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Drittes Kapitel

Die Agonie der Barocke

Le présent est chargé du passé et gros de l'avenir.
Leibniz

Watteau

Antoine Watteau, der 1684 geboren wurde und schon 1721 an der Schwindsucht starb, hat in fast achthundert Bildern das Parfüm jener wissenden und infantilen, heitern und müden Welt, die man Rokoko nennt, mit einer solchen Kraft und Delikatesse, Unschuld und Virtuosität festgehalten, daß man an diese Zeit nicht denken kann, ohne sich zugleich an ihn zu erinnern, und Rokoko und Watteau fast austauschbare Begriffe geworden sind. Vielleicht keinem zweiten Künstler ist es so restlos gelungen, das flüchtige Leben seiner Umwelt in all seinem sprühenden Glanz in tote Zeichen zu übertragen: diese Menschen, deren seelische Entfernung von uns noch weit mehr beträgt als die zeitliche, hier schlafen sie, in Farbe gebannt, einen unsterblichen Zauberschlaf als unsere Zeitgenossen und Vertrauten.

In der Bemühung, diese seltsame Tatsache psychologisch zu erklären, hat man bisweilen darauf hingewiesen, daß Watteau ein Ausländer und ein Proletarier war. In der Tat läßt sich bisweilen beobachten, daß »Zugereiste« in ihrer Kunst das Wesen ihrer zweiten Heimat eindringlicher und leuchtender verkörpern als der Eingeborene. Um nur ein Beispiel zu nennen: es dürfte schwer fallen, zwei echtere Repräsentanten des Wienertums zu finden als Nestroy und Girardi, und doch weisen beide Namen auf fremden Ursprung. Daß Watteau ein armer Dachdeckerssohn vom Lande war, hat sicher ebenfalls seinen Blick für den flimmernden Reiz und die narkotische Schönheit des damaligen Paris geschärft. Es pflegen ja auch die saftigsten und innigsten Naturschilderungen nicht von Bauern und Gutsbesitzern zu stammen, sondern von Großstädtern und Kaffeehausmenschen, und die Dichter der leidenschaftlichsten und empfundensten Liebeslyrik sind selten Don Juans gewesen. Auch Watteau war verliebt, und zwar unglücklich, also doppelt verliebt in die Welt der schwerelosen Anmut und des selbstverständlichen Genusses, die kühle und zarte, aromatische und durchsonnte Gipfelluft, in der diese privilegierten Wesen ihre göttliche Komödie spielten: er wußte, daß er kein legitimer Teilhaber dieser Feste sein könne, nur ihr Zuschauer und Chroniqueur, und so ist er der unvergleichliche peintre des fêtes galantes geworden.

Dazu kam noch ein Drittes: Watteau war auch physisch und seelisch ein »Enterbter«: kränklich und häßlich, schwächlich und unansehnlich, linkisch und melancholisch. Wir haben schon am Anfang des ersten Buches an einer Reihe von Beispielen darzulegen versucht, daß körperliche und geistige Defekte bisweilen die Quelle außerordentlicher Leistungen zu bilden vermögen: daß Kriegshelden wie Attila und Karl der Große, Napoleon und Friedrich der Große eine kleine Figur besaßen, daß Byron hinkte, Demosthenes stotterte, Kant verwachsen, Homer blind und Beethoven taub war. Aus einer solchen »physiologischen Minderwertigkeit« heraus hat auch Watteau seine Farbenwunder geschaffen. Er konnte die Grazien nicht besitzen, und so blieb ihm nichts übrig als sie zu gestalten. In seinen Kunstwerken hat er seine Naturmängel kompensiert und überkompensiert. Er hat als ein hoffnungslos Dahinschwindender lachenden Frohsinn, als ein zum Grabe Taumelnder tanzende Lebensbejahung, als ein von Krankheit Ausgesogener trunkenen Daseinsgenuß gepredigt. Es ist die Kunst eines Phthisikers, der mitten im grauesten Siechtum den rosenfarbigsten Optimismus aufrichtet.

Und damit gelangen wir zur eigentlichen Lösung des Problems. Watteau war ein so vollkommener Spiegel seiner Zeit, weil er in seinem Schicksal und seiner Persönlichkeit ihr sprechendstes Symbol war. Er war ein Sterbender und sein ganzes Leben und Schaffen die Euphorie des Schwindsüchtigen. Und auch das Rokoko war eine sterbende Zeit und ihre Lebensfreude nichts als eine Art Tuberkulosensinnlichkeit und letzte Sehnsucht, sich über den Tod hinwegzulügen: das heitere Rot auf ihren Wangen ist aufgelegtes Rouge oder hektischer Fleck. Das Rokoko ist die Agonie und Euphorie der Barocke, ihr Sonnenuntergang, jene Tagesstunde, die auch Watteau am liebsten gemalt hat. Liebend und sterbend: das ist die Formel für Watteau und das gesamte Rokoko.

La petite maison

Das Rokoko ist, im Gegensatz zum Barock, ein zersetzender Stil, der, rein malerisch und dekorativ, spielerisch und ornamental, alles mit einem Rankenwerk von Flechten, Muscheln, Schlinggewächsen überwuchert: es sind Sumpfmotive, die hier zur Herrschaft gelangen; die bisherigen großen Formen beginnen sich in aparte Fäulnis aufzulösen. Alles ist von weicher Abendkühle durchweht, in ein sterbendes Blau und zartglühendes Rosa getaucht, das das Ende des Tages ankündigt. Eine fahle Herbststimmung breitet sich über die Menschheit, die auch ganz äußerlich die Farben des Verwelkens bevorzugt: honiggelb und teegrün, dunkelgrau und blaßrot, violett und braun. Dieser Décadencestil par excellence ist müde, gedämpft und anämisch und vor allem prononciert feminin: raffiniert kindlich und naiv obszön, wie die Frau es ist; verschleiert und boudoirhaft; parfümiert und geschminkt; satiniert und konditorhaft; ohne männliche Tiefe und Gediegenheit, aber auch ohne virile Schwere und Pedanterie; schwebend und tänzerisch, wodurch ihm das Wunder gelungen ist, eine fast von den Gravitationsgesetzen befreite Architektur hervorzubringen; immer vielsagend lächelnd, aber selten eindeutig lachend; amüsant, pikant, kapriziös; feinschmeckerisch, witzig, kokett; anekdotisch, novellistisch, pointiert; plaudernd und degagiert, skeptisch und populär, komödiantisch und genrehaft: selbst die Karyatiden des Zeitalters, wie Friedrich der Große, Bach und Voltaire, sind gewissermaßen überlebensgroße Genrefiguren.

Diese Spätbarocke ist nämlich intim, was die Hochbarocke nie war: sie ist, im edelsten Sinne, ein Tapeziererstil, der bloß gefallen, ausschmücken, verfeinern will und große Worte ebenso skurril wie unbequem findet. Das Charaktergebäude, dem alle Erfindungskraft und Sorgfalt gewidmet wird, ist nicht mehr das pompöse Palais, sondern la petite maison, das mit allen Reizen eines weniger repräsentativen als privaten Luxus ausgestattete Lusthäuschen, das, mit den früheren Bauten verglichen, etwas Reserviertes, Verschwiegenes, Persönliches hat. Unter Ludwig dem Vierzehnten lebte der Mensch nur in der Öffentlichkeit, nämlich für und durch den Hof: man zählte nur mit, wenn man beim König erschien und solange man beim König erschien; daher war jede Lebensäußerung, vom tiefsten Gedanken bis zur leichtesten Verbeugung, für die Parade zugeschnitten, auf den Effekt in Versailles berechnet. Jetzt beginnt man, ermüdet von dieser fünfzigjährigen Galavorstellung, die Freuden der Zurückgezogenheit, des Sichgehenlassens und Sichselbstgehörens, des petit comité zu schätzen. Schon die Namen dieser Schlößchen, wie »Eremitage«, »monrepos«, »solitude«, »sanssouci«, deuten auf die veränderte Geschmacksrichtung. Ihr Antlitz ist nicht mehr jupiterhaft, distanzierend und in schwere Falten gelegt, sondern einladend, liebenswürdig und entspannt. In den Innenräumen stehen nicht mehr steife Prunksessel mit hohen harten Lehnen und würdevolle Dekorationsstücke aus wuchtigem Material, sondern bequeme Polsterstühle, mit Seidenkissen bedeckte Kanapees und weiß lackierte Miniaturtische mit zarten Goldleisten. Und auch diese ruhigen Wirkungen sucht man noch abzuschwächen, indem man das Gold entweder durch das diskretere Silber ersetzt oder durch Tönung matter erscheinen läßt, wie man überhaupt jedem Geradezu möglichst aus dem Wege geht und überall den gebrochenen, abgewandelten, gemischten Farben, den zärtlichen und delikaten Materialien, wie Rosen-, Veilchen-, Tulpenholz, den Vorzug gibt. Die Inventarstücke beginnen das subjektive Gepräge ihrer Besitzer zu tragen und deren persönlichen Zwecken zu dienen: eine Reihe neuer Möbel, die damals aufkamen, bringen dies zum Ausdruck, zum Beispiel die »boîtes à surprises«, Sekretäre mit witzig konstruierten Geheimfächern und überraschenden Mechanismen, und die Damenschreibtische, die den hübschen Namen »bonheur du jour« führten. Alle Gebrauchsgegenstände waren mit wohlriechenden Essenzen imprägniert und emaillierte Räucherpfannen durchdufteten die Räume mit exquisiten Parfüms. Die führenden Künstler kümmerten sich um jedes dieser Details, durch deren Zusammenklang sie eine aufs feinste abgestimmte Gesamtatmosphäre des künstlerischen Genusses und Behagens zu schaffen wußten: Watteau hat Modeskizzen und Firmenschilder gemalt und Boucher zeichnete Entwürfe für Briefbillets, Tischkarten und Geschäftspapiere.

Pastell und Porzellan

Eine besondere Note erhielten die Rokokointerieurs durch das Dominieren der Pastell- und der Porzellankunst. In der Tat konnte keine Art der Malerei die Seelenhaltung des ganzen Zeitalters, seinen zarten und zerfließenden, blassen und verhauchenden, auf einen weichen Samtton gestimmten Charakter besser ausdrücken als das Pastell; dazu kam noch die besondere Eignung dieser Technik für das intime Porträt. Das europäische Porzellan wurde zum erstenmal im Jahr 1709 von dem Sachsen Johann Friedrich Böttcher hergestellt, den August der Starke als Alchimist bei sich in Haft hielt; und diese Erfindung wurde tatsächlich zu einer Art Goldmacherei, denn der neue Stoff eroberte den ganzen Erdteil. Die bald darauf gegründete Meißener Porzellanmanufaktur versorgte alle Welt mit wohlfeilem, schönem und praktischem Eßgeschirr und verdrängte nicht nur das Steingut und Zinn, sondern auch das Silber von den Tafeln. Der Klassiker der deutschen Porzellankunst ist Joachim Kändler, dessen verliebte Schäfer und Schäferinnen und lebensgroße Vögel, Affen und Hunde das Entzücken der vornehmen Welt bildeten. August der Starke war von seiner Liebhaberei für die neue Kunst so besessen, daß er ihr sein halbes Vermögen opferte und ein ganzes Schloß mit Porzellanarbeiten füllte. Auch in Wien entstand schon 1718 eine staatliche Porzellanfabrik. Eine mächtige Konkurrentin der deutschen Manufakturen wurde später die auf Anregung der Pompadour ins Leben gerufene Fabrik in Sèvres. In England wurde Josiah Wedgwood der Erfinder des nach ihm benannten Materials, das er vornehmlich zu meisterhaften Nachahmungen antiker Vasen verarbeitete. Schließlich wurde Europa von einer wahren Porzellanmanie ergriffen. Man verfertigte nicht nur Leuchter und Lüster, Uhren und Kamine, Blumensträuße und Möbeleinlagen aus Porzellan, sondern es wurden auch ganze Zimmer und Kutschen damit ausgeschlagen und überlebensgroße Denkmäler daraus hergestellt. Hiedurch entfernte sich diese subtile Kunst von der Bestimmung, die ihr durch ihr Material vorgeschrieben war und sie zugleich zu einem so lebendigen und prägnanten Ausdruck ihrer Zeit gemacht hatte: denn gerade ihre außergewöhnliche und ausschließliche Eignung für die polierte und elegante, kokette und aparte, fragile und spröde Miniatur sprach zur Rokokoseele.

Chinoiserie

Man hatte vor der Entdeckung Böttchers das Porzellan aus China bezogen und auch nachher wurden noch lange die Meißener Waren für chinesisch ausgegeben. Dies war kein bloßer Geschäftstrick, sondern wiederum im Zeitgeist begründet. Denn China galt dem Rokokomenschen als das Musterland der Weisheit und Kunst. Zu Anfang des Jahrhunderts kamen die »Chinoiserien« in Mode: ostasiatische Bilder, Vasen und Skulpturen, Papiertapeten, Lackwaren und Seidenarbeiten; zahlreiche Romane entführten den Leser in jenes Märchenreich, wo ein glückliches heiteres Volk unter gelehrten Führern ein paradiesisches Dasein genoß; Historiker, an der Spitze Voltaire, verherrlichten China als das Dorado vortrefflicher Sitte, Religion und Verwaltung; in den Gärten errichtete man Pagoden und Teehäuschen, Glockenpavillons und schwebende Bambusbrücken; selbst der Zopf wird auf chinesischen Einfluß zurückgeführt. Auch der Pfau, der sich damals besonderer Beliebtheit erfreute, hat etwas Chinesisches und zugleich ist er ein echtes Rokokotier: dekorativ und bizarr, selbstgenießerisch und theatralisch, endimanchiert und genrehaft.

Le siècle des petitesses

Vom ganzen Rokoko gilt, was Diderot 1765, als bereits ein neuer Geist zu herrschen begann, von Boucher gesagt hat: es hatte »zu viel kleinliches Mienenspiel«. Schon Voltaire hatte sein Zeitalter » le siècle des petitesses« genannt. Es hat auf allen Gebieten eigentlich nur charmante Nippes hervorgebracht. Der Barock schreit und plakatiert, das Rokoko flüstert und dämpft. Schnörkelhaft sind beide; aber der Schnörkel, im Barock eine leidenschaftliche Exklamation, wird im Rokoko zum diskreten zierlichen Fragezeichen.

In der französischen Hochbarocke herrschte tyrannisch die Regel, Normwidrigkeit galt als eine Versündigung am Geist: jetzt gehen umgekehrt die Begriffe bizarr und geistreich eine Verbindung miteinander ein. Im cartesianischen Zeitalter war der souveräne Maßstab aller Werte die Korrektheit und Symmetrie: für das » genre rocaille« ist eine bis zur Kaprice getriebene Vorliebe für das Unerwartete, Willkürliche, Paradoxe richtunggebend und formbildend. Diese Menschen waren in ihrer Philosophie vielleicht erst halbe, in ihrer Kunst aber schon ganze Atheisten. Was sie reizt, ist immer nur die Abweichung, der Sprung, die Diversion. Als eine vornehme italienische Dame einmal ein köstliches Fruchteis verzehrte, sagte sie: »Wie schade, daß es keine Sünde ist.« Diese Passion für das Illegitime und Abnorme steigerte sich nicht selten bis zur Perversität. Vielleicht in keinem Zeitalter war der aktive und passive Flagellantismus so verbreitet wie damals; er war geradezu zur Massenpsychose ausgeartet. Man muß sich jedoch bei dieser und ähnlichen Erscheinungen daran erinnern, daß sämtliche hohen und späten Kulturen zur Perversität neigen, ja daß in aller Kultur ein Element des Perversen verborgen liegt. Kultur ist und bleibt nun einmal das Gegenteil von Natur: wir haben auf diese Tatsache schon im vorigen Kapitel, beim Problem der Perücke, hinzuweisen versucht. Bei alternden Kulturen zeigt sich dies natürlich in verstärktem Maße: der Kreis der »normalen« Möglichkeiten ist erfüllt, die Phantasie strebt über ihn hinaus. Weder die Ägypter des Neuen Reiches noch die Griechen der Alexandrinerzeit und die Römer der Kaiserzeit erfreuten sich »gesunder« Verhältnisse. Besonders die »Sittenlosigkeit« des alten Rom erinnert an die Rokokozeit. »Ich frage schon lange in der ganzen Stadt herum«, sagt Martial, »ob keine Frau nein sagt: keine sagt nein. Also ist keine keusch? Tausende sind es. Was tun denn nun die Keuschen? Sie sagen nicht ja, aber sie sagen auch nicht nein«; und Juvenal meint, manche Frauen ließen sich schon wieder scheiden, ehe die grünen Zweige abgewelkt seien, die beim Einzuge der Neuvermählten die Haustüre schmückten. Analog schrieb Voltaire unter dem Artikel » Divorce«: »Die Scheidung stammt wahrscheinlich aus derselben Zeit wie die Ehe. Ich glaube trotzdem, daß die Ehe einige Wochen älter ist.« Selbst zu den sadistischen Zirkusvergnügungen der Römer findet sich ein Pendant in der Sitte, daß in Paris Angehörige der höchsten Kreise den Hinrichtungen wie einem sensationellen Gesellschaftsereignis beizuwohnen liebten, wobei, wie Zeugen versichern, zahlreiche Damen in Orgasmus gerieten.

Der Esprit

Man wollte sich vor allem um keinen Preis langweilen. Hiedurch kommt ein ganz neuer Elan in die französische Kultur; erst im achtzehnten Jahrhundert wird der wahre esprit geboren, der Champagnergeist, der Schaum und Wein zugleich ist. Aber mit dieser fast krankhaften Sucht, unter allen Umständen »anregend«, brillant, aromatisch, moussierend zu sein, verliert sich auch die Monumentalität und Würde, der Ernst und die Tiefe: ganz große Gebiete der Seele verdorren, werden hochmütig gemieden oder leichtfertig ignoriert. Der Glanz, der von der scheidenden Barocke ausströmt, ist die Phosphoreszenz der Verwesung.

Man denkt nicht mehr in mühsam getürmten und gegliederten Systemen und schweren schleppenden Schlußketten, sondern in gedrängter pikanter Polemik, in facettierten Bonmots, kurzweiligen Satiren, gepfefferten Pamphleten und messerscharfen Aphorismen, oder auch in » poésies fugitives«: lyrisch-epigrammatischen Niaiserien, die nur den schimmernden Dünnschliff irgendeines Ideengangs geben; man macht den Dialog, den Roman, die Novelle zum Gefäß der Philosophie: selbst der gewissenhafte und tiefgründige Montesquieu zieht durch seine »Lettres Persanes« das buntfarbige Band einer lüsternen Haremsgeschichte. Man will von jedermann verstanden werden, auch vom Halbgebildeten, vom Salonmenschen, vom »Publikum« und vor allem von den Damen.

Dies spricht auch aus den Porträts. Die Gelehrten lassen sich nicht mehr mit Buch, Feder und Brille abbilden, sondern als lächelnde nonchalante Weltleute: nichts soll an die desillusionierenden technischen Behelfe ihrer Produktion erinnern, wie diese selbst nicht mehr nach Öl, Tinte und Stube riechen darf und nichts anderes sein will als ein leichter, geschmackvoller und komfortabler Galanterieartikel, eine der vielen unentbehrlichen Überflüssigkeiten des luxuriösen und genießerischen Lebens der großen Gesellschaft. Die Gärten der Wissenschaft, im Mittelalter als geheiligter Bezirk den Blicken der Profanen entzogen, in der Renaissance durch das Stachelgitter lateinischer Gelehrsamkeit abgezäunt, werden im achtzehnten Jahrhundert der allgemeinen Benutzung übergeben und zur öffentlichen Einrichtung gemacht, wo jedermann Erheiterung, Erholung und Belehrung suchen kann: Adel und Bürgerschaft, Mann und Frau, Geistlichkeit und Laienwelt. Das Volk hat noch keinen Zutritt; nicht weil man es verachtet, sondern aus einem noch sonderbareren Grunde: man hat nämlich seine Existenz überhaupt noch nicht bemerkt. Es wird aber ein Tag kommen, wo auch diese Gesellschaftsschichte von den Gärten ihren Gebrauch machen wird, und einen sehr seltsamen: es wird sie weder zur höheren Ehre Gottes kultivieren wie die Kirche noch erweitern, bereichern und sorgfältig parzellieren wie die strenge Wissenschaft noch in einen allgemeinen Belustigungsort verwandeln wie die Philosophen für die Welt, sondern berauben und demolieren. Es wird das dort angesammelte Material zuerst als hölzerne Waffe benutzen, um seine Widersacher zu bedrohen, und schließlich als riesigen Brennstoff, um die Welt in Flammen zu setzen.

Die Liebe als Liebhabertheater

Wenn diese Zeit es verstanden hat, sogar die Wissenschaft und Philosophie zu einem erlesenen Reizmittel zu machen, das man einschlürft wie ein gaumenkitzelndes Apéritif, so versteht es sich von selbst, daß sie auch auf allen übrigen Gebieten nicht anders verfuhr. Man hat nur den einen Wunsch, das Leben zu einem ununterbrochenen Genuß zu machen; »der Sicherheit halber«, sagte Madame de la Verrue, »bereitet man sich bereits auf Erden das Paradies«. Und man will sich delektieren, ohne die Kosten zu bezahlen. Man will die Früchte des Reichtums genießen ohne die Strapazen der Arbeit, das Glanzlicht der sozialen Machtstellung ohne ihre Pflichten und die Freuden der Liebe ohne ihre Schmerzen. Man flieht daher die große Passion, die als nicht chic gebrandmarkt wird, und schöpft von der Liebe nur die süße luftige Creme ab. Man ist immer amourös, aber niemals ernstlich verliebt: »man nimmt einander«, heißt es bei Crébillon fils, »ohne sich zu lieben; man verläßt einander, ohne sich zu hassen.« Liebe und Haß sind Leidenschaften, und Leidenschaften sind unbequem und außerdem ein Zeichen von Mangel an Esprit. Man will die Liebe ohne viele Umstände genießen wie ein pikantes Bonbon, das rasch auf der Zunge zergeht, nur dazu bestimmt, durch ein zweites von anderem Geschmack ersetzt zu werden.

