetzte. Otto Julius Bierbaum hat in seinem Roman »Stilpe« den Frontwechsel der damaligen Jugend recht anschaulich geschildert: vier Gymnasiasten gründen einen Verein, der in doppeltem Sinne »Lenz« heißt: zur Bezeichnung des geistigen Frühlings und des literarischen Hauptheiligen; in diesem Debattierklub wird »Herr Schillinger, der Dichter des p.p. Wallenstein« vernichtet und über Themen folgender Art gehandelt: »Die Wahrheit als einziges Prinzip der Kunst«, »Inwieferne Naturalismus und Sozialismus Parallelerscheinungen sind«, »Emile Zola und Henrik Ibsen: die Tragesäulen der neuen Literatur«, »Worin liegt die Gemeingefährlichkeit des sogenannten Idealismus?«; »gewisse Namen durften bei hohen Strafen bis zu zwanzig Pfennigen unter ihnen nicht genannt werden, so Paul Heyse und Julius Wolff«. Das lyrische Signal hatte Hermann Conradi gegeben, der 1890, erst achtundzwanzigjährig, an den Folgen eines Selbstmordversuches starb. In seinen »Liedern eines Sünders« heißt es: »Die Zeit ist tot, da große Helden schufen. Die Zeit ist tot die Zeit der großen Seelen, wir sind ein ärmlich Volk nur von Pygmäen. Was wir vollbringen, tun wir nach Schablonen, und unsere Herzen schreien nach Gold und Dirnen. Wir knien alle vor den Götzen nieder und singen unserer Freiheit Sterbelieder.« 1889 erschien »Papa Hamlet«, eine streng naturalistische psychopathologische Skizze von Bjarne P. Holmsen, hinter welchem (bezeichnenderweise norwegischen) Pseudonym sich Arno Holz und Johannes Schlaf verbargen; in der Widmung von »Vor Sonnenaufgang«, die in den späteren Auflagen entfernt wurde, spricht Gerhart Hauptmann, »in freudiger Anerkennung« von der »durch das Buch empfangenen entscheidenden Anregung«. 1890 folgte die »Familie Selicke«, ein Zustandsdrama im rigorosesten Berliner Jargon; es ist Christabend wie im »Friedensfest«, das häusliche Bild ebenso unerquicklich: der Vater, trinkender Buchhalter in ärmlichen Verhältnissen und unglücklicher Ehe, nähert sich, wie in »Vor Sonnenaufgang«, erotisch der Tochter, die, Märtyrerin, bis in die Nacht hinein näht und opfermutig auf den cand. theol., den sie liebt, verzichtet; das jüngere Töchterchen, krank im Bette, stirbt. 1891 kam es zwischen Holz und Schlaf zum Bruch, weil zwei Doktrinäre sich nie vertragen können, auch wenn sie derselben Meinung sind, und der 1892 erschienene »Meister Ölze« war von Schlaf allein gezeichnet: au fond ein Kolportagestück, in dessen Mittelpunkt ein Giftmord wegen drohender Testamentsänderung steht, daneben eine Schwindsuchts- und Dialektstudie, als Ganzes von quälendster Trivialität. Gleichwohl wirkten diese Werke in ihrer bis zur Roheit herben Unsentimentalität und bis zur Pedanterie gewissenhaften Beobachtungstreue wie eine Befreiung.
Am 30. September 1889, im Säkularjahr der Französischen Revolution, wurde die »Freie Bühne« eröffnet, die in ihrer Art auch ein Bastillensturm war. In ihrem Prospekt hieß es: »Uns vereinigt der Zweck, unabhängig von dem Betriebe der bestehenden Theater und ohne mit diesen in einen Wettkampf einzutreten, eine Bühne zu begründen, welche frei ist von den Rücksichten auf Theaterzensur und Gelderwerb. Es sollen während des Theaterjahres in einem der ersten Berliner Schauspielhäuser etwa zehn Aufführungen moderner Dramen von hervorragendem Interesse stattfinden, welche den ständigen Bühnen ihrem Wesen nach schwerer zugänglich sind.« Die erste Vorstellung waren die »Gespenster« mit Emerich Robert vom Burgtheater, der der tragischste und unwirklichste Schauspieler seines Zeitalters war, als Oswald, dem prachtvollen alten Kraußneck, der noch bis vor kurzem am Berliner Staatstheater wirkte, als Manders, dem berühmten Charakterspieler Lobe als Engstrand, der Sorma als Regine, Marie Schanzer, der Gattin Hans von Bülows, als Frau Alving: diese etwa ausgenommen, war es wohl die beste Besetzung, die sich damals denken ließ. Am 20. Oktober folgte die denkwürdige Uraufführung von »Vor Sonnenaufgang«, deren Eindruck Fontane in die Worte zusammenfaßte, Gerhart Hauptmann sei »ein stilvoller Realist, das heißt: von Anfang bis zu Ende derselbe«. Es ereigneten sich einige Zwischenfälle, die, damals sehr ernst genommen, im Rückblick nur noch erheiternd wirken. Im dritten Akt sagt Hoffmann zu Loth: »Ich sage: man sollte Euch das Handwerk noch gründlicher legen, als es bisher geschehen ist, Volksverführer! die Ihr seid. Was tut Ihr? Ihr macht den Bergmann unzufrieden, anspruchsvoll, reizt ihn auf, erbittert ihn, macht ihn aufsässig, ungehorsam, unglücklich, spiegelt ihm goldene Berge vor und grapscht ihm unter der Hand seine paar Hungerpfennige aus der Tasche«; worauf donnernder Applaus erfolgte: Schlenther macht hierzu in seiner Broschüre »Genesis der Freien Bühne« die treffende Bemerkung: »Während man Herrn Gerhart Hauptmann im Eifer des Kampfes ohne weiteres mit seinem Loth identifizierte, schien man ganz vergessen zu haben, daß aus demselben Dichtergeiste auch der gefeierte Hoffmann geboren war ... Der glänzende Erfolg, den sein Hoffmann fand, wird ihn ermutigen, fortan auch seine Loths lebendiger, ganzer zu gestalten.« Im fünften Akt griff entscheidend Doktor Castan ein, der, im Nebenberuf praktischer Arzt, im Hauptamt berüchtigter Premierentiger, sich hierdurch in der Geschichte der naturalistischen Bewegung einen dauernden Platz gesichert hat. Schon nach dem zweiten Akt hatte er sich zu dem kränkenden Ausruf »Bordell!« hinreißen lassen, der aber eigentlich nur eine lieblose, obschon berechtigte Kritik an der Familie Krause bedeuten konnte. Als intimer Kenner des Buches wußte er, daß im letzten Akt das Wimmern der Wöchnerin aus dem Nebenzimmer hörbar werden soll. Obgleich dies bei der Aufführung wegblieb, ließ er sich hierdurch in seinem Programm nicht stören, sondern brachte an der betreffenden Stelle eine umfangreiche Geburtszange zum Vorschein, die er drohend gegen die Bühne schwang. Dies war das Signal zu einem ungeheuern Skandal, der auf der Galerie in Ohrfeigen mündete. Über die sanfte Erscheinung des Dichters, der sich unter Klatschen und Zischen oft verneigen mußte, schrieb Fontane: »Viele werden sich gern entsinnen, daß der Geheime Medizinalrat Caspar ein berühmtes Buch über seine gerichtsärztlichen Erfahrungen mit den Worten anfing: meine Mörder sahen alle aus wie junge Mädchen.«
Anfang 1890 begann die Zeitschrift »Freie Bühne für modernes Leben« zu erscheinen. In den Geleitworten »Zum Beginn« hieß es: »Im Mittelpunkt unserer Bestrebungen soll die Kunst stehen, die neue Kunst, die die Wirklichkeit erschaut und das gegenwärtige Dasein. Einst gab es eine Kunst, die vor dem Tage auswich, die nur im Dämmerschein der Vergangenheit Poesie suchte ... Die Kunst der Heutigen umfaßt mit klammernden Organen alles, was lebt ... Wir schwören auf keine Formel und wollen nicht wagen, was in ewiger Bewegung ist, Leben und Kunst an starren Zwang der Regel anzuketten. Dem Werdenden gilt unser Streben, und aufmerksamer richtet sich unser Blick auf das, was kommen will, als auf jenes ewig Gestrige, das sich vermißt, in Konventionen und Satzungen unendliche Möglichkeiten der Menschheit, einmal für immer, festzuhalten.« Die Seele des Unternehmens waren Otto Brahm und Paul Schlenther, zwei kluge, gediegene, ein wenig übersachliche Norddeutsche und (als Schüler des vortrefflichen Wilhelm Scherer, dem das in Deutschland fast als Unikum dastehende Kunststück gelungen war, eine vorzüglich lesbare Literaturgeschichte geschrieben zu haben) bei aller Schärfe des Urteils, Hingabe an den Gegenstand, Strenge des Kunstwillens doch im Grunde nur hochbegabte Seminaristen, die ins »Moderne« entlaufen waren.
Der Naturalismus war ein Irrtum, aber was für ein wohltätiger, lebensvoller, fruchtbarer Irrtum! Es war in seiner Art ein sehr großes Schauspiel, als aus einer ganzen Generation der Wille zur Freiheit und Wahrheit wie der Strahl einer glühenden Stichflamme, einer heißen Heilquelle hervorschoß. Wie kahl, grau, glanzlos und zerknittert, wie beleidigend belanglos wirken heute die naturalistischen Theaterstücke; und wie furchtbar erschütternd, geradezu magisch wirkten sie bei ihrem ersten Erscheinen! Eine unbeschreibliche Atmosphäre von Zauber und Grauen ging von ihnen aus: man hatte geradezu Angst vor ihnen. Man hatte ein Gefühl, wie wenn am hellichten Tage, mitten auf der Straße Gespenster auf einen zuträten und einem die Hand böten. Gerade weil in diesen Dramen niemals etwas anderes vorkam als die alltäglichsten, ja oft gemeinsten Reden und Handlungen, wirkten sie so erschreckend und geheimnisvoll. An die Stelle der Kunst war das Leben getreten, das Leben in seiner ganzen Gefährlichkeit und Nähe: in dieser grandiosen Umkehrung lag das Verblüffende und Hinreißende des Naturalismus. Und heute wirkt das alles wie ein großer Müllkasten voll ausrangiertem alten Plunder; die Feder ist zersprungen, die Farbe weggewaschen, und nichts ist zurückgeblieben als das billige und ordinäre Material: ein paar Reste und Lappen, mit denen allerlei Vorstadtvolk sich einen dürftigen und wenig geschmackvollen Polterabend gemacht hat. Damals schien das Mysterium der Kunst enthüllt: sie hat die Wirklichkeit zu wiederholen, kalt, klar, nüchtern, objektiv wie ein gewissenhafter Photograph, sie hat nichts zu schildern als all das, was sich schon hundertmal ereignet hat und stündlich wieder ereignen kann; man konnte gar nicht begreifen, daß die Menschheit erst jetzt auf diesen so einfachen und zwingenden Gedanken gekommen war. Und heute kann man wieder nicht begreifen, wie begabte Menschen jemals das Wesen der Kunst so verkennen konnten, daß sie ihr gerade das als Aufgabe zuwiesen, was niemals ihre Aufgabe sein kann.
Arno Holz stellte damals die These auf: »Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein.« Mit mindestens ebenso großer Berechtigung könnte man behaupten: die Kunst hat die Tendenz, wider die Natur zu sein. Daß Kunst einfach Natur wiederholt, ist logisch und psychologisch unmöglich, denn immer tritt etwas hinzu, was nicht Natur ist: nämlich ein Mensch. Daß Kunst gar nichts mit Natur zu tun hat, ist ebenso unmöglich, denn immer ist etwas dabei, was Natur ist: nämlich ein Mensch. Und was ist überhaupt Natur? Wir wissen gar nicht, was Natur ist, wir werden es nie erfahren. Alles ist Kunst, das heißt: durch den Menschen hindurchgegangene Natur. Das Auge ist ein subjektiver Künstler, das Ohr und jedes andere Sinnesorgan, und erst recht das Gehirn. Natur ist etwas, das fortwährend wechselt, nur das Wort bleibt dasselbe. Für den antiken Menschen war Natur nicht dasselbe wie für uns, und für den Römer war sie wieder etwas anderes als für den griechischen Nachbar und für Cato etwas anderes als für Cäsar, und für den jungen Cäsar etwas anderes als für den alten.
Über die Aufgabe des Naturalismus hat Lamprecht einmal das entscheidende Wort gesprochen. Er sagte: »Jeder Naturalismus hat etwas von der Art des Curtius, der sich in den Abgrund stürzte: er opfert sich einem als notwendig erkannten Fortschritt.« Die historische Mission jedes Naturalismus ist es, die neue Wirklichkeit festzustellen, künstlerisch zu registrieren, im allgemeinen Bewußtsein durchzusetzen: dies ist immer nur eine Durchbruchsarbeit. Sie ist unbedingt notwendig, aber wenn sie getan ist, ist sie auch schon überflüssig geworden. Der Naturalismus ist eine Vorarbeit: er macht zunächst eine Art Brouillon von der neuen Realität. Er ist immer nur Rohstoff, Material, Vorkunst. Die naturalistischen Werke sind die erste Niederschrift, und sie haben das Ungeordnete, Ungestaltete, aber auch das Reizvolle und Ursprüngliche einer ersten Niederschrift. Und hieraus erklärt es sich vor allem, warum die Dichtungen der neunziger Jahre so erschütternd wirkten: sie verkündeten als erste einen neuen geistigen Gehalt; die umwälzenden technischen, sozialen, industriellen, politischen Phänomene, die zahlreichen umorientierenden Perspektiven, die die moderne Psychologie zutage gefördert hatte, traten hier zum erstenmal anschaulich zusammengeballt hervor.
Ich habe, als ich noch radikaler Naturalist war, einmal die Bemerkung gemacht: »Erfinden ist Sache der Kinder und der Naturvölker. Phantasie wollen wir den Blaustrümpfen und den Köchinnen überlassen.« In der Tat: Phantasie kann jede Köchin haben. Aber sie hat eben die Phantasie einer Köchin. Wodurch unterscheidet sich nun ihr Geflunker von dem eines Dante oder Shakespeare? Lediglich dadurch, daß diese beiden ihre Phantasmagorien mit einer überwältigenden Eindringlichkeit und Körperhaftigkeit vorbringen, so daß jedermann sie ihnen glaubt, oder genauer gesagt: daß sie für jedermann sich zu Wirklichkeiten verdichten. Das Ganze ist und bleibt aber eine Illusion, eine optische Täuschung, eine Art Magnetiseur- und Prestidigitateurkunststückchen: hier wie dort, nur daß es das eine Mal versagt und das andere Mal gelingt. Aber wenn es auch der armen Köchin nicht glückte: einen richtigen Begriff vom Dichten hatte sie darum doch. Nur kam eben keine göttliche Komödie zum Vorschein, sondern ein Groschenroman. Würde man sie fragen, wie sie denn zu den Geschichten gekommen sei, die sie uns da aufbinden wolle, so würde sie antworten, sie habe sich etwas »ausgedacht«. Aber ganz ebenso hätte Shakespeare geantwortet, wenn man ihn gefragt hätte, wie er zu seinem »Lear« gekommen sei. »Sich etwas ausdenken«: ist das nicht überhaupt die Generalbezeichnung für alle schöpferischen Tätigkeiten: eines Mozart und eines Newton, eines Lionardo und eines Bismarck? Was dabei herauskommt, ist Sache der kombinatorischen Fülle und Kraft, des geistigen Muts, der Unabhängigkeit vom Herkommen, der größeren oder geringeren Gottnähe; aber den guten Willen wenigstens, etwas zu erzielen, was es bisher noch nicht gegeben hat, muß man von jedem geistigen Produzenten verlangen, denn dieser bildet die erste und letzte Voraussetzung alles Schaffens.
Und betrachtet man die naturalistischen Dichtungen, zum Beispiel die Theaterstücke, etwas genauer, sozusagen mit dem Mikroskop, so stellt sich heraus, daß sie genau so Kunstwerke, nämlich arrangierte, adaptierte, interpolierte, interpretierte Wirklichkeit waren wie ihre Vorgänger. Sie verpönten den Monolog und das Beiseitesprechen als unnatürlich, aber sie ersetzten dieses durch die sorgfältig berechnete Pause und jenen durch die genau ausgearbeitete Pantomime, was ebenfalls gestelltes Theater ist, nur raffinierteres und daher wirksameres. Der Naturalismus war, ähnlich wie die Kultur der Gründerzeit, ein Stil der Stillosigkeit. Schon Maupassant hat von der »photographie banale de la vie« gesprochen. Aber Photographien mögen banal sein, naturalistisch sind sie nur für die Zeitgenossen. Den Späteren erscheinen sie wie altertümliche, verschnörkelte, höchst stilvolle Holzschnitte.