Die Erotik wird ein graziöses Gesellschaftsspiel, das die Liebe amüsant nachahmt und bestimmten Regeln unterworfen ist. Die Liebe wird zum Liebhabertheater, zu einer abgekarteten Komödie, in der alles vorhergesehen und vorausbestimmt ist: die Verteilung der Fächer, die der Dame immer die Partie der kapriziösen Gebieterin, dem Herrn die Rolle des ritterlichen Anbeters zuweist; die Reden und Gebärden, mit denen man die einzelnen Stationen: Werbung, Zögern, Erhörung, Glück, Überdruß, Trennung zu markieren hat. Es ist ein komplettes, durch lange Tradition und Kunst geschaffenes Szenarium, worin alles seinen konventionellen Platz hat und alles erlaubt ist, nur keine »Szenen«; denn seinem Partner ernstliche Erschütterungen bereiten zu wollen, hätte einen bedauerlichen Mangel an Takt und Erziehung bewiesen. Auch die Eifersucht durfte nur einen spielerischen Charakter tragen: » la gelosia è passione ordinaria e troppo antica« sagt Goldoni.

Aber selbst diese Treibhausliebe gedeiht nur in der schwülen Atmosphäre der Illegitimität. Alles, was an »Familienleben« erinnert, rangiert als mauvais genre. Schwangerschaft macht unfehlbar lächerlich, wird daher möglichst vermieden und, wenn eingetreten, möglichst lange verheimlicht. Liebe in der Ehe gilt für altfränkisch und absurd, noch schlimmer: für geschmacklos. In der guten Gesellschaft titulieren sich die Ehepaare auch zu Hause mit »Monsieur« und »Madame«. Eheliche Treue sowohl des Mannes wie der Frau wird geradezu als unpassend angesehen; allenfalls toleriert man noch viereckige Ehen, bei denen die Paare changieren. Eine Frau, die keine Liebhaber hat, gilt nicht für tugendhaft, sondern für reizlos, und ein Ehemann, der sich keine Mätressen hält, für impotent oder ruiniert. Es gehört so vollständig zum guten Ton für eine Dame von Welt, unerlaubtes Glück genossen zu haben, daß sie gezwungen ist, die Spuren ihrer Liebesnächte von Zeit zu Zeit öffentlich zur Schau zu tragen, sich schwarze Ringe um die Augen zu schminken, einen abgespannten Gesichtsausdruck anzunehmen, den ganzen Tag zu Bett zu bleiben, während es andrerseits für jeden Menschen von Lebensart de rigueur ist, diesen angegriffenen Zustand mit ironischem Erstaunen zu konstatieren. Dem Gatten ist hiebei die Aufgabe zugewiesen, mit Verstand und Anstand über der Situation zu stehen, und je mehr Witz, Liebenswürdigkeit und Anmut er an diese Rolle wendet, desto sicherer sind ihm alle Sympathien. Voltaire lebte bekanntlich ein halbes Menschenalter lang mit der Marquise du Châtelet auf deren Schloß Cirey in Lothringen, aber niemals hören wir etwas von irgendeiner Verstimmung des Marquis. Seine Toleranz ging aber noch viel weiter. Eines Tages wurde auch Voltaire von Emilie betrogen, die zu dem jungen Schriftsteller Saint-Lambert eine leidenschaftliche Neigung gefaßt hatte, was aber Voltaire nicht hinderte, an ihrer Seite zu bleiben und sogar der väterliche Freund seines Nebenbuhlers zu werden. Das Verhältnis blieb jedoch nicht ohne Folgen, und nun entwickelte sich eine charmante Rokokofarce, die das Sujet einer der besten Novellen Maupassants bilden könnte. Voltaire erklärte: » Pater est, quem nuptiae declarant. Wir werden das Kind in Madame du Châtelets gemischte Werke einreihen.« Man lud sogleich Herrn du Châtelet nach Cirey, der auch alsbald eintraf und dort eine Reihe sehr angenehmer Tage verbrachte. Madame du Châtelet war gegen ihn ungemein liebenswürdig und er zog daraus seine Konsequenzen. Kurz nach seiner Abreise konnte er seinen Gästen mitteilen, daß er ein Kind erwarte. Die Hauptpikanterie der ganzen Geschichte besteht darin, daß höchstwahrscheinlich alle Beteiligten sich gegenseitig eine Komödie vorgespielt haben. Solche Vaudevilles des Lebens ereigneten sich damals täglich. So dürfte es zum Beispiel kaum einen brillanteren Lustspielaktschluß geben als die Bemerkung, die ein französischer Kavalier machte, als er seine Gattin in flagranti betrat: »Aber wie unvorsichtig, Madame! Bedenken Sie, wenn es ein anderer gewesen wäre als ich!«

Der Cicisbeo

Jede Frau muß mindestens einen Liebhaber haben, sonst ist sie gewissermaßen gesellschaftlich kompromittiert. In Italien pflegten viele Damen sich im Ehekontrakt einen bestimmten Cicisbeo auszubedingen, bisweilen auch zwei. Der Bräutigam, der selbst schon längst in einem anderen Kontrakt als Cicisbeo figurierte, hatte nichts dagegen einzuwenden. Lady Montague berichtet in ihren bekannten Briefen aus Wien, daß man es dort für eine schwere Beleidigung angesehen hätte, wenn jemand eine Dame zum Diner gebeten hätte, ohne ihre beiden Männer, den Gatten und den offiziellen Liebhaber, mit einzuladen. Ihr Erstaunen hierüber zeigt, daß diese Sitte offenbar nicht über den Kontinent hinausgedrungen war. Die viel frühere Vorherrschaft des bürgerlichen Elements in England, auf die wir noch zu sprechen kommen, gestattet es überhaupt nicht, von einem englischen Rokoko im eigentlichen Sinne zu reden.

Der erklärte Liebhaber, der in Frankreich »petit maître«, in Italien »cavaliere servente« hieß und nicht selten ein Abbé war, begleitete seine Herrin wie ein Schatten: auf Visiten und Promenaden, ins Theater und in die Kirche, zum Ball und zum Spieltisch, er saß bei ihr im Wagen und schritt neben ihrer Sänfte, hielt ihr den Sonnenschirm und betreute ihr Hündchen, seinen gefährlichsten Nebenbuhler im Herzen der Dame. Des Morgens weckte er sie, zog die Jalousien in die Höhe und brachte die Schokolade, später assistierte er ihr sachkundig bei der Toilette und geleitete die Besuche an ihr Bett. Auch Fernerstehende wurden nämlich von den Damen mit Vorliebe beim Lever empfangen, später sogar bisweilen beim Morgenbad. Diese Sitte erscheint um so sonderbarer, als man in der Rokokozeit von der Wanne sonst fast gar keinen Gebrauch gemacht hat. In Versailles gab es keine einzige Badegelegenheit und noch in Goethes Jugend, hielt man das Schwimmen für eine Verrücktheit. Die zahlreichen Bilder badender Frauen und Mädchen, die aus jener Zeit stammen, sind kein Gegenbeweis, da sie lediglich dem Zweck dienten, die erotische Phantasie anzuregen. Wenn man bedenkt, welche lächerlich kleinen Dimensionen die damaligen Waschbecken hatten, die etwa so groß und so tief waren wie Suppenteller, so möchte man fast auf die Vermutung kommen, daß sich in jenen pikanten Deckelwannen, die alles Mögliche ahnen ließen, kein Wasser befand.

Noch viel öfter als die Wanne findet sich auf den lasziven Bildern jener Zeit, die man mit der größten Unbefangenheit überall aufstellte, ein anderes Requisit: nämlich die Schaukel. Sie kam erst damals allgemein in Mode und bringt in der Tat eine Reihe typischer Rokokoelemente zum Ausdruck: das Spielerische, die vorgetäuschte Infantilität, den erwachenden Sinn für »Freiluft«, die Galanterie des Mannes und die Koketterie der Frau, und sie wirkt durch den kitzelnden Schwindel, den sie erzeugt, als eine Art Aphrodisiakum. Übrigens machte man damals auch ganz unbedenklich von viel weniger harmlosen Stimulantien einen oft ausschweifenden Gebrauch: alle Welt nahm »Liebespillen«, »spanische Fliegen« und ähnliche Anregungsmittel. Es ist unbegreiflich, wie man aus diesen und verwandten Erscheinungen schließen konnte, das Rokoko sei ein besonders stark erotisches Zeitalter gewesen; es war vielmehr eher unerotisch und wollte nur um keinen Preis auf die Genüsse der Liebe verzichten. Gerade aus der Tatsache, daß alles Sinnen und Trachten des Rokokomenschen dem Problem der Liebe und der Bereicherung, Verfeinerung und Intensivierung ihrer Technik gewidmet war, erhellt unzweideutig, daß ihm auch auf diesem Gebiete die schöpferische Kraft abhanden gekommen war. Der Augenblick, wo nicht mehr der Inhalt, sondern die Form, nicht mehr die Sache, sondern die Methode zum Hauptproblem erhoben wird, bezeichnet immer und überall den Anfang der Décadence. Erst als das Mittelalter die ganze Fülle seiner Gottesanschauung ausgelebt hatte, entwickelte die Scholastik ihre höchste Subtilität und Schärfe; erst als die griechische Philosophie alle ihre großen Würfe getan hatte, erschienen die klassischen Systematiker. Aischylos und Shakespeare waren keine Dramaturgen; dies blieb erst den Alexandrinern und den Romantikern vorbehalten. Aber andrerseits muß man gerechterweise auch anerkennen, daß gerade die Niedergangszeiten in Kunst, Wissenschaft, Lebensordnung eine Feinheit, Kompliziertheit und psychologische Witterung zu entwickeln pflegen, die nur ihnen eigen ist. Und so hat es denn auch im Rokoko zwar keine erotischen Genies gegeben, wohl aber große Amouröse, unvergleichliche Artisten der Liebeskunst, die damals zu einer ungemein geistreichen und gründlichen Wissenschaft ausgebildet wurde. An der Spitze dieser Virtuosen beiderlei Geschlechts stehen die Pompadour, deren Leben zur Legende, und Casanova, dessen Namen zum Gattungsbegriff erhöht worden ist, während eine Gestalt wie die des Herzogs von Richelieu als Repräsentant einer ganzen Spezies gelten kann: er erhielt, obgleich er ein Alter von zweiundneunzig Jahren erreichte, bis zu seinem Tode täglich ein dickes Paket Liebesbriefe, das er oft gar nicht öffnete, und erlitt die erste und wahrscheinlich einzige Niederlage seines Lebens mit Sechsundsechzig Jahren, als er auf Schloß Tournay vergeblich um die schöne Madame Cramer warb, was ihn aber als Kuriosität so amüsierte, daß er es selbst aller Welt erzählte; und einmal war er sogar Gegenstand eines Pistolenduells, das zwei Damen der höchsten Aristokratie um ihn ausfochten.

Das Häßlichkeitspflästerchen

Auch die Tatsache, daß das Rokoko ein Zeitalter der Gynokratie war, ist nicht aus besonders stark entwickelter Erotik herzuleiten. Dies ist vielmehr in zwei anderen Momenten begründet. Zunächst in der Feminisierung des Mannes, die sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt steigerte. »Die Männer«, sagt Archenholz, »sind jetzt mehr als in irgendeinem Zeitraum den Weibern ähnlich.« Sodann aber hatte in den romanischen Ländern das Gesellschaftsleben allmählich die grandiosesten Formen angenommen, und wo eine höchstentwickelte Kultur der Geselligkeit herrscht, dort herrscht auch immer die Frau. Aus derselben Ursache stammt auch in der Renaissance der soziale Primat des weiblichen Geschlechts. Nur war die Renaissance eine ausgesprochen virile Zeit und ihr Frauenideal daher die Virago. Ganz umgekehrt kann im Rokoko die Frau gar nicht weiblich und kindlich genug aussehen: es herrscht das Fragilitätsideal, das sich mit voller Bewußtheit an der Porzellanpuppe orientiert. Gesundheit gilt für uninteressant, Kraft für plebejisch. Das aristokratische Ideal, dem noch zur Zeit Corneilles und Condés eine Art Kalokagathie entsprach, wandelt sich zum Ideal der »Feinheit«, der Hypersensibilität und vornehmen Schwäche, der betonten Lebensunfähigkeit und Morbidität. Das Schönheitspflästerchen, das schon unter Ludwig dem Vierzehnten aufgetaucht war, aber erst jetzt zum dominierenden Bestandteil der mondänen Physiognomie wird und eigentlich Häßlichkeitspflästerchen heißen sollte, verfolgt den Zweck, die Regelmäßigkeit des Antlitzes pikant zu unterbrechen, und dient damit dem Hang zur Asymmetrie, der dem Rokoko eingeboren ist, hat aber zugleich die Aufgabe, einen Schönheitsfehler, nämlich eine Warze vorzutäuschen, jede Frau zur belle-vilaine zu machen und ihr damit einen neuen perversen Reiz zu verleihen: also auch hier ein Zug zum Krankhaften. Später hat man darin sogar bis zur Geschmacklosigkeit exzediert, indem man der Mouche die Gestalt von allerlei Sternen, Kreuzen und Tierfiguren gab und die Ränder mit Brillanten besetzte. Die majestätische Fontange kommt schon 1714 aus der Mode; um 1730 verdrängt der Haarbeutel, le crapaud, die Perücke, die seit Beginn des Jahrhunderts immer kleiner geworden war: die männlichen Locken stecken jetzt nur noch in einem zierlichen Säckchen, das von einer koketten Seidenschleife zusammengehalten wird; der Zopf, la queue, wird um die Mitte des Jahrhunderts allgemein, beim Militär schon früher. Das Pudern, das zur vornehmen Toilette unerläßlich war, ob es sich um eigenes oder um falsches Haar handelte, war eine äußerst schwierige Prozedur: man schleuderte gewöhnlich den Puder zuerst gegen die Zimmerdecke und ließ ihn von da auf den Kopf herabrieseln, das Gesicht schützte man dabei durch ein Tuch. Kaunitz pflegte des Morgens durch ein Spalier von Lakaien zu schreiten, die ihn möglichst gleichmäßig bestäuben mußten. Graf Brühl besaß fünfzehnhundert Perücken, die dauernd unter Puder gehalten wurden: »viel für einen Mann ohne Kopf« sagte Friedrich der Große. Auch das Antlitz mußte stets von einer starken Puderschicht bedeckt sein.

Die tragische Maske des Rokokos

Der Puder des Rokokos war so wenig wie die Allonge der Barocke eine »Modetorheit«, sondern dessen beredtestes Symbol. Im Rokoko galt der Mann, wenn er das vierzigste Jahr überschritten hatte, für ausgelebt, die Frau noch viel früher; man heiratete auch viel zeitiger als heutzutage: die Mädchen oft mit vierzehn oder fünfzehn Jahren, die Jünglinge mit zwanzig. Voltaire nennt sich von seinem fünfundvierzigsten Lebensjahr an in seinen Briefen einen Greis; seine Freundin Frau von Châtelet empfand sich als unmögliche Figur, als sie noch mit vierzig Jahren ein Kind erwartete. Es sind dies Maßstäbe, die großen Wandlungen unterworfen, aber stets im Zeitgeist tief begründet sind. Noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts war eine Frau von dreißig Jahren Ballmutter, heute geht sie mit fünfzig in die Tanzschule; in den französischen Sittenstücken der Achtziger Jahre war der Raisonneur, der das Leben und die Liebe mit den Augen des resignierten Zuschauers betrachtet, selten älter als vierzig, in den heutigen Filmen wird der gewissenlose Verführer mit Vorliebe als Fünfziger dargestellt. Das Rokoko fühlte sich alt; und zugleich war es von der verzweifelten Sehnsucht des Alters erfüllt, die entschwindende Jugend dennoch festzuhalten: darum verwischte es die Altersunterschiede durch das gleichmäßig graue Haar. Das Rokoko fühlte sich krank und anämisch: darum mußte der Puder die Blässe und Bleichsucht gleichsam zur Uniform machen. Das junge oder jung geschminkte Gesicht mit dem weißen Kopf ist ein erschütterndes Sinnbild der Rokokoseele, die tragische Maske jener Zeit, denn jede Zeit trägt eine bestimmte Charaktermaske, in der sie alle ihre Velleitäten sammelt, ob sie es weiß oder nicht.

Die männliche Kleidung ist das Kostüm eines verwöhnten Knaben: mit ihren zarten Seidenröcken, Kniehosen und gebänderten Schuhen, reichen Jabots und Spitzenmanschetten, glitzernden Goldpailletten und Silberstickereien und dem Galanteriedegen, der ein bloßes Spielzeug ist. Die Tönung der Gewänder ist delikat, diskret, weiblich: man wählt die Farbe der Pistazie, der Reseda, der Aprikose, des Seewassers, des Flieders, des Reisstrohs und gelangt bisweilen zu ganz abenteuerlichen Nüancen: ein neues Gelbgrün hieß Gänsedreck, merde d'oie, ein Braungelb dem neugeborenen Thronfolger zu Ehren » caca Dauphin« und in puce, flohfarbig, gab es eine Menge Abstufungen: Flohkopf, Flohschenkel, Flohbauch, sogar Floh im Milchfieber. Der Bart war während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts so vollständig verschwunden, daß man die Schauspieler nicht an der Bartlosigkeit erkannte, wie das in unserer Zeit bis vor kurzem der Fall war, sondern in gewissen Fällen gerade am Schnurrbart, wenn es nämlich ihre Spezialität war, Räuber darzustellen.

Im Exterieur der Frau ist das Wichtigste die dünne mädchenhafte Taille. Sie wurde durch das Fischbeinmieder erzwungen, das als »Schnebbe« in einen langen spitzen Winkel auslief, wodurch der Eindruck der zerbrechlichen Schlankheit noch erhöht wurde. Schon am frühen Morgen begannen die unglücklichen Damen mit dem Schnüren, das sie von Viertelstunde zu Viertelstunde verstärkten, bis sie die ersehnte Wespenfigur hatten. Auch der wuchtige Reifrock, wegen seiner mächtigen Dimensionen panier, Hühnerkorb, genannt, hatte nur den Zweck, durch Kontrast den Oberkörper noch zarter wirken zu lassen. Er war ebenfalls mit Fischbein ausgesteift, und der enorme Bedarf an diesem Material war für die Holländer, die Walfischfänger Europas, ein neues gutes Geschäft. Wir sind ihm bereits in Spanien als »Tugendwächter« begegnet, aber diesmal ist er fußfrei und dient, als kokette Verhüllung, die aber nicht selten wie unabsichtlich den nackten Unterkörper sehen läßt (denn Damenhosen waren im Rokoko verpönt), durchaus nicht der Tugend. Über dem Reifrock befand sich die seidene Robe, die mit einem reichen Besatz von Girlanden, Passamenterien, Spitzen, Bändern, echten oder künstlichen Blumen und bisweilen auch mit Malereien geschmückt war: so erblickte man zum Beispiel auf dem Kleid der Königin von Portugal den ganzen Sündenfall mit Adam, Eva, Apfelbaum und Schlange. Der Reifrock, der um 1720 Europa eroberte und von aller Welt, auch von Bäuerinnen und Dienstmädchen, getragen wurde, nahm allmählich so kolossale Formen an, daß seine Trägerinnen nur seitwärts zur Tür hereinkommen konnten. Ebenso unbequem war der abenteuerlich hohe Stöckelschuh, der das Gehen fast unmöglich machte. Zu Hause und im kleinen Kreis trug man statt des Reifrocks die Adrienne, ein loses bauschiges Gewand, zu dem aber ebenfalls die Schnürbrust gehörte. Zu Anfang des Jahrhunderts wird es bei den Damen Sitte, graziös bebänderte Spazierstöcke zu tragen; ein unentbehrliches Requisit der Koketterie ist auch der Fächer, der erst jetzt als Faltfächer sein volles Spiel entwickelt. Eine neue Erfindung war auch der zusammenklappbare Regenschirm, das parapluie, während der offene Sonnenschirm, das parasol, etwas älter ist. Das ganze Kostüm wurde in der Kleidung der Kinder genau nachgeahmt, die nicht nur Haarbeutel und Panier, Mouche und Galanteriedegen, Fächer und Dreispitz trugen, sondern auch geschminkt und gepudert waren, als Dame dem Herrn den Hofknix machten und als Herr der Dame die Hand küßten.

Spiegelleidenschaft

Man liebt auf Denkmälern die komische Sitte, dem Verewigten einen Gegenstand in die Hand zu drücken, der seine Tätigkeit charakterisieren soll: dem Dichter eine Papierrolle, dem Erfinder ein Rad, dem Seehelden ein Fernrohr. In analoger Weise könnte man auch für jede Kulturperiode ein bestimmtes Utensil als besonders repräsentativ ansehen: so müßte man sich zum Beispiel den Menschen der anbrechenden Neuzeit mit einem Kompaß vorstellen, den Barockmenschen mit einem Mikroskop, den Menschen des neunzehnten Jahrhunderts mit einer Zeitung, den heutigen Menschen mit einer Telephonmuschel; den Rokokomenschen aber mit einem Spiegel. Er begleitete die damalige Gesellschaft durchs ganze Leben. Die Repräsentationsräume füllten sich mit mannshohen venezianischen Tafeln, die dem Besucher sein volles Porträt entgegen warfen; an einer Menge täglicher Gebrauchsgegenstände waren kleine Taschenspiegel angebracht; von allen Wänden glitzerten, durch reiche Kronleuchter und eine Fülle kleinerer Lüster unsterstützt, Spiegelgläser in allen Größen und Formen; sogar ganze Zimmer waren mit ihnen austapeziert, die ungemein beliebten Spiegelkabinette, die das Bild des Beschauers ins Unendliche vervielfachten. Aus dieser Spiegelleidenschaft spricht mancherlei. Nicht bloß, was am nächsten liegt, Eitelkeit, Eigenliebe, Narzißmus, sondern auch Freude an Selbstbeschau, Autoanalyse und Versenkung ins Ichproblem, die sich in der Tat oft bis zu einer wahren Introspektionsmanie steigerte. Das Rokoko ist das anbrechende Zeitalter der klassischen Brief- und Memoirenliteratur, der Selbstdarstellungen und großen Konfessionen, der Psychologie. Diese neue Wissenschaft ist eine Errungenschaft des achtzehnten Jahrhunderts, und wir werden sehen, wie der Trieb zur Selbstzerfaserung und Seelenergründung sich im Laufe der Generationen immer mehr steigerte, bis er gegen Ende des Jahrhunderts eine schon fast moderne Höhe erreichte. Und noch ein zweites symbolisiert der Spiegel des Rokokomenschen: die Liebe zum Schein, zur Illusion, zur bunten Außenhülle der Dinge, was aber nicht so sehr »Oberflächlichkeit« als vielmehr extremes Künstlertum, raffinierte Artistik bedeutet. »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben« lautet die Devise Fausts, die, wenn wir Nietzsche glauben dürfen, auch das Leitmotiv der griechischen Kultur war: »Oh, diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten ... diese Griechen waren oberflächlich aus Tiefe!«

Theatrokratie

Es gibt eine Berufsklasse, für die der Spiegel ein ebenso unentbehrliches Instrument bedeutet wie die Retorte für den Chemiker oder die Tafel für den Schullehrer: es sind die Schauspieler. Und damit kommen wir zum innersten Kern des Rokokos: es war eine Welt des Theaters. Niemals vorher oder nachher hat es eine solche Passion für geistreiche Maskerade, schöne Täuschung, schillernde Komödie gegeben wie im Rokoko. Nicht nur war das Dasein selber ein immerwährender Karneval mit Verlarvung, Intrige und tausend flimmernden Scherzen und Heimlichkeiten, sondern die Bühne war der dominierende Faktor im täglichen Leben, wie etwa im klassischen Altertum die Rednertribüne oder heutzutage der Sportplatz. Überall gab es Amateurtheater: bei Hofe und im Dorfe, auf den Schlössern und in den Bürgerhäusern, an den Universitäten und in der Kinderstube. Und fast alle spielten ausgezeichnet. In dieser Theaterleidenschaft zeigt sich am stärksten und deutlichsten, was der tiefste Wille des Zeitalters war: die Sehnsucht nach letzter Decouvrierung der eigenen Seele. Man hat die Schauspielkunst nicht selten als eine Art »Prostitution« bezeichnet, und mit Recht. Hierin liegt aber der Hauptgrund, warum das Theater auf so viele Menschen eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt. Die »Prostitution« ist nämlich ein ungeheurer Reiz. Der Mensch hat einen tiefen eingeborenen Hang, sich zu prostituieren, aufzudecken, nackt zu zeigen: nur kann er ihn fast nirgends befriedigen. Dies war schon die Wurzel der uralten Dionysoskulte, bei denen die Männer und Frauen sich im Rausche die Kleider vom Leibe rissen, was aber die Griechen nicht als schamlose Orgie, sondern als »heilige Raserei« bezeichneten. Übertragen wir dies ins Psychologische, so stoßen wir auf den merkwürdig suggestiven Hautgout, den aller Zynismus an sich hat. Im täglichen Leben wird dem Menschen von Staat und Gesellschaft die Aufgabe gestellt, möglichst geschickt nicht er selber zu sein, sondern immer Hüllen, Draperien, Schleier zu tragen. Immer ist der Vorhang unten, nur einmal ist er oben: eben im Theater. Gerade dort also, wo sich nach der falschen Ansicht des Laien der Herrschaftsbereich der Maske, Verkleidung und Verstellung befindet, springt der Mensch unvermummter, echter, ungeschminkter hervor als sonst irgendwo. Dies ist der wahre Sinn jener »Prostitution«, die das Wesen der Schauspielkunst ausmacht: das Seelenvisier fällt, das innerste Wesen wird manifest, es muß heraus, ob der Träger des Geheimnisses will oder nicht. Das Theater ist eben mehr, als die meisten glauben: keine bunte Oberfläche, kein bloßes Theater, sondern etwas Entsiegelndes und Erlösendes, etwas schlechthin Magisches in unserem Dasein.

Die Régence

Gynokratie und Theatrokratie bestimmen das Rokoko während seiner ganzen Lebensdauer. Über die Periodisierung des Zeitalters herrscht aber nicht vollkommene Klarheit und Einigkeit. Man pflegt für die Zeit der Regentschaft, die von 1715 bis 1723 währte, von Style Régence zu sprechen, dann bis zur Mitte des Jahrhunderts und noch weiter darüber hinaus von einem Style Louis Quinze und schließlich vom Style Louis Seize, der im wesentlichen mit dem Zopfstil identisch ist. In seinem ersten Abschnitt trägt das Rokoko einen zügellosen, kühn auflösenden Charakter, der in seiner Heftigkeit noch etwas von der siegreichen Barockvitalität hat, dann werden seine Lebensäußerungen immer müder, blutleerer, filigraner, bis sie im antikisierenden »Zopf« zu völliger Gliedersteife und Altersschwäche erstarren. Früher hat man die Begriffe Zopf und Rokoko einfach gleichgesetzt, was völlig unberechtigt ist; viel eher läßt sich fragen, ob der Zopf überhaupt noch zum Rokoko gehört.

Wir haben gehört, mit welcher unverhohlenen Freude der Tod Ludwigs des Vierzehnten begrüßt wurde. Alle Welt, der Hof und der Adel so gut wie die Roture und die Canaille, atmete auf, als der doppelte Druck des Despotismus und der Bigotterie vom Lande genommen war. »Gott allein ist groß, meine Brüder«, begann Massillon seine Leichenrede auf Louis le Grand, »und groß besonders in diesen letzten Augenblicken, wo er den Tod verhängt über die Könige der Erde.« Wie nach dem Sturz der Puritanerherrschaft in England wollte man nun auch in Frankreich sich für die langen Entbehrungen und Bevormundungen des alten Régimes schadlos halten, indem man den Genuß zum Alleinherrscher des Lebens erhob und alle Tugend für Heuchelei, alle gute Sitte für Prüderie erklärte. Ludwig der Vierzehnte hatte während seiner letzten Jahre auch in seiner Familie viel Unglück gehabt: nacheinander starben ihm alle direkten Thronerben bis auf seinen unmündigen Urenkel, und zur Regentschaft gelangte sein Neffe, der Herzog Philipp von Orléans, der Sohn der »Liselotte«, die am Theater von Versailles die Rolle der »Ingénue« spielte und sich durch ihre urwüchsigen Briefe einen noch heute lebendigen Nachruhm verschafft hat. Der Volkswitz empfahl nicht ohne Berechtigung für sie die Grabschrift: »Hier ruht die Mutter aller Laster«, denn der Herzog war der Typus des »Wüstlings«, wie er noch heute in Kolportageromanen vorkommt, glänzend begabt, bestechend liebenswürdig, aber von einer rasanten Skepsis und Frivolität, die im eigenen Vergnügen die einzige Richtschnur alles Handelns erblickte. Ludwig der Vierzehnte pflegte ihn sehr bezeichnend »fanfaron de vice« zu nennen, und er trieb in der Tat mit dem Laster eine Art bizarren Kultus, was nicht nur echter Rokokostil, sondern auch echt französisch war, denn der Franzose liebt es, sowohl seine Vorzüge wie seine Untugenden zu unterstreichen und sozusagen überchargiert zu spielen; und eben deshalb hat das Volk dem Regenten alles verziehen und ihm nicht einmal ein schlechtes Andenken bewahrt. Auf ihn geht der Ausdruck »roué« zurück: er bezeichnete damit die Genossen seiner Orgien als »Galgenvögel« und »von allen Lastern Geräderte«. Das Raffinement, mit dem diese Kompagnie stets neue Ausschweifungen ersann, bildete das bewundernde Stadtgespräch von Paris, und zu den »fêtes d'Adam«, die in Saint-Cloud veranstaltet wurden, Zutritt zu erhalten, war der Ehrgeiz aller Damen. Mit seiner Tochter, der schönen und temperamentvollen Herzogin von Berry, verband den Regenten ein leidenschaftliches Liebesverhältnis, aber auch daran fand man nichts besonders Anstößiges, wie denn überhaupt der Inzest damals gerade in den höchsten Kreisen nichts Seltenes war: so hatte zum Beispiel auch der Herzog von Choiseul, der im Siebenjährigen Krieg als Premierminister eine große Rolle spielte, eine allgemein bekannte Beziehung zu seiner Schwester, der Herzogin von Gramont. Auch in anderer Hinsicht wurden die üblichen Grenzen des Geschlechtsverkehrs wenig beachtet, und es entspricht dem greisenhaften Charakter des Zeitalters, daß vielleicht niemals die Kinderschändung so verbreitet war wie im Rokoko.

Bei einer dieser Orgien wurde dem Regenten ein Schriftstück zur Unterschrift gebracht. Er war aber schon so betrunken, daß er nicht mehr signieren konnte. Er gab daher das Papier Frau von Parabère mit den Worten: »Unterschreib, Hure.« Diese erwiderte, das käme ihr nicht zu, worauf er zum Erzbischof von Cambrai sagte: »Unterschreib, Zuhälter.« Als auch dieser sich weigerte, wandte er sich an Law mit der Aufforderung: »Unterschreib, Gauner.« Aber auch dieser wollte nicht unterzeichnen. Da sagte der Regent: »Ein herrlich administriertes Reich: regiert von einer Hure, einem Zuhälter, einem Gauner und einem Besoffenen.« Aber es scheint, daß er auch hier ein wenig den Fanfaron gespielt hat, denn seine Regierung war in mancher Beziehung besser als die seines Vorgängers und seines Nachfolgers. Er verdrängte die Jesuiten vom Hofe und begünstigte die Jansenisten, tilgte ein Fünftel von den zweitausend Millionen Livres Staatsschulden, die Ludwig der Vierzehnte hinterlassen hatte, näherte sich den Seemächten und verfolgte mit Hilfe seines Lehrers, des lasziven und klugen Kardinals Dubois, eine friedliebende Politik. Die Zensurbedrückungen und die willkürlichen Verhaftungen hörten unter ihm fast ganz auf, zumal da er wie alle wirklich vornehmen und die meisten geistreichen Menschen gegen persönliche Angriffe unempfindlich war. Als Voltaire in seinem ersten Drama »Oedipe« die unglaubliche Kühnheit hatte, bei der Schilderung der blutschänderischen Beziehung zwischen dem König und Jokaste auf den Herzog und seine Tochter anzuspielen, saß dieser, obgleich er natürlich alles verstand, unbewegt in seiner Loge, klatschte Beifall und bewilligte dem jungen Autor ein bedeutendes Jahrgeld.

Der Lawsche Krach

Die Affäre des soeben erwähnten Law war allerdings eine der größten öffentlichen Katastrophen, die Frankreich vor der Revolution erlebt hat. John Law, ein reicher Schotte, schön, gewandt, elegant und zweifellos ein finanzielles Genie, hatte den produktiven und an sich richtigen Gedanken gefaßt, daß das Kapital der staatlichen und der großen privaten Banken sich nicht lediglich in ihrem Vorrat an Edelmetall ausdrücke, sondern auch in den Naturwerten und Arbeitskräften, die ihnen bei ihren Transaktionen zur Verfügung ständen; infolgedessen seien sie berechtigt, an den Kredit des Publikums zu appellieren und Bankbillets auszustellen, für die nicht die volle Deckung durch Bargeld vorhanden sei. Seine im Jahr 1716 auf diese Prinzipien gegründete Privatnotenbank, die später in eine königliche umgewandelt wurde, verteilte schon im dritten Jahr ihres Bestandes vierzig Prozent Dividende. Die von ihm ins Leben gerufene »Compagnie des Indes«, die zur Exploitierung Kanadas und Louisianas bestimmt war, zog die Ersparnisse ganz Frankreichs an sich, und als ihre »Mississippiaktien« auf das Zwanzigfache und Vierzigfache ihres Nennwertes stiegen, überschritt die Spekulationswut alle Grenzen. Damals wurde der Typ des »chevalier d'industrie« geboren, des abenteuernden Industrieritters, dessen Vermögen in lauter Papier besteht. 1719 erbot sich Law, den Staat mit einem Schlage zu sanieren, indem er sämtliche Steuern in Pacht nahm, 1720 wurde er zum Finanzminister ernannt. Schließlich setzte er so viele Scheine in Umlauf, daß sie das Achtzigfache alles in Frankreich befindlichen Geldes repräsentierten. Aber die Kolonien brachten nichts ein, das Publikum wurde mißtrauisch, es erfolgte ein allgemeiner Run auf die Staatsbank, ihre Billets sanken auf den zehnten, die indischen Aktien auf den fünfundzwanzigsten Teil ihres Ausgabekurses. 1721 blieb nichts übrig, als den Bankerott zu erklären, Law mußte nach Venedig fliehen, wo er acht Jahre später in größter Armut starb, eine ungeheure Teuerung brach aus, ganz Frankreich war ruiniert. Der Lawsche Krach hat bekanntlich im zweiten Teil des »Faust« Verwendung gefunden: dort wird er als mephistophelischer Handel geschildert, denn nicht Faust, sondern Mephisto ist der Urheber des Zettelschwindels, durch den der Kaiser sich rangiert; und die leichtgläubige Menge, die sich Papier für gutes Geld anhängen läßt, ist im Narren personifiziert: »Zu wissen sei es jedem, der's begehrt: der Zettel hier ist tausend Kronen wert. Ihm liegt gesichert als gewisses Pfand Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland.

Nun ist gesorgt, damit der reiche Schatz, sogleich gehoben, diene zum Ersatz.« Indes waren die Pläne Laws nichts weniger als schwindelhaft und teuflisch, denn die Deckung für seine Scheine bestand nicht in erlogenen Märchenschätzen, sondern in sehr reellen Boden- und Sachwerten, nur wurden diese von unfähigen Kräften nicht entsprechend fruktifiziert und die an sich gesunden Kreditprinzipien von einer gedankenlosen und habgierigen Staatsregierung in maßloser Weise überspannt, und zudem überstieg das ganze System die wirtschaftliche Fassungskraft des damaligen Publikums, das dafür noch nicht reif war und sich in der Tat kopflos und närrisch benommen hat.

Louis Quinze

In seiner Art war auch Ludwig der Fünfzehnte ein echter Rokokofürst: übersättigt und lebenshungrig, leichtfertig und schwermütig, von Jugend an senil. Seine Selbstregierung währte fast ebenso lange wie die Ludwigs des Vierzehnten, nur überließ er die Leitung fast gänzlich seinen Staatsräten und Mätressen, in den beiden ersten Jahrzehnten dem Kardinal Fleury, dem dritten Kirchenfürsten, der in Frankreich allmächtig war. In Louis Quinze wandelt sich die kraftvolle Orgiastik der Régence in eine welke Verruchtheit. Er war intelligent, aber lange nicht so geistvoll wie der Herzog, zudem waren in seiner Seele Libertinage und Bigotterie seltsam gemischt: obgleich völlig gewissenlos, litt er doch an fortwährender Angst vor der Hölle, was die Jesuiten zur Wiedererlangung ihrer Hofstellung ausnutzten. Zuerst errangen die fünf Schwestern Mailly nacheinander das Glück, von ihm zu ersten Favoritinnen erhoben zu werden; 1745 lernte er die Pompadour kennen, die damals in der vollen Blüte ihrer Jugend und Schönheit stand. Obgleich sie, der bürgerlichen Hochfinanz entstammt, von der Hofkamarilla aufs heftigste angefeindet wurde, gelang es ihr doch, den blasierten König zwei Jahrzehnte lang zu fesseln. Sie ritt und tanzte, zeichnete und radierte, sang und deklamierte mit der größten Vollendung, las und beurteilte alle bedeutenden Neuerscheinungen: Dramen, Philosophien, Romane, Staatstheorien mit dem feinsten Verständnis, und vor allem verstand sie die Kunst, täglich neu zu sein und den Vergnügungen, mit denen sie ihren Lebensgefährten umgab, immer wieder eine überraschende und faszinierende Pointe abzutrotzen. Mit der Königin, die selber sanft und liebenswürdig, aber etwas langweilig war, stand sie auf dem besten Fuß, ja sie gab ihr sogar Liebesunterricht; später führte sie dem König in dem berühmten Parc aux Cerfs junge Schönheiten zu. Ihre Nachfolgerin war Jeanne Dubarry, eine dumme und gewöhnliche Person, die aber, vielleicht gerade durch den Hautgout ihrer Ordinärheit, einen unbeschreiblichen sexuellen Reiz besessen haben muß: besonders ihre Art, lüstern mit den Augen zu blinzeln, soll unwiderstehlich gewesen sein.

Die noblesse de la robe

Während der Hof sich auf diese Art amüsierte und der Bürger sich von Jahr zu Jahr mehr bildete und bereicherte, lebte das Landvolk in Lumpen und Lehmhütten und befand sich, wie ein englischer Ökonom feststellte, auf dem Standpunkt der Agrikultur des zehnten Jahrhunderts. Von der Höhe der Steuern und der Härte, mit der sie eingetrieben wurden, kann man sich heutzutage nur schwer eine Vorstellung machen: sie waren so sinnlos, daß der Bauer es oft vorzog, den Boden unbebaut zu lassen oder seine Ernte zu vernichten. Der Adel lebte noch immer wie eine höhere Rasse mit eigenen Rechten und Lebensgewohnheiten mitten unter der übrigen Bevölkerung Frankreichs, untätig, unbesteuert, keinen Pflichten unterworfen als dem Dienst der Repräsentation und keinem Gesetz gehorchend als der Laune des Königs. Ihm gehörten alle Güter, alle Ehren, alle Frauen des Landes. Als der Marschall Moritz von Sachsen, der Sohn Augusts des Starken und der schönen Aurora von Königsmark, erfolglos um die Schauspielerin Chantilly warb, die es vorzog, den Operndichter Favart zu heiraten, erwirkte er eine königliche Kabinettsordre, die ihr befahl, seine Mätresse zu werden. Dieser glänzende Kavalier, der sonst nicht über Mißerfolge bei Frauen zu klagen hatte, war übrigens noch in eine zweite für die damaligen Zustände ebenso charakteristische Skandalaffäre verwickelt, deren Mittelpunkt wiederum eine Schauspielerin war, die große Adrienne Lecouvreur. Sie hatte ein langjähriges Liebesverhältnis mit ihm und wurde von der Herzogin von Bouillon, die ebenfalls in den späteren berühmten Feldherrn verliebt war, allem Anschein nach vergiftet: der Polizeidirektor, der den Befehl erhalten hatte, jede Untersuchung über die Todesart der Künstlerin unmöglich zu machen, ließ die Leiche ohne Sarg in eine Grube werfen und mit Kalk bedecken. Indes zeigten sich doch schon damals auch einige Zeichen der beginnenden Auflösung des allmächtigen Absolutismus. Seit Franz dem Ersten hatte Paris als Residenz der Könige eine immer zentralere Stellung erlangt: schließlich waren »la cour et la ville« identisch mit ganz Frankreich. Dies blieb auch während der Regierung der beiden letzten Ludwige unverändert; aber die beiden Machtfaktoren, Hof und Stadt, beginnen zu Anfang des Jahrhunderts sich voneinander zu lösen und in eine immer feindlichere Rivalität zu treten. Unter Ludwig dem Vierzehnten dient die Stadt mit allen ihren geistigen Ressourcen: ihrer Kunst und Beredsamkeit, ihrer Dramatik und Philosophie, ihren Staatslehren und Wirtschaftstheorien dem Hof: Racine und Molière, Boileau und Bossuet sind eine Art von Kronbeamten; unter Ludwig dem Fünfzehnten wird sie zum Herd der Emanzipation, des Freigeistes und der Auflehnung. Sie hat ihren oppositionellen Kern im Pariser Parlament, der Vereinigung der Richter, deren Posten infolge der steten Geldbedürftigkeit der französischen Könige käuflich und erblich und damit vom Hof völlig unabhängig geworden waren: diese bildeten als »nohlesse de la robe« eine gegen die Krone und die Jesuiten gerichtete mächtige Clique und zugleich, infolge ihrer zahlreichen Heiraten mit reichen Kaufmannstöchtern, eine bürgerlich gefärbte Plutokratie. Nach dem Tode Fleurys verlor der Hof vollends alles Ansehen sowohl in der inneren wie in der äußeren Politik. Friedrich der Große charakterisierte das französische Regierungssystem ebenso treffend wie geistreich, als einmal in der Oper der Vorhang nicht ganz herunterging und die Füße der Tänzerinnen sichtbar blieben: »Ganz das Pariser Ministerium: Beine ohne Kopf!« Es ist für den langmütigen Royalismus der Franzosen bezeichnend, daß dieser liebloseste und wertloseste König, den sie jemals besessen haben, gleichwohl volle dreißig Jahre lang, seit seiner Genesung von einer lebensgefährlichen Krankheit im Jahre 1744, den Beinamen le Bien-Aimé, der Vielgeliebte, geführt hat.

Das Konzert der Mächte

In der europäischen Geschichte spielt Frankreich während jenes Zeitraums nur noch die Rolle eines lüsternen und impotenten Intriganten.

Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg beginnen in der Diplomatie die Begriffe »europäisches Gleichgewicht« und »Konzert der Mächte« in Mode zu kommen: man gibt sich den Anschein, als betrachte man das bestehende Staatensystem als ein wohlbesetztes Orchester, in dem es keine dominierende Hauptstimme geben dürfe. Da diese Schlagworte aber selbstverständlich nicht von wahrer Friedensfreundschaft und Gerechtigkeitsliebe diktiert waren, sondern von bloßer Mißgunst und Eifersucht, die den andern nicht zu groß werden lassen will, verhinderten sie die Kriege nicht, sondern erweiterten bloß die Kriegsschauplätze, indem der Koalitionskrieg nun noch mehr als früher die typische Form wurde: es kämpften selten Einzelstaaten gegeneinander, sondern fast nur noch Allianzen, die sich aber sofort auflösten, wenn einer der Teilhaber entscheidende Erfolge errang. Der große Gegensatz Frankreich-Habsburg blieb bestehen, Spanien und Schweden schieden aus der Reihe der Großmächte, an ihre Stelle traten Rußland und Preußen, England war schon damals infolge seiner längeren diplomatischen Schulung und höheren politischen Reife der Schiedsrichter Europas.

Die territorialen Veränderungen während der beiden ersten Drittel des Jahrhunderts sind, wenn wir von dem Besitzwechsel Schlesiens absehen, durchwegs zufällig und uninteressant, ein geistloses und willkürliches Changieren von Ländern und Länderfetzen. Österreich gewann im Frieden von Passarowitz Neuserbien mit Belgrad und die Kleine Walachei, mußte aber zwanzig Jahre später alles wieder zurückgeben, überließ damals Neapel und Sizilien, das es vom Herzog von Savoyen gegen Sardinien eingetauscht hatte, einer selbständigen Linie des Hauses Bourbon und erhielt dafür Parma und Piacenza, verlor aber auch diese Gebiete bald darauf an eine neugegründete dritte bourbonische Dynastie. Der Herzog Franz von Lothringen, der Gatte der österreichischen Thronfolgerin Maria Theresia, wurde Großherzog von Toscana, während sein eigenes Reich dem polnischen Thronprätendenten Stanislaus Lesczinski und nach dessen Tode Frankreich zufiel. Ein Versuch Philipps des Fünften von Spanien, die im Utrechter Frieden verlorenen Nebenländer wiederzugewinnen, scheiterte an der Quadrupelallianz Englands, Frankreichs, Österreichs und Hollands.