Dies zeigt sich am stärksten bei dem stärksten Naturalisten der neunziger Jahre, Gerhart Hauptmann. Seine Dramen sind Volkslieder, stark und zart, herb und sentimental, primitiv und unergründlich, erdnah und weltentrückt. Seine größte Periode waren die sieben Jahre vom »Sonnenaufgang« bis zum »Florian Geyer«: in dieser Zeit hat er eine ganze Anzahl in ihrer Art neuer Bühnengattungen geschaffen und sogleich zum künstlerischen Gipfel geführt: im »Friedensfest« die Familienkatastrophe, in den »Webern« die Massentragödie, im »Biberpelz« die moderne Zeitsatire, im »Geyer« die naturalistische Historie, während »Hannele« in der ganzen Weltliteratur kein Gegenstück hat und als das realistischste und phantasievollste, subtilste und packendste Seelengemälde der deutschen Dramatik im Herzen der Nachwelt ewig fortleben wird. Wo Hauptmann bloß bildet, hat er fast noch mehr Atmosphäre als Ibsen, wo er denkt, wird er plakathaft, undifferenziert, schief, ja dilettantisch und schülerhaft. Die »Versunkene Glocke« ist der Abstieg zum süßen Bilderbogen und mißlungenen Gedankenexperiment, eine Art Öldruck von Böcklin und billige Volksausgabe von Nietzsche. Und auch viele andere seiner späteren Werke sind, zu rasch und ungleich ausgeführt, nur schwächere Doubletten seiner großen Jugendwürfe. Hauptmann gehört weder zu den langsam, aber unaufhörlich wachsenden Geistern, die sich allmählich alles Ferne und Nahe erobern wie Goethe, noch zu den sich ewig wandelnden, die durch vulkanische Lavaströme die Welt immer von neuem überraschen, erschrecken und bezaubern wie Nietzsche. Aber siegreich schlägt in jeder seiner Gestalten das mitschwingende Herz: im groben Fuhrmann wie im zarten Schulkind, im König Karl wie im Bettler Jau, im Genie wie im Dorftrottel. Er ist ein Organ der ganzen fühlenden Welt, die ihn umgibt, ein Menschenkind, das ohne Mühe und Absicht, ohne »Kunst« schafft, weil es aus innerster Not schafft, oder kürzer gesagt: ein Dichter.
Fast auf den Tag gleichzeitig mit Hauptmann trat Sudermann ans Licht. Die beiden galten zunächst allgemein als Dioskuren, auch bei der Fachkritik. Brandes schrieb 1891, es sei dem fremden Kritiker nicht möglich, die Opposition zu teilen, die sich von gewissen Seiten gegen Sudermann rege: »er weiß, daß in einer Gruppe die bittersten Gefühle gegen jene entstehen, die nur durch eine Nuance von ihr getrennt sind.« Vor der Uraufführung der »Ehre« sagte Oskar Blumenthal, der damalige Direktor des Lessingtheaters, zu einem Stubenmädchen, das im Namen ihrer Herrin bat, man möge ihr die Karten zur Premiere gegen Sitze für den nächsten Tag umtauschen: »Sagen Sie Ihrer Gnädigen, sie soll die Billetts nur ruhig behalten. Denn morgen ist Faust: in den wird sie noch oft gehen können. Aber die Ehre kriegt sie nur heute abend zu sehen.« Hierin sollte er sich aber als schlechter Prophet erweisen, denn es wurde einer der größten Erfolge der deutschen Theatergeschichte. Die »Ehre« ist streng nach dem Modell des französischen Thesenstücks gearbeitet. Trast ist der klassische Typus des Räsonneurs, der lediglich zur Enuntiation von Aphorismen auf die Bühne kommt, und zugleich des Onkels aus Amerika, dessen Millionen alle dramatischen Konflikte lösen; vom »parler à part« wird reichlich Gebrauch gemacht, einmal sogar in zweiter Potenz, wo Trast auf eine Bemerkung der alten Heinecke »für sich« sagt: »Einfalt, du sprichst wie eine Mutter« und »sich besinnend« hinzufügt: »Pfui, Trast, das war nicht schön«; auch Vorder- und Hinterhaus sind keineswegs als menschliche Milieus gemalt, sondern als zwei wirksam kontrastierte Theaterkulissen; zudem bewegt sich der »geistreiche« Dialog des Salons in unerträglich gespreiztem Zeitungspapierdeutsch.
Über keinen Schriftsteller des letzten Menschenalters ist so viel geschimpft worden wie über Sudermann; und zwar aus fast allen Lagern. Die Naturalisten verschrien seine Dramen als parfümierten Kitsch, während die Klassizisten ihm schmutzigen Realismus vorwarfen; die Artisten nannten ihn einen ledernen Moralisten, und die Ethiker fanden ihn lüstern und frivol. Es hieß, er stehle mit der größten Keckheit geistiges Eigentum, betrüge das Publikum und entlocke ihm mit nichtswürdigen Kniffen Zeit und Geld. Wenn es ein »Gremium der dramatisierenden Kaufleute« gäbe, so hätte es ihn zweifellos wegen unlauterer Konkurrenz ausgestoßen.
Es ist nun sicher richtig, daß von der Bühne schon reinere und tiefere Töne gehört wurden, als Sudermann sie angeschlagen hat. Es ist richtig, daß er immer an der Oberfläche geblieben ist, daß er im Zeitalter Ibsens eine Theaterliteratur gepflegt hat, die noch immer aus dem Schminktopf ihre stärksten Wirkungen holte, und, während Hamsun, Maeterlinck und Shaw ihre psychologischen Differentialkalküle aufstellten, sich noch immer mit der rohen Schwarzweißtechnik begnügte, der Scribe, Sardou und Feuillet ihre bewährten Wirkungen verdankten. Aber das alles sind doch noch keine Kapitalverbrechen. Alle Welt rief: das ist kein Dichter, sondern ein verlogener Macher! Es ist aber recht fraglich, ob sich, zumal auf dem Gebiet des Theaters, eine so scharfe Grenze zwischen Macher und Dichter ziehen läßt. Wir sahen im dritten Buche, daß auch Schiller in vielem ein raffinierter Faiseur war. Und häuft nicht Wagner ebenfalls Effekte auf Effekte, indem er spannt, scheinbar löst, um dann erst recht zu spannen, die Aufmerksamkeit bald konzentriert, bald zerstreut, bald irreführt, hier brutal losschlägt, dort listig zurückhält, kurz alle Hilfsquellen seiner Intelligenz und Phantasie dazu benützt, um das Publikum in völlig hingegebener Erwartung und Erregung zu erhalten? Und hat nicht schon vor mehr als zwei Jahrtausenden Euripides ganz dasselbe getan? Das Handwerk ist schließlich der goldene Boden aller Kunst, wenn es auch noch nicht die ganze Kunst ist. Und »verlogen« ist bis zu einem gewissen Grade alles Theater; dafür ist es ja eben Theater. Der Schauspieler bemalt sich blau, weiß und rot wie ein Hottentottenpriester, er tritt in eine so scharfe und grelle Beleuchtung, als ob er ein anatomisches Demonstrationsobjekt wäre, er muß so laut, so deutlich und so pointiert sprechen, wie es im Leben höchstens ein Geistesgestörter tut, er muß durch starke Blicke, vielsagende Pausen, wohlüberlegte Gesten alles vierfach unterstreichen, sonst fällt es unter den Tisch. Es ist nun aber doch ganz natürlich, daß auch der Text, der für die Bühne geschrieben wird, dementsprechend etwas Geschminktes, Überbelichtetes, Pedalisiertes haben muß. Ist es denn wirklich eine so unverzeihliche Sünde, niemals langweilig zu sein? Und trotz oder mit seiner hohlen Mache hat es Sudermann zustande gebracht, eine ganze Reihe von Figuren zu schaffen, die einprägsam, scharfumrissen und selbständig auf der Bühne stehen, die, wenn sie auch nicht wirklich leben, doch sehr wohl imstande sind, auf den Brettern drei Stunden lang ein starkes und eindrucksvolles Dasein zu führen, und die daher auch Künstler vom Range Mitterwurzers und der Duse immer wieder zur Darstellung gereizt haben; es ist ihm ferner gelungen, mit jenem echten Theaterblick, der nur sehr wenigen gegeben ist, eine Anzahl von höchst suggestiven Szenenbildern zu stellen, wie zum Beispiel den prachtvollen Schluß des »Johannes«, die Atelierszene in »Sodoms Ende«, den Einakterzyklus »Morituri«, der als Ganzes sowohl wie in seinen Teilen eine überaus bildhafte Konzeption ist, und noch vieles andere. Woher also diese fanatische Verachtung und Empörung?
Die Frage beantwortet sich damit, daß die Natur Sudermann, was reines Theatertalent anlangt, geradezu verschwenderisch ausgestattet, dabei aber leider vergessen hatte, ihm irgendeine andere noch so landläufige und billige Begabung dazu zu schenken; und dieses groteske und abstoßende Mißverhältnis war es allem Anschein nach, das so aufreizend wirkte. Er besaß die Sprache, die Gesten, die Gehirnstruktur, die man braucht, um zu zweitausend Menschen so reden zu können, daß sie gespannt zuhören. Er brachte keine Gedanken, aber etwas, das im Bühnenrahmen fast ebenso aussah; keine Leidenschaften, aber ein Feuerwerk, das bei verdunkeltem Zuschauerraum sehr wohl dafür gehalten werden konnte; keine echten Konflikte, aber eine Maschinerie, die ein ganz ähnliches Geräusch hervorbrachte; eine Menge kaschierter, funkelnder, mit Goldpapier überzogener Dinge, die sich in der Abendbeleuchtung höchst vorteilhaft präsentierten. Aber es fehlte ihm an den primitivsten Hemmungen. Er besaß fast gar keinen ordnenden, richtenden, sichtenden Verstand. Er erinnerte darin an einen Schmierenschauspieler. Er wollte ununterbrochen blenden, sich zeigen, sein Rad schlagen. Durch diese unerträgliche Koketterie grenzte er oft geradezu ans Lächerliche; sie beruhte aber wie dies bei Eitelkeit ja immer der Fall ist einfach auf einem Intelligenzdefekt. Stets fährt mitten in seine interessanten, gut geführten und sogar klugen Reden plötzlich irgendeine entsetzliche Banalität, eine monströse Taktlosigkeit, eine zweite, dritte, vierte folgt, und in wenigen Minuten stehen wir unter einem betäubenden Platzregen von Platitüden voll albernster Aufgeblasenheit und Geschmackswidrigkeit. Und damit steht ein zweiter katastrophaler Defekt Sudermanns in Zusammenhang: er besaß nicht einen Funken Humor. Humor braucht aber niemand dringender als der Dramatiker, nicht bloß der komische, sondern ebensosehr der tragische, denn seine Wurzelkapazität besteht in dem Talent, das Erdengeschehen und alle darein verwickelten Menschen von oben und von allen Seiten erblicken zu können, und dazu darf er weder sich noch seine Gestalten ernst nehmen. Dies ist der gemeinsame Familienzug aller Theaterdichter von Kalidasa bis Kaiser; und die drei größten Dramatiker der Weltliteratur (es sind nach unserer Ansicht Euripides, Shakespeare und Ibsen) waren zugleich jene, die ihre Welt am allerwenigsten ernst nahmen. Hätte Sudermann aber nur so viel Humor besessen wie der erste Charakterkomiker eines mittleren Stadttheaters, nur so viel Geschmack wie ein besserer Tapezierer und nur so viel Verstand wie ein Professor der Literaturgeschichte, so hätten seine Zeitgenossen in ihm vermutlich einen Theaterstern ersten Ranges begrüßen dürfen.
Von den Dichtern der älteren Generation hat nur Theodor Fontane den Anschluß an die junge Schule gefunden, als ein Spätreifer, der erst auf der absinkenden Lebensbahn seine saftigsten und rundesten Werke schuf. In ihnen herrscht eine milde Weisheit und geklärte Kultur, die bisweilen in Temperamentlosigkeit gleitet. Seine künstlerische Grundform ist die Anekdote, deren Wesen darin besteht, daß sie nur einen einzigen Zug gibt, der aber, wenn er genial erfaßt wird, den dargestellten Charakter oder Vorgang fast erschöpft, zumindest leuchtend reliefiert. Wie auf einem Relief sind bei ihm die einzelnen Figuren mit feinstem Gefühl für ihre angeborenen Größenverhältnisse abgemessen und ausgewogen; und wie in der Anekdote ist der Grundton auf Humor, Ironie, lächelnde Überlegenheit gestimmt, auf die Pointe, die freilich oft unterirdisch, aber dadurch nur um so feiner ist, und auf eine gewisse Bagatellisierung und Entgötterung alles Irdischen, die aber nicht aus Nihilismus, sondern aus Humanität geboren ist. Er galt als Naturalist; in Wirklichkeit war er der überlebende Typ des feinen genrefreudigen Menschenbeobachters aus dem ancien régime: Emigrantensprößling, Altberliner, preußisches Rokoko. Daß er der naturalistischen Bewegung mehr Verständnis entgegenbrachte als seine Altersgenossen, ist nicht verwunderlich: er begriff sie aus dem achtzehnten Jahrhundert heraus. Auch Diderot hätte Hauptmann sofort kapiert und Lessing Ibsen, nämlich genau bis zu der Grenze, wo auch Fontane haltmachte, der ihm bei aller Anerkennung »Spintisieren, Orakeln und Rätselstellen« vorwarf, während Lessings Kautelen etwa gelautet hätten: »Der Dichter muß uns nicht sowohl zu Examinatoren als zu Liebhabern seiner Geschöpfe machen, und während unser Verstand solch kalte Bildnergröße bewundert, dörfte unser Herz sie kleiner, will sagen: uns ähnlicher und menschlicher wünschen.«
Um dieselbe Zeit wie Hauptmann debütierte Frank Wedekind, der aber erst bedeutend später Beachtung erlangte. Er gehörte zu den Manieristen, über welche zu allen Zeiten vorhandene Gruppe Goethe in seinem Aufsatz »Antik und modern« bemerkt: »Wir ... bekennen, daß Manieristen sogar, wenn sie es nur nicht allzuweit treiben, uns viel Vergnügen machen ... Künstler, die man mit diesem Namen benennt, sind mit entschiedenem Talent geboren; allein sie fühlen bald, daß nach dem Verhältnis der Tage sowie der Schule, worein sie gekommen, nicht zu Federlesen Raum bleibt, sondern daß man sich entschließen und fertig werden müsse. Sie bilden sich daher eine Sprache, mit welcher sie ohne weiteres Bedenken die sichtbaren Zustände leicht und kühn behandeln und uns, mit mehr oder minderm Glück, allerlei Weltbilder vorspiegeln, wodurch denn manchmal ganze Nationen mehrere Dezennien hindurch angenehm unterhalten und getäuscht werden, bis zuletzt einer oder der andere wieder zur Natur und höheren Sinnenart zurückkehrt.« Wedekind wiederholte im wesentlichen die Positionen des »Sturm und Drang«. Sein Realismus packt oft sehr stark, aber nicht wie ein wirkliches Erlebnis, sondern wie ein wüster Traum. Das Panoramatische alles Lebens haben vielleicht wenige so scharf und bunt reproduziert wie er, aber trotzdem erfahren wir niemals den Eindruck der Realität, weil eines der Grundgesetze alles Lebens, die Kontinuität, bei ihm nicht zur Darstellung gelangt. Unlogisch, irrational, sprunghaft ist ja das wirkliche Leben auch; aber ein mysteriöses Band geht hindurch. Dieses Band fehlt in Wedekinds Dichtungen. Schiller sagte einmal, zum Dramenschreiben müsse man einen sehr langen Darm besitzen. Frank Wedekind war aber ganz abnorm kurzdarmig. In seinen Dramen herrscht Gedankenflucht oder, in die Sprache des Dramatikers übersetzt: Gestaltenflucht. Eines der wirksamsten Hilfsmittel des Theaterdichters ist das, was man beim Zeichnen Aussparen nennt. Aber bei Wedekind sind die leeren Stellen nicht weise künstlerische Ökonomie oder auch nur virtuoses artistisches Raffinement, sondern ganz natürliche Risse und Lücken, die daraus entstehen, daß er undicht arbeitet. Wir sagten im vorigen Kapitel, die Technik des Impressionismus erinnere an einen fortwährend intermittierenden, aber gerade dadurch immer stärker werdenden Wechselstrom. Bei Wedekind aber entsteht ganz einfach alle fünf Minuten Kurzschluß.
Was seine Weltanschauung anlangt, soweit sie aus den einzelnen Aphorismenfetzen sich zusammenflicken läßt, so erweist sie sich als der bloße Negativabdruck der landesüblichen Sexualmoral. Der Philister dekretiert: jeder Mensch soll »moralisch« sein; worunter er versteht, daß wir unsere sämtlichen Geliebten heiraten sollen. Wedekind dekretiert: jeder Mensch soll »unmoralisch« sein; worunter er versteht, daß wir auf Dinge wie Jungfernschaft, Ehe, Treue keinen Wert legen dürfen. Aber der zweite Standpunkt ist bloß der bequemere und ungebräuchlichere, und keineswegs der freiere. Er ist nur die dogmatische Umdrehung des ersten. Man kann nämlich auch als Immoralist noch immer ein Philister sein. Jeder Mensch, der von der Ansicht ausgeht, daß die Gesetze, die für ihn gut sind, auch für die anderen gelten müssen, ist ein Philister. Die Freiheit hingegen besteht darin, daß jeder tut, was seine Individualität ihm vorschreibt. Wenn mich jemand zur Freiheit im Erotischen zwingen will, während es in meiner Natur liegt, diese Beziehungen als vorwiegend unfreie und gebundene aufzufassen, so beschränkt er meine Freiheit. Wenn jemand von mir verlangt, ich solle in moralischen Dingen kein Philister sein, obgleich gerade dies mir entspricht, so stellt er an mich ein philiströses Verlangen. Wedekinds Sexualphilosophie ist nichts als das gewendete Philisterium.