Kaiser Karl der Sechste hatte den größten Teil seiner Regierungstätigkeit darauf verwendet, die Pragmatische Sanktion zur Anerkennung zu bringen, durch die er die unangefochtene Nachfolge seiner Tochter als Beherrscherin aller Erbländer zu sichern hoffte. Er verhandelte mit allen europäischen Mächten und erhielt überall Zusagen, die sofort nach seinem Tode gebrochen wurden. So entstand der achtjährige sogenannte Österreichische Erbfolgekrieg, der den habsburgischen Staat in eine der gefährlichsten Krisen versetzte, die er jemals durchzumachen gehabt hat. Es ging um nichts weniger als die fast vollständige Aufteilung des Reiches. In dem geheimen »Partagetraktat«, den die Gegner miteinander schlossen, sollte Bayern Böhmen und Oberösterreich, Sachsen die Markgrafschaft Mähren und Niederösterreich, Frankreich Belgien, Spanien die italienischen Gebiete erhalten und der habsburgische Besitz im wesentlichen auf die östliche Reichshälfte mit der Residenz Ofen zusammengedrängt werden. Nur Preußen aber, an das man am wenigsten gedacht hatte, bekam beim Friedensschluß etwas heraus. Anfangs verlief der Krieg für Österreich katastrophal: die Verbündeten besetzten Linz und Prag, der Kurfürst von Bayern empfing die Huldigung der böhmischen Stände und wurde als Karl der Siebente zum deutschen Kaiser gewählt. Aber alsbald trat eine Wendung ein: er wurde von den Österreichern und Ungarn nicht nur aus den eroberten Gebieten, sondern auch aus seinem eigenen Lande vertrieben und man sagte jetzt von ihm: »et Caesar et nihil.« Nach seinem Tode entsagte sein Sohn allen Erbansprüchen auf Österreich und ein Habsburger, der Gemahl Maria Theresias, erhielt wieder die deutsche Kaiserkrone.

Der Duodezabsolutismus

Bei allen diesen politischen Vorgängen spielen die Gefühle und Wünsche der Völker nicht die geringste Rolle: es handelt sich sozusagen nur um Privatauseinandersetzungen der einzelnen Potentaten untereinander, um ihre Heiratsbeziehungen, Arrondierungsgelüste, Verträge und Vertragsbrüche, persönlichen Ambitionen und Velleitäten. Wir haben bereits erwähnt, daß der französische Absolutismus auf dem ganzen Kontinent von Fürsten und Untertanen nachgeahmt wurde. Besonders in Deutschland entwickelte sich eine hemmungslose Servilität, die um so grotesker war, als es sich fast durchwegs um Kleinstaaten handelte. Ein württembergischer Pfarrer meldete seinem Herzog: »Dero allerhöchste Säue haben meine alleruntertänigsten Kartoffeln aufgefressen.« Jeder Duodezfürst hatte den lächerlichen Ehrgeiz, Versailles zu kopieren, und mußte seine italienische Oper, sein französisches Lustschlößchen, seine Fasanerie, seine Paradetruppen haben. Ebenso unerläßlich war der Besitz anspruchsvoller Favoritinnen: er war ein so striktes Erfordernis der Sitte, daß manche, wie zum Beispiel Friedrich der Erste von Preußen, es für notwendig hielten, sich eine Scheinkonkubine zu halten. »Nun fehlt unserem Fürsten nichts mehr als eine schöne Mätresse« sagte gerührt ein Bürger einer kleinen Residenzstadt, als er den Landesherren mit seiner eben getrauten jungen Gemahlin vorüberfahren sah. August der Starke, der seinen Beinamen nicht bloßer Hofschmeichelei verdankte, hatte über dreihundert uneheliche Kinder; eines davon, die Gräfin Orselska, war seine Geliebte. Der Herzog Leopold Eberhard von Württemberg war noch vorurteilsloser, indem er die dreizehn Kinder, die er von seinen fünf Mätressen hatte, untereinander verheiratete. Niemand wagte an derartigen Vorgängen Kritik zu üben, sondern man fand alles in Ordnung, was an den Höfen dieser kleinen Gottkönige geschah, feierte den Namenstag der jeweiligen illegitimen Landesmutter wie ein Volksfest und empfand es als hohe Ehre, wenn der Fürst sich zu einer Bürgerstochter herabließ. Auch die übrigen Eingriffe ins Leben des Untertanen wurden willenlos hingenommen. Die zahlreichen Jagden richteten unermeßlichen Feldschaden an und verwüsteten oft ganze Ernten, die Vorbereitungen zu den höfischen Lustbarkeiten zogen bisweilen die halbe Bevölkerung in ihren Dienst und die Kosten für all diesen Aufwand wurden nicht selten durch Rekrutierung und Verkauf der Landeskinder bestritten. Für eine wirkliche Hebung der Arbeitskraft geschah aber nichts. Man rechnete im achtzehnten Jahrhundert in Deutschland auf zwanzig Menschen einen Geistlichen und fünf Bettler.

Pleiß-Athen

Die geistige Hauptstadt Deutschlands war damals Leipzig, das sich als Sitz der großen Messen und der vornehmsten deutschen Universität, als Metropole der kunstsinnigen polnisch-sächsischen Könige und des Buchhandels und als modische und mondäne »galante Stadt« zum vielgerühmten »Pleiß-Athen« emporgeschwungen hatte. Gleichwohl ist alles, was damals aus Sachsen hervorgegangen ist, pure Korrepetitorenliteratur, unterrichtet und methodisch, verkniffen und verprügelt, pedantisch und korrekturwütig und unermüdlich im ermüdenden Wiederholen derselben wohlfeilen Primitivitäten. Eine liebenswürdige Erscheinung ist Christian Fürchtegott Gellert, Pfarrerssohn und Professor, von schwächlicher Körperkonstitution und Gestaltungskraft, aber fleckenlos reinem Stil und Charakter, wirksam nicht nur durch seine Romane und Lustspiele, Lieder und Erbauungsschriften, sondern auch durch seine vielbesuchten »moralischen Vorlesungen« und seine ausgedehnte Korrespondenz, in der er alle Welt als ein lehrhafter und gefühlvoller Beichtvater betreute. Friedrich der Große sagte von ihm: »das ist ein ganz anderer Mann als Gottsched« und: »er hat so was Coulantes in seinen Versen.« Damit ist er vorzüglich charakterisiert: seine außerordentliche Popularität verdankte er der weichen, einschmeichelnden, eingängigen Form, in der er seine harmlosen Weisheiten vortrug; die spinöse Zärtlichkeit, mit der er dem Leser entgegenkam, machte ihn zum idealen Frauenschriftsteller. Sein Humor wirkt ein wenig frostig: es ist die Art, wie ein Großpapa in der Kinderstube scherzt, und seine Fabeln, das einzige, was von ihm übrig geblieben ist, machen den Eindruck, als seien sie von vornherein fürs Lesebuch geschrieben worden, als ausgesprochene »Stücke für die Unterstufe«. Der Grundzug seines Wesens war eine rührende, aber etwas ermüdende Altjüngferlichkeit, so wie Gleim mit all seinen Liebesliedern den Typus des alten Junggesellen verkörperte. Die um »Vater Gleim« gescharten »Anakreontiker« waren alles eher als amourös, dazu waren sie viel zu linkisch und sittsam, und nicht einmal richtig verliebt, sondern bloß verliebt in eine ganz nebelhafte und schülerhafte Idee von Verliebtheit, die von ihren Kinderseelen Besitz ergriffen hatte; sie waren auch nie richtig betrunken, sondern ebenfalls nur berauscht von der bloßen Idee und Möglichkeit des Rausches, die schon der Anblick rosenbekränzter Weinflaschen in ihnen zu erzeugen vermochte. Weshalb Kant nicht so unrecht gehabt haben dürfte, wenn er äußerte, anakreontische Gedichte seien gemeiniglich sehr nahe dem Läppischen.

Seit etwa 1730 bekleidete Gottsched die Stellung eines absoluten Literaturdiktators, nachdem sein theoretisches Hauptwerk »Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen« erschienen war, worin er die aristotelische Doktrin von der Nachahmung der Natur und die horazische Forderung des »delectare et prodesse« lehrte, beides so platt und eng wie nur möglich gefaßt. Aber schon nach einem Jahrzehnt wurde er von den Schweizern Bodmer und Breitinger gestürzt, die den Hauptgegenstand der Poesie im Außerordentlichen und Wunderbaren erblickten, »das aber immer wahrscheinlich bleiben müsse«; dieses Ideal fanden sie am vollkommensten verkörpert in der äsopischen Fabel. Im Grunde waren die Standpunkte beider Parteien nicht so verschieden, als es nach ihrer erbitterten Polemik den Anschein hatte, sie waren vielmehr feindliche Brüder, uneinig in ihren Einzelurteilen und näheren Ausführungen, völlig verwechselbar jedoch in ihrer Kunstfremdheit, Besserwisserei und sterilen Philistrosität. Ein unbestrittenes Verdienst der Schweizer war es jedoch, den selbstgefälligen, bornierten und intriganten Kunsttyrannen Gottsched gestürzt zu haben: 1765 konnte der junge Goethe über ihn berichten: »ganz Leipzig verachtet ihn«.

Eine Zeitlang war Gottsched auch das literarische Gewissen der Neuberin, die in der deutschen Theatergeschichte eine nicht unwichtige Rolle gespielt hat; später überwarf sie sich mit ihm und brachte ihn sogar in einer Parodie aufs Theater, mit einer Sonne aus Goldpapier auf dem Kopf und einer Blendlaterne in der Hand, womit er Fehler suchte. Die Neuberin war hübsch, gescheit, temperamentvoll, nicht ungebildet, aber wie alle Stars, wenn sie noch dazu Direktorinnen sind, ungemein herrschsüchtig und rechthaberisch; sie spielte nicht nur auf der Bühne am liebsten Hosenrollen. Als Gründerin der sogenannten Leipziger Schule hielt sie auf fleißiges und pünktliches Probieren, »Ehrbarkeit« ihrer Mitglieder, sorgfältige Versdeklamation und runde, gepflegte, »anmutige« Posen. Berühmt ist ihre symbolische Verbrennung des Harlekins auf offener Bühne. Sie brachte außer Gottscheds zahlreichen Kopien und Bearbeitungen französischer Stücke auch Gellert, Holberg und die Erstlingsdramen Lessings zur Aufführung. Ihre Truppe hatte aber mit der Zeit immer weniger Zulauf, sie zerschlug sich mit ihren zugkräftigsten Mitgliedern, ihr Spiel wurde unmodern und sie beschloß ihr Leben nur durch die Sorge ihrer Freunde ohne äußerste Notdurft. Währenddessen gelangte durch die Hanswurstdynastie Stranitzky, Prehauser und Kurz die barocke Stegreifposse in Wien zur höchsten Blüte. Diese große Tradition, künstlerischer, menschlicher und sogar ehrwürdiger als die leere aufgeblasene Gottsched-Neuberische, hat sich in der Wiener Theaterkunst im Grunde bis zum heutigen Tage erhalten und alles überlebt, indem sie alles absorbierte: Klassizismus, Romantik, Naturalismus; sie fand ihre Fortsetzung in Erscheinungen wie Raimund und Nestroy, Girardi und Pallenberg.

Klopstock

Jene Zeit sah auch noch den ersten Ruhm Klopstocks, dessen Gesänge die gefühlvollen »Seraphiker« zur Raserei entflammten. Schon beginnt man dem schwärmerischen Kult der Liebe und Freundschaft zu huldigen und unter Küssen und Tränen »heilige« Seelenbündnisse zu schließen, in denen sich die ersten Regungen der Empfindsamkeit ankündigen. Und in der Tat war kein Poet berufener, dem noch halb unterbewußten Drängen der sich langsam wandelnden Zeit Ausdruck zu verleihen. Seine Dichtungen sind heroische Landschaften, vor die ein Wolkenvorhang gespannt ist. Die Umrisse sind nur undeutlich sichtbar, bisweilen zuckt in der schwefelgeladenen Luft ein greller Blitz auf, zumeist liegt alles in einem unwirtlichen Nebelregen. Das war verwirrend und irritierend, ja auf die Dauer lähmend, aber es war völlig neu. Denn zum erstenmal seit langer Zeit trat ein Dichter auf, dessen Atmosphäre das Unwirkliche und Unartikulierte, Unbestimmte und Irrationale war. Die Späteren empfanden nicht mehr das Neue, nicht mehr die geheimnisvolle Suggestion, sondern nur noch die graue Monotonie und Unschärfe dieser Gesichte, die sehr oft in Unverständlichkeit und noch öfter in Langweile zerrinnt. »Ich bekenne unverhohlen«, sagt Schiller in seiner Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung, »daß mir für den Kopf desjenigen etwas bange ist, der wirklich und ohne Affektation diesen Dichter zu seinem Lieblingsbuch machen kann ... Nur in gewissen exaltierten Stimmungen des Gemütes kann er gesucht und empfunden werden.« Man kann sich die allgemeine Klopstockmanie, von der auch der junge Schiller noch ergriffen war, nur aus einer Kontrastwirkung erklären, aus der Reaktion gegen die unerträglich kahle und doktrinäre Literaturanschauung Deutschlands in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts.

Christian Wolff

Was Gottsched für die Poesie und Poetik unternommen hatte, leistete Christian Wolff für alle Teile der Gelehrsamkeit und Philosophie. Er machte die Gedanken Leibnizens, mit Ausschluß der tiefsten und originellsten, dem großen Publikum mundgerecht, indem er sie in breiter und flüssiger, dünner und salzloser Breiform vortrug, zugleich aber auch in ein wohlgegliedertes geschlossenes System brachte, wofür Leibniz sowohl zu unruhig wie zu genial gewesen war. Keines von beiden konnte man Wolff zum Vorwurf machen. Sein selbstsicheres Phlegma, seine Unbedenklichkeit, alles zu sagen und alles zu erklären, sein ordnungsliebender Schachtelgeist, seine spießbürgerliche Vorliebe für die goldenen Mittelwahrheiten machten ihn zum gefeierten und gefürchteten Klassenvorstand ganz Deutschlands. Ein Menschenalter lang, etwa von 1715 bis 1745, gab es auf den Kathedern fast nur Wolffianer; aber auch die Ärzte und Juristen, die Prediger und Diplomaten, die Damen und die Weltleute hielten es für zeitgemäß, zu »wolffisieren«, es entstanden Gesellschaften »zur Ausbreitung der Wahrheit« nach wolffischen Grundsätzen und eine zeitgenössische Satire auf die wolffische Modephilosophie führte den Titel: »Der nach mathematischer Methode, als der allerbesten, neuesten und natürlichsten, getreulich unterrichtete Schustergeselle.« Wolff verfaßte zahlreiche dicke Bände, im ganzen mehr als dreißig, über Logik und Metaphysik, Teleologie und Moral, Physik und Physiologie, Naturrecht und Völkerrecht, empirische und rationelle Psychologie: die erstere schildert die Seele, wie sie der äußeren Erfahrung erscheint, die letztere erkennt sie, wie sie wirklich ist. Er schrieb seine Lehrbücher zuerst deutsch, später auch lateinisch, um ihnen als »praeceptor universi generis humani« internationale Verbreitung zu sichern. Um die Reinigung der deutschen Sprache und die Ausbildung einer philosophischen Terminologie hat er sich nicht unerhebliche Verdienste erworben: Ausdrücke wie Verhältnis, Vorstellung, Bewußtsein sind erst von ihm geprägt worden. Es gibt in England und zum Teil auch auf dem Kontinent sogenannte »outfitter«, die ihre Kundschaft vom Kopf bis zum Fuß tadellos modern equipieren; etwas ähnliches hat Wolff auf geistigem Gebiet für den deutschen Bürger seines Zeitalters geleistet, nur daß dieser von ihm nicht sehr elegant ausstaffiert wurde: zwar komplett, aber recht bescheiden, langweilig und unvorteilhaft und auch nicht eigentlich modern, etwa in der Art gewisser Vorstadtgeschäfte, die den Besucher, ohne daß er viel aufzuwenden braucht, doch so herausputzen, daß er sich auf der Straße sehen lassen kann.

Die leitenden Grundgedanken der wolffischen Philosophie sind von einer stupenden Plattheit. Der letzte Zweck aller Dinge liegt nach ihr im Menschen: durch ihn erreicht Gott die Hauptabsicht, die ihn bei der Erschaffung der Welt geleitet hat, nämlich als Gott erkannt und verehrt zu werden. Dementsprechend werden alle Erscheinungen auf geradezu groteske Weise nur von dem Gesichtspunkt aus gewertet, daß und inwieweit sie für den Menschen nützlich sind. An der Sonne zum Beispiel wird gerühmt, daß man mit ihrer Hilfe Mittagslinien finden, Sonnenuhren verfertigen, die Breite eines Ortes bestimmen kann; das Tageslicht bietet den Vorteil, »daß wir bei demselben unsere Verrichtungen bequem vornehmen können, die sich des Abends teils gar nicht, oder doch wenigstens nicht so bequem, und mit einigen Kosten vornehmen lassen«. Die Sterne gewähren uns den Nutzen, daß wir des Nachts auf der Straße noch etwas sehen können; »die Abwechslung des Tages und der Nacht hat den Nutzen, daß sich Menschen und Tiere des Nachts durch den Schlaf erquicken können, auch dient die Nacht zu einigen Verrichtungen, die sich bei Tage nicht wohl vornehmen lassen, wie Vogelfang und Fischfang.« Und der ganze Gedankengang wird in dem tiefsinnigen Satz zusammengefaßt:

»Die Sonne ist da, damit die Veränderungen auf der Erde stattfinden können; die Erde ist da, damit das Dasein der Sonne nicht zwecklos sei.« Gleichwohl gelang es den Gegnern Wolffs, diese kindische Philosophie bei dem noch viel naiveren Preußenkönig als staatsgefährlich zu verleumden: sie redeten ihm ein, sie lehre das Fatum und infolgedessen dürften die »langen Kerle« straflos desertieren, wenn es das Fatum so wolle. Daraufhin erhielt Wolff, der damals Professor in Halle war, von Friedrich Wilhelm den Befehl, »die sämtlichen königlichen Lande binnen achtundvierzig Stunden bei Strafe des Stranges zu räumen«. Sogleich nach der Thronbesteigung Friedrichs des Großen kehrte er im Triumph zurück, aber schließlich wurde, wie Steinhausen sich treffend ausdrückt, »alles so wolffianisch, daß er selbst vor leeren Bänken las«.

Der Pietismus

An Wolffs Vertreibung war der Pietismus nicht unbeteiligt, der ebenfalls in Halle den Schwerpunkt seiner Wirksamkeit gefunden hatte. Er bildete während des ganzen Zeitalters eine halb irrationalistische Neben- und Unterströmung, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mächtig anschwellen sollte. Er nahm innerhalb des herrschsüchtigen und verknöcherten Protestantismus eine analoge Oppositionsstellung ein wie die Mystik innerhalb des verrotteten und verrosteten Kirchenglaubens des fünfzehnten Jahrhunderts, ihr auch darin ähnlich, daß er zu einem guten Teil eine Frauenbewegung war und eine religiöse Literatur der Tagebücher und »Erweckungen«, Seelenbekenntnisse und »erbaulichen correspondancen« hervorbrachte. Doch läßt er sich an Tiefe nicht mit ihr vergleichen. Seine stärkste Ausprägung verlieh ihm auf deutschem Boden die Sekte der Herrnhuter, so genannt nach einer frommen Vereinigung vertriebener Hussiten, der »mährischen Brüder«, die sich auf dem Hutberge, einer Besitzung des Grafen Zinzendorf in der Lausitz, angesiedelt hatten. In der von diesem geschaffenen »Kreuz- und Bluttheologie« wird der blutige Kreuztod des Erlösers zum ausschließlichen Inhalt des religiösen Erlebnisses gemacht und in Gefühlen von einer exaltierten und verwaschenen Sentimentalität gefeiert, die sich nicht selten bis zur äußersten Geschmacklosigkeit steigert und sogar vor Bildern, die vom ehelichen Beischlaf hergenommen sind, nicht zurückschreckt. Die englische Sektion des Pietismus wurde durch die Methodisten gebildet, die die Frömmigkeit methodisch zu üben und zu lehren suchten und sich unter den Brüdern John und Charles Wesley von Oxford aus in Amerika verbreiteten, wo sie durch die phantasievolle und energische, ja wilde Art ihrer Predigt vor allem auf die unteren Massen sehr eindrucksvoll gewirkt haben.

Der bel canto

Von allen diesen geistigen Bewegungen blieben die österreichischen Länder fast unberührt. Karl der Sechste war friedfertig und gutmütig, aber von stumpfem, kaltem und schwerfälligem Geist und Temperament; in der Politik zögernd, unzuverlässig, immer auf zwei Seiten; als Verwalter fleißig, aber denkfaul: auf unbequeme Fragen pflegte er mit einem unverständlichen Gemurmel zu antworten. In Sitte, Religion und Verfassung hielt er an den alten Überlieferungen mit großer Zähigkeit fest: an seinem Hofe herrschte noch immer die schwarze spanische Tracht und das devote spanische Zeremoniell, auch die höchsten Würdenträger begrüßten ihn auf den Knien und bedienten ihn kniend bei Tisch. Der »Pragmatischen Sanktion«, der fixen Idee seines Lebens, widmete er alle Kräfte, während er die Finanzen und das Heerwesen in den desolatesten Zustand verfallen ließ; vergeblich hatte ihn der alte Prinz Eugen ermahnt, lieber hunderttausend Mann auf die Beine zu stellen als mit aller Welt zu verhandeln. Er war ein großer Theaterliebhaber, ließ die prachtvollsten Ausstattungsstücke aufführen, die Europa vielleicht jemals gesehen hat, war selber Musiker und Komponist und wirkte bei seinen Hauskonzerten und Opernvorstellungen häufig mit. Natürlich dominierte am Wiener Hofe, wo das Italienische sogar als Umgangssprache herrschte, die damals allmächtige italienische Musik, und dort lebten lange Jahre der größte Musiktheoretiker und der größte Operndichter des Zeitalters: Johann Josef Fux, der in seinem berühmten »Gradus ad Parnassum« eine streng kontrapunktische und fugierte Schreibweise lehrte, und Pietro Metastasio, der drei Generationen von Komponisten die Texte geliefert hat. Metastasio war ein Librettist von einer eminenten Musikalität, dessen Dichtungen bereits selber Melodramen waren und das begleitende Orchester souverän kommandierten: Text und Ton sind daher bei ihm nicht im Kampfe um die Vorherrschaft, auch nicht parallel koordiniert, sondern zwei Seiten derselben Sache, eine ideale Einheit. Hierauf beruhte seine einzigartige Stellung, zumal in einer Zeit, die alle Kunst musikalisch empfand und das ganze Leben als eine Art Spieloper konzipierte. Alles ist bei ihm mit einem uniformen schillernden Salonlack überzogen, glatt und rund, abgeschliffen und sanft geglänzt, süß und absichtlich verschwommen. In seinen Opern erscheint zum erstenmal die Dreigliederung in das deklamierende, nur von einzelnen Cembaloakkorden begleitete recitativo secco, das gesungene und vom Orchester verstärkte recitativo accompagnato, zu dem sich die Musik an den dramatischen Stellen erhebt, und die abschließende lyrische Arie, die im Geschmack der Zeit oft auch »philosophisch« wird. Diese ist ihm weitaus die Hauptsache, Ensemblesätze spielen eine auffallend geringe Rolle. Die Handlung, meist Liebesintrigen und Staatsaktionen, ist in ihrer künstlichen Zersplitterung und Verästelung höchst kompliziert und zugleich in der Gewaltsamkeit ihrer Führung und Lösung höchst primitiv.