Seine Theaterstücke gehören durchaus ins Gebiet der Sensationsdramatik. Die Ausstattung ist freilich glänzend und hochoriginell; was aber nicht hindert, daß alles, was man zu sehen bekommt, eine großartige Zirkusproduktion ist (wie es ja auch Wedekind in einem Moment der Selbsterkenntnis im Prolog zum »Erdgeist« selber dargestellt hat); die Monstrevorstellung eines genialen Clowns, Feuerfressers und Saltimbanques. Es ist alles da: Philosophie und Groteske, Kolportage und Psychologie; manche Szenen könnten von Shakespeare sein und manche aus einem englischen Melodram. In dieser lärmenden Meßbude ist für jedes Gaumenbedürfnis gesorgt.
In seinem Grundwesen ist Wedekind ein dämonischer Karikaturist aus der Nachbarschaft Daumiers. Er hat nie etwas anderes geschaffen als böse Wachsmasken, grinsende Grimassen, baumelnde Hampelfiguren. Der gemeinsame Charakterzug aller seiner Gestalten ist eine grausige Schicksalslosigkeit: sie sind lauter hommesmachines, schnarrende Mechanismen, an starren Drähten zappelnd; gerade dadurch aber höchst erschütternd und suggestiv. Man wird an die »Moritaten« der Jahrmärkte erinnert und an die Szenen der Knockabouts: Häuserfronten tanzen, Laternenpfähle knicken ein, ein Mensch entpuppt sich als Fahrrad, ein anderer als Klarinette, einem dritten schießt eine Rakete aus dem Hintern und ein vierter schlägt ihm ein Beil in den Kopf, indem er sich teilnehmend erkundigt: »Aben Sie das bimörkt?« Die Wurzel von alledem ist Wedekinds Atheismus. Das Korrelat dazu bildet sein Amoralismus, der in der zweiteiligen Lulutragödie kulminiert. Die Gestalt der Lulu hat innerhalb des Gesamtoeuvres für Wedekind dieselbe Bedeutung wie der Faust für Goethe und Richard der Dritte für Shakespeare. Sie ist der äußerste Gegenpol Richards: dieser die höchste Potenz des Bösen aus tiefster Absicht und luzidester Bewußtheit, sie dasselbe völlig ohne Wissen und Willen. Dies erst ist die letzte Auflösung der christlichen Ethik. Der Gipfel der Gottleugnung ist nicht der Teufel, der schwarze Engel, der um seinen Sturz weiß, sondern der Engel ohne Seele.
Daß der Nihilismus wie ein Familienfluch über den meisten Künstlern des Zeitalters schwebte, zeigt sich an einem so völlig andersgearteten Geist wie Maupassant. Dieser verkörperte ganz einfach den ewigen Typus des Geschichtenmachers, der Raconteurs, der berichtet, bloß um zu berichten, ohne den Ehrgeiz des Philosophen oder des Seelenanatomen, aus purer Lust am Beschreiben und Schildern. Alle Dinge, die sich je begeben haben, alle Dinge, die sich je begeben könnten, hat dieser passionierte Sammler in seinen Magazinen zusammengespeichert, Menschen, Beziehungen, Gesichter, Leidenschaften, Abenteuer, Alltäglichkeiten, ohne »Kritik« und »Auswahl«: alles Erzählbare. Für ihn gibt es nichts Interessantes und nichts Uninteressantes, alles gehört zu ihm: wenn es sich nur erzählen läßt! Sein Genre ist zeitlos. Es ist nicht »modern«, es ist nicht »alt«. Er wird niemals veralten, so wenig wie Boccaccio; weil er niemals neu war.
Die Klarheit, Schärfe und Feinheit seiner Kontur ist kaum zu überbieten. Er verwendet die einfachsten Mittel und trifft dabei doch stets mit drei oder vier Strichen den Umriß einer Figur oder einer Situation so bewundernswert sicher, daß sie auf uns zuzuspringen scheint. Er war kein Impressionist wie die anderen, sondern ein einfacher Zeichner, aber mit einem magischen Bleistift. Dieses vollkommen Zeichnerische seines Wesens ließ ihn auch die kurze Novelle so sehr bevorzugen, das rasch und flüchtig geschaffene Skizzenblatt. Und auch darin unterschied er sich von den meisten seiner Pariser Kollegen, daß an ihm gar nichts Morbides war, aber auch nichts von ihrer wühlenden, fast pathologischen Arbeitskraft; sondern halb zum Pläsier, halb, weil es nun einmal sein Metier war, warf er seine Sachen hin. Er war eine sehr glückliche Mischung aus Bauer und Großstädter; genug Gourmet und Connoisseur, um alle Geschmäcke, Farben, Gerüche, Schwingungen der modernen Welt verständnisvoll nachkosten zu können, blieb er im Kern doch immer der fest in der Realität wurzelnde Normanne, der die Zusammenhänge mit der Natur noch nicht verloren hat und mit einem gesunden Tatsachenhunger und geraden Augen auf die Kunst losgeht, wie er denn auch im Leben ein Freund massiver Genüsse: schwerer Weine, dicker Zigarren, opulenter Soupers und gutgebauter Weiber war. Diese starke Sinnlichkeit war einer der besten Helfer seiner Kunst, von ihr ist jeder Satz tingiert, den er geschrieben hat, einerlei, ob er einen Gedanken, eine Liebesszene oder eine Landschaft zur Darstellung brachte.
Dabei kann man nicht eigentlich sagen, daß er mit den Dingen fühlt, die er schildert. Das heißt: er fühlt mit ihnen, aber bloß mit den Nerven, nicht mit dem Herzen; gewissermaßen rein peripherisch. Er erweist sich darin als der vollkommene Epiker, der, identisch mit der Natur, ohne Pathos vernichtet. Maupassants Herz bleibt unbewegt, ergreift niemals Partei, er ist nicht das Opfer seiner poetischen Visionen. Er ist von derselben unpersönlichen Brutalität wie das Leben selbst. Er zeigt die Menschen nackt in ihren intimsten Gemeinheiten und Häßlichkeiten. Nie ist zum Beispiel der Spießer in seiner Selbstsucht und Roheit, Plattheit und Aufgeblasenheit vernichtender geschildert worden als von Maupassant. Ebenso der Bauer, der bei ihm ein bösartiges, schlaues und gieriges Halbtier ist. Sein berühmtester Roman »Bel-ami« ist ein riesenhaftes Arsenal der Niederträchtigkeiten sämtlicher Stände, Berufe und Gesellschaftsschichten. Auch vor den Kindern macht er nicht halt: er zeigt sie in allen ihren Perfidien und Unarten. Die Liebe ist bei ihm selten etwas anderes als eine raffinierte Form des menschlichen Betruges. Und die Ordinärheit des Ehelebens hat in ihm geradezu ihren klassischen Maler gefunden. Die Lektüre seiner Geschichten erzeugt daher fast immer eine tiefe Melancholie. Hier hat das désenchantement de la vie seinen Höhepunkt erreicht. Rene ist Romantiker, Flaubert heimlicher Sentimentalist, Zola pathetischer Sozialethiker, aber Maupassant ist nichts als das schneidende Satansgelächter über das verpfuschte Menschentier.
In einer seiner schönsten Novellen »L'inutile beauté« läßt Maupassant Herrn Roger de Salins mit einem Freund im Zwischenakt ein philosophisches Gespräch führen, worin er unter anderem sagt: »Weißt du, wie ich mir Gott denke ? Als eine gewaltige schöpferische Kraft, die in den Weltraum Millionen von Lebewesen sät, wie ein gewaltiger Fisch im Meere laicht. Er schafft, weil es sein Beruf als Gott ist. Aber er weiß nicht, was er tut, er ahnt nicht, was aus allen diesen verstreuten Keimen wird. Der Menschengedanke ist ein kleines Spiel des Zufalls, ein lokales, vorübergehendes, unvorhergesehenes Ereignis, genau so unvorhergesehen wie eine neue chemische Mischung oder die Erzeugung von Elektrizität durch Berührung. Man braucht nur einen Augenblick nachzudenken, um zu der Erkenntnis zu kommen, daß die Welt für Wesen, wie wir es sind, gar nicht geschaffen ist.« Hier haben wir in wenigen Worten die Philosophie, die, man weiß nicht recht: den Ausgangspunkt oder das Ergebnis der Kunst Maupassants bildete. Es ist eine wahnwitzige Philosophie, eine Philosophie der Verzweiflung: Gott ein riesiger Hering und wir ein Samenschwaden im Ozean der Unendlichkeit! Und nun begreift man, daß der Dichter eines Tages bei aller scheinbar so kühlen und klaren Objektivität eben doch das Opfer seiner Visionen werden mußte, daß die eigenen Gestalten ihm schließlich über den Kopf wuchsen und wie eine schwere, feuchte Wolke seine Sinne verfinsterten.
Die deutsche Malerei des Zeitalters war insofern das vollkommene Pendant zur deutschen Dichtung, als sie nur in ganz wenigen Werken bis zum Impressionismus vorgeschritten, vielmehr zumeist beim Naturalismus, ja nicht selten sogar bei einem Scheinnaturalismus stehen geblieben ist. Das entscheidende Ereignis war die Gründung der Münchner Sezession im Jahr 1893, der im Laufe des Jahrzehnts ähnliche Vereinigungen in Dresden, Wien, Düsseldorf, Berlin folgten. Ihr erster Präsident war Fritz von Uhde, der die Heilige Familie in der ärmlichen Zimmermannswerkstatt, die Apostel als schlichte Fischer und Handwerker, den Heiland inmitten heutiger Bauern, Schulkinder, Fabrikarbeiter malte. Die entrüsteten Konservativen vergaßen, daß die großen italienischen und flandrischen Maler es auch nicht anders gemacht hatten, ja daß gerade durch taktvolles Modernisieren das Ewige, Allgegenwärtige, Überzeitliche der evangelischen Heilsbotschaft erst sichtbar wird, die in jeder Seele neu geboren ans Licht tritt. Als ein Moderner wurde auch Leibl begrüßt und angefeindet, war es aber gar nicht, vielmehr ein einfacher Realist, wie es sie zu allen Zeiten gegeben hat, um nichts realistischer als der fast ein halbes Jahrtausend ältere Jan van Eyck. Er ist dumpf, stofflich, von edler Einfalt und Handwerkstüchtigkeit, ein Meister im alten Sinne, wie es Peter Vischer und Hans Sachs waren. Er hat niemals etwas anderes gemalt als das, was er gesehen, und nicht bloß gesehen, sondern durch treueste Beobachtung zu einem Teil seines Ich gemacht hatte. Es ist charakteristisch für seine Kunstanschauung, daß er, in Lohengrin geführt, nach dem ersten Akt ausrief: »Laßt's mi aus, i kann koan Ritter sehn!« und daß er einmal empört von einem Maler sagte: »Mir scheint, der Kerl lasiert!«
In seinem kleinen Buch über Jozef Israels sagt Max Liebermann: »Je naturalistischer eine Kunst sein will, desto weniger wird sie in ihren Mitteln naturalistisch sein dürfen. Der Darsteller des Wallenstein, der wie bei den Meiningern in echtem Koller und Reiterstiefeln aus der Zeit auftritt, macht nicht etwa dadurch einen wahreren Eindruck: der Schauspieler muß seine Rolle so spielen, daß wir glauben, er stecke in echtem Koller und Reiterstiefeln. Israels wirkt naturalistischer als unsere Genremaler, nicht obgleich, sondern weil er weniger naturalistisch malt als sie.« Auch Liebermann selber war kein Naturalist im orthodoxen Verstande, vielmehr hat er sich immer an seinen Ausspruch gehalten: »Zeichnen ist die Kunst, wegzulassen.« Er gelangt zu der Natur gerade von der entgegengesetzten Seite wie Leibl: seine Landschaften sind von einer Innigkeit und Klarheit, wie sie nur aus der Sehnsucht eines geistreichen Großstädters geboren werden kann. Liebermanns Kunst hat einen altberlinischen Fontanezug: sie ist warm, aber ganz unsentimental, sensitiv, aber wortkarg, pathosfrei, aber pointenreich und in den Porträts voll unterirdischem Humor. Das Proletariat schildert er weder heroisierend noch mitleiderregend, sondern stellt es einfach hin, als ein Stück gemaltes Leben.
Böcklins Ruhm ging infolge der Trägheit des deutschen Publikums erst sehr spät auf (denn er hätte verdient, Piloty zu überstrahlen); und ist heute bereits wieder verblaßt. Man könnte Böcklin als den letzten der Deutschrömer bezeichnen: er faßte alles zusammen, was diese jemals erstrebt hatten: die antikisierende Allegorik Winckelmanns, die germanisierende Romantik der Nazarener, die klassizistische Komposition der Cornelianer, die Gedankenkoloristik Feuerbachs: die ganze Entwicklung von Mengs bis Marées. Er malt oft prachtvoll, kann es sich aber nicht versagen, in seine Farbendichtungen noch obendrein Metaphern und Anekdoten hineinzustellen: allerdings sind diese sehr saftig, jene sehr körperlich. Er besitzt auch Naturgefühl, aber ein literarisiertes, im Gegensatz zu Schwind, dessen Feen und Waldgeister, als selbstverständliche Geburten echter, weil naiver Märchenstimmung, nie stören: seine Bilder verhalten sich zu Schwinds Schöpfungen wie große Opern zu Volksliedern, Prachtwerke zu Kinderspielbüchern. Auch die Griechen haben Götter gemalt und gemeißelt, aber diese Nymphen und Nereiden, Dryaden und Tritonen, Zyklopen und Zentauren wurden von ihnen geglaubt, infolge ihrer merkwürdigen Gabe, Geister anzuschauen: für sie war der Fluß mit dem Flußgott, die Quelle mit der Quellgöttin identisch, Poseidon zugleich die Idee des Meeres und das Meer selbst, Okeanos »ein Gott« und »der Ozean«. Diese Vorstellungsweise ist für uns unwiederholbar und daher jeder solche Rekonstruktionsversuch nur gebildete Spielerei, artistischer Atelierscherz und archäologisches Ausstattungskunststück, ganz ebenso wie das Meiningertum und die germanische Mythologie Wagners. Böcklin, der in den neunziger Jahren als »Symbolist« entdeckt wurde, gehört, und zwar als eine ihrer stärksten Potenzen, in die Gründerzeit.
Auf österreichischem Boden hat es überhaupt keinen Naturalismus gegeben. Hermann Bahr hat als einer der ersten dessen Überwindung proklamiert. Arthur Schnitzler hat das Sittenstück auf eine menschliche und künstlerische Höhe gehoben, wie sie die Franzosen nie erreicht haben. Seine Wesen bestehen nicht mehr aus einer oder zwei Seelen, sondern aus einem ganzen Gesellschaftsstaat von Seelen, die sich in unablässiger Verschiebung und Gegeneinanderbewegung befinden und dennoch stets ein gesetzmäßiges und symmetrisches Gebilde hervorbringen, ganz wie in einem Kaleidoskop. Und er hat, was hiermit eng zusammenhängt, den Mut und die Kraft besessen, in die geheimnisvolle Dunkelkammer des menschlichen Unterbewußtseins hinabzusteigen und dort jene bedeutsamen und widerspruchsvollen Verschränkungen, Rückbeziehungen und Polaritäten aufzuspüren, deren wissenschaftliche Entdeckung sich an den Namen Sigmund Freuds knüpft; er hat bereits zu einer Zeit, wo diese Lehren noch im Werden begriffen waren, die Psychoanalyse dramatisiert. Und er hat in seinen Romanen und Theaterstücken das Wien des Fin de siècle eingefangen und für spätere Geschlechter konserviert: eine ganze Stadt mit ihrer einmaligen Kultur, mit dem von ihr genährten und entwickelten Menschenschlag, wie er sich in einem bestimmten Zeitpunkt der Reife und Überreife auslebte, ist in ihnen klingend und leuchtend geworden. Er hat damit etwas Analoges geleistet wie Nestroy für das Wien des Vormärz.
Eine ähnliche Topographie der Wiener Seelenverfassung um 1900 hat, obschon mit ganz anderen Mitteln, Peter Altenberg geschaffen, der zugleich der einzige vollkommen konsequente Impressionist von Bedeutung innerhalb der deutschen Literatur gewesen ist. Dem Leser seiner Skizzen wird es beim ersten Male ähnlich ergehen wie jemandem, der zu spät zu einem öffentlichen Vortrag kommt und nun, in eine entlegene Ecke des Saales gedrückt, mit großer Anstrengung dem Redner zu folgen versucht: anfangs vernimmt er nur undeutliche, abgerissene Worte und Sätze, bis er endlich, an die Akustik des Raums und das Organ des Sprechers gewöhnt, aus den einzelnen Bruchstücken einen Sinn zu bilden vermag. Viele geben sich nicht die Mühe, über den ersten Eindruck hinauszukommen, der insofern irreführend ist, als das, was zunächst wie Zusammenhanglosigkeit wirkt, nichts anderes ist als außerordentliche Knappheit und Schnelligkeit des Denkens, die so and so viele Zwischenglieder überspringt. Es ist der »Telegrammstil«, der dem Zeitalter der Blitzzüge, Automobile und Bioskope entspricht. Bezeichnend für Altenbergs leidenschaftliches Streben nach Kürze sind zum Beispiel seine »Fünfminutenszenen«, die aber gar nicht fünf, sondern höchstens zwei oder drei Minuten dauern: sie fixieren einen dramatischen Moment und überlassen das übrige dem Leser; es gelangt einen Augenblick lang Licht auf irgendeine gefährliche Situation der Seele, eine fragwürdige Verwicklung, und dann fällt der Vorhang.