Die italienische Mode war so stark, daß viele Musiker es für opportun hielten, ihre Namen zu italianisieren: so hieß zum Beispiel Rosetti eigentlich Rösler und stammte ganz schlicht aus Leitmeritz, während der gefeierte Virtuose Venturini ursprünglich auf den Namen Mislivecek hörte. Überall herrschte, vornehmlich auf titillazione degli orecchi, Ohrenkitzel ausgehend, der bel canto, die aus Italien importierte Kunst der Bravourarie, mit seinen italienischen Konzertmeistern, Primadonnen und Kastraten, und die Namen Amati, Guarneri und Stradivari bezeichneten eine seither nicht wieder erreichte Meisterschaft des Geigenbaus. 1711 erfand der Florentiner Bartolomeo Cristofori das piano e forte oder Hammerklavier, das allmählich alle anderen Saiteninstrumente in den Hintergrund drängte. Neben die opera seria trat die opera buffa, deren berühmtestes Exemplar Pergolesis »Serva padrona« ist. Unter dem Einfluß der »Buffonisten« schrieb Rousseau die erste komische Oper: »Le devin du village«, die ihm einen glänzenden Erfolg brachte. Er und der Neapolitaner Duni, der ebenfalls in Paris lebte, sind die Begründer dieses neuen Genres, in dem das gefrorene Pathos des dramma per musica in spielerische Grazie aufgelöst und die steife großsprecherische Arie durch das kokette beschwingte Chanson ersetzt wird. Auch auf dem Gebiet der ernsten Oper kam Jean Philippe Rameau als Orchesterkolorist der Vorliebe des Rokokomenschen für das Bunte und Schillernde mehr entgegen, wenn auch sehr gemäßigt durch die in Frankreich unüberwindliche Lullysche Tradition, deren Richtung auf die Programmusik er übernahm und mit viel Phantasie und Anmut bereicherte.

Bach und Händel; Friedrich der Große

Selbst Händel hat sich bekanntlich erst im reifsten Alter vom italienischen Einfluß emanzipiert. Er hat die Kunstform der Fuge auf vokalem Gebiet auf ihren höchsten Gipfel geführt, wie Bach dies auf dem instrumentalen Gebiet vollbrachte; und in seinen reichen Chören, besonders im »Israel«, der fast nur aus ihnen besteht, wird zum erstenmal ein Objekt künstlerisch gestaltet, das die Dichtung noch lange übersah: die Masse, das Volk; erst im »Tell«, ja genau genommen erst in den »Webern« wird von einem Dramatiker der Versuch gemacht, die Kollektivseele als Helden auf die Bühne zu bringen. Bach hingegen hat die erwachende Kraft des deutschen Bürgertums, die tiefe Innigkeit und herzhafte Gottesliebe des Pietismus tönend und unsterblich gemacht; in seiner monumentalen Kammerkunst vermählen sich Schwung und Schwere der Barocke mit der Intimität und Introspektion des Rokokos. Von den beiden ist Händel der unproblematischere, aber kantablere, der Psycholog, Bach der Metaphysiker. Sie ließen sich daher vielleicht mit Leibniz und Kant in Parallele stellen, auch darin, daß Händel als gesuchter und gefeierter Großmeister den Makrokosmos seiner Schöpfung für alle errichtete, während Bach, in kleinbürgerlicher Enge lebend, sein noch gewaltigeres Universalreich in seinem Innern aufbaute: Leibniz und Händel zwangen der ganzen Welt die ihre auf, Kant und Bach umspannten in ihrer Welt die ganze. Gemeinsam aber war Bach und Händel das tiefe germanische Ethos, das alle ihre Werke erfüllte. Diese riesige Doppelsonne bildet den einen der beiden unvergänglichen Ruhmestitel, die sich Deutschland damals im Reiche des Geistes errungen hat. Der andere ist Friedrich der Große.

Der König

»Finde in einem Lande den fähigsten Mann, den es gibt«, sagt Carlyle, »setze ihn an die erste Stelle und schenke ihm Gehorsam und Verehrung, und du hast in diesem Lande die ideale Regierung.« Ein ebenso vortreffliches wie einfaches Rezept, aber wie fast alle guten und einfachen Rezepte höchst selten befolgt! Zweifellos wäre es das Natürlichste, wenn allemal der Beste an der Spitze stünde, der Klügste und Wissendste, der Stärkste und Gewappnetste, das Auge, das am weitesten voraus und zurück zu blicken vermag, der leuchtende Fokus, in dem sich alle Strahlen der Welt versammeln: wenn mit einem Wort das Hirn kommandierte, wie wir das bei jedem einfachsten menschlichen Individuum sehen können! Aber dieser selbstverständliche Normalfall ist vielleicht ein dutzendmal in den uns genauer bekannten Abschnitten der Menschheitsgeschichte in die Erscheinung getreten. Ein dutzendmal in drei Jahrtausenden! Einer dieser wenigen Fälle war Friedrich der Große.

Der Vater

Das Jahr 1740 war das Jahr des Regierungswechsels nicht nur für Preußen und Österreich, sondern auch für Rußland und Rom: auf die Zarin Anna folgte ihr unmündiger Großneffe Iwan der Sechste, auf Clemens den Zwölften Benedikt der Vierzehnte, »il papa Lambertini«, der populärste Papst des achtzehnten Jahrhunderts, grundehrlich und grundgelehrt, heiter, bescheiden, an der zeitgenössischen Literatur leidenschaftlich interessiert und so vorurteilslos, daß Voltaire es wagen durfte, ihm seinen »Mahomet« zu widmen. Man hat bisweilen behauptet, daß Friedrich den größten Teil seiner Erfolge dem sonderbaren Manne verdankte, den er damals in der Herrschaft ablöste, und die beiden in dieser Rücksicht mit Philipp und Alexander verglichen. Diese groteske Ansicht wird von zwei Richtungen vertreten, die einander im übrigen völlig entgegengesetzt sind: von der offiziellen preußischen Historiographie, die alle Hohenzollern zu Genies machen möchte, und von der ebenso beschränkten sozialistischen Geschichtschreibung, die unter den Königen überhaupt kein Genie dulden will. In Wirklichkeit aber hat Friedrich Wilhelm der Erste seinem Sohne nur das Instrument der Politik an die Hand gegeben, nämlich die Armee, aber nicht einen einzigen politischen oder gar philosophischen Gedanken, während Philipp, der höchstwahrscheinlich sogar der Größere war, dem großen Alexander das ganze Konzept seiner Taten entworfen hat: er war gewissermaßen der Dichter des Alexanderzuges und der »König von Asien« nur dessen großartiger Heldendarsteller.

Aber auch von denen, die Friedrich Wilhelm seinen angemessenen Platz in der preußischen Geschichte zuweisen, sind zu allen Zeiten die widersprechendsten Urteile über ihn gefällt worden: dieselben Menschen haben ihn durcheinander als fürsorglich und brutal, klarsichtig und borniert, boshaft und aufopfernd bezeichnet. Man wird ihm vielleicht am ehesten gerecht werden, wenn man in ihm eine schrullenhafte und paradoxe Genrefigur erblickt. Es ist sicherlich für ihn charakteristisch, daß er den Zopf bereits ein Menschenalter, bevor ganz Europa ihn annahm, bei seinem Heere eingeführt hat. Die Idee des patriarchalischen Absolutismus hat er zweifellos bis zur Karikatur gesteigert. Er kümmerte sich nicht bloß um Steuerleistung und Kriegsdienst, Volkswirtschaft und Hygiene seiner Untertanen, sondern auch um ihre Kleidung und Wohnung, Lektüre und Unterhaltung, Brautwahl und Berufswahl, Kücheneinteilung und Kirchenfrequenz, er war der wohlmeinende und strenge, pflichttreue und lästige Vater seines Landes und machte von dem Recht des Vaters, seine Kinder mißzuverstehen und zu mißhandeln, einen sehr ausgiebigen Gebrauch. Kein Wunder, daß sich in diesen ein starker »Vaterhaß« entwickelte.

Er besaß weder viele böse noch viele gute Eigenschaften und diese wenigen in mittelmäßigem Grade. Aber seine geringen Fehler, nämlich seine Roheit, sein Geiz und sein Haß gegen alle geistigen und künstlerischen Bestrebungen gehörten zu denjenigen, die die Menschheit weniger zu verzeihen pflegt als große Sünden; und seine bescheidenen Tugenden, seine Ordnungsliebe, sein Fleiß, seine persönliche Bedürfnislosigkeit taten niemand wohl. Auch daß er das Heerwesen auf eine imposante Höhe erhob, hat ihm niemand gedankt. Denn auch hier handelte er nur aus einer Marotte. Die Armee war ihm nicht Mittel, sondern Selbstzweck. Er betrachtete sie als sein ganz persönliches Privateigentum, als eine Art Riesenspielzeug und sammelte lange Kerle wie August der Starke Porzellansachen und der Papst Lambertini schöne Drucke. Die preußischen Werbemethoden waren wegen ihrer besonderen Niederträchtigkeit berüchtigt. Hier kannte der sonst so redliche Fürst keine Hemmungen; mit allen erdenklichen Lockmitteln mußten immer neue Grenadiere herbeigeschafft werden: durch Weiber, Spiel, Alkohol, falsche Vorspiegelungen und, wenn das alles nicht half, durch brutale Gewalt. Die Truppenbewegungen waren von vorbildlicher Exaktheit, der preußische Gleichschritt hatte die Präzision eines Uhrwerks. Die Einführung des eisernen Ladestocks, verbunden mit dieser eisernen Disziplin, ermöglichte schließlich die Abgabe von zehn Schüssen in der Minute. Ohne diese Leistungen des »Gamaschendienstes« hätte Friedrich der Große seine virtuose Strategie und seine großzügige Politik in der Tat niemals entfalten können.

Der Antimonarchist

Dieser war in nahezu allem das Gegenteil seines Vaters, sogar in seinem Verhältnis zum »Militarismus«. Zahlreiche intime und daher zweifellos ehrliche Bekenntnisse zeigen, daß er den Krieg verabscheute, was ihn aber nicht hinderte, ihn zu führen, wenn er ihn für notwendig hielt, und in diesem Falle sogar energischer und aggressiver als alle anderen. Er nennt ihn eine »Geißel des Himmels« und bedauert, die Zeit nicht mehr erleben zu können, wo die Menschheit von ihm befreit sein werde. Ja er war nicht einmal ein Monarchist. Das mag von einem König des achtzehnten Jahrhunderts, und noch dazu dem stärksten und siegreichsten, sehr sonderbar und fast unglaublich klingen; aber es kann nicht der geringste Zweifel darüber herrschen. Er hat sein ganzes Leben lang auf seine sämtlichen gekrönten Kollegen mit einer geradezu ausschweifenden Verachtung herabgeblickt, alles, was mit höfischen Sitten und Einrichtungen zusammenhing, aufs beißendste verspottet und seine eigene Krone ohne das geringste Gefühl der höheren Erwählung, ja auch nur der juristischen Berechtigung getragen. Er wußte natürlich, daß er mehr sei als die meisten anderen Sterblichen; aber gerade darum wollte er nicht als König verehrt werden.

Friedrich Wilhelm war zeitlebens ein frommer Mann im Sinne des orthodoxen Kirchenglaubens, ein Verächter aller Finessen der Diplomatie und aller Feinheiten der Literatur, knorrig, robust, primitiv gesund und primitiv ehrlich, extrem einfach in seinen Lebensansprüchen, eindeutig bis zur Einfältigkeit; Friedrich verachtete alle positiven Religionen mit einer souveränen Skepsis, die vom Atheismus nur noch durch eine schmale Grenze getrennt war, stellte die Werke der Kunst und Philosophie hoch über alle Taten des praktischen Lebens und war ein unerreichter Meister der diplomatischen Falschmünzerei und raffinierter Feinschmecker aller höheren Lebensgenüsse, dabei nichts weniger als »gesund« im Sinne des Normalmenschen, vielmehr eine außerordentlich reizbare, komplizierte, widerspruchsvolle Natur von sehr labilem inneren Gleichgewicht, auch körperlich zart und sensibel. Wie alle Genies war er »physiologisch minderwertig« und psychopathisch und wie alle Genies ist er seiner Psychose Herr geworden durch die hypertrophisch entwickelte Kraft seiner moralischen und intellektuellen Fähigkeiten. Man hat oft gesagt, er habe von seinem Vater die Arbeitsfreude und das Pflichtgefühl geerbt; aber der Fleiß des Genies ist ein ganz anderer als der des Durchschnittsmenschen: dieser erwächst aus einem mechanischen Ordnungssinn und Tätigkeitstrieb, einem primitiven bienenhaften Lebensinstinkt, jener aus einer fast manischen Hingabe an eine erlauchte Mission, einem sublimen Verantwortungsgefühl gegenüber dem eigenen magischen Schicksal.

Der Philosoph

Daß Friedrich der Große sein ganzes Leben lang von einem großen Leitgedanken getragen war, machte ihn zum unüberwindlichen Helden des Zeitalters und bewirkte zugleich, daß auch alle seine Einzelhandlungen, im Gegensatz zu denen seiner gekrönten Rivalen, ideenreich, geistvoll und sinnerfüllt waren. Dieser Grundgedanke bestand in nichts anderem als in der platonischen Forderung, daß die Könige Philosophen und die Philosophen Könige sein sollen. Walter Pater sagt in seinem Buche über Plato: »Gerade weil sein ganzes Wesen von philosophischen Gesichten erfüllt war, hat der Kaiser Marc Aurel, der leidenschaftlich Philosophie und zwar die Philosophie Platos betrieb, dem römischen Volke im Frieden und im Kriege so vortrefflich gedient.« Ein solcher Herrscher war auch Friedrich der Große. Das allein war auch der wahre Sinn des »aufgeklärten Absolutismus«, des Modeschlagworts jener Zeit, das nur er in seiner tieferen Bedeutung verstanden und nur er zu einer lebendigen Wirklichkeit verdichtet hat. Absolutismus bedeutet unumschränkte Herrschaft, Aufklärung bedeutet Ausbreitung des Lichts, also will diese Formel nichts anderes besagen, als daß das Licht herrschen, der stärkste Geist gebieten, der hellste Kopf anordnen soll. Über die äußeren Formen, unter denen ein solches Ideal in die Realität übersetzt wird, wollen wir nicht streiten: sie sind völlig gleichgültig und bloße Kostümfragen. Ob sich ein solcher Regent Caesar oder Oberpriester, Reichspräsident oder Volkskommissär nennt, immer wird er der legitime König sein, weil er der philosophische König ist.

Das Genie

Als echter Philosoph zeigte sich Friedrich der Große schon allein durch seine Toleranz. Wir verstehen darunter weder Freidenkertum noch Liberalismus. Man kann ein Freigeist sein und dabei einen sehr unfreien Geist haben, in dem, wie dies bei den meisten Freidenkern der Fall ist, das Verständnis für andersgeartete Weltanschauungen keinen Platz hat. Diese Art Aufklärer sind ebenso Gefangene ihrer engen und einseitigen Doktrin wie die von ihnen verachteten Reaktionäre. Dasselbe gilt vom landläufigen Liberalismus. Er ist liberal nur gegen die Liberalen, alle anderen Menschen sind in seinen Augen verstockte Ketzer und verblendete Toren, denen gegen ihren Willen die bessere Weltansicht aufgedrängt werden muß. Dies war denn auch die typische Art, wie im Zeitalter Friedrichs des Großen Aufklärung betrieben wurde. Das achtzehnte Jahrhundert sah allenthalben an den führenden Stellen derartige Diktatoren des Fortschritts, die es für ihre Mission hielten, die rückständige Menschheit zu ihrem Glück zu zwingen. Peter der Große und Karl der Zwölfte, Katharina die Zweite und Josef der Zweite, Kardinal Fleury und Robespierre und noch viele andere waren von dieser fixen Idee geleitet, die bis nach Portugal drang, wo der Marquis von Pombal ein wahres Schreckensregiment der Aufklärung errichtete. Diese Machthaber waren also nichts anderes als gewendete Finsterlinge und erhärteten nur von neuem die psychologische Tatsache, daß Toleranz dem Durchschnitt der Menschheit ganz wesensfeindlich ist. Friedrich der Große jedoch war tolerant nicht in seiner Eigenschaft als Freidenker, sondern als Genie. Das Genie toleriert alles, weil es alle erdenklichen Menschenexemplare und Seelenregungen latent in sich trägt, weiß sich allem anzupassen, weil es schöpferische Phantasie besitzt. Friedrich der Große übte die echte Toleranz, die ganz einfach darin besteht, daß man jede fremde Individualität und ihre Gesetze anerkennt. Daher tolerierte er auch die Reaktion. Er war, als Oberhaupt der protestantischen Vormacht Deutschlands, gegen die Jesuiten viel duldsamer als der römische Kaiser. Während dieser Klöster aufhob, ließ er abgebrannte katholische Kirchen wieder aufbauen. Er war dabei durchaus nicht etwa ohne persönliche Voreingenommenheiten, aber trotz diesen sehr hart ausgeprägten, sehr subjektiven, sehr einseitigen Überzeugungen, die seiner Persönlichkeit eben ihr scharfumrissenes, weithin leuchtendes Profil gaben, hatte er doch genügend Verständnis für alle anderen Ansichten und ließ sie auch in der Praxis tatsächlich gelten. Er war sicher eine Art Spiritualist und Ideologe, indem er immer von gewissen abstrakten Prinzipien, unmittelbaren seelischen Grunderlebnissen ausging; aber das Gegengewicht dazu bildete seine hochentwickelte geistige Elastizität, seine Fähigkeit, sich den »Versuchsbedingungen«, die ihm die Wirklichkeit bei seinen Experimenten auferlegte, jederzeit zu akkommodieren. Er war ungemein zäh und konservativ in Dingen der Theorie und ebenso beweglich und fortschrittsfähig in der Anwendung seiner Theorien auf das Leben; und diese Doppeleigenschaft ist in der Tat die Grundvoraussetzung alles fruchtbaren Denkens und Handelns.

Ein eminent genialer Wesenszug war auch seine hemmungslose Aufrichtigkeit, eine Eigenschaft, die, beim Menschen schon an sich etwas Seltenes, auf einem Thron fast wie eine Unmöglichkeit erscheint. Auch in seinem Verhältnis zur Wahrheit zeigte sich das Widerspruchsvolle und doch in einem höheren Sinne sehr Einheitliche seines Wesens. Er schreckte als Politiker nicht davor zurück, die ganze Welt hinters Licht zu führen, und setzte sogar einen Ehrgeiz darein, an Taschenspielerei und Doppelzüngigkeit alle seine Gegner zu übertreffen. Und doch war er inmitten eines Zeitalters der hohlen Lügen und leeren Masken einer der unverlogensten Menschen, die je gelebt haben. Denn die Unwahrheit war für ihn nur eine Art Fachsprache, die er bei der Ausübung seiner Berufstätigkeit meisterhaft handhabte; in allen Dingen jedoch, die ihm wirklich ernst und wichtig waren, war er von der unbestechlichsten Wahrheitsliebe und unbarmherzigsten Selbstkritik geleitet. Daher rührt es, daß er, obgleich durch Geburt und Stellung, Gaben und Taten so hoch über die übrige Menschheit hinausgehoben, dennoch in der Erinnerung der Nachwelt fast als eine Privatgestalt fortlebt, frei von jedem historischen Nimbus. Dazu kommen noch eine Reihe liebenswürdiger kleiner Züge, die ihn uns naherücken. Es hat zum Beispiel etwas Skurriles und zugleich Rührendes, daß dieser große Souverän und Schlachtenlenker erklärte, der einzige Ruhm, der diesen Namen verdiene, sei der des Schriftstellers, daß er mitten in seinen Feldzügen eifrig an seinen Versen feilte und sich gegenüber allen Literaten von Rang als Schüler empfand, der von ihrer Kunst zu profitieren sucht. Alles, was er tat und unterließ, sichert ihm unser persönliches Attachement: wie anziehend unköniglich wirkt es zum Beispiel, daß er die Jagd verabscheute! Ganz »privat« wirkt auch das betont und sogar ambitiös Geistreiche seines Wesens, das wie eine feine Essenz alle seine Lebensäußerungen, von den großen Regierungshandlungen bis zu den alltäglichsten Unterhaltungen, imprägnierte. Selbst seine Erlässe waren glitzernde Bonmots, eines Swift oder Voltaire würdig, so zum Beispiel, als er einmal unter das Urteil über einen Kirchenräuber, dessen Verantwortung, die Muttergottes habe ihm das Silber selbst gegeben, von katholischen Autoritäten als nicht unglaubwürdig bezeichnet wurde, einen Freispruch schrieb, jedoch mit dem Zusatz, er verbiete ihm für die Zukunft bei harter Strafe, von der heiligen Jungfrau irgendwelche Geschenke anzunehmen, und ein andermal den Untersuchungsakt über einen Soldaten, der mit seinem Pferd Sodomie getrieben hatte, mit den Worten erledigte: das Schwein ist zur Infanterie zu versetzen. Ungemein anheimelnd wirkt auch der lebhafte Sinn für Bübereien aller Art, der ihn bis ins reife Mannesalter begleitete. Macaulay erzählt von ihm, nicht ohne ihm dafür eine schlechte Sittennote zu erteilen: »Wenn ein Höfling eitel auf seine Kleider war, wurde ihm Öl über seinen reichsten Anzug geschüttet. Hing er am Gelde, so wurde ein Trick ersonnen, durch den er gezwungen war, mehr zu zahlen, als er zurückbekam. Wenn er hypochondrisch veranlagt war, wurde ihm eingeredet, er habe die Wassersucht. Hatte er sich fest vorgenommen, nach einem bestimmten Ort zu fahren, so wurde ein Brief fingiert, der ihn von der Reise abschreckte.« Mit diesen Dingen befaßte sich Friedrich der Einzige, während er im Begriffe stand, sein Heer zum schlagkräftigsten, seine Verwaltung zur leistungsfähigsten und seinen Staat zum gefürchtetsten im damaligen Europa zu machen. Der respektable Macaulay schließt daraus auf eine böse Gemütsart. Wir möchten aber eher finden, daß durch solche Züge menschliche Größe erst menschlich und erträglich wird, wie sie denn auch fast niemals bei wahrhaft genialen Naturen zu fehlen pflegen, und daß sich in ihnen nichts weniger als Bösartigkeit äußert, sondern eine unverwüstliche Kindlichkeit und ein souveräner, künstlerischer Spieltrieb, der alles und nichts ernst nimmt. Hierin wie in so vielem war Friedrich der Große Voltaire ähnlich. Die sonderbare Freundschaft dieser beiden Männer, dokumentiert in ihrem Briefwechsel, ist eines der geistreichsten Kapitel der Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts: hier gingen französischer Pfeffer und preußisches Salz, aufeinander angewiesen und sich gegenseitig hebend, eine innige Mischung ein, die aber so scharf und beißend geriet, daß seither jeder Philister von ihr zu bitteren Tränen gereizt wird.