Auch wenn Altenberg pathetisch wird, hat er einen ganz neuen Ton: sein Pathos verhält sich zu dem früherer Dichter etwa wie der Lärm eines Eisenwalzwerkes oder eines Schraubendampfers zu Posaunenstößen. Im übrigen behandelte er die Sprache, als ob sie nie vor ihm von anderen gehandhabt worden wäre. Viele Passagen in seinen Skizzen könnten ebensogut in einem Ausstellungskatalog, einem Kochbuch oder einem Modejournal stehen. Bisweilen sinkt er bis zum Stil der Zeitungsannonce herab. Aber pointillistische Miniaturen wie etwa seine Schilderung des Sommers in der Stadt und auf dem Lande, am Anfang der Skizze »Newsky Roussotine-Truppe«, waren bis dahin noch nicht entworfen worden:
»Ziemlich unglücklich fühlt man sich an Sommerabenden in der Hauptstadt. Wie zurückgesetzt. Wie übergangen. Zum Beispiel gehe ich abends durch die Praterstraße! Wie wenn ich und die Passanten bei der Lebensprüfung durchgefallen wären und , während die guten Schüler die Ferien genießen dürften zur Belohnung. Wir aber dürfen nur träumen:
O Meeresschäumen an alten Holzpiloten; o kleiner See in Einsamkeiten; o Lichtungen mit dünnem Wiesengrunde und braunen Moorlacken, wo jeder Hofmeister sagt: «Siehst du! Hier kommen abends Hirsche zur Tränke.» O Holunderstauden mit schwarzen Bockkäfern und kleinen metallischen Bergkäfern und verlausten Rosenkäfern und hellbraunen Bergesfliegen, an Bächen, welche über große Steine rutschen in ziemlicher Eile! Und der Holunder nährt Insekten-Welten! O 22grädige Quelle im offenen Bassin, auf dem die Lindenblüten schwimmen; denn die Allee zum Bade ist voll von Linden; und alles ist erfüllt mit Lindenblüten! Weißes Segelleben in lackierten Jachten. Die Damen bekommen teint ambré. Alles entfettet sich. Wer siegt in der Regatta?! Risa, gib mir die Hand über den Steg. Mittage mit 10000 Tonnen Sonnenhitze, wie das Gewicht von Schlachtschiffen; Nachmittage mit Aprikosen, Weichsein, Edel-Stachelbeeren; Abende wie eingekühlter Gießhübler; Nacht hörst du die Schwäne ihre Schnäbel öffnen und schließen?! Und wieder die Schwäne ihre Schnäbel öffnen und schließen?! Und nichts mehr .
Wir aber gehen durch die Praterstraße in der Hauptstadt. 8 Uhr abends. Wie lauter zugrunde gehende Kaufläden an beiden Seiten. Pfirsiche neben Matjesheringen. Korbwaren. Seebadhüte. Schwarze Rettiche. Bicycles blinken überall. Als ob die Luft, wie in Parfümfabriken das Fett mit Veilchenduft, sich vollgesogen hätte mit Gerüchen von Erdäpfelsalat, Teer zwischen Granitpflaster und millefleur de l'homme épuiseé! Bogenlichter mit Ambitionen von Glühwürmern in Sommernächten machen die Sache nicht besser. Ans Licht gebrachtes Sommerelend! Laß es im Dunkeln, bitte, in schweigenden Schatten! Bogenlichter aber schreien: «Da sehet!» Sie kreischen die Dinge des Lebens, plaudern alles aus mit ihrem weißen Lichte!«
Peter Altenberg galt als der Typus des Dekadenten. Aber sein Feminismus war nicht Schwäche, sondern Stärke, nämlich eine erhöhte und bisher unerreichte Fähigkeit, sich in das weibliche Seelenleben zu versetzen. Alle früheren Dichter hatten sich zur Frau als mehr oder minder glückliche Deuter gestellt, er aber erlebte sie in sich selbst in der vollkommensten Weise, und wenn er sie schilderte, so las er gar nicht in einer fremden Seele, sondern in seiner eigenen. Sie sind die unheilbaren Träumerinnen und Idealistinnen, die großen Enttäuschten des Lebens, die wie verwunschene Märchenprinzessinnen durch den Alltag wandern: Melancholikerinnen wegen ihrer eigenen Unvollkommenheiten, wegen der Unvollkommenheiten der Männer, wegen der Unvollkommenheiten der ganzen Welt. Und in ihrem uferlosen, überspannten, hysterischen und im Grunde lebensunfähigen Idealismus wünschen sie nichts sehnlicher, als daß der Mann sie ins Vollkommene idealisiere, daß er in ihnen erblicke, was sie nicht sind, daß er ein Romantiker sei. Ein solcher Romantiker war Peter Altenberg. Er erblickte überall »Märchen des Lebens«, Melusinen und Dornröschen. Und jede bescheidene Kornblume war für ihn die blaue Blume der Romantik.
In Italien hieß der Naturalismus verismo. Sein Schöpfer war Giovanni Verga, dessen »novelle rusticane« eine neue literarische Ära einleiteten. Eine von ihnen, die »sizilianische Bauernehre«, hat, vom Dichter dramatisiert, durch die Vertonung Mascagnis einen Welterfolg errungen, dem sich zwei Jahre später Leoncavallos »Pagliacci« ebenbürtig an die Seite stellten, beide blutvollstes Theater von einer sieghaften Brutalität und wirbelnden Verve, wie sie vielleicht nur in Italien zu finden ist. Parallelerscheinungen dazu bildeten die beiden genialen Bühnenvirtuosen Novelli und Zacconi, die um dieselbe Zeit ihren Triumphzug durch Europa antraten; zumal der erstere war eine gigantische Potenz, auf seinen Höhepunkten von Mitterwurzerkaliber: einer der unheimlichsten Verwandlungskünstler und trotzdem in jedem Zug von einmaliger dämonischer Persönlichkeit.
In Paris war die Zentrale des Naturalismus André Antoines »Théâtre libre«, das an die Stelle der comédie rose die comédie rosse setzte; in London kämpfte William Archer gegen Sardou und dessen englische Durchschläge; 1891 gründete Grein das »Independent Theâtre«, das mit den »Gespenstern« eröffnet wurde; in demselben Jahr erschien Shaws »Quintessence of Ibsenism«. Auch Wildes Salonstücke sind nur scheinbar an Sardou orientiert, vielmehr unterirdische Parodien. Er zählt zu jenen wenigen Schriftstellern der Weltliteratur, die in ihren Werken der Nachwelt wie vertraute Privatbekannte entgegentreten (von neueren Autoren gehören in diese Gruppe Voltaire, Heine, Bismarck und Schopenhauer), und zugleich war seine Biographie eines der menschlich ergreifendsten Trauerspiele, die das Leben jemals gedichtet hat. Er fiel als eines der schmählichsten Opfer desselben englischen cant, der mörderische Konzentrationslager errichtet hat, um »die Burenfamilien zu schützen«, und die Arbeitspflicht achtjähriger Kinder anerkannt hat, um sie »vor Ausschweifungen zu bewahren«; es wäre für das englische Volk ein Indien wert gewesen, wenn es den Prozeß gegen Wilde nicht gewonnen hätte. Das Erschütterndste an dieser Tragödie aber ist, daß er sie selbst gewollt hat: er hat die Möglichkeit zur Flucht von sich gewiesen, ganz wie Sokrates (mit dem er sonst wenig Ähnlichkeit hatte, eher mit dessen Gegenspieler Alkibiades). In seiner Katastrophe vollzog sich die Selbstkreuzigung des modernen Geistes der hedonistischen Skepsis und Artistenimmoralität: dies muß sein Daimonion gemeint haben, als es ihm zum Opfer riet.
Es hat gewiß wenige Dichter gegeben, die die Häßlichkeit so tief und leidenschaftlich, ja fast krankhaft gehaßt haben wie Oscar Wilde. Seine Liebe zu den tausenderlei kostbaren, feinen und unnützen Dingen, die das Leben des vornehmen Mannes umgeben, war außerordentlich, er wird nicht satt, sie zu beschreiben. Aber er war ein Dichter, und ein Dichter ist mehr als ein Erzähler schöner Dinge. Er liebte auch zweifellos das Laster. Er liebte es als Künstler. Die Künstler werden zu den Verirrungen des Lebens, den dunkeln Leidenschaften und ihren Verstrickungen immer mit magischer Gewalt hingezogen. Welche fürchterlichen Magazine menschlichen Frevels sind Shakespeares Dramen oder Dantes Göttliche Komödie! Der Künstler sucht diese Dinge auf, denn er weiß: hier sind die lehrreichen Verwicklungen, die tiefen Geheimnisse, die aufregenden Bewegungen, die er so notwendig braucht wie der Baumeister die Steine. Aber zugleich ist der Künstler der sittlichste Mensch, denn er ist voll Mitgefühl für alle und alles, und seine Sehnsucht ist die Höherentwicklung der Menschheit. So war Wilde: verliebt in die Sünde und im Innern nur das Heilige suchend, von Genüssen zu Genüssen jagend und in seinen Zielen ein reiner entsagungsvoller Asket.
Und all dies hat er im »Bild des Dorian Gray« sich vom Herzen geschrieben. Dieses Buch hat ebenso eine Geschichte gehabt wie das Bild, von dem es handelt; aber sein Verwandlungsprozeß war der entgegengesetzte. Es blickte der Welt bei seinem ersten Erscheinen als häßliche, abstoßende Fratze entgegen, und heute steht es vor uns in vollkommener Makellosigkeit und Schönheit. Als diese merkwürdige Vision auftauchte, sah man in ihr das Werk eines niedrigdenkenden und lasterhaften Menschen, sie erschien als rechtes Evangelium des Teufels. Heute wissen wir, daß sie ein Evangelium der Reinheit ist, ein tiefsittliches Buch, durchblutet von einer verzehrenden Sehnsucht nach Güte, das dem Laster schärfer an den Leib geht als hundert Fastenpredigten, die vom Leben nichts verstehen.
Auch Wildes Landsmann und Altersgenosse Shaw ist lange Zeit mißverstanden geblieben, ja vielleicht bis zum heutigen Tage. Die »Candida« schließt damit, daß Marchbanks geht und die Gatten sich in die Arme sinken; aber Shaw fügt hinzu: »Das Geheimnis im Herzen des Dichters kennen sie nicht.« Vielleicht verhält sich das große Publikum ganz ähnlich zu dem Dichter Shaw, wie sich die Morells zu dem Dichter Marchbanks verhalten. Vielleicht hat auch Shaw ein Geheimnis, das er ängstlich behütet, ist auch er ein anderer, als er scheint, und wenn der Vorhang fällt, geht er leise davon, mit einer Wahrheit im Herzen, die nur er kennt.
Es ist für einen Dichter immer schädlich, wenn er von allem Anfang an unter eine Rubrik gebracht wird. Für Shaw lautet dieses Etikett: er ist ein Ironiker; und das Publikum pflegt nun alle seine Stücke wie Vexierbilder zu behandeln, unter denen die Frage steht: wo steckt die Ironie? Indes: daß einer von Shaws dichterischen Grundzügen die Ironie ist, bleibt trotzdem richtig, nur ist seine Ironie nichts Einfaches, sondern eine komplexe Erscheinung. Sie hat mindestens drei Wurzeln.
Die eine Wurzel ist Shaws innere Verachtung der Dichtkunst. Der Dramatiker ist ein Volksredner, der Romancier ist ein Schnüffler, der fremde Leute ausspioniert, der Lyriker ist ein Exhibitionist. Diese Tätigkeiten flößen Shaw Abscheu ein. Er ist der Ansicht Johann Nagels, des Helden der Hamsunschen »Mysterien«: »Wissen Sie, was ein großer Dichter ist? Ein großer Dichter ist ein Mensch, der sich nicht schämt, der nicht im geringsten über sein eigenes Humbuggeschäft errötet. Andere Narren haben Augenblicke, wo sie, mit sich allein, vor Scham erröten, aber der große Dichter nicht« und der Meinung seines Cäsar, der dem gelehrten Erzieher des Ptolemäus auf die entsetzte Meldung, die Bibliothek von Alexandria, »das erste der sieben Weltwunder«, stehe in Flammen, ruhig erwidert: »Theodotus, ich bin selbst ein Autor, und ich sage dir: es wäre besser, wenn die Ägypter ihr Leben lebten, statt es mit Hilfe ihrer Bücher zu verträumen. ... Was dort verbrennt, ist das Gedächtnis der Menschheit, ein Gedächtnis, das beschämt, laß es brennen ... einige mit Irrtümern bekritzelte Schaffelle.«
Die zweite Wurzel ist Shaws Naturalismus. Größe ist schließlich nur ein Zug unter vielen. Wenn ich Napoleon oder Bismarck von allen Seiten zeige, so muß notwendig eine ironische Schilderung herauskommen. Diese Kunstrichtung, die das meiste Recht hätte, sich naturalistisch zu nennen, hat von Goethe ihren Ausgang genommen, um in Kleist (zum Beispiel im »Prinzen von Homburg«) zum erstenmal greifbare Gestalt zu gewinnen. Hier ist bei der Charakteristik der Helden und Heldinnen bereits das Prinzip der Nurgröße durchbrochen. Und Ibsen hätte kein Drama, das bloß tragisch wirkt, für eine richtige Tragödie gehalten. Ebenso verhält es sich bei Strindberg, ja sogar bei Maeterlinck, zum Beispiel in »Princesse Maleine«, wo nach einer Nacht voll Mord und Grauen der alte König sagt: »Ich möchte gern ein bißchen Salat haben.« Der Salat gehört eben genau so gut zum vollständigen Bild des menschlichen Lebens wie die großen tragischen Erschütterungen.
Nach alledem könnte man aber immer noch glauben, die Ironie sei für Shaw Selbstzweck. Sie ist ihm jedoch nur ein Mittel, und zwar ein Erziehungsmittel. Das Volk hält ihn für einen bloßen Spaßmacher, weil er ein amüsanterer und geistreicherer Erzieher ist als die meisten seiner Vorgänger. Diese machten kurzerhand die Szene zum Tribunal, sie suchten keinen Augenblick zu verbergen, was sie wollten und wozu sie sich berufen fühlten. Shaw aber lehrt seine Wahrheiten auf indirektem Wege: er sagt sie nicht einfach heraus, indem er seine Figuren zu ihrem Mundstück und Prediger ernennt, sondern er läßt die Ideale, die er zu lehren versucht, an doppelsinnigen Schicksalen und Lebenswenden hervortreten, indem er es dem Zuschauer anheimstellt, aus den gesehenen Vorgängen bestimmte Formeln und Gesetze zu abstrahieren.
Der Mensch will fast immer etwas anderes sein als das, wozu die Natur ihn bestimmt hat. Er steht nie an seinem Platz und schielt immer nach seinem Nachbar. Aber alle Menschen wären gleich wertvoll, wenn sie dem Naturgesetz gehorchten. Irgendeine nur ihm verliehene Gnade und Kraft wirkt insgeheim in jedem, auch dem unscheinbarsten Menschen; diese allein ist es ja, der er seine Existenz verdankt, die ihn am Leben erhält; ohne sie wäre er nie dieses einmalige Individuum geworden. Aber die Menschen besitzen meistens zu wenig Aufrichtigkeit gegen sich selbst, zu wenig Liebe gegen sich selbst, um diese ihre einzigartige Fähigkeit nun auch zu erkennen. Zugleich mit diesem Talent, das sie von Gott haben, hat der Teufel in einer unbewachten Stunde ihnen eine Art Gegengift verliehen, den unglückseligen Hang, niemals sie selbst sein zu wollen. Dieser sonderbaren Geisteskrankheit waren im Grunde schon Adam und Eva verfallen. Gibt es etwas Schöneres als das Paradies? Und doch hatte es für Adam und Eva einen einzigen Fehler: es war nämlich ihre Bestimmung. Und der Mensch hält nun einmal nur das für ein Paradies, was ihm nicht bestimmt ist. Also handelten die ersten Menschen ganz logisch und folgerichtig, wenn sie den Geboten Gottes nicht gehorchten, freilich nach einer vom Teufel erfundenen Logik.