Der Held aus Neugierde

An dem so verwickelten und paradoxen und doch so klaren und durchsichtigen Charakter dieses Königs bleibt dem demokratischen Historiker nichts zu »entlarven« übrig. Er ist in seiner Selbstkritik so weit gegangen, daß er sich bisweilen sogar schlechter machte, als er war. Er gibt ganz offen zu, daß das treibende Motiv seiner Politik Ehrgeiz war. Er erzählt, daß ihm, wenn er als Kronprinz vom Türkenkrieg hörte, das Herz gepocht habe wie dem Schauspieler, der darauf zittert, daß die Reihe an ihn kommt. Und alsbald trat er aus der Kulisse, und es zeigte sich schon in den ersten Szenen, daß er entschlossen war, nicht die kleine Episodenrolle zu spielen, die das europäische Regiekollegium ihm zugewiesen hatte, sondern als Protagonist und Titelheld des Zeitalters einen ganz neuen Text zu improvisieren. »Meine Jugend«, schrieb er 1740 an seinen Freund Jordan, »das Feuer der Leidenschaften, das Verlangen nach Ruhm, ja, um dir nichts zu verbergen, selbst die Neugierde, mit einem Wort, ein geheimer Instinkt hat mich der Süßigkeit der Ruhe, die ich kostete, entrissen, und die Genugtuung, meinen Namen in den Zeitungen und dereinst in der Geschichte zu lesen, hat mich verführt«; und lange nachher, in seinen historischen Denkwürdigkeiten, wiederholt er, bei seinen Entschlüssen von 1740 sei »das Verlangen, sich einen Namen zu machen« mitbestimmend gewesen. Das sind wiederum ganz die Gedankengänge eines Schauspielers. Ein König, der in den Krieg zieht aus psychologischer Neugierde, aus einer Art Theaterleidenschaft und aus dem brennenden Wunsch, in die Zeitung zu kommen, und dies offen eingesteht: dieser degagierte Freimut, diese bizarre Koketterie, diese raffinierte und naive Glanzsucht ist echtestes Rokoko.

Der tragische Ironiker

So sonderbar es klingen mag: Friedrich der Große war kein ernster Mensch. Unter einem »ernsten« Menschen haben wir nämlich nichts anderes zu verstehen als den Menschen, der in der Realität befangen ist, den »praktischen« Menschen, den Materialisten; und unter einem unernsten Menschen den geistigen Menschen, der imstande ist, das Leben von oben herab zu betrachten, indem er es bald humoristisch, bald tragisch nimmt, aber niemals ernst. Beide, der humoristische und der tragische Aspekt, haben nämlich einunddieselbe Wurzel und sind zwei polare und eben darum komplementäre Äußerungen desselben Weltgefühls. Zur tragischen Optik gehört ganz ebenso das Nichternstnehmen des Daseins wie zur humoristischen: beide fußen auf der tiefen Überzeugung von der Nichtigkeit und Vanität der Welt. Und daher kommt es, daß die Gestalt Friedrichs des Großen zu den wenigen wahrhaft tragischen seines Zeitalters gehört und zugleich von einer sublimen Ironie umwittert ist.

Am Schlusse seines Lebens aber, als Alter Fritz, wird er, wie alle ganz Großen: Goethe und Kant, Ibsen und Tolstoj, Michelangelo und Rembrandt, völlig unwirklich und gespenstisch, transzendent und transparent, zur Hälfte bereits Bürger einer anderen Welt. Eine ungeheure Einsamkeit breitet sich um ihn aus, er ist es müde, »über Sklaven zu herrschen«, und will neben seinen Windspielen begraben sein.

Zweifellos hatte er große Fehler; aber die Lieblinge der Menschheit sind nun einmal nicht die Korrekten. Das ganze Zeitalter jubelte ihm zu, weil er der Stärkste und Menschlichste, Weiseste und Närrischste von allen war, Caesar und Don Quixote, Hamlet und Fortinbras in einer Person. In der Schweiz gab es Leute, die vor Ärger krank wurden, wenn er eine Schlacht verlor; in England, das zwar mit ihm verbündet war, aber kontinentale Machtentfaltung nie gern gesehen hat, wurden seine Siege als Nationalfeste gefeiert; in Paris machte man sich gesellschaftlich unmöglich, wenn man gegen ihn Partei ergiff; in Rußland war unter der Führung des Thronfolgers Peter eine große Hofpartei für ihn begeistert; selbst in Neapel und Spanien wurden seine Bilder feilgeboten.

Der Politiker

Der dänische Minister Bernsdorff nannte das vorfriderizianische Preußen einen jungen mageren Körper mit der ganzen Eßlust dieser physischen Entwicklungsstufe, und Voltaire hatte es als ein »Grenzenreich« verspottet. In der Tat lehrt ein Blick auf die historische Karte, daß der Staat, der im wesentlichen aus zwei getrennten Küstengebieten und einigen kleineren Länderfetzen im Westen bestand, in dieser Form nicht lebensfähig war. Nur wenn man einem politischen Organismus überhaupt das Recht abspricht, sich gewaltsam auszudehnen, wird man es Friedrich dem Großen verübeln dürfen, daß er nach Schlesien griff. Durch diesen Zuwachs, der den Landesumfang um ein Drittel, die Volkszahl um die Hälfte vergrößerte, erhielt Preußen erst jene Stabilität und Solidität der territorialen Basis, ohne die eine Großmacht undenkbar ist. Es ist nur zu begreiflich, daß Friedrich dieser Versuchung nicht widerstand. Aber von dem Augenblick an, als er Schlesien dem hungrigen Körper Preußens einverleibt hatte, betrachtete er diesen als gesättigt. Er äußerte 1745 in Dresden, er werde fortan keine Katze mehr angreifen, es sei denn, daß man ihn dazu zwinge, er betrachte seine militärische Laufbahn als abgeschlossen; und das war sicher ehrlich gemeint. Daß er den Siebenjährigen Krieg, einen Krieg gegen drei Großmächte, anders als gezwungen geführt hat, kann nur ein Schwachsinniger behaupten; da er selbst aber nichts weniger als schwachsinnig war, so hat er ihn natürlich in dem Augenblick begonnen, der ihm als der verhältnismäßig günstigste erschien.

Unendliches Gerede ist geschrieben und gedruckt worden über den »brutalen Überfall« und »perfiden Vertragsbruch« von 1740. Daß Friedrich durch die Pragmatische Sanktion gebunden war, ist eine österreichische Lüge. Der Kaiser hatte Friedrich Wilhelm als Lohn für seine Zustimmung die Erbfolge im rheinischen Herzogtum Berg garantiert. Aber zehn Jahre später unternahm er gegen ihn mit Frankreich, England und Holland einen diplomatischen Kollektivschritt, der den Zweck hatte, ihn zum Verzicht auf diese Ansprüche zu zwingen. Daß Friedrich nicht wartete, bis Österreich vollständig gerüstet war, sondern Schlesien mitten im Winter besetzte, was nach den Prinzipien der damaligen Kriegführung etwas Unerhörtes war, ist nur ein Beweis für seine Courage und Originalität, die nicht in den hergebrachten Geleisen dachte, und die österreichische Schwerfälligkeit und Geistesträgheit. Seine einfache und darum schlagende Logik war: sich erst in den Besitz des Landes zu setzen und dann über seine Abtretung zu unterhandeln. »Ich gebe Ihnen ein Problem zu lösen«, schrieb er an seinen Minister Podewils, »wenn man im Vorteil ist, soll man ihn für sich geltend machen oder nicht? Ich bin bereit, mit meinen Truppen und mit allem; mache ich mir das nicht zunutze, so halte ich ein Gut in meinen Händen, dessen Bestimmung ich verkenne; nütze ich es aus, so wird man sagen, daß ich die Geschicklichkeit besitze, mich der Überlegenheit, die ich über meine Nachbarn habe, zu bedienen.« Und 1743 sagt er rückblickend im Vorwort zum ersten Entwurf seiner Memoiren: »Ich beanspruche nicht, die Verteidigung der Politik zu führen, die der feststehende Brauch der Nationen bis auf unsere Tage legitimiert hat. Ich lege nur in einfacher Weise die Gründe dar, die, wie mir scheint, jeden Fürsten verpflichten, der Praxis zu folgen, die den Trug und den Mißbrauch der Gewalt autorisiert, und ich sage freimütig, daß seine Nachbarn seine Rechtschaffenheit übervorteilen und daß ein falsches Vorurteil und ein Fehlschuß das der Schwäche zuschreiben würden, was doch nur Tugendhaftigkeit bei ihm wäre. Solche Betrachtungen und viele andere haben, wohl erwogen, mich bestimmt, mich der Gewohnheit der Fürsten anzupassen ... Man sieht sich am Ende gezwungen, zwischen der schrecklichen Notwendigkeit zu wählen, seine Untertanen oder sein Wort preiszugeben ... Darin opfert sich der Souverän für das Wohl seiner Untertanen.« Welcher zweite Fürst hätte es vermocht, über dieses ungeheure moralische Dilemma, das aber leider eine unleugbare Realität ist, mit einer so tiefen und klaren, edeln und phrasenlosen Objektivität zu sprechen, welcher hatte diesen tragischen Konflikt auch nur bemerkt? Aus solchen und zahlreichen ähnlichen Bekenntnissen seiner verschiedensten Lebensperioden weht uns der Atem einer erschütternden Lebenstragödie entgegen: ein Genius, durch seine Geistesform für die Welt der reinen Anschauung vorbestimmt, als Märtyrer in die trübe Sphäre des Handelns geschleudert, der er sich, demütig vor dem Schicksal, zum Opfer bringt. So sah die Seele dieses treulosen Ränkeschmieds und skrupellosen Realpolitikers in Wirklichkeit aus. Aber die Menschen sind sehr sonderbar: wenn unter ihnen einer aufsteht, der zwar ihre Schuld teilt, aber um sie weiß und unter ihr leidet, so sagen sie nicht, daß er größer und besser sei als sie, sondern erwidern ihm mit dem Vorwurf, daß er kein Heiliger ist.

Man hat übrigens nicht bloß das innere Wesen Friedrichs des Großen, sondern auch das System seiner äußeren Politik sehr oft ganz falsch beurteilt. Er war gar nicht der »Erbfeind« Österreichs. Wir haben gehört, in welche furchtbare Krise die habsburgische Monarchie zu Beginn des Österreichischen Erbfolgekriegs geraten war; damals war er es, der sie durch seinen Separatfriedensschluß rettete. Durch das Abkommen von Klein-Schnellendorf wurde die einzige starke Armee, die Österreich ins Feld zu stellen hatte, gegen die Bayern und Franzosen disponibel. Er konnte die völlige Zertrümmerung Österreichs, durch die Frankreich ein unerträgliches Übergewicht erhalten hätte, auch gar nicht ernstlich wollen. Er wollte immer bloß Schlesien, auf dessen Besitz aber Maria Theresia eigensinnig bestand. Daß er mit dieser Annexion im Recht war vielleicht nicht vor dem Phantom eines zweideutigen »Völkerrechts«, das übrigens immer nur von den Besiegten angerufen zu werden pflegt, wohl aber vor dem höheren Tribunal der Kulturgeschichte wird völlig klar, wenn man den späteren geistigen und moralischen Zustand Preußisch-Schlesiens mit dem der österreichisch gebliebenen Teile vergleicht. Eine der größten Taten seiner äußeren Politik, ebenbürtig der in drei Kriegen behaupteten Erwerbung Schlesiens und zumeist nicht genügend gewürdigt, war auch die unblutige Eingliederung Westpreußens, durch die er sein Königreich erst zu einer wirklichen nordischen Großmacht erhob. Es war dies eine der bedeutsamsten »Arrondierungen« der neueren europäischen Geschichte.

Der Administrator

Diese Länder hat er auf mustergültige Weise verwaltet. Auf alle Gebiete erstreckte sich seine energische und maßvolle Reformtätigkeit. Er wurde der Schöpfer des Allgemeinen Preußischen Landrechts und förderte den Unterricht durch die Durchführung des General-Landschul-Reglements, die Bodenkultur durch Trockenlegung großer Sumpf- und Moorstrecken und den Handelsverkehr durch bedeutende Kanalbauten. Hingegen ließ er keine neuen Chausseen anlegen, um die Fuhrleute dadurch zu zwingen, sich länger im Lande aufzuhalten und mehr zu verzehren. Hierin opferte er dem Zeitgeist. Wir haben schon im vorigen Kapitel gehört, welche Übertreibungen sich der Merkantilismus in Preußen und anderwärts zuschulden kommen ließ. Friedrich Wilhelm der Erste verbot das lange Trauern, damit nicht dadurch der Absatz bunter Wollstoffe geschädigt werde, und bedrohte die Trägerinnen der bedruckten englischen KattunstofFe, die damals sehr in Mode waren, mit dem Halseisen. Auch Friedrich der Große sagt in seinem »Politischen Testament« vom Jahre 1752: »Beim Handel und bei Manufakturen muß grundsätzlich verhindert werden, daß das Geld außer Landes geht, indem man alles im Lande herstellt, was man früher von auswärts bezog.« Infolgedessen verbot er seinen Beamten, fremde Heilbäder aufzusuchen, und gestattete seinen Untertanen bei Auslandsfahrten nur eine bestimmte Geldsumme als Reisekasse. Jeder Haushalt hatte die sorgfältig kontrollierte Verpflichtung, eine gewisse Mindestmenge an Salz zu verbrauchen, und Heiratskonzessionen wurden nur gegen Entnahme von Waren aus der königlichen Porzellanmanufaktur erteilt. Doch hatte diese Tyrannei auch ihre wohltätigen Seiten: zur Erzeugung inländischer Seide wurden riesige Maulbeerplantagen angelegt und die Hopfen- und Kartoffelkultur nahm unter staatlicher Fürsorge eine ausgezeichnete Entwicklung.

Napoleon hat gesagt: »Genie ist Fleiß.« Auch diese Definition des Genies paßt auf Friedrich den Großen in hervorragendem Maße. Es klingt unglaublich, ist aber trotzdem wahr, daß in diesem Lande das Hirn und die Arbeitskraft dieses einen Menschen buchstäblich alles vollbrachte, vom Größten und Gröbsten bis zum Kleinsten und Diffizilsten. Es muß ein lehrreiches und paradoxes, bestrickendes und beängstigendes Schauspiel für die Zeitgenossen gewesen sein, das ganze Staatswesen von diesem tausendäugigen Intendanten bis in seine letzten Fäden geleitet zu sehen. Hierin erwies der König nicht nur den Fleiß, sondern auch die Allseitigkeit des Genies. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man ihn in dieser Hinsicht mit Julius Caesar vergleicht. Der geniale Mensch vermag alles, weiß alles, versteht alles. Er ist niemals Spezialist. Er ist vorhanden und kann, was die gegebenen Umstände gerade von ihm fordern. Er hat sich auf nichts Bestimmtes »eingestellt«, er ist ein Polyhistor des Lebens. Was er ergreift, durchdringt er mit seiner Kraft, die, immer dieselbe eine und unteilbare, nichts braucht als ein beliebiges Anwendungsgebiet, um sich sogleich siegreich zu entfalten.

Der Stratege

Deshalb sind auch die strategischen Leistungen Friedrichs des Großen, die selbst seine gehässigsten Gegner als außerordentlich anerkennen, von seiner Gesamtpersönlichkeit nicht zu trennen. Man hat sich daran gewöhnt, die Tätigkeit des Feldherrn als den Ausdruck eines bestimmten Fachwissens und begrenzten Fachtalents anzusehen, für das es genüge, einige Kriegsschulen absolviert zu haben. Aber so wenig es etwa für den bedeutenden Arzt genügt, Medizin studiert zu haben, oder für den großen Maler, in der Anwendung der Farben Bescheid zu wissen, so wenig ist ein großer Feldherr denkbar ohne tiefere Kenntnis der menschlichen Seele, des Laufs der Welt und überhaupt aller wissenswerten Dinge. Er muß eine Art Künstler sein, vor allem ein Philosoph. Wir haben im vorigen Kapitel gehört, daß Prinz Eugen ein solcher war: für ihn hat der größte Denker des Zeitalters sein Hauptwerk geschrieben; er hat es ihm nicht etwa »dediziert«, was noch gar nichts bedeuten würde, sondern es buchstäblich nur seinetwegen verfaßt. Julius Caesar war nicht nur der Freund Ciceros (obgleich dieser sein politischer Gegner war), sondern übertraf ihn an schriftstellerischer und philosophischer Begabung. Was Moltke anlangt, so brauchen wir nur seinen Schädel anzusehen, um zu erkennen, daß wir es mit einem eminenten Denker zu tun haben. Und wer vermag zu sagen, wie viel Alexander der grandiosen Tatsache verdankte, daß sein Vater ihm Aristoteles, den geräumigsten und gefülltesten Kopf ganz Griechenlands, zum Lehrer bestimmte? Es hat keinen Sinn, zwischen der Tätigkeit eines Napoleon und eines Shakespeare einen prinzipiellen Unterschied zu machen.

Aber freilich: wer wird nicht lieber eine Art Shakespeare sein wollen als eine Art Napoleon? Wer wird es vorziehen, über stumpfe langweilige Armeen von Grenadieren zu befehlen, wenn er die ganze Weltgeschichte in all ihrer Farbigkeit und Fülle zu seinem Operationsheer machen kann? Wer wird versuchen, seine innere Bewegung auf häßliche, obstinate und in jedem Falle enttäuschende Realitäten zu übertragen, wenn seinem Kommando leuchtende Idealitäten gehorchen, die niemals enttäuschen? Wer wird die Leiber der Menschen lenken wollen, wenn er ihre Seelen leiten kann, wenn er statt Fußmärschen Gedankenmärsche zu dirigieren vermag?

Die Tragödie der großen Handelnden ist die Tragödie der im Leben steckengebliebenen Dichter. So müssen wir uns den großartigen Lebensekel erklären, der Julius Caesar in seinen letzten Lebensjahren erfüllte und bewirkte, daß er fast wissend in den Tod ging. So ist die sonderbare Eifersucht des großen Alexander auf den kleinen Achill zu begreifen, denn in Wahrheit galt sein Neid ja gar nicht Achill, sondern Homer! Und Friedrich der Große hätte auf seinen Thron und sein Heer und alle seine Eroberungen und Siege mit Freuden verzichtet, wenn er dafür nicht etwa ein Voltaire, sondern bloß ein bescheidener Maupertuis hätte sein dürfen.

Er billigte den Krieg nicht. Er ertrug ihn mit Wehmut als das ihm vom Schicksal bestimmte Feld seiner schöpferischen Tätigkeit. Und im Grunde seines Herzens billigt ihn ja niemand. Aber die bisherige Geschichte, die allerdings nur als eine Art Prähistorie wahren Menschentums anzusehen ist, lehrt, daß er offenbar zu den biologischen Funktionen unserer Spezies gehört. Und da er nun einmal unter allen Umständen geführt werden muß, so ist es schon am besten, wenn er von Genies geführt wird.

Die Strategie jener Zeit war allmählich, ganz ähnlich wie die Theologie, die Arzneikunst, die Poesie, zu geistloser Schablone und steifer Routine erstarrt. Noch im Jahre 1753 lehrte das kursächsische Dienstreglement, man solle die Bataille vermeiden und den Kriegszweck durch »scharfsinniges Manövrieren« erreichen. Natürlich kam es schließlich doch zu Schlachten, aber gewissermaßen durch Zufall und auf mechanischem Wege, wie ein genügend lang angehäufter Zündstoff eines Tages fast durch sich selbst explodiert. Auch Friedrich der Große betrachtete die Schlacht nur als ein »Brechmittel«, das lediglich in den äußersten Notfällen anzuwenden sei; aber er machte die Anwendung dieses Mittels zum Gegenstand tiefer und kühner Spekulation. Ebenso hat er im Prinzip an der damals üblichen Lineartaktik festgehalten, die das gesamte Fußvolk in eng geschlossenen Kolonnen und gleichmäßigem Taktschritt wie auf dem Exerzierplatz vorrücken ließ und dem einzelnen Kämpfer keinerlei persönliche Initiative ermöglichte. Die Schlacht bestand ganz einfach darin, daß die beiden feindlichen Truppenkörper aufeinanderstießen. Der Begriff der Reserve im Sinne der modernen Kriegführung war noch unbekannt. Friedrich der Große kam nun auf den Gedanken, eine Art Reserve dadurch zu bilden, daß er einen Flügel zunächst zurückhielt, »refüsierte«, um mit ihm im geeigneten Momente die Entscheidung herbeizuführen. Diese Methode war für die Zeit Friedrichs höchst originell, gleichwohl aber in der Geschichte kein völliges Novum: sie knüpfte, zwei Jahrtausende überspringend, an Epaminondas an. Vor diesem hatte die griechische Taktik, in der die Spartaner unerreichte Meister waren, darauf beruht, daß der Kampf auf der ganzen Linie gleichzeitig eröffnet wurde, Epaminondas aber stellte seine Truppen nicht in gleicher Tiefe auf, sondern verstärkte sie in der Art eines Keils auf der rechten oder linken Seite. Hierdurch gewann er gegen die Lakedämonier bei Leuktra eine der größten und folgenreichsten Schlachten, die je zwischen Hellenen geschlagen worden sind. Diese »schiefe Schlachtordnung« sichert dem Feldherrn die Initiative, indem sie ihm gestattet, den Punkt des Angriffs zu wählen, hat aber ihre volle Wirksamkeit nur, wenn sie durch das Moment der Überraschung unterstützt wird, weshalb sie nur von einem so geistesmächtigen und charakterstarken Schnelldenker wie Friedrich dem Großen und auch von diesem nicht immer mit Erfolg gehandhabt werden konnte. Zur Unterstützung dieser Methode diente ihm auch die Kavallerieattacke, die er aufs meisterhafteste zu entwickeln verstand, und die Konzentrierung des Artilleriefeuers an den entscheidenden Punkten. Das Wesentliche, ja geradezu Revolutionäre an allen diesen Reformen aber war der rasante Offensivgeist, der in ihnen zum Ausdruck gelangte: es wurde nicht mehr Krieg geführt, um allerlei schwerfällige und verzwickte Operationen auszuführen, sondern um zu siegen: dieser einfache und selbstverständliche Gedankengang war dem Zeitalter abhanden gekommen und man kann mit geringer Übertreibung sagen, daß es überhaupt erst seit Friedrich dem Großen in der neueren Geschichte Angriffsschlachten gibt. Und dazu kam noch die verblüffende Schnelligkeit seiner Truppenbewegungen, die ihn zum Mirakel seines Jahrhunderts und an dessen Schlusse zum bewunderten Vorbild Napoleons machte. »Das sind meine drei Artikel: nachdrücklich, schnell und von allen Seiten zugleich« sagte er zum Marquis Valory; in diesen Worten ist eigentlich seine ganze Strategie enthalten. Durch diesen mit kalter Überlegung und souveräner Beherrschung der Umstände gepaarten Elan besiegte er seine Gegner, die alle mehr oder weniger dem ewig zögernden Daun glichen. Diesen Schwung vermochte er auch auf seine Regimenter zu übertragen, die nicht eigentlich patriotisch, höchstens »fritzisch« gesinnt waren, aber von Anfang an einen zwingenden Rhythmus besaßen; mit ihnen hat er bei Roßbach und Leuthen einen weit mehr als doppelt so starken Gegner besiegt, was in der modernen Kriegsgeschichte fast ein Unikum ist. Schon im fünften Jahre seiner Regierung, seit Hohenfriedberg hieß er der Große.