Shaw zeigt nun, wie die meisten Menschen ihr Leben lang eine fremde Maske tragen, und zwar nicht nur vor den anderen, sondern auch vor sich selbst, bis eines Tages die Schicksalsstunde kommt, in der ihr wahres Wesen sich enthüllt. Es findet sich daher in den meisten Stücken Shaws eine Art Peripetie, durch die die ganze Handlung sich um hundertachtzig Grad verschiebt. Im »Teufelsschüler« sehen wir zum Beispiel Richard Dudgeon, den seine ganze Umgebung für einen zynischen Abenteurer, einen rohen pietätlosen Burschen hält; und er hält sich selber dafür. Und daneben sehen wir Anthony Anderson, den sanften und gütigen Pastor, der alle Welt liebt und von aller Welt wiedergeliebt wird. Aber es tritt ein Moment ein, wo es um Tod und Leben geht, und plötzlich vertauschen sich die Rollen. Und es zeigt sich: Andersons Priestertalar war bloße Draperie und Richards Teufelsfratze war bloße Schminke. Ebenso ist es in der »Candida«. Da ist der Pastor Morell, der verhätschelte selbstsichere Liebling des Schicksals und der Frauen, und der arme verlassene Dichter Marchbanks, der noch niemals geliebt worden ist. Es kommt der große entscheidende Augenblick, da Candida wählen soll. Und sie trifft eine echt weibliche Entscheidung: sie wählt den Schwächeren. Aber dieser Schwächere ist Morell, der scheinbar Starke. Denn er ist vom Leben ununterbrochen so sehr verwöhnt worden, daß er nicht einen Tag lang ohne Candida existieren könnte. Der weltfremde heimatlose Dichter dagegen ist der wahre König des Lebens, er braucht nichts und niemand, denn er hat sich selbst. Und so scheidet er; scheinbar resigniert, in Wahrheit als der Sieger. Dies ist, wenn ich Shaw recht verstehe, das Geheimnis, mit dem er davongeht und von dem das Ehepaar Morell nichts weiß. Aber wenn Düntzer zu einer autobiographischen Bemerkung Goethes die berühmte Fußnote schrieb: hier irrt Goethe, so möchte ich sagen, ohne mich hoffentlich damit als ein ebenso großer Esel wie Düntzer zu erweisen: hier irrt Shaw, Candida kennt das Geheimnis.
In ähnlicher Weise erscheint in den »Helden« der serbische Major Sergius Saranoff als der Typus des edeln Heldenjünglings, neben dem der trockene prosaische Hauptmann Bluntschli verblaßt. Aber in Wahrheit ist es gerade umgekehrt: Bluntschli ist der Held, und Sergius hat vom Helden nichts als das Kostüm, die äußere Geste. Ein Held ist nämlich nicht ein Mensch, der sich unter gar keiner Bedingung vor irgend etwas fürchtet; ein solcher Mensch ist bloß ein Trottel. Sondern ein Held ist ein Mensch, der den Tatsachen mutig und klar ins Auge blickt und mit ihnen scharf und ehrlich zu rechnen weiß. Ganz in diesem Sinne hat Shaw auch in »Cäsar und Cleopatra« seine Auffassung vom Wesen des Genies niedergelegt. Der große Cäsar ist der allereinfachste Mensch von allen. Das Geheimnis seiner Größe ist seine Natürlichkeit, seine Übereinstimmung mit den Gesetzen des eigenen Organismus. Er ist nicht der Mensch, der in den einzelnen Lebenslagen das Überraschende und Exzeptionelle vollbringt, sondern im Gegenteil: der Mensch, der in allen Situationen das Selbstverständliche und Angemessene tut. Wenn alle so lebten und handelten wie dieser Cäsar, so wimmelte die Welt von Genies. Was den Rangunterschied der Menschen bestimmt, ist der Grad ihrer Natürlichkeit. Unverlogene Menschen sind immer groß. Cäsar exzelliert nicht durch die Riesenhaftigkeit, sondern durch die Wohlproportioniertheit seiner Dimensionen. Und niemals hat Shaw die Ironie poetischer verkörpert als hier: in der Ironie des Genies, das die Welt durchschaut.
Shaw donnert die Lüge nicht in den Pfuhl der Hölle hinab, sondern zeigt, wie lächerlich jede Lüge ist. Er sagt nicht: jeder verlogene Mensch ist ein verwerfliches Wesen, sondern: jeder verlogene Mensch ist eine Karikatur. Und er beweist noch mehr: er zeigt, daß die Lüge höchst unpraktisch und daß die Sünde höchst langweilig ist. Um aber das Publikum dazu zu bringen, daß es diese recht unangenehmen Wahrheiten auch schluckt, verwendet er einen pädagogischen Trick. Er tut seine moralische Purgative in die süßschmeckende Hülle des Kolportagedramas, der Burleske oder des Rührstücks, wie ja auch die Tamarindenpastille in einem Schokoladeüberzug steckt. Aber das Publikum ist doch noch schlauer als Shaw. Es leckt die gute Schokolade ab und läßt die Tamarinde stehen. Weswegen Marchbanks recht hat, wenn er sagt: »Die Dichter reden immer nur mit sich selbst.«
In einem imaginären Gespräch läßt Hugo von Hofmannsthal Balzac sagen: »Um 1890 werden die geistigen Erkrankungen der Dichter, ihre übermäßig gesteigerte Empfindsamkeit, die namenlose Bangigkeit ihrer herabgestimmten Stunden, ihre Disposition, der symbolischen Gewalt auch unscheinbarer Dinge zu unterliegen, ihre Unfähigkeit, sich mit dem existierenden Worte beim Ausdruck ihrer Gefühle zu begnügen, das alles wird eine allgemeine Krankheit unter den jungen Männern und Frauen der oberen Stände sein.« Und Oscar Wilde läßt in einem seiner philosophischen Dialoge den Hauptunterredner vom »amour de l'impossible« sprechen, »einem Wahnsinn, der manchen, der sich eben noch vor jedem Übel sicher glaubte, plötzlich befällt, so daß er am Gift unstillbarer Sehnsucht erkrankt und, indem er ewig verfolgt, was er nie erreichen kann, ermattet dahinsiecht oder gewaltsam stürzt«. Die Krankheit, auf die beide hindeuten, war der Skeptizismus. Freilich ist dieser uralt, wahrscheinlich so alt wie das menschliche Denken; aber er hat seine verschiedenerlei Formen und Grade. Es gibt dogmatische und kritische Skeptiker, Skeptiker aus schwächlichem und aus hypertrophischem Selbstbewußtsein, aus Spieltrieb und aus Religiosität, aus Lust am Neinsagen und aus elementarem Bejahungsdrang und noch viele andere Varietäten, die jedermann kennt. Indes hatte diese Generation einen Typus hervorgebracht, der vielleicht in seiner Art neu war. Frühere Zeiten lehrten und bewiesen die Skepsis, diese Menschen aber lebten sie, sie waren der leibhaftige, verkörperte Skeptizismus selbst. Zweifel an jeglicher Realität war das geheime Vorzeichen, das jede ihrer Handlungen begleitete. Eine neue Menschenart war höchst bedrohlich in die Erscheinung getreten: der Skeptiker des Lebens.
Wir lesen die Zweifel eines Epikur, Hume oder Montaigne, aber sie sind kraftvoll, selbstherrlich und höchst positiv gegenüber diesem Skeptizismus. Wir haben den Eindruck: jene Denker experimentierten nur mit dem Skeptizismus, nahmen ihn niemals für etwas Körperhaftes, das wirksam unter den Menschen weilt. Solange man noch über Sein oder Nichtsein philosophiert, ist es nicht schlimm. Diese neuen Skeptiker aber hatten bereits aufgehört zu philosophieren; und hier begann die Gefahr. Sie gaben ihrer Zeit das Gepräge, sie waren in allen Straßen und Räumen zu finden, in Klubs und Kasernen, Kirchen und Kontoren, Hörsälen und Ballsälen, überall. Sie waren keine Zyniker. Aber trotzdem wagte niemand in ihrer Nähe, positiv zu sein. Ihre Kraft war die vis inertiae, ihre Leidenschaft der amor vacui.
»Niemand«, sagt Grillparzer, »ist so in Gefahr, stumpf zu werden als der höchst Reizbare.« In der Tat waren höchste Reizbarkeit und Stumpfheit die Generalzustände des Zeitalters. Diesen Menschen der interessanten Degenereszenz, den unausgeglichenen Zwischenmenschen hat niemand lebendiger und eindrucksvoller verkörpert als Josef Kainz, der müde, reich beladene, aber auch schwer belastete Erbe einer zur Ruhe gehenden Kultur; Kainz, der die Sätze zerhackte oder zersprudelte und ihnen gerade dadurch eine neue merkwürdige Schönheit verlieh, der in seinen nervösen Gesten, seinem wetterleuchtenden Mienenspiel, seiner flackernden Durchgeistigung des Körpers gewissermaßen stilisierte Fahrigkeit war, der in allen Figuren, einerlei ob sie von Shakespeare, Ibsen oder Nestroy waren, den Menschen der Jahrhundertwende vibrieren ließ: den typischen maléquilibré aus seelischer Überfülle, aus überdosierter Intellektualität, in dem Kopf und Herz keine organische Synthese mehr bilden, den provisorischen Menschen, der aus Surrogaten: Verstand, Fleiß, Wissen aufgebaut ist, vorwiegend ein Produkt des Kalküls, genauer Ineinanderfügung und exakter Beherrschung der Teile, einer subtilen und leistungsfähigen Präzisionsmaschine vergleichbar. Die Zeit der »Naturkünstler« war vorbei, man hatte es verlernt, Theater zu spielen, wie der Indianer reitet oder der Seehund schwimmt. Kainz hat das Moment der Arbeit in seine Kunst eingeführt, das ihr bis dahin fast fremd war. Er arbeitete unter einem Zehntausendvoltdruck von Selbstzucht, Drill, Gedächtnis, Spekulation. Im Zeitalter der Maschine hat er aus seinem Körper den empfindlichsten und willigsten Ausdrucksapparat gemacht. Auch sein ratterndes, knatterndes Pathos erinnerte, ähnlich wie das altenbergische, an einen Mechanismus: ein Artilleriefeuer oder eine Maschinengewehrattacke. Obgleich er hierdurch die Schauspielkunst zweifellos auf ein höheres Niveau gehoben hat, fehlte ihm doch andrerseits das, was man das physiologische Mysterium nennen könnte. Seine Wirkungen hatten nichts Unerklärliches: man konnte sie ihm zwar nicht nachmachen, wohl aber nachrechnen. Wenn Sonnenthal oder Robert, Lewinsky oder die Hohenfels auf die Bühne traten, so trennte den jüngeren Zeitgenossen eine riesige Kluft von dieser vorzeitlichen Kunst, aber dennoch konnte sich niemand ihrem magischen Einfluß entziehen. Sie wirkten gewissermaßen rein physiologisch, durch ihr bloßes Dasein, wie Pflanzen oder Tiere. Hier ragt blau und streng eine lange Tanne, träumt süß und dumm ein dickes Schneeglöckchen, dort hüpft plattfüßig und glotzäugig ein grünlackierter Frosch, rennt äußerst wichtig ein stahlgeschienter Laufkäfer: man kann nicht sagen, worauf die realistische und zugleich romantische Wirkung dieser geheimnisvollen Wesen beruht. Und ebenso waren die alten Schauspieler von einer rätselhaften Atmosphäre umwittert, die an Wald, Luft und Erde und dabei an unwirkliche Träume und Visionen erinnerte.
Fand so die Jahrhundertwende das grandiose Echo ihres Tonfalls in Kainz, so wurde ihr genialer Instrumentator Richard Strauß, einer der größten Maler und Denker, dessen Philosophie aber nicht, wie selbst bei Wagner, von einer anderen, sondern aus dem versenkten Orchester des eigenen Innern bezogen war: als die Geburt der Philosophie aus dem Geiste der Musik; zugleich der Schöpfer eines völlig neuen Tonmantels, indem er, wie Shaw dies vorzüglich ausdrückt, an die Stelle der unvorbereiteten Dissonanz Wagners die unaufgelöste setzte.
In dem großen Repetitionskursus der Stile war man um 1900 beim Biedermeier angelangt. In der Innenarchitektur wurden die Linien zusehends einfacher, die Formen sparsamer, die Farben geräuschloser; gleichwohl wirkte diese Renaissance, dem Zeitgeist nur scheinbar konformer, ebenso affektiert wie die vorhergegangenen. Auf Wolzogens »Überbrettl«, aber auch bei Salonliteraten und Dandys kamen wieder die geschweiften Taillenröcke und breiten Halsbinden, Samtkragen und Samtwesten des Vormärz in Gunst. Auch die Schlankheitsmode, die um die Jahrhundertwende langsam einzusetzen begann, knüpfte an die Romantik an. Im »Simplizissimus« war die Biedermeiernote durch Thomas Theodor Heine vertreten, der, ebenso wie sein Namensvetter, hinter zynischer Satire wehmütige Empfindsamkeit verbarg. An der Spitze der europäischen Décadence stand ein Jahrzehnt lang Gabriele d'Annunzio. Seine Produkte, kaduke Monstregewächse in süßer überheizter Treibhausluft, versammeln alle starken Suggestionsmächte der Epoche: die üppige Palette des Impressionismus, das schwüle Orchester Wagners, die gepflegte Morbidität des Präraffaelismus, die virtuos nachgeschauspielerte Lebensphilosophie Nietzsches. Seine Werke sind, wie Hofmannsthal sehr fein erkannte, von einem geschrieben, der »nicht im Leben stand«: »Es waren durchaus Erlebnisse eines, der mit dem Leben nie etwas anderes zu tun gehabt hatte als das Anschauen. Das brachte etwas ganz Medusenhaftes in die Bücher, etwas von dem Tod durch Erstarren.«
Die Schule der »Décadents« oder »Symbolisten« entstand in den achtziger Jahren in Frankreich. Ihr Begründer und Führer war Mallarmé, der in ihr dieselbe Rolle spielte wie Leconte de Lisle für die Parnassiens. Seine Lyrik ist streng esoterisch, radikal artistisch, zum Teil gewollt rätselhaft und eine Art »absolute Poesie«, in der die Worte und ihre Arrangements Eigenwert haben, unabhängig von Sinn und Zusammenhang, Deskription und Logik. Der Baudelaire der Gruppe war Paul Verlaine, auch er in tragische Liebeshändel verstrickt, aber dem griechischen Eros opfernd, zwischen Nachtcafé und Spital das Leben des Kunstzigeuners schleppend, das in der Realität gar nicht lustig ist. Er war der erste, der für die dämmerigen Zwischenreiche der Seele das malende Wort gefunden hat, der Meister des mezzotinto.
Eine der charakteristischsten Besonderheiten der Symbolisten war ihre literarische Verwertung der Synästhesien oder Sinnesvermischungen: des Hörens von Farben, Sehens von Tönen, Schmeckens von Gerüchen. Sie wurden mit Spott überschüttet, wobei man vergaß, daß sie nur konsequent ausgestalteten, was längst sowohl in der Kunst wie in der Wissenschaft anerkannt war; denn immer schon hatte man von Farbentönen, Klangfarben und dergleichen gesprochen, und seit Jahrzehnten hatte die Experimentalpsychologie beobachtet, daß wir niemals eine einzelne Art von Sinneseindruck aufnehmen, sondern immer mehrere miteinander, durcheinander, gegeneinander. Es handelte sich hier um ein einfaches Ergebnis des Impressionismus, ein Zurückgehen auf die wirkliche Impression. Wir sehen, hören, tasten, riechen, schmecken niemals getrennt, sondern stets gleichzeitig. Was wir allein berechtigt sind, eine reale Empfindung zu nennen, ist ein unentwirrbares Gemenge der verschiedensten Qualitäten von Sinnesreizungen, dem noch die für gewöhnlich nicht bewußten Gemeingefühle (der Lage, der Temperatur, des »Befindens«) ihre besondere Färbung geben. Die Ausschließlichkeit einer bestimmten Art Sinn, zum Beispiel des Gehörs, ist pathologisch und gehört unter die Hemmungserscheinungen. Ja, zwei Sinne, der Geruch und der Geschmack, sind nicht einmal anatomisch voneinander zu trennen, denn der nervus trigeminus mündet sowohl in die Zunge wie in die Nasenschleimhaut und vermittelt beide Empfindungen. Wir sprechen daher von Veilchengeschmack, Rosengeschmack, bittern, süßen, sauern Gerüchen. Wenn wir sagen, etwas schmecke stechend oder beißend, spielen wieder Tastempfindungen eine Rolle; daß auch der Gesichtssinn in Betracht kommt, weiß jeder Konditor; daß der Temperatursinn beteiligt ist, können wir an lauwarmem Rheinwein und eisgekühltem Burgunder konstatieren. Es sind also in dieser so einfachen Empfindung, die wir »Geschmack« nennen, nahezu alle Sinnesreize beisammen.
Die neue Form, die die Symbolisten schufen, war das poème en prose, »l'huile essentielle de l'art«, wie es Huysmans nannte, »das Meer der Prosa, zusammengedrängt in einen Tropfen Poesie«. Dieser hatte bereits 1884 den klassischen Roman der Décadence in »À rebours« geliefert: die Erzählung, eigentlich bloß ein fortlaufender autoanalytischer Monolog des Helden, hat zum ausschließlichen Objekt das Extra- und Kontrareguläre in jederlei Sinn: das Disharmonische, Morbide, Amoralische, Asoziale, Perverse, bis zum Irrsinn und Verbrechen; auch in der Sprache und Komposition, die amorph, asyndetisch, psychopathisch ist. In dem Herzog Jean Florissac des Esseintes ist ein Archetyp geschaffen wie im esprit romanesque. Es ist René nach achtzig Jahren.