Phlogiston, Irritabilität und Urnebel

In Friedrich dem Großen erscheinen Barocke und Aufklärung seltsam gemischt, und diese Signatur trägt das ganze Zeitalter: es ist dies eben jener Seelenzustand, den man als Rokoko bezeichnet. Auch auf dem Gebiet der exakten Wissenschaften herrschte noch im wesentlichen die große Barocktradition einer halb spielerischen Freude an vorwiegend theoretisch orientierten Experimenten und Entdeckungen. Wir wollen nur einige der wichtigsten Leistungen, lediglich in ihrer Eigenschaft als charakteristische Beispiele, hervorheben. 1709 ließ Pater Lorenz Gusman in Lissabon den ersten Luftballon steigen, der aber gegen eine Ecke des Königspalastes anfuhr und verunglückte. 1716 edierte Johann Baptist Homann seinen berühmten »Großen Atlas«, der Europa, Asien, Afrika und Südamerika bereits vollständig, von Australien und Nordamerika etwa die Hälfte enthielt. Um dieselbe Zeit konstruierte Fahrenheit das Quecksilberthermometer, dem etwa zehn Jahre später Réaumur das Weingeistthermometer folgen ließ. 1727 publizierte Stephan Hales seine »Statik der Gewächse«, ein für die Pflanzenphysiologie grundlegendes Werk, worin die Phänomene des Wurzeldrucks und der Saftbewegung bereits klar erkannt sind und auf Grund genauer Messungen die Flüssigkeitsmenge bestimmt wird, die die Pflanze vom Boden aufnimmt und wieder an die Luft abgibt. 1744 erregte Trembley durch seine Experimente an Süßwasserpolypen großes Aufsehen, indem er nachwies, daß diese Geschöpfe, die man bisher für Pflanzen gehalten hatte, nicht nur als Tiere anzusehen seien, sondern auch die merkwürdige Fähigkeit der Reproduktion in einem fast unglaublichen Maße besitzen: er zerschnitt sie in drei bis vier Stücke, halbierte sie der Länge nach, ja kehrte sie wie einen Handschuh um, und alle diese Prozeduren verhinderten sie nicht,, sich wieder zu kompletten und lebensfähigen Exemplaren zu regenerieren. Ein Jahr später beschrieb Lieberkühn den Bau und die Funktion der Darmzotten. 1752 erfand der Drucker und Zeitungsherausgeber Benjamin Franklin auf Grund seiner Untersuchungen über elektrische Spitzenwirkung den Blitzableiter, so daß d'Alembert später von ihm sagen konnte: » eripuit coelo fulmen sceptrumque tyrannis; dem Himmel entwand er den Blitz und das Zepter den Tyrannen.« Auf seiner Forschungsreise in die arktischen Länder hatte Maupertuis die polare Abplattung der Erde entdeckt. Lambert begründete die Photometrie, bestimmte die Kometenbahnen und reformierte die Kartographie. Der Kupferstecher Rösel von Rosenhof entdeckte und beschrieb die sonderbaren Bewegungen der Amöben, die er »Wasserinsekten« nannte, und veranschaulichte sie in prachtvollen farbigen Kupfertafeln. Borelli bezeichnete die Knochen als Hebel, an denen die Muskeln befestigt sind, Baglioni verglich die Blutzirkulation mit der Tätigkeit einer hydraulischen Maschine, die Respirationsorgane mit Blasebälgen, die Eingeweide mit Sieben. Auch Friedrich Hoffmann, der Begründer vorzüglicher Diätkuren und noch heute berühmt durch die nach ihm genannten Magentropfen, betrachtete den menschlichen Körper als eine Maschine, während Georg Ernst Stahl den entgegengesetzten Standpunkt des »Animismus« einnahm. Dieser ist auch der Schöpfer der »Phlogistontheorie«, die auf der Annahme fußte, daß bei der Verbrennung und auch bei der Fäulnis und der Gärung ein »brennbares Prinzip«, das Phlogiston, aus den Körpern entweiche und sie leichter mache, obgleich schon Boyle, wie wir uns erinnern, den Nachweis erbracht hatte, daß bei dem Vorgang, den man später Oxydation nannte, eine Gewichtszunahme stattfinde, ohne jedoch die Ursache dieses Phänomens erkannt zu haben, da der Sauerstoff erst 1771 von Priestley und Scheele entdeckt wurde. Infolgedessen fand er keine Anerkennung und die Grundsätze der »Pyrochemie« herrschten unangefochten fast das ganze Jahrhundert hindurch. Der führende Physiologe des Zeitalters, Albrecht von Haller, gründete die gesamte Medizin auf die Theorie von der Irritabilität, indem er lehrte, daß sämtliche Krankheiten aus der Steigerung oder Herabsetzung der normalen Reizfähigkeit zu erklären und dementsprechend mit schwächenden oder erregenden Mitteln zu behandeln seien. Die Physik blieb auch weiterhin unter dem Einfluß Newtons. Ein Newtonianer war auch der junge Privatdozent der Philosophie Doktor Immanuel Kant, der 1755 seine nachmals als »Kant-Laplacesche Theorie« allgemein akzeptierte Erklärung der Entstehung des Sonnensystems publizierte. Nach ihr bestand die Welt ursprünglich nur aus einem kosmischen Nebel; allmählich bildeten sich infolge der Dichtigkeitsunterschiede gewisse Klumpen, die vermöge ihrer größeren Masse auf die leichteren Elemente eine Anziehungskraft ausübten und sich dadurch fortwährend vergrößerten. Durch die Reibung wurde andauernd Feuer erzeugt, und so entstand die Sonne. Die Körper, die sich im Wirkungskreis der Sonne befanden, vermehrten diese entweder durch ihren Fall oder, wenn ihre eigene Schwungkraft der Anziehungskraft die Waage hielt, umkreisten sie sie. Ganz analog verhalten sich die Monde zu den Planeten, indem sie durch ihre Schwungkraft die Bewegung des Falles ebenfalls in die des Umlaufs verwandeln. Der Anfangszustand aller Weltkörper ist der feuerflüssige, der durch fortgesetzte Wärmeausstrahlung in den tropfbarflüssigen und schließlich in den festen übergeht. Auch unser Zentralkörper ist nur das Glied einer höheren Sternenwelt, die auf dieselbe Weise entstanden ist. Die Weltentwicklung ist von ewiger Dauer, die Lebenszeit der einzelnen Weltkörper aber begrenzt. Eines Tages werden die Wandelsterne in die Sonne stürzen, und auch diese wird einmal erlöschen. Diese mechanische Kosmogonie begründet für Kant aber keineswegs den Atheismus, vielmehr ist sie dessen schlagendste Widerlegung: gerade durch ihre strenge Gesetzmäßigkeit wird das Dasein Gottes aufs einleuchtendste bewiesen.

Unsittliche Pflanzen

Der fruchtbarste Naturforscher dieses Zeitraums ist der Schwede Karl von Linné, der ein komplettes »Systema naturae« entwarf. Sein Hauptverdienst besteht darin, daß er die »binäre Nomenklatur« streng durchführte, indem er sämtliche Pflanzen und Tiere mit je zwei lateinischen Namen bezeichnete, von denen der erste die Gattung, der zweite die Art angab: so heißen zum Beispiel Hund, Wolf und Fuchs canis familiaris, canis lupus und canis vulpes, Gurke und Melone cucumis sativus und cucumis meto; den Namen fügte er vorzüglich klare und knappe Diagnosen bei. Auch die Minerale beschrieb er nach ihrer äußeren Gestalt und inneren Struktur, ihrem Härtegrad und optischen Verhalten. Die Flora (auch der Ausdruck stammt von ihm) gliederte er in zwitterblütige Pflanzen, an denen er die Zahl, Länge und Anordnung der Staubfäden zur weiteren Klassifizierung benützte, in getrenntgeschlechtige, bei denen er unterschied, ob sich die männlichen und weiblichen Blüten auf derselben Pflanze, auf verschiedenen Pflanzen oder mit Zwitterblüten gemischt vorfanden, und in Cryptogamia oder verborgenblütige, worunter er solche verstand, deren Blüten und Früchte ihrer Kleinheit wegen nicht deutlich wahrgenommen werden können. Diese Einteilungsmethode hat ihm wegen ihres schlüpfrigen Charakters viele Angriffe zugezogen. Man fand es höchst anstößig, daß hier von Pflanzen geredet wurde, auf denen mehrere Staubgefäße mit einem gemeinsamen Fruchtknoten im Konkubinat lebten und erklärte die Annahme so skandalöser Zustände für eine Verleumdung nicht nur der Blumen, sondern auch Gottes, der nie eine solche abscheuliche Unzucht zulassen würde. Ein so unkeusches System, schrieb ein Petersburger Botaniker, dürfe der studierenden Jugend nicht mitgeteilt werden. Großes Befremden erregte Linné auch, als er den Menschen zusammen mit den Affen in die Gruppe der Primaten versetzte. Im übrigen aber war er durchaus nicht darwinistisch orientiert, sondern bekannte sich zum Standpunkt der biblischen Schöpfungsgeschichte mit dem Satz: »Tot numeramus species, quot creavit ab initio infinitum ens.«

Erwachender Natursinn

Der Hauptsitz des »aufgeklärten« und »praktischen«, naturwissenschaftlich fundierten und liberal gerichteten Denkens war schon damals England. Von dort nahm die hochbedeutsame Institution der Freimaurerorden ihren Ausgang. 1717 gründeten die freemasons ihre erste Großloge; ihr Name knüpft an die Tatsache an, daß sie aus gewerkschaftlichen Verbindungen hervorgegangen waren. Ihr ideales Ziel war die Aufrichtung des salomonischen Tempels der allgemeinen Duldung und tätigen Menschenliebe. Ferner ist England, was noch viel wichtiger ist, das Geburtsland des modernen Naturgefühls. Im Jahre 1728 entwarf Langley in seinen »Neuen Grundsätzen der Gartenkunst« das erste Programm des »englischen Gartens«. Er wendet sich darin aufs entschiedenste gegen die geometrische Parktradition von Versailles, die die Natur verkrüppelt und entseelt hatte, und will überhaupt keine geraden Baumreihen mehr dulden, sondern nur irreguläre Anlagen: wild wachsende Sträucher, kleine Waldpartien, Hopfenanpflanzungen, Viehweiden, Felsen und Abgründe. Alles dieses soll aber und hierin spricht sich noch immer echtes Rokokogefühl aus künstlich erzeugt werden: Hirsche und Rehe in Einhegungen sollen freies Naturleben, eingebaute Ruinen, ja sogar auf Leinwand gemalte Berge sollen Wildromantik vortäuschen; es herrscht noch immer, wenn auch mit verändertem Vorzeichen, das Barockprinzip, aus der Natur eine Theaterdekoration zu machen. Diese Ideen wurden zum Teil von William Kent in seinen »fermes ornées« verwirklicht. Montesquieu, der erste große Anglomane in Frankreich, verwandelte zu Anfang der Dreißigerjahre nach seiner Rückkehr aus England den Park seines Stammschlosses in einen englischen Garten. Für den erwachenden Natursinn zeugen auch die damals beliebten »bals champêtres« und die sogenannten »Wirtschaften«, bei denen vornehme Damen und Herren sich als Weinschenker, Bauern, Jäger und Fischer kostümierten und »einfaches Landleben« spielten. Man findet Freude am Schlittenfahren und Klopstock besingt den »Eislauf«. Im Sommer gewöhnen sich die eleganten Damen an den breiten strohernen Schäferhut. Es handelt sich vorläufig erst um ein Kokettieren mit der Natur, und im wesentlichen ist es, trotz Bergprospekten und Ruinenkultus, noch nicht die romantische Natur, die man meint, sondern die idyllische, gastliche, rührende, die Lämmer-, Bächlein- und Wiesennatur, die sich sanft zu den Füßen des Menschen schmiegt; das höchste Lob, das jene Zeit einer Naturszenerie zu spenden weiß, ist die Bezeichnung »angenehm«. Zudem ist die Auffassung noch stark vom wolffischen Rationalismus und Utilitarismus durchsetzt. Man liebt die ländliche Natur vor allem als Spenderin schmackhafter Gemüse, nahrhafter Milch und frischer Eier. Das Hochgebirge ist verhaßt. Samuel Johnson nennt noch 1755 in seinem »Dictionary«, den die Engländer als ein Weltwunder anstaunten, die Berge »krankhafte Auswüchse und unnatürliche Geschwülste der Erdoberfläche« und schrieb nach seiner Reise in die schottischen Hochlande: »Ein an blühende Triften und wogende Kornfelder gewöhntes Auge wird durch diesen weiten Bereich hoffnungsloser Unfruchtbarkeit zurückgeschreckt«: mit Behagen vermag eben der Blick nur auf Gegenden zu ruhen, die Brot und Butter liefern; die Hochlande sind unfruchtbar, also können sie nicht schön sein. Auch Hallers Gedicht »Die Alpen«, das ungeheure Sensation machte, bringt mit Anschaulichkeit nur die menschliche Staffage der schweizerischen Landschaft, dazu noch moralisierend und politisierend.

Bibel und Hauptbuch

Um jene Zeit ist der moderne Engländer bereits fix und fertig: in seiner Mischung aus spleen, cant und business, seiner Weltklugheit und Nüchternheit, die, hie und da gepfeffert durch fixe Ideen, Tiefe durch Gründlichkeit und Bedeutung durch Klarheit ersetzt; didaktisch, idiosynkratisch und pharisäisch und ebenso fromm wie geschäftstüchtig. Er glaubt an den Feiertagen an Gott und die Ewigkeit und während der Woche an die Physik und den Börsenbericht, und beidemale mit der gleichen Inbrunst. Am Sonntag ist die Bibel sein Hauptbuch, und am Wochentag ist das Hauptbuch seine Bibel.

Nach dem Tode der Königin Anna war die Krone an den Kurfürsten von Hannover gefallen, wodurch abermals eine Personalunion zwischen England und einer Kontinentalmacht entstand. Georg der Erste, geistig ebenso unbedeutend wie seine drei Namensvettern, die ihm folgten, beherrschte nicht einmal die Landessprache und verständigte sich mit seinen Beamten im Küchenlatein, so daß er nicht imstande war, einem Ministerrat beizuwohnen. Sein Premierminister war Robert Walpole, der schon vorher für die hannoverische Sukzession sehr wirksam tätig gewesen war und ihm die Mehrheit im Unterhause durch ein kunstgerechtes Bestechungssystem dauernd sicherte. Das Korruptionswesen jener Zeit ist in John Gays »Beggar's opera« satirisch verewigt worden, die zugleich eine Parodie auf die damalige italienische Modeoper darstellte. Aber als bei der Premiere ein Couplet über Bestechungen nach demonstrativem Applaus wiederholt wurde, hatte Walpole Geist genug, eine zweite Repetition zu verlangen, was ihm selber den Beifall des ganzen Hauses eintrug. Im Parlament, in dessen Händen die Leitung der gesamten auswärtigen Politik übergegangen war, stützte er sich auf die Whigs. Er behauptete seine Stellung auch unter Georg dem Zweiten.

The comfort

Während dessen Regierung fand ein außerordentliches Ereignis statt, vielleicht das folgenschwerste der ganzen englischen Geschichte: Robert Clive begründete die britische Herrschaft in Ostindien. Ein unerschöpflicher Strom von Reis und Zucker, Spezereien und Pflanzenölen ergoß sich über England. »Bis zu Clives Auftreten«, sagt Macaulay, »waren die Engländer bloße Hausierer gewesen.« Die Jagd nach dem Geld begann, das kleine, genügsame, exklusive Inselvolk wurde mit einem Schlage ein Volk von Welthändlern, Kauffahrern und Riesenspekulanten. Aus Indien kamen die »Nabobs«, die ihre dort errafften Reichtümer parvenühaft zur Schau trugen und eine neue Gesellschaftsklasse von ebenso verachteten wie beneideten Selfmademen bildeten. Die Merkantilisierung des ganzen öffentlichen Lebens machte reißende Fortschritte. Es beginnt der Handel auf Grund von Warenproben und es entwickelt sich das Verlagswesen, organisiert von Geldmännern, die die Arbeitsprodukte des Handwerks bloß vertreiben, indem sie sich sie durch Vorschüsse zu niedrigen Preisen sichern: und dies sind in der Tat die beiden typisch modernen Wirtschaftsformen. Zugleich erzeugt der üppige Zufluß des Bargeldes den Komfort, der ebenfalls ein der bisherigen Neuzeit unbekannter Begriff ist. Die Entstehungsgeschichte dieses Wortes ist charakteristisch. Es heißt ursprünglich im Englischen so viel wie »Trost«, »Ermutigung« und gewinnt erst jetzt die Bedeutung von »Behagen«, »Wohlbefinden«, Bequemlichkeit«, in der es ins Deutsche übergegangen ist. Für den Engländer liegt eben tatsächlich die höchste Tröstung und Ermutigung, die letzte Legitimation seiner Existenz darin, daß es ihm wohlergeht. Der kalvinistische Geistliche Richard Baxter, der zur Zeit der Restauration und der wilhelminischen Revolution in England lebte, sagt in seinem »Christlichen Leitfaden«: »Für Gott dürft ihr arbeiten, um reich zu sein!« Geschäftserfolg gilt als Beweis der Erwählung: dies ist seine und die allgemein englische Auffassung von der Prädestination. An die Stelle der christlichen Rechtfertigung tritt die bürgerliche, praktische, eudämonistische: wem es wohlergeht auf Erden, der ist gerecht, die Unseligen und Verdammten sind die Armen; eine Umkehrung der evangelischen Lehre von beispielloser Kühnheit und Flachheit.

Franklin und Robinson

Taine sagt in seiner unvergleichlich plastischen Art über das damalige England: »Ein Prediger ist hier nur ein Nationalökonom im Priesterkleide, der das Gewissen wie Mehl traktiert und die Laster wie Einfuhrverbote bekämpft.« Dieser Typus erscheint im Leben am konzentriertesten verkörpert in dem Lesebuchhelden Benjamin Franklin, dem Schöpfer des Wortes: »Time ist money«, in der Literatur am komplettesten ausgestaltet in Daniel Defoes »Life and strange surprising adventures of Robinson Crusoe of York«. Robinson ist der tüchtige Mensch, der sich in allen Situationen zu helfen weiß: praktischer Nationalökonom, Politiker und Techniker; und Deist, der an Gott glaubt, weil er dies ebenfalls als ziemlich praktisch erkannt hat. Es ist bezeichnend, was Defoe außer seinen mehr als zweihundert Büchern noch geschaffen hat: er gründete die ersten Hagel- und Feuerversicherungsgesellschaften und Sparbanken. Der Extrakt seiner Philosophie findet sich in den Worten, mit denen der Vater Crusoe seinen Sohn auf die Reise entläßt: »Der Mittelstand ist die Quelle aller Tugenden und Freuden, Friede und Überfluß sind in seinem Gefolge, jedes anständige und wünschenswerte Vergnügen sehen wir an seine Lebensweise geknüpft; auf diesem Wege fließt unser Dasein angenehm dahin, ohne Ermattung durch körperliche oder geistige Anstrengungen

Familienroman und comédie larmoyante

Neben Defoe und Franklin trat Richardson, der Schöpfer des englischen Familienromans, der ebenfalls im Hauptberuf Ladenbesitzer war. Sein erfolgreichstes Werk, das über viertausend Seiten umfaßt, führt den schönen Titel: »Clarissa, oder die Geschichte eines jungen Mädchens, die wichtigsten Beziehungen des Familienlebens umfassend und insbesondere die Mißfälle enthüllend, die daraus entstehen, wenn Eltern und Kinder in Heiratsangelegenheiten nicht vorsichtig sind.« Ein anderer ebenso berühmter Roman gibt in der Überschrift eine Selbstcharakteristik, der nichts mehr hinzuzufügen ist: »Pamela, oder die belohnte Tugend, eine Reihe von Familienbriefen, geschrieben von einer schönen jungen Person an ihre Angehörigen und zu Druck gebracht, um die Grundsätze der Tugend und der Religion in den Geistern der Jugend beider Geschlechter zu fördern, ein Werk mit wahrem Hintergrund und zugleich voll angenehmer Unterhaltung des Geistes durch vielfältige, merkwürdige und ergreifende Zwischenfälle und durchaus gereinigt von allen Bildern, die in allzu vielen nur zur Ergötzung verfaßten Schriften das Herz entflammen, statt es zu bilden.« Der Vater des »bürgerlichen Trauerspiels«, des noch süßlicheren und verlogeneren dramatischen Pendants zum Familienroman, George Lillo, war Juwelier. Diese Gattung verbreitete sich rasch nach Frankreich als comédie larmoyante, was die Anhänger mit »rührend«, die Gegner mit »weinerlich« übersetzten; ihr erster Vertreter war Nivelle de la Chaussée, den die Schauspielerin Quinault darauf hingewiesen hatte, daß mit sentimentalen Szenen beim Publikum mehr Glück zu machen sei als mit echt tragischen. Auch Voltaire, stets wachsam auf fremde Erfolge, betätigte sich alsbald in diesem Genre. Das erste deutsche Werk dieser Art waren Gellerts »Zärtliche Schwestern«. Nur Holberg, dem »dänischen Molière«, wie man ihn etwas überschwänglich genannt hat, gelang es, seinen Landsleuten ein Nationallustspiel, ein Nationaltheater und, was noch mehr ist, einen Nationalspiegel zu schenken, in dem sie sich, nicht übermäßig geschmeichelt, aber doch liebenswürdig karikiert, erkennen und betrachten konnten. Er war Schnelldichter wie alle echten Komödientemperamente, daneben ein sehr fleißiger Journalist, Historiker und Popularphilosoph. Er begann als Wandergeiger und Bettelstudent, hatte jahrzehntelang die aufreibendsten Kämpfe mit zelotischen Pfaffen, unwissenden Philistern und gelehrten Eseln zu bestehen und endete als Grundbesitzer und Baron, zur damaligen Zeit für einen verachteten Schauspielschreiber und armseligen Hungerprofessor eine unerhörte Karriere. Aber seine verdiente Karriere hat er erst nach seinem Tode gemacht, als man zu erkennen begann, was man an seinen bis zur Ordinärheit kraftvollen und bis zur Banalität lebensvollen Stücken besaß: bis zu den Tagen Andersens und Ibsens hat Skandinavien keinen so scharfen und reichen Wirklichkeitsbeobachter von so freier Souveränität und machtvoller Ironie mehr hervorgebracht.