Einen ganz anderen Charakter hat der belgische Symbolismus. Sein erstes Werk war ein erschütterndes kleines Drama »Les Flaireurs« von Charles van Leberghe, das das Herannahen des Todes schildert. Es hat ganz offenbar als Vorbild für Maeterlincks »L'Intruse« gedient, dessen erste Dichtung »Princesse Maleine« Octave Mirbeau 1890 im »Figaro« mit den Worten ankündigte, sie sei »die weitaus genialste, weitaus absonderlichste und weitaus naivste Schöpfung dieser Zeit, vergleichbar, ja überlegen dem Schönsten, was im Shakespeare zu finden ist, ein anbetungswürdiges reines ewiges Meisterwerk, wie es die edelsten Künstler in den Stunden der Begeisterung sich bisweilen erträumt haben«. Und das war nicht zu viel gesagt.
Maeterlincks Gestalten schweben in einem imaginären Raum, oder vielmehr in gar keinem Raum, da sie nicht körperlich, sondern als gleitende Schatten gesehen sind. Man wäre infolgedessen versucht, ihn in die Gruppe der »zweidimensionalen Dichter« einzureihen, von denen an anderer Stelle gesprochen wurde, wenn er sich nicht von ihnen durch etwas sehr Wesentliches unterschiede, das seine Theaterkunst zu einem Unikum in der Weltliteratur macht. Während es sich nämlich bei jenen um einen Defekt, sozusagen um einen organischen Fehler ihrer dramatischen Konstitution handelte, vermeidet Maeterlinck ganz bewußt und mit voller künstlerischer Absicht die dritte Dimension und erreicht damit etwas ganz Seltsames und Unerhörtes: es gelingt ihm, die vierte Dimension auf die Bühne zu bringen.
Das große Publikum besitzt, worauf schon bei Shaw hingewiesen wurde, eine sehr ausgeprägte Neigung, jede neue geistige Erscheinung sofort zu etikettieren, mit einem einmaligen handlichen Spitznamen zu versehen, und glaubt, damit der strapaziösen und verantwortungsvollen Verpflichtung, sich jenes neue Phänomen nun auch wirklich seelisch einzuverleiben, ein für allemal enthoben zu sein. Dieser ebenso eingewurzelte wie verderbliche Hang der Menge, den man vielleicht den »Willen zur Chiffre« nennen könnte, hat auch an Maeterlinck seine verflachende und irreführende Wirkung erprobt: man griff ein Wort auf, das er selbst einmal zu Huret über sich gesprochen hatte, und nannte ihn fortan »un Shakespeare pour marionettes«. Also: ein Dichter, der sich zwar der Fülle, Buntheit und Bewegtheit des Lebens nicht gänzlich verschließt, sie aber künstlich auf die Primitivität eines steifen und mechanischen Gliederpuppentheaters hinunterstilisiert. Dieser Generalnenner, den Maeterlinck nun schon länger als ein Menschenalter mit sich herumträgt, ist jedoch nicht nur einseitig wie alle Schlagworte, sondern beruhte überhaupt von vornherein auf einem groben Mißverständnis. Denn es verhielt sich keineswegs so, daß der Dichter sich aus irgendeiner artistischen Laune entschlossen hatte, die kindliche und veraltete Form des Puppentheaters wieder zum Leben zu erwecken, was bestenfalls eine liebenswürdige und geistreiche Spielerei gewesen wäre, sondern er hatte erkannt, daß das Leben ein Puppendrama und die Marionette das tiefste und erschütterndste Symbol unserer Existenz ist. Treten wir nämlich nur ein wenig zurück, so bemerken wir, daß der Glaube, wir selbst seien die Urheber unserer körperlichen und seelischen Gesten, auf einer optischen Täuschung beruht: eine erhabene geheime Kraft, die unser ganzes Dasein in allen seinen großen und kleinen Bewegungen lenkt, wir könnten sie den unsichtbaren Dichter unseres Lebens nennen, wirkt sich auf dieser unserer Erdenbühne aus, und unter einem solchen Aspekt beginnt sich alles sogleich viel unpathetischer und unpersönlicher zu vollziehen. Blickt man von einem hohen Berge auf die Städte und Felder, die ziehenden Herden, die Bäume im Winde, die fahrenden, reitenden, rennenden Menschen in ihrer lautlosen Geschäftigkeit, so wird man allemal sogleich den befremdenden Eindruck des Mechanischen haben; und ganz ebenso ergeht es uns, wenn wir zum Leben eine genügende seelische Distanz nehmen. Aber, so könnte man nun wohl einwenden, hat Maeterlinck durch diese Art, unser Schicksal zu sehen, die Seele nicht gleichsam aus der Welt exkommuniziert und uns damit vielleicht reicher an Erkenntnis, aber unvergleichlich ärmer an Vitalität gemacht? Dann wäre er, selbst wenn sich die Wahrheit auf seiner Seite befände, kein Wohltäter der Menschheit. Aber so verhält es sich keineswegs: weit entfernt davon, die Seele von ihrem Thron zu stoßen, hat er sie erst eigentlich entdeckt und in ihre wirklichen souveränen Rechte eingesetzt. Denn anstatt uns wie bisher auf die ohnmächtigen Flügelschläge unserer Einzelseelen zu verlassen, vermögen wir nunmehr die Weltseele in ihrem majestätischen zeitlosen Wirken zu erkennen; und auf Kosten jener kleinlichen, unsicheren und von Anfang an verdächtigen Empfindung, die wir Selbstgefühl nennen, haben wir das Allgefühl gewonnen, das uns nie enttäuschen wird, denn es ist größer als wir, nie verwirren wird, denn es ist die mit sich selbst einige Klarheit, nie verleugnen wird, denn es hat uns geboren, und nie verlassen wird, denn es wird uns überleben und mit der Unsterblichkeit verknüpfen.
Wer sind wir? Wozu sind wir? Steuern wir auf etwas Gewisses? Ruhen wir auf etwas Gewissem? Ist überhaupt irgend etwas gewiß? Diese und ähnliche bedrückende Fragen klagen und jammern aus den kleinen Dramen Maeterlincks, wiederholen sich immer wieder, in unzähligen Variationen, aber immer gleich geheimnisvoll, gleich schreckhaft, gleich antwortlos. Nur eine große Ahnung läßt diese dahindämmernden Seelen in schmerzvollen Schauern erbeben: es wird etwas Entsetzliches geschehen, etwas Grauenvolles, Unsagbares, Unfaßbares, ein Unglück, das nie wieder gutzumachen sein wird. Gegen dieses Unglück kann man nicht ankämpfen. Es kommt immer, es ist unbesieglich. Sich wehren, um sich schlagen, sich wappnen, vorausberechnen nützt nichts. Das Leben kommt und nimmt uns mit. Der Angst vor dem Leben, die jede Kreatur quälend durchdringt, hat Maeterlinck eine eindringlichere, erschütterndere Gestalt gegeben, als es je bisher ein Dichter vermocht hat. Es gibt bei seinen Wesen überhaupt nur zwei Verhaltungsweisen zum Leben: entweder stets erstaunt sein oder niemals erstaunt sein. Zur ersten Gruppe gehören die Frauen, die Mädchen, die Kinder, alle mit dem Gefühl lebenden Geschöpfe. Sie befinden sich gegenüber allen Bewegungen des Daseins, den ungeheuersten wie den geringfügigsten, ja der einfachen Tatsache des Lebens selbst in einer immerwährenden maßlosen Verwunderung. Sie haben zu empfindliche Organe für die Brutalität, die Sinnlosigkeit, die Perversität der animalischen Existenz. Weil sie immer vor etwas fliehen, einem Verhängnis entgegendenken, entgegenzittern müssen, gelangen sie zu keiner Handlung. Sie kommen nie zum Leben, aus Furcht, ihm bei seiner ersten Berührung zu erliegen. Sie haben es mit allen seinen Schrecken schon im Instinkt, in der Phantasie, in den Nerven, in der Divination antizipiert, und so wandeln sie dahin gleich hilflosen Materialisationen eines mächtigen Geisterbeschwörers: als Unterpfänder einer höheren Existenz, die aber bloß zu erscheinen vermögen und nicht imstande sind, sich mit dieser Welt in fruchtbaren Verkehr zu setzen. Sie können nicht verstehen, sie wollen nicht verstehen, weil sie das Unfaßbare des Irdischen erkannt haben. »Man muß ...«, »man müßte ...«: das sind die äußersten Vibrationen, die die herannahende Gewalt des Schicksals in diesen merkwürdig hellen und dumpfen Triebwesen auszulösen vermag. Überall lauern die Härten, die unvermittelten Übergänge, die Komplikationen, denen keines von ihnen gewachsen ist. Die andere Gruppe dagegen, die niemals Erstaunten, die Weisen, die Greise, die alten Ammen und Mütter, die Heiligen, Könige und Bettler, wissen wiederum zu viel; und da sie, gleich den Engeln der Kabbala mit tausend Augen bedeckt, alles sehen, alle vielfältigen Verknotungen und Verschränkungen des Schicksals, gelangen auch sie zu keiner Tat; vor lauter Beziehungen haben sie keine einzige feste mehr.
Im ersten Buche wurde gesagt, die Bilder, die die flämischen Ahnen Maeterlincks im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert geschaffen haben, seien gemalte Mystik gewesen. Von ihm könnte man sagen, er habe jene Gemälde dramatisiert. Seine Menschen, auch wenn er sie in unsere Tage versetzt, wirken wie Gestalten aus einer grauen Vergangenheit oder wie Geschöpfe der Zukunft, niemals wie Wesen der Gegenwart. Er wirft ein magisches Licht über sie, dessen Erzeugung offenbar sein Geheimnis ist, und plötzlich sind sie aller sinnlich deutbaren Körperlichkeit, aller profanen Realität entkleidet. Anatole France hat einmal über Villiers de l'Isle- Adam gesagt: »Er ging durch die Welt wie ein Schlafwandler: von dem, was wir alle sehen, sah er nichts, aber was unseren Augen verschlossen ist, sah er.« So verhält es sich auch mit den Figuren Maeterlincks. Das wirkliche Leben, das tägliche, gewöhnliche, praktische des Augenscheins und der normalen Sinne sehen sie nicht, ihm gegenüber sind sie verschüchtert und ohnmächtig, ratlos und stumm wie Kinder und fast wie Schwachsinnige; aber während sie so in der groben Realität blind herumtappen, öffnet sich einem geheimnisvollen inneren Sinn, den nur sie besitzen, eine andere Welt, ebenso real wie diese, ja viel realer, die Welt der Ahnungen und Träume, der Fernwirkungen und Fernwitterungen, in der alle Geister und Seelen sich als ein ungeteiltes Ganzes, eine Einheit und Harmonie fühlen und in der es daher keine Mißgriffe, keine Unsicherheiten, keine Kämpfe gibt. Auch sie sind »flaireurs«, Flaireurs des Unfaßbaren und Unsichtbaren, in dem das wahre Geheimnis unseres Wesens beschlossen liegt.
Aber wir sagen Geheimnis und wollen, wie dies zu allen Zeiten der Fall war, damit nichts endgültig Unlösbares und Unentzifferbares bezeichnen, sondern nur etwas, dem wir sein letztes Wort noch nicht abgerungen haben, etwas Werdendes, Entstehendes, das im Begriff ist, sich uns zu offenbaren. Es zögert noch; oder vielleicht sind wir es, die zögern? Es handelt sich, mit einem Wort, um alle jene Energien und Manifestationen, die wir die »okkulten« nennen. Es sind zweifellos Naturkräfte wie alle anderen, ebenso gesetzmäßig und unergründlich, ebenso wohltätig und gefährlich, aber uns heute eben noch »verborgen«. Maeterlinck ist der erste Dramatiker des okkulten, des telepathischen, des »Seelen«-Sinnes. In seinen Vorlesungen über Psychoanalyse sagt Sigmund Freud, die Eigenliebe des Menschen habe bisher drei große Kränkungen von der Wissenschaft erdulden müssen: die erste, als er durch Kopernikus erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls sei, die zweite, als Darwin ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies, und die dritte und empfindlichste, als die heutige psychologische Forschung dem Ich zeigte, daß es nicht einmal Herr im eigenen Hause sei, sondern auf die kärglichen Nachrichten dessen angewiesen bleibe, was unbewußt im Seelenleben vorgehe. Dies ist in der Tat auch die Erkenntnis, die im Herzen der Dramen Maeterlincks lebt: »dies sagt man und jenes sagt man, aber die Seele geht ihren eigenen Weg.« Aber Freud, dessen Ingenium die bloße Erforschung des Irdischen gewählt hat, ohne dem Göttlichen einen Blick zu schenken, übersieht oder verschweigt den ungeheuern moralischen Zuwachs, der uns durch ebendiese Erkenntnis geworden ist: daß nämlich das, was die Psychoanalyse mit einem kalten, abweisenden und fast verächtlichen Wort Unterbewußtsein nennt, nichts ist als das Bewußtsein eines uns unendlich überlegenen und daher unverständlichen Geistes und daß wir noch niemals so groß waren wie jetzt, wo wir nach dem Fall der letzten Bollwerke unseres selbstherrlichen Ich uns in inniger und unzerstörbarer Kryptogamie mit dem Weltgeist erkannt haben.
Alle Mittel, durch die bisher der Dramatiker seinen stärksten Ausdruck und seine fesselndste Wirkung erzielt hat: Deutlichkeit und Schärfe, Wucht und Schlagkraft, Reichtum an Handlungen und Geschehnissen, lebhaft vorwärtsdrängende Entwicklung, individuelle und bunte Charakteristik, alle diese Mittel sind Maeterlinck fremd: seine Gestalten wandeln unter dem Nebelschleier eines tiefen Mysteriums und ihre Schicksale sind nichts weniger als eindeutig, ja überhaupt kaum zu deuten; kein Charakter wächst aus der dramatisch fruchtbaren Sphäre des Willens hervor, niemand will, niemand handelt, auch äußerlich geschieht wenig von Belang. Es sind lauter schmale Figuren von einer ungemein sparsamen Zeichnung, die wie Irre oder Berauschte eigensinnig immer dieselben Sätze wiederholen, dabei ganz homogen charakterisiert: alle haben für dieselbe Empfindung denselben Ausdruck und für denselben Eindruck dieselbe Empfindung. Hier sind Schattenspiele in einem mehr als äußerlichen Sinn; denn was der Dichter zeigt, sind nur die Schatten, die von ungeborenen, nie zu gebärenden Taten in der Seele des Menschen vorausgeworfen werden. Ibsen beschwört die Schatten der Vergangenheit, Maeterlinck macht es umgekehrt; und eigentlich ist es dasselbe. Beide lassen nur ein Reales gelten: die Seele; Vergangenheit und Zukunft sind bloße Projektionsphänomene, Spiegelungen des Ewigen, das immer da ist. Dies ist entweder keine Handlung oder die tiefste Handlung, entweder ganz undramatisch oder höchste Spannung wie im Kreisen der Atome eines scheinbar ruhenden Körpers oder im Gleichgewicht der einförmig dahinwandelnden Gestirne: ein Theater ohne Theatralik, ein Theater des Schweigens, des Aufhorchens und der Passivität, die die Weltharmonie in sich einströmen läßt. Die »Spannung« dieser Dramen ist nicht die brutal materielle, wie wir sie gewöhnt sind, sondern die latente und darum viel aufregendere, wie sie in einer geladenen galvanischen Batterie besteht. Maeterlinck hat sich hierüber selber in einer wunderschönen Betrachtung geäußert: »Blüht unsere Seele nur in Gewitternächten auf? ... Es liegt mir nahe zu glauben, daß ein Greis, der im Lehnstuhl sitzt und beim schlichten Lampenschein verharrt, der, ohne sie zu begreifen, alle die ewigen Gesetze belauscht, die rings um sein Haus walten ... in Wahrheit ein tieferes, menschlicheres und allgemeineres Leben lebt als der Liebhaber, der seine Geliebte erdrosselt, der Führer, der einen Sieg erringt.«
Shakespeare könnte heute kein einziges seiner Stücke mehr schreiben. Er müßte sich sagen, daß Othello die Desdemona nicht töten wird, wenn er nicht gerade betrunken ist, sondern daß er etwas anderes tun oder reden wird, irgend etwas scheinbar Unbedeutendes und Nebensächliches, etwas, das sich schwer vorausberechnen läßt, das aber vielleicht tiefer treffen wird als sein Dolch. Bei einem Othello der Shakespearezeit lag die Gleichung klar und deutlich vor Augen: er wird sie töten. Was sollte er denn sonst tun, wenn er nicht gerade betrunken ist? Die Menschen waren eben damals viel übersichtlicher, einfacher, schematischer. Ein genialer und kenntnisreicher Seelenforscher konnte mit ihnen ebenso Astronomie treiben wie Galilei mit seinen Sternen. Man mußte nur die Gesetze der Epizyklen kennen, die sie beschreiben würden. Und Shakespeare selbst hat bereits im »Hamlet« wie in einem Gleichnis das Schicksal der dramatischen Kunst gezeichnet. Sie geht umher, gequält und verfolgt von nächtlichen Gesichten, angetrieben zu weitausladenden geräuschvollen Handlungen, zu Mord und Totschlag, Kampf und Tat, und indem sie den Sinn und Wert aller dieser Lebensäußerungen prüft, erkennt sie: sie haben keine innere Existenzberechtigung, sind nichts als Konzessionen, dem Milieu gemacht, worin wir leben, nämlich dem großen Irrenhaus von Unweisheit und Ungute, das man Menschheit nennt. Und wie Hamlet in solchen Reflexionen sich selbst zersetzt und lebensunfähig macht, gelangt im langsamen Prozeß der Selbstbespiegelung die dramatische Kunst zu ihrer Selbstauflösung.
Ich sehe hierbei ab von dem lärmenden Zwischenspiel einer Theaterkunst, die sich futuristisch nennt, obgleich sie ganz und gar der Vergangenheit angehört und nur ein letzter Krampf und verzweifelter Versuch ist, künstlerischen Ausdruck mit Mitteln zu finden, die historisch geworden sind. Es kommt aber nicht auf Aktivismus an, auf Sichbemühen und Velleitäten, sondern auf Stillehalten, damit das Neue in uns wirken kann. Dieses Neue ist die Seele. Die Seele war natürlich immer da, wie ja auch Mund und Kehle schon längst da waren, ehe der Mensch sie zur Rede gebrauchte; aber erst heute schickt sie sich an zu sprechen. Maeterlinck ist nicht, wie fast alle seine Zeitgenossen, ein Ende, sondern ein erster Anfang, von dem ein neues, unreifes und noch völlig im Unsicheren tastendes Menschentum seinen Ausgang nimmt. Er ist keine Mündung, sondern eine Quelle. Es gibt keinen lebenden Denker, in dem jene eigenartige coincidentia oppositorum aus höchstem Zweifel und höchster Gewißheit, die immer die Introduktion eines neuen Abschnittes der Geistesgeschichte bildet, einen so intensiv konzentrierten, so innerlich erlebten und so ergreifend dramatischen Ausdruck gefunden hat wie in Maeterlinck.
Über die künstlerischen Emanationen, die in der Zeit zwischen der Jahrhundertwende und dem Weltkrieg hervorgetreten sind, kann im Rahmen unserer Darstellung nichts gesagt werden. In der Einleitung dieses Werks wurde dargelegt, daß dessen Methode eine prinzipiell unwissenschaftliche sei. Es handelt sich hier natürlich nur um eine ideale Forderung; sie überall restlos zu erfüllen, dürfte die bescheidenen Kräfte eines einzelnen übersteigen, und nicht selten wird der gute Wille an die Stelle der Tat getreten sein. Diesen aber wird keine objektive Beurteilung dem Verfasser aberkennen dürfen; und zudem tröstet ihn die Hoffnung, daß sein gesunder Instinkt ihn auch dort zu pseudowissenschaftlichen Resultaten geleitet habe, wo er sie gar nicht beabsichtigt hatte. Diese Betrachtungsart ist aber auf die Kunst nach 1900 unanwendbar, weil auf diesem Gebiete (welches Zugeständnis jedoch nicht als ungehörige captatio benevolentiae aufgefaßt werden möge) die Fachgelehrten mindestens ebenso große Dilettanten sind wie der Verfasser; seine Untersuchungen wären daher von vornherein von der Gefahr der Überflüssigkeit bedroht gewesen. Unwissenschaftlich kann offenbar nur behandelt werden, was schon Objekt der Wissenschaft geworden ist.
Indes mögen diese Erwägungen vielleicht aus einer gewissen Übergewissenhaftigkeit fließen. Es gibt aber noch einen zweiten, viel entscheidenderen Grund für die Ausschaltung dieser Phänomene, der ebenfalls in unserer besonderen Methode zu suchen ist. Die Maßstäbe der Kulturgeschichte sind nämlich keineswegs dieselben wie die der Ästhetik. Diese wertet die Kunstwerke und ihre Schöpfer nach ihrer absoluten Bedeutung, jene betrachtet sie auf ihren physiognomischen Charakter: den Stärkegrad, in dem sie, mit Hamlet zu sprechen, dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zeigten. Unter diesem Aspekt kann es vorkommen, daß Werke von Ewigkeitsgehalt nur eine flüchtige Erwähnung erfahren und solche, die unvergleichlich tiefer stehen, ausführlich gewürdigt werden, ja, daß manche, die in einer Geschichte der bildenden Kunst, der Literatur oder der Musik unter keiner Bedingung fehlen dürften, überhaupt unbeachtet bleiben. So sind wir zum Beispiel, um nur einige wenige Namen anzuführen, der Ansicht, daß Dichter wie Ponsard, Maler wie Thoma, Philosophen wie Lotze, Komponisten wie Saint-Saëns keine erhebliche kulturhistorische Bedeutung besitzen.
Die letzten zehn bis fünfzehn Jahre der Neuzeit haben aber merkwürdigerweise fast nur solche »zeitlose« Erscheinungen hervorgebracht. Sie alle haben kein kontrollierbares Verhältnis zu ihrer Epoche, sind nicht deren Diagramm. Könnte Thomas Mann nicht ein Zeitgenosse Wilhelm Meisters gewesen sein, Heinrich Mann ein Contemporain Stendhals, Max Reinhardt ein Theaterzauberer der Hochbarocke, Hans Pfitzner ein altdeutscher Meister der Dürerzeit? Stefan George ist von Gundolf sogar als eine antike Erscheinung angesprochen worden. Man könnte sagen: Um die geheime Zeitverbundenheit zu fühlen, fehle uns die historische Distanz. Aber wir fühlen sie merkwürdigerweise sehr deutlich bei der jüngeren Generation, die nach dem Kriege zu Wort kam: ihre Produkte, obgleich an Wert viel tiefer stehend, sind unverwechselbarer Ausdruck einer bestimmten historischen Situation, können unmöglich in eine andere versetzt werden. Das gilt sogar von der Schauspielerei. Die Alfreskokunst eines Bassermann und Werner Krauß, die Aquarellkunst eines Waldau und Gülstorff (die alle noch aus der Vorkriegszeit stammen) wäre in jeder Etappe der neueren Theatergeschichte denkbar gewesen; hingegen gab und gibt es Schauspieler, die mit ebensolcher Bestimmtheit für den Expressionismus reklamiert werden können wie etwa die Duse oder die Yvette Guilbert für den Impressionismus.
Goethe verwendet in seiner Geschichte der Farbenlehre einigemal den Begriff der »Lücke«. Eine solche Lücke war die Zeit vor 1914. Die Neuzeit rollt ab; dem Weltkrieg zu. Dieser wäre vielleicht unter allen Umständen gekommen, vielleicht; aber daß er so unausweichlich, so bald und so kam, war das Werk der europäischen Diplomatie.
Die Schurkerei, sagt der Pessimist, ist leider der menschlichen Rasse ziemlich eingefleischt, was sich nur zu oft gerade in den für uns typischen (sowohl privaten wie öffentlichen) Handlungen zeigt. Nein, sagt der Optimist, die Schurkerei ist der bedauerliche Ausnahmefall, sonst hätte sie nicht allemal das (sowohl private wie öffentliche) Gewissen gegen sich; gibt es zum Beispiel irgendeinen offiziell anerkannten oder gar staatlich betriebenen Beruf, dessen Inhalt die Schurkerei wäre? Gewiß, erwidert der Pessimist, gibt es einen solchen: die Diplomatie.
Eine ganze Klasse von Menschen, zumeist jener fetten trüben Oberschicht von Nichtstuern, Weiberjägern und Hasardspielern angehörig, die man die Creme nennt, wird von der Regierung in besondere Schulen geschickt, mit Revenuen ausgestattet, mit Ehrenzeichen und Titeln belohnt, ausdrücklich und eingestandenermaßen dafür, daß sie ihr ganzes Leben mit Intrigieren, Spionieren, Betrügen und Bestechen hinbringt: staatlich anerkannte und besoldete Gauner und Taugenichtse also; Drohnen mit Giftstachel also. Sie sind die Meister der Lüge, die Handlanger der Hölle, die schlimmste Spielart von Schurken, nämlich Schurken mit gutem Gewissen, denn sie lügen ja »fürs Vaterland«. In der Renaissance taten sie einander Gift in die Schokolade, ebenfalls fürs Vaterland; was heute unseren humanen Abscheu erregt. Aber der Unterschied ist sehr klein: sie vergiften noch immer, nur mit feineren, böseren Giften.
Mit Lügen läßt sich nie etwas dauernd Wertvolles erzielen. Eine Lüge ist nichts, ist allemal nur die Negation irgendeiner Wirklichkeit; wie sollte es möglich sein, auf einem Nichts und einer Verneinung irgend etwas von einiger Festigkeit zu errichten? Jede Lüge ist eine grenzenlose Stupidität: der sinnlose Versuch, einen Zweck mit prinzipiell untauglichen Mitteln zu erreichen. Und daher kommt es wohl hauptsächlich, daß geistig minderwertige Personen sich mit besonderer Vorliebe zur diplomatischen Karriere drängen. Ein Leben fortwährender Spiegelfechterei, Geheimniskrämerei, krummer, unreiner und zweideutiger Beziehungen zu allen Menschen und Dingen kann man auf die Dauer nur aushalten, wenn man ein hoffnungslos gescheiter Dummkopf ist.
Daß das Lügen ein unentbehrliches Instrument des diplomatischen Geschäfts sei, ist eine Lüge der Diplomaten. Wir haben seinerzeit erörtert, daß die siegreiche Grundkraft sowohl Friedrichs des Großen wie Bismarcks ihre tiefe Wahrhaftigkeit war. Die Größe Julius Cäsars bestand darin, daß er inmitten eines trüben Chaos eine kristallklare Seele war. Auch Napoleons Kardinalbegabung war die Fähigkeit, den Realitäten ins Herz zu blicken, zu ihnen in einer geraden Beziehung zu stehen. Solange er der Sohn der Tatsachen blieb, war er der freudig begrüßte Kaiser von Europa; als er anfing, die Welt zu belügen, begann sein Stern zu sinken.
Die Diplomaten haben natürlich den Krieg nicht erfunden. Aber sie sind seine stärksten Helfer und Verlängerer. Ohne sie würden die Kriege nicht aufhören, aber sie würden vielleicht seltener und bestimmt edler, aufrichtiger und mit mehr Widerstreben geführt werden; und vielleicht, indem sie so ihre bisherige Stellung in der Ökonomie unseres Denkens und Empfindens immer mehr verlören, würden sie dann doch aufhören.
Am 29. September 1911, dem Tage der Kriegserklärung Italiens an die Türkei, beobachtete man am Himmel Nordafrikas einen Kometen im Sternbilde des Löwen, der von Tag zu Tag heller strahlte, und alsbald ihm gegenüber einen zweiten Haarstern, der wie ein Schwert nordwärts zu weisen schien.
Unruhen und blutige Kämpfe in Armenien, Arabien, Albanien hatten Italien ermutigt, im Jubeljahr der Einigung sich endlich in Libyen festzusetzen. Dies wiederum bestärkte die Balkanstaaten in dem Entschluß, den Kampf um die europäische Türkei aufzunehmen. Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro schlossen zu diesem Zweck im Frühjahr 1912 ein Vierbündnis, das in mehrere gesonderte Verträge zerfiel. Der bulgarisch-griechische Vertrag kehrte sich lediglich gegen die Türkei und enthielt keine näheren Bestimmungen über die Aufteilung Mazedoniens. Der bulgarisch-serbische Vertrag sprach Serbien Altserbien und den Sandschak zu, Bulgarien etwa fünf Sechstel von Mazedonien, über den Rest sollte der Zar Schiedsrichter sein; allerdings hatte sich Bulgarien dann noch mit Griechenland auseinanderzusetzen. Außerdem war aber diese Allianz auch ausdrücklich gegen Rumänien und Österreich gerichtet: Artikel 2 bestimmte: wenn die Rumänen Bulgarien angriffen, sei Serbien verpflichtet, ihnen unverzüglich den Krieg zu erklären, Artikel 3: wenn Österreich-Ungarn Serbien angreife, sei dafür Bulgarien verpflichtet, den Krieg zu erklären. Als eine Note, worin Bulgarien, Serbien und Griechenland für die christlichen Völkerschaften des Balkans Autonomie verlangten, von der Pforte ablehnend beantwortet wurde, erklärten sie am 17. Oktober den Krieg (Montenegro tat es schon neun Tage früher, was, da der Kampf längst beschlossen war, eine einfache Baissespekulation des Königs Nikita war, die ihm und seinen Pariser Bankiers Millionen eintrug). Um Luft zu bekommen, sah sich der Sultan genötigt, am 18. Oktober mit Italien den Frieden von Lausanne zu schließen, worin er Tripolis und die Cyrenaika in der Form abtrat, daß er ihnen »kraft seiner Herrscherrechte« volle Autonomie gewährte.
Die türkische Armee befand sich in einem desolaten Zustand. Sie war zwar mit Kruppkanonen ausgerüstet, die den englischen und französischen Geschützen der Gegner mindestens ebenbürtig waren, verfügte aber über fast gar keine Munition. Tausende von Rekruten wurden so unausgebildet ins Feuer geschickt, daß sie nicht einmal wußten, wie ein Gewehr zu handhaben sei; seit der jungtürkischen Revolution waren auch die Christen in den Heeresdienst eingestellt, die sich aber als höchst unzuverlässig erwiesen. Ein Train existierte überhaupt nicht. Da ein großer Teil der Truppen erst aus Asien herangezogen werden mußte, ging die Mobilisierung viel zu langsam vonstatten. Auch die Führung versagte vollständig. Ende Oktober siegten an demselben Tage die Bulgaren bei Kirk-Kiliss, die Serben bei Kumanowo, kurz darauf die Bulgaren abermals in der fünftägigen Schlacht von Lüle-Burgas. Die Türkei schien vernichtet; Ferdinand von Bulgarien hoffte bereits in Konstantinopel einziehen und sich dort als oströmischer Kaiser Symeon krönen zu können. Aber die Tschadaltschalinie, welche die Halbinsel, auf der die Hauptstadt liegt, vollständig von Meer zu Meer absperrt, hatte schon Moltke, als er in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre militärischer Beirat des Sultans war, für unüberwindlich erklärt; und hier kam in der Tat der Stoß zum Stehen. Die stürmenden Truppen verbluteten sich, ganze Regimenter wurden aufgerieben.
Die Großmächte, die alle an der Balkanfrage intim beteiligt waren, hatten von Anfang an unter steten Friedensbeteuerungen eine drohende Haltung eingenommen. Schon vor Ausbruch des Krieges unternahm Rußland eine demonstrative »Probemobilisierung«, die gegen Österreich-Ungarn und die Türkei gerichtet war, an deren Überlegenheit man damals noch allgemein glaubte. Sodann wurde von den Mächten die »Statusquo«-Formel ausgegeben: »sollte der Krieg ausbrechen, so würden die Mächte keine aus dem Konflikt sich ergebende Veränderung im territorialen Besitzstande der europäischen Türkei zulassen.« Österreich-Ungarn stellte das Programm auf: »Freie Entwicklung Albaniens: ein Begehren Serbiens nach einer Gebietserweiterung bis an die Adria müsse a limine zurückgewiesen werden; Befriedigung berechtigter Wünsche Rumäniens; Sicherstellung wichtiger wirtschaftlicher Interessen Österreich-Ungarns am Balkan, insbesondere betreffs der Bahnverbindung mit dem Ägäischen Meere.« Diese Forderungen fanden die, zweifellos unaufrichtige, Zustimmung Italiens, das niemals sein prinzipielles Desinteressement an Albanien erklären konnte, nur damit Österreich den Weg nach Saloniki freibekomme. In Österreich gab es eine einflußreiche Partei, geführt von Conrad von Hötzendorf, die die Ansicht vertrat, man müsse zuerst mit Italien abrechnen; dieser hatte schon während der Annexionskrise zum Losschlagen gegen den Bundesgenossen geraten und wiederholte jetzt seine Forderung. Ein solcher Krieg hätte aller menschlichen Voraussicht nach mit der Niederlage der Italiener geendet, falls man es mit ihnen allein zu tun gehabt hätte; diese Voraussetzung war aber vollkommen infantil: die Kriegserklärung an Italien hätte sogleich den Weltkrieg zur Folge gehabt, nur mit dem Unterschied, daß die Zentralmächte 1908 auch noch die Türkei, 1912 den gesamten Balkanbund und beidemale schon am Anfang des Krieges Italien gegen sich gehabt hätten, was die Südfront schlechterdings unhaltbar gemacht, die französische Front in katastrophaler Weise verstärkt hätte.
Nach den Niederlagen suchte die Türkei um Frieden nach, über den von den Botschaftern der Großmächte in London verhandelt wurde. Die Siegerstaaten wollten nicht bloß ihre Eroberungen behalten, sondern beanspruchten noch außerdem die drei belagerten Festungen Adrianopel, Skutari und Janina. Diese Bedingungen wurden von der Pforte abgelehnt. In dem neuentbrannten Kampfe fiel zuerst Janina, dann Adrianopel, zuletzt Skutari, das aber von gemischten Truppen der Großmächte für Albanien besetzt wurde. Im Mai 1913 kam es dann zum Londoner Frieden, der der Pforte von ihrem europäischen Besitze nur Konstantinopel mit einem schmalen Landstreifen, der Linie Enos-Midia vom Agäischen bis zum Schwarzen Meer, übrig ließ.
Inzwischen waren aber unter den Verbündeten Streitigkeiten ausgebrochen. Serbien begehrte Revision des Vertrages, indem es sich darauf berief, daß es das ihm zugedachte Nordalbanien mit dem Hafen Durazzo infolge des österreichischen Einspruchs nicht erhalten habe, Bulgarien dagegen Thrazien, mit dem es gar nicht gerechnet hatte; Griechenland verlangte Saloniki und beträchtliche Teile Südmazedoniens. Auch Rumänien meldete einige ursprünglich recht bescheidene Forderungen an, die vom bulgarischen Ministerpräsidenten Danew in einer an Schwachsinn grenzenden Verblendung rundweg abgelehnt wurden. So kam es im Sommer 1913 zum zweiten Balkankrieg, in dem Bulgarien einem konzentrischen Angriff des gesamten Balkans (denn auch die Türken griffen neuerlich zu den Waffen) hoffnungslos preisgegeben war. Überlegene serbische und griechische Truppenmassen bedrohten die Bulgaren mit Umfassung, so daß sie zurückweichen mußten; rumänische Armeekorps übersetzten die Donau und marschierten, ohne Widerstand zu finden, auf Sofia; Adrianopel mußte aus Mangel an Verteidigungskräften vor den Türken geräumt werden. Im Frieden von Bukarest kam der größte Teil des nördlichen Mazedonien an Serbien, des südlichen Mazedonien an Griechenland, die kornreiche bulgarische Dobrudscha mit der strategisch wichtigen Festung Silistria an Rumänien; im Frieden von Konstantinopel behielt die Türkei Adrianopel und das östliche Thrazien bis zur Maritza. Während Griechenland, Serbien und Montenegro aus dem Kriege fast verdoppelt hervorgingen und Rumänien durch einen bloßen Demonstrationsmarsch seine Südgrenze aufs vorteilhafteste arrondiert hatte, mußte sich Bulgarien, das die größten Waffenleistungen vollbracht hatte, mit Westthrazien und einem kleinen Stück Mazedoniens in der Rhodope begnügen.
Durch die Balkankrisen hatten sich die Gegensätze zwischen den Zentralmächten und der Entente aufs äußerste verschärft. Neu war die Spannung zwischen Rußland und Deutschland: während von Bismarck eine aggressive Balkanpolitik Österreichs nie unterstützt worden war, hatte sich die deutsche Regierung in der albanischen Frage mit Österreich vollständig identifiziert; zudem wurde Rußland, das Armenien zu seiner vitalen Interessensphäre rechnete, durch die Schlagworte »Berlin-Bagdad«, »Elbe-Euphrat«, »Nordsee-Persischer Golf« nervös gemacht. Die deutschen Pläne in Vorderasien störten natürlich auch das englische Konzept des »trockenen Wegs nach Indien«. Daß nach der Haltung Österreichs die Allianz mit Italien bloß noch auf dem Papier bestand, konnten nur Diplomaten bezweifeln. Im Winter 1912 auf 1913 befanden sich die beiden Bundesgenossen im Zustand dauernder gegenseitiger Kriegsbereitschaft: in Italien wurden Venedig und Verona mit modernen Panzerwerken ausgebaut, die Grenzen gegen Österreich befestigt, durch ganz Venetien Aufmarschbahnen angelegt; die österreichischen Truppenansammlungen gegen Montenegro und Serbien waren ebensosehr gegen Italien gerichtet. Außerdem war es der Tölpelhaftigkeit der österreichischen Diplomatie gelungen, sich den letzten Freund am Balkan, Rumänien, zu entfremden. Ihre sinnlose Forderung nach Revision des Bukarester Friedensvertrags erregte die größte Erbitterung, Demonstrationszüge strömten durch die Hauptstadt mit dem Rufe »Nieder mit dem perfiden Österreich!«
Am 28. Juni, dem griechischen Sankt Veitstag, erlitten 1389 die Serben die furchtbare Niederlage auf dem Amselfeld, unterzeichnete 1919 Deutschland den Friedensvertrag von Versailles und wurde 1914 der österreichische Thronfolger das Opfer eines Revolverattentats. Der Mord war von österreichischen Untertanen auf österreichischem Boden begangen worden, die Tat daher eine interne Angelegenheit der Monarchie. Der »Vorwärts« faßte einen Tag darauf den Sinn des Ereignisses in die Worte zusammen: »Franz Ferdinand fällt als Opfer eines falschen überlebten Systems, dessen sichtbarer Träger er war ... die Schüsse, die den Thronfolger niedergestreckt haben, sie trafen auch den Glauben an die Fortexistenz dieses alten, veralteten Staates ... Das grause Ereignis von Serajewo bedeutet auch für uns eine ernste Mahnung. Allzusehr hat eine stümperhafte Politik die Geschicke unseres Volkes mit denen Österreichs verknüpft.« Sektionsrat von Wiesner, zum Studium der Akten an den Tatort entsendet, telegraphierte nach vierzehn Tagen: »Mitwisserschaft serbischer Regierung an der Leitung des Attentats oder dessen Vorbereitung und Beistellung der Waffen ist durch nichts erwiesen ... Es bestehen vielmehr Anhaltspunkte, dies als ausgeschlossen anzusehen.« Am 7. Juli beschloß der Ministerrat, an Serbien »so weitgehende Forderungen zu stellen, daß sie eine Ablehnung voraussehen lassen und nur die radikale Lösung im Wege militärischen Eingreifens übriglassen«; nur Tisza verweigerte seine Zustimmung. Das Ultimatum, überreicht am 23. Juli 6 Uhr nachmittags, war dementsprechend abgefaßt; schon dadurch, daß es mit zweimal vierundzwanzig Stunden befristet war und nur ein einfaches Ja oder Nein zuließ, machte es weitere Verhandlungen und ein diplomatisches Eingreifen der übrigen Großmächte unmöglich. Die »Times« schrieb: »Alle, denen der allgemeine Friede am Herzen liegt, müssen ernstlich hoffen, daß Österreich-Ungarn in der Note an Serbien nicht sein letztes Wort gesprochen hat. Wenn dies doch der Fall ist, dann stehen wir am Rande des Krieges«; »Daily Mail« sagte: »Wenn Österreich Rußlands Forderung auf Verlängerung der Frist ablehnt, würde der Konflikt nicht lokalisiert bleiben, sondern die Tripelentente würde dem Dreibund gegenüberstehen.« Sir Grey, der zweifellos den Krieg nicht wollte, erklärte, er habe eine Note wie die österreichische noch nicht erlebt; Shaw, gewiß weder Kriegshetzer noch Ententechauvinist, schrieb: »Das Ultimatum an Serbien war ein wahnwitziger Einfall; ein schlimmeres Verbrechen als der Mord, der es verursachte.« Die serbische Regierung nahm alle Forderungen des Ultimatums mit nur unerheblichen Abschwächungen an, bis auf das Begehren, daß der Untersuchung über ein vorhandenes Komplott Organe der k. u. k. Regierung beizuziehen seien, da dies gegen die Souveränität, die Verfassung und die Strafprozeßordnung verstoße. Hierzu bemerkte die österreichisch-ungarische Regierung in ihrem offiziellen Kommentar: »Es ist uns nicht beigefallen, k. u. k. Organe an dem serbischen Gerichtsverfahren teilnehmen zu lassen: sie sollten nur an den polizeilichen Vorerhebungen mitwirken, welche das Material für die Untersuchung herbeizuschaffen und sicherzustellen hatten.« Ähnliche aufsässige und plumpe Haarspaltereien enthalten auch die Bemerkungen zu den übrigen Punkten. Die serbische Antwort schließt mit den Worten: »Die königlich serbische Regierung glaubt, daß es im gemeinsamen Interesse liegt, die Lösung dieser Angelegenheit nicht zu überstürzen und ist daher, falls sich die k. u. k. Regierung durch diese Antwort nicht für befriedigt erachten sollte, wie immer bereit, eine friedliche Lösung anzunehmen, sei es durch Übertragung der Entscheidung dieser Frage an das Internationale Gericht im Haag, sei es durch Überlassung der Entscheidung an die Großmächte.« Hierzu verstummt der österreichische Kommentar. Kaiser Wilhelm schrieb unter die serbische Antwort: »Eine brillante Leistung für eine Frist von bloß achtundvierzig Stunden! Das ist mehr, als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort.« Es liegt nicht der geringste Anlaß vor, die Erklärung Bethmann-Hollwegs, die deutsche Regierung habe die österreichischen Forderungen erst nachträglich kennengelernt, in Zweifel zu ziehen: es kann dieser bloß der Vorwurf gemacht werden, daß sie Österreich in der serbischen Frage carte blanche gegeben hat. Im übrigen können nur verbohrte Parteigegner den prinzipiellen Friedenswillen sowohl des Kaisers wie des Kanzlers in Frage stellen. Daß man in Frankreich keineswegs kriegslustig war, kann ebenfalls als erwiesen gelten: man wollte nicht etwa den Krieg überhaupt nicht; aber nicht in diesem Zeitpunkt. Dort war die Dienstzeit von zwei Jahren auf drei erhöht worden. Da aber die 1890 Geborenen und 1911 Eingestellten sich nach der Erfüllung ihrer zweijährigen Dienstpflicht im Herbst 1913 weigerten, noch ein Jahr länger bei der Fahne zu bleiben, so beschloß man, sie zu entlassen und dafür zwei Rekrutenjahrgänge: die 1892 und 1893 Geborenen gleichzeitig einzustellen; um dies gesetzlich zu rechtfertigen, mußte der Beginn der Dienstpflicht um ein Jahr zurückverlegt werden. Hieraus ergab sich, daß man für 1915 mit vier Jahrgängen im stehenden Heer rechnen konnte, nämlich den 1892, 1893, 1894 und 1895 Geborenen, und ebenso für 1916 mit den zwischen 1893 und 1896 Geborenen: diese beiden Jahre waren daher die günstigsten für den Kriegsbeginn. Dazu kam noch, daß man mit dem Plan umging, Eingeborene aus Marokko, Tunis und Algier in weitaus größerem Maße als bisher in der europäischen Armee zu verwenden und sie in Afrika durch Negertruppen zu ersetzen; auch dies ließ das nächste oder übernächste Jahr für einen Krieg aussichtsreicher erscheinen. Auch in Russisch-Polen war der vollständige Ausbau des strategischen Eisenbahnnetzes, an dem mit Hilfe der französischen Milliarden emsig gearbeitet wurde, erst für etwa 1916 zu gewärtigen; indes war am Zarenhof die Kriegspartei immer sehr mächtig und eine aggressive Politik schon durch die stete Revolutionsangst der führenden Kreise indiziert, die von einer Explosion der panslawistischen Instinkte eine Ablenkung von den inneren Konflikten erhoffen durften. Und in der Tat kann von einem frivol planmäßigen Hintreiben auf den Bruch nur bei Österreich und Rußland geredet werden. Am kompliziertesten lag der Fall bei England. Dieses war viel zu geschäftsklug, um nicht zu wissen, daß ein paneuropäischer Krieg für sämtliche Beteiligten eine schwere wirtschaftliche Schädigung bedeuten müsse: die seit einem halben Menschenalter betriebene Einkreisung hatte daher nur den Zweck, Deutschland in eine so ungünstige politische Situation zu bringen, daß es an Widerstand gar nicht denken könne. Kam es aber dennoch zum Krieg, so mußte England, das immer die Gabe der richtigen Prognose besessen hat, mit einem Sieg der Zentralmächte rechnen, wenn diese nur Frankreich und Rußland zu Gegnern hatten. Es war also schlechterdings gezwungen einzugreifen. Dazu kam noch, daß Italien nicht nur gegen den österreichischen, sondern auch gegen den französischen Nachbar eine begehrliche Haltung einnahm und in seiner Neutralität nur als zuverlässig erachtet werden konnte, wenn England sich zur Entente bekannte. Der einzige Vorwurf, der sich gegen die englische Regierung erheben läßt, besteht darin, daß sie ihren Standpunkt Deutschland gegenüber nicht energisch und unzweideutig präzisiert hat; denn dieses hätte, ihn kennend, den Krieg niemals gewagt: » wir wissen bestimmt«, sagte Wilson im März 1919, »daß Deutschland sich niemals in dieses Unternehmen eingelassen hätte, wenn es einen Augenblick lang gedacht hätte, Großbritannien werde mit Frankreich und Rußland gehen.« Im November 1912 hatten Sir Grey und der französische Botschafter in London, Paul Cambon, Briefe gewechselt, die die Entente zur Militär- und Marinekonvention erweiterten. Diese in der Form privaten, tatsächlich bindenden Abmachungen sind im März 1913 zur Kenntnis der deutschen Regierung gelangt, die sie aber nicht ernst nahm, bis zu einem gewissen Grade mit Recht, da die britische Regierung sich selbst nicht völlig klar darüber war, wie weit sie sich damit engagiert hatte. Und es läßt sich die Möglichkeit nicht gänzlich von der Hand weisen, daß England doch noch zumindest gezögert hätte, wenn nicht durch die belgische Angelegenheit der Fall ungeheuer vereinfacht worden wäre. Auch hier kann von einer Schuld Deutschlands im höheren Sinne nicht gesprochen werden. Es befand sich in einer Zwangslage. Der Krieg war nur nach dem Schlieffenplan zu gewinnen, der mit der raschen Niederwerfung des schneller als Rußland mobilisierenden Frankreich rechnete, die ihrerseits wieder angesichts der äußerst schwierig zu überwindenden Sperrforts der französischen Ostgrenze nur auf dem Weg über Belgien denkbar war; dieses, sagt Professor Rudolf Kjellén, der ausgezeichnete Erforscher der Beziehungen zwischen Staat und Raum, »sitzt wie ein ganz natürlicher dahingehöriger Hut auf dem Kopfe Frankreichs; hier im Nordosten befindet sich die empfindliche Stelle des Reiches«. Diese Diversion war also eine strategische Notwendigkeit, völkerrechtlich aber keineswegs zu rechtfertigen, und Versuche, dies zu tun, können nur das Unrecht vergrößern, weshalb es sehr befremden muß, daß in einem angeblich wissenschaftlichen Werk wie Helmolts Weltgeschichte ein sonst so redlicher und gediegener Historiker wie Gottlob Egelhaaf noch nach dem Weltkrieg nicht vor der Bemerkung zurückscheut (deren Widerlegung sich wohl erübrigt), Deutschland sei nicht zur Einhaltung des belgischen Neutralitätsvertrags verpflichtet gewesen, denn es habe 1831 noch nicht existiert. Daß die Zentralmächte den Krieg begonnen haben, nicht bloß formell durch ihre Kriegserklärungen, sondern auch tatsächlich durch das von Österreich ausgesonnene, von Deutschland nicht desavouierte unannehmbare Ultimatum, kann von keinem Vollsinnigen geleugnet werden. Damit ist aber über die Kriegsschuld noch gar nichts ausgesagt, denn die Weltgeschichte ist reich an Beispielen für Angriffskriege, die in Wirklichkeit aufgezwungene Verteidigungskriege waren: man denke bloß an den Siebenjährigen Krieg, in dem übrigens das »neutrale« Sachsen haargenau dieselbe Rolle gespielt hat wie im Weltkrieg Belgien. Aber da Friedrich der Große sich in diesem Kampfe behauptete, hat die Erfolganbeterin Klio, die Schopenhauer ja nicht ohne Grund eine Hure genannt hat, ihn bekränzt. Daß Deutschland so bedingungslos hinter Österreich trat, floß auch aus einer an historischen Bilderbogenreminiszenzen orientierten Nibelungenromantik, der man die politische Billigung, aber nicht das menschliche Mitgefühl versagen kann; wie denn überhaupt das Problem jenes Weltbrandes, der großen Dämmerung eines ganzen Zeitalters, nicht mit den Mitteln einer kasuistisch-völkerjuristischen, sondern nur auf der höheren Ebene einer mythologischen Betrachtung gelöst werden kann. Die Lage des deutschen Volkes gemahnte in der Tat an das dunkle Schicksal der Nibelungen, die, rings von Feinden umstellt, in tiefster Bedrängnis zu scheinbaren Friedensbrechern werden.
Das endgültige Resümee über den Fall hat Lloyd George nach dem Krieg gezogen, als er sagte: »Je mehr von den Memoiren und Büchern man liest, die in den verschiedenen Ländern über den Kriegsausbruch geschrieben worden sind, desto deutlicher erkennt man, daß keiner von den führenden Männern den Krieg wirklich gewollt hat. Sie glitten sozusagen hinein oder vielmehr: sie taumelten und stolperten hinein, aus Torheit!«
Und nun fällt eine schwarze Wolke über Europa; und wenn sie sich wieder teilt, wird der Mensch der Neuzeit dahingegangen sein: weggeweht in die Nacht des Gewesenen, in die Tiefe der Ewigkeit; eine dunkle Sage, ein dumpfes Gerücht, eine bleiche Erinnerung. Eine der zahllosen Spielarten des menschlichen Geschlechts hat ihr Ziel erreicht und ist unsterblich: zum Bilde geworden.