Die Wochenschriften

Das bedeutsamste literarische Ereignis für das erwachende Bürgertum war aber das Entstehen der englischen Wochenschriften, 1709 begründete Steele mit seinem Hauptmitarbeiter Addison den »Tatler«, dem 1711 der »Spectator« und 1713 der »Guardian« folgte. Das Programm dieser Revuen hat Addison mit den Worten ausgesprochen: »Man hat von Sokrates gesagt, daß er die Philosophie vom Himmel herabgeholt habe, damit sie unter den Menschen wohne; ich habe den Ehrgeiz, daß man von mir sage: er hat die Philosophie aus den Akademien und Schulen geholt, damit sie in den Klubs und Gesellschaften, am Teetisch und im Kaffeehaus, im Heim, im Kontor und in der Werkstatt Platz nehme.« Sehr bald fand er überall Nachahmer. Der große Samuel Johnson edierte den »Idler« und den »Rambler«, der graziöse Lustspieldichter Marivaux den »Spectateur français«, und der Abbé Prévost, der Verfasser der »Aventures du chevalier des Grieux et de Manon Lescaut«, in denen der englische Sittenroman ohne lästiges Moralisieren und mit echter Leidenschaft fortgebildet wird, war sieben Jahre lang Herausgeber der Zeitschrift »Le Pour et le Contre«. In Italien begründete der ältere Gozzi den »Osservatore«. Die erste deutsche Publikation dieser Art, die »Discourse der Mahlern«, herausgegeben von Bodmer und Breitinger, erschien in der Schweiz, ihr folgte drei Jahre später der »Patriot« in Hamburg, Gottsched schrieb die »Vernünftigen Tadlerinnen« und den »Biedermann« und eine dieser zahllosen Zeitschriften führte sogar den leicht mißzuverstehenden Titel: »Die Braut, wöchentlich an das Licht gestellt«. Über Addison, der der unerreichte Klassiker dieses Genres geblieben ist, sagt Steele: »Leben und Sitten werden von ihm nie idealisiert, er bleibt immer streng bei der Natur und der Wirklichkeit, ja er kopiert so getreu, daß man kaum sagen kann, er erfinde.« Er war in der Tat nicht mehr und nicht weniger als der geschickte und beflissene, banale und kunstreiche Salonphotograph seines Zeitalters, dem er ein stattliches wohlassortiertes Porträtalbum schuf, ein ebenso wertvolles und ebenso wertloses, wie es alle derartigen Arbeiten zu allen Zeiten gewesen sind.

Hogarth

Der Maler William Hogarth erzählte in Bilderserien satirisch, aber ohne eigentlichen Humor den Lebenslauf einer Buhlerin, das Schicksal einer Modeehe, die Geschichte eines Wüstlings, das Los des Fleißes und der Faulheit. Seine Schilderungen waren in zahlreichen Kupferstichen verbreitet und somit nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form eine Art malerischer Journalismus; sie bilden daher scheinbar eine Art Gegenstück zu den Wochenschriften und moralischen Romanen. Aber in Wirklichkeit kann man diese beiden Erscheinungen gar nicht miteinander vergleichen. Denn Hogarth ist Moralist und Didakt nur im Nebenamt, in erster Linie aber Künstler: ein wirklichkeitstrunkener Schilderer voll Wucht und Schärfe, ein Farbendichter von höchstem Geschmack und Geist. Er opferte in seinen Predigten nur der Zeit, und er wäre größer ohne seine Philosophie; Richardson und Addison aber besaßen in ihrem bürgerlichen Moralpathos ihre stärkste Lebensquelle, von der ihr ganzes Schaffen gespeist wurde: ohne dieses wären sie nicht größer, auch nicht kleiner, sondern überhaupt nicht. Sie wollten Maler sein und gelangten kaum bis zum Literaten, Hogarth wollte, in sonderbarer Verkennung seiner Mission, Literat sein und blieb trotzdem ein großer Maler.

Die Dichter des Spleen

Indes hat in all dieser Nüchternheit doch auch der Einschlag von Spleen nicht gefehlt, der eine stete Ingredienz der englischen Seele bildet. Er ist verkörpert in der Gruft- und Gespensterpoesie. 1743 ließ Robert Blair das Gedicht »The Grave« erscheinen, das in suggestiven Blankversen Variationen über das Thema: Tod, Sarg, Mitternacht, Grabesgrauen, Geisterschauer anschlug. Aus derselben Zeit stammen Edward Youngs »Night Thoughts on Life, Death and Immortality« und Thomas Grays »Elegy, written in a Country Churchyard«, voll finsterer Beklemmungen und Gesichte und zugleich durchhaucht von dem ersten sanften Säuseln der Empfindsamkeit. Das Genie des Spleen aber ist, einsam in pathologischer Dämonie und grimassenhafter Überlebensgröße, Jonathan Swift, der Dechant von Sankt Patrick.

Die freethinkers

Jedes Zeitalter hat ein Schlagwort, von dem es bis zu einem gewissen Grade lebt: das damalige hieß »Freidenkertum. Die Vorläufer der Freidenker waren die »Latitudinarier« des siebzehnten Jahrhunderts, die alle konfessionellen Unterschiede der christlichen Sekten für unwesentlich erklärten und nur die in der Heiligen Schrift niedergelegten »Grundwahrheiten« als bindend erachteten. John Toland, der in seinem 1696 erschienenen Werk »Christianity not mysterious« nachzuweisen suchte, daß in den Evangelien nichts Widernatürliches, aber auch nichts Übervernünftiges enthalten sei, sprach zuerst von freethinkers, worüber Anthony Collins dann in seiner Schrift »A discourse of freethinking« vom Jahre 1713 ausführlicher handelte. Woolston erklärte die Wunder des Neuen Testaments allegorisch. Matthew Tindal vertrat in der Abhandlung »Christianity as old as the creation« den Standpunkt, daß Christus die natürliche Religion, die von jeher bestanden habe und von Anfang an vollkommen gewesen sei, nur wiederhergestellt habe. Seit 1735 verfaßte auch in Deutschland Johann Christian Edelmann antiklerikale Schriften, worin er die positiven Religionen als »Pfaffenfund« bezeichnete, erregte aber mit ihnen nicht so viel Aufsehen wie mit seinem langen Bart. Hutcheson versuchte als erster eine wissenschaftliche Analyse des Schönen und verteidigte die Kunst gegen die Theologie. Nach ihm wird sowohl das Gute wie das Schöne durch die Aussprüche eines untrüglichen inneren Sinnes erkannt. Von ähnlichen Gesichtspunkten war schon zu Anfang des Jahrhunderts der Graf von Shaftesbury ausgegangen, indem er eine Art Ästhetik der Moral schuf. Für ihn ist das Schöne mit dem Guten identisch; der gemeinsame Maßstab ist das Wohlgefallen: »Trachtet zuerst nach dem Schönen, und das Gute wird euch von selbst zufallen.« Auch die Sittlichkeit beruht auf einer Art feinerem Sinn, einem moralischen Takt, der ebenso ausbildungsfähig und ausbildungsbedürftig ist wie der Geschmack. Es ist die Aufgabe des Menschen, eine Art sittliche Virtuosität zu erlangen, und der »Böse« ist in diesem Sinne nur eine Art Stümper und Dilettant. Das Wesen sowohl der Kunst wie der Ethik besteht in der Harmonie, der Versöhnung der egoistischen und der sozialen Empfindungen. In demselben Sinne verglich der Dichter Pope in seinem berühmten »Essay on man« das Verhältnis zwischen den selbstsüchtigen und den altruistischen Seelenbewegungen sehr anschaulich mit der Rotation unseres Planeten um seine eigene Achse und um die Sonne. Was Shaftesbury lehrt, ist die Philosophie eines feinnervigen Aristokraten und Lebensartisten: er ist einer der ersten »Ästheten« der neueren Geschichte und von ihm geht eine gerade Linie zu Oskar Wilde, der gesagt hat: »Laster und Tugend sind für den Künstler nur Materialien.« Eine fast groteske Logisierung der Ethik findet sich hingegen bei Wollaston, der in jeder unmoralischen Handlung nichts als ein falsches Urteil erblickt: zum Beispiel im Mord die verkehrte Meinung, daß man dem Getöteten das Leben wiedergeben könne, in der Tierquälerei die Fehlansicht, daß das Tier keinen Schmerz empfinde, im Ungehorsam gegen Gott den irrigen Glauben, daß man mächtiger sei als er, während sich Mandeville in seiner Schrift »The fable of the bees, or private vices made public benefits« auf den bereits im Titel angedeuteten Standpunkt des modernen Staatszynismus stellte, daß der egoistische und skrupellose Wettbewerb der Einzelnen die Triebkraft für das Gedeihen des Ganzen bilde.

Hume

Die charakteristischste Erscheinung der damaligen englischen Philosophie ist aber David Hume. Seine epochemachende Tat ist die Auflösung des Kausalitätsbegriffs, den er aus der Gewohnheit, aus der häufigen Wiederholung derselben Erfahrung erklärt. Unsere Empirie berechtigt uns nur zu dem Urteil: erst A, dann B; dem post hoc. Unser Geist begnügt sich aber nicht hiermit, sondern sagt auf Grund dieser immer wieder beobachteten Sukzession: erst A, darum B; er macht aus dem post hoc ein propter hoc. Auch die Idee der Substanz stammt nur aus unserer Gepflogenheit, mit denselben Gruppen von Merkmalen immer die gleichen Vorstellungen zu verbinden. Ebenso ist das Ichbewußtsein zu erklären: indem wir unsere Eindrücke regelmäßig auf dasselbe Subjekt beziehen, bildet sich der Begriff eines unveränderlichen Trägers dieser Eindrücke, der aber in Wirklichkeit nichts ist als ein »Bündel von Vorstellungen«. Ganz im Sinne dieser Anschauungen erklärt sich Hume auch gegen die Vertragstheorie: ehe die Menschen einen Staatskontrakt schließen konnten, hatte sie schon die Not vereinigt, und der durch die Not zur Gewohnheit gewordene Gehorsam bewirkte ohne Vertrag, daß Regierungen und Untertanen entstanden. Dies alles ist echt englisch: die ebenso vorsichtige wie kurzsichtige Betonung der Alleinherrschaft der Empirie, das Mißtrauen gegen alle Metaphysik und Ideenlehre, der tiefgewurzelte Konservativismus, der alles aus Gewohnheit erklärt, und die unerbittliche Flachheit, die in ihrer bewunderungswürdigen Schärfe und Energie fast zum Tiefsinn wird.

Berkeley

Weininger macht in »Geschlecht und Charakter« die sehr feine Bemerkung: »Die Entscheidung zwischen Hume und Kant ist auch charakterologisch möglich, insoferne etwa, als ich zwischen zwei Menschen entscheiden kann, von denen dem einen die Werke des Makart und Gounod, dem anderen die Rembrandts und Beethovens das Höchste sind«, und an einer anderen Stelle sagt er, daß Hume allgemein überschätzt werde; es gehöre zwar nicht viel dazu, der größte englische Philosoph zu sein, aber Hume habe nicht einmal auf diese Bezeichnung Anspruch. Was uns anlangt, so möchten wir diesen Ruhm Humes »Vorläufer«, dem Bischof Berkeley, zuerkennen, der, aus englischem Geschlecht stammend, aber in Irland geboren und erzogen, als einer der glänzendsten Vertreter des vom englischen so sehr verschiedenen irischen Geistes anzusehen ist: er hat eine Philosophie geschaffen, die wahrhaft frei, höchst originell und schöpferisch paradox ist. Nach seinem Ausgangspunkt könnte man ihn für einen typisch englischen Erfahrungsphilosophen halten, denn er lehrt den strengsten Nominalismus; die abstrakten Ideen sind für ihn nichts als Erfindungen der Scholastiker, Staubwolken, die, von den Schulen aufgewirbelt, die Dinge verdunkeln; sie sind nicht einmal in der bloßen Vorstellung vorhanden und daher nicht nur unwirklich, sondern unmöglich. Dinge wie Farbe oder Dreieck gibt es nicht, sondern nur rote und blaue Farben, rechtwinklige und stumpfwinklige Dreiecke von ganz bestimmtem Aussehen; wenn von »Baum« im allgemeinen gesprochen wird, so denkt jeder doch heimlich an irgendein konkretes Baumindividuum. Es gibt nur die Einzelvorstellungen, die sich aus den verschiedenen Sinnesempfindungen zusammensetzen. »Ich sehe diese Kirsche da, ich fühle und schmecke sie, ich bin überzeugt, daß sich ein Nichts weder sehen noch schmecken noch fühlen läßt, sie ist also wirklich. Nach Abzug der Empfindungen der Weichheit, Feuchtigkeit, Röte, Süßsäure gibt es keine Kirsche mehr, denn sie ist kein von diesen Empfindungen verschiedenes Wesen.« Farbe ist Gesehenwerden, Ton ist Gehörtwerden, Objekt ist Wahrgenommenwerden, esse est percipi. Was wir Undurchdringlichkeit nennen, ist nichts weiter als das Gefühl des Widerstandes; Ausdehnung, Größe, Bewegung sind nicht einmal Empfindungen, sondern Verhältnisse, die wir zu unseren Eindrücken hinzudenken; die körperlichen Substanzen sind nicht nur unbekannt, sondern sie existieren gar nicht. Das Einzigartige und höchst Geistreiche dieser Philosophie besteht aber nun darin, daß sie durch diese Feststellungen nicht wie alle anderen Nominalismen zum Sensualismus und Materialismus geführt wird, sondern zu einem exklusiven Spiritualismus und Idealismus. Alle Erscheinungen sind nach Berkeley nichts als Vorstellungen Gottes, die er in sich erzeugt und den einzelnen Geistern als Perzeptionen mitteilt; das zusammenhängende Ganze aller von Gott produzierten Ideen nennen wir Natur; die Kausalität ist die von Gott hervorgerufene Reihenfolge dieser Vorstellungen. Da die Gottheit absolut und allmächtig ist, so ist sie auch jederzeit imstande, diese Anordnung zu verändern und das Naturgesetz zu durchbrechen; in diesem Falle sprechen wir von Wundern. Es gibt demnach nichts Wirkliches auf der Welt als Gott, die Geister und die Ideen.

Montesquieu und Vauvenargues

Aber nicht das System Berkeleys, sondern der Empirismus eroberte England und von da aus Europa. Der erste große Vertreter der englischen Philosophie auf dem Kontinent war Montesquieu, der 1721 in seinen »Lettres Persanes« zunächst vorwiegend Kritik übte, indem er die öffentlichen Einrichtungen und Zustände des damaligen Frankreich: Papstkirche und Klosterwesen, Beichte und Zölibat, Ketzergerichte und Sektenstreitigkeiten, Verschwendung und Steuerunwesen, Geldkorruption und Adelsprivilegien, den Verfall der Akademie, den Lawschen Bankschwindel und überhaupt das ganze Régime des Absolutismus, auch des aufgeklärten, sehr witzig, aber mit verborgenem tiefen Ernst bloßstellte. Sieben Jahre später folgten die »Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence«, ein überaus geistvolles und gründliches Geschichtswerk, worin mit deutlichem Hinblick auf das demokratische England und das absolutistische Frankreich gezeigt wurde, wie das römische Reich zuerst der Freiheit seine Größe und später dem Despotismus seinen Niedergang zu verdanken hatte. Auch sein drittes Werk »De l'esprit des lois«, in dem Recht und Staat als Produkt von Boden, Klima, Sitte, Bildung und Religion dargestellt sind und die konstitutionelle Monarchie als die beste Staatsform gepriesen wird, ist ganz von englischem Geist erfüllt. Neben ihm wirkte, von den Zeitgenossen nicht genügend gewürdigt, der Marquis Vauvenargues, der trotz seiner zarten Konstitution Offizier wurde und schon zweiunddreißigjährig starb. Voltaire war einer der wenigen, die seinen hohen Geist sofort erkannten, und schrieb an den um zwanzig Jahre jüngeren obskuren Kollegen: »Wären Sie um einige Jahre früher auf die Welt gekommen, so wären meine Werke besser geworden.« Die höchsten Eigenschaften des Schriftstellers sind für Vauvenargues clarté und simplicité: die Klarheit ist der »Schmuck des Tiefsinns«, der »Kreditbrief der Philosophen«, das »Galagewand der Meister«, die Dunkelheit das Reich des Irrtums; ein Gedanke, der zu schwach ist, einen einfachen Ausdruck zu tragen, zeigt damit an, daß man ihn wegwerfen soll. In seiner unbestechlichen Kunst der Seelenprüfung erinnert er bisweilen an Larochefoucauld: er sagt, daß die Liebe nicht so zartfühlend sei wie die Eigenliebe, daß wir viele Dinge nur verachten, um uns nicht selbst verachten zu müssen, daß die meisten Menschen den Ruhm ohne Tugend lieben, aber die wenigsten die Tugend ohne Ruhm, er erklärt die Kunst zu gefallen für die Kunst zu täuschen und findet es sonderbar, daß man den Frauen die Schamhaftigkeit zum Gesetz gemacht hat, während sie an den Männern nichts höher schätzen als die Schamlosigkeit. Aber daneben lebt in ihm noch der soldatische Geist des siebzehnten Jahrhunderts, eine heroische Begeisterung für den Ruhm, die Tapferkeit und die nobeln Leidenschaften der Seele, sein Lieblingswort ist » l'action«. Und zugleich weist er in die Zukunft, ins Reich der Empfindsamkeit: er erklärt, daß niemand zahlreichern Fehlern ausgesetzt sei als der Mensch, der nur mit dem Verstand handelt, und von ihm stammt das unsterbliche Wort: »Les grandes pensées viennent du coeur.« Er ist der früheste Prophet des Herzens; aber noch in einer männlichen, unsentimentalen Form, die einem stärkeren und zugleich weniger komplizierten Geschlecht angehört.

Alle diese Lichter verblassen aber neben dem Stern Voltaires, der, allerdings in einem prononcierten dix-huitième-Sinn, der Heros des Jahrhunderts gewesen ist.

Der Generalrepräsentant des Jahrhunderts

Goethe hat in seinen Anmerkungen zu Diderot den oft zitierten Ausspruch gemacht: »Wenn Familien sich lange erhalten, so kann man bemerken, daß die Natur endlich ein Individuum hervorbringt, das die Eigenschaften seiner sämtlichen Ahnherrn in sich begreift und alle bisher vereinzelten und angedeuteten Anlagen in sich vereinigt und vollkommen ausspricht. Ebenso geht es mit Nationen, deren sämtliche Verdienste sich wohl einmal, wenn es glückt, in einem Individuum aussprechen. So entstand in Ludwig dem Vierzehnten ein französischer König im höchsten Sinne, und ebenso in Voltaire der höchste unter den Franzosen denkbare, der Nation gemäßeste Schriftsteller.« Wir haben schon in der Einleitung dieses Werkes hervorgehoben, daß der Genius nichts anderes ist als der Extrakt aus den zahllosen kleinen Wünschen und Werken der großen Masse. Man kann für jedes Volk, für jedes Zeitalter einen solchen Generalrepräsentanten finden, aber auch für kleinere Segmente: für jeden Stamm, jede Stadt, jede Saison. Der Kreis, den Voltaire vertrat, hatte den denkbar größten Radius: Voltaire ist die Essenz ganz Frankreichs und des ganzen achtzehnten Jahrhunderts. Und infolgedessen war er auch ein Kompendium aller Mängel und Irrtümer, Untugenden und Widersprüche seines Volkes und Zeitalters. Wenn er, wie Goethe in seinem schönen Gleichnis andeutet, wirklich alle verstreuten Familienmerkmale in seiner Physiognomie zusammengefaßt hat, so ist es vollkommen unsinnig, ihm einen Vorwurf daraus zu machen, daß sich darunter auch Schönheitsfehler befanden.

Goethe sagt an einer anderen Stelle, in »Dichtung und Wahrheit«: »Voltaire wird immer betrachtet werden als der größte Name der Literatur der neueren Zeit und vielleicht aller Jahrhunderte; wie die erstaunenswerteste Schöpfung der Natur.« Dies empfanden, ein seltener Fall in der Geistesgeschichte, seine Zeitgenossen in fast noch höherem Maße als die Nachwelt, was eben daher kam, daß sie in ihm ihren unvergleichlichen Dolmetsch erblicken mußten. Er war eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges; man reiste von weither nach seinem Landsitz Ferney wie zum Anblick eines Bergriesen oder einer Sphinx. Als er einmal einen Engländer, der sich durchaus nicht abweisen lassen wollte, mit einem Scherz loszuwerden suchte, indem er ihm sagen ließ, die Besichtigung koste sechs Pfund, erwiderte dieser augenblicklich: »Hier sind zwölf Pfund und ich komme morgen wieder.« Wenn er auf Reisen war, verkleideten sich junge Verehrer als Hotelkellner, um in seine Nähe gelangen zu können. Als er kurz vor seinem Tode von der Pariser Aufführung seiner »Irène« nach Hause fuhr, küßte man seine Pferde.

Der Märtyrer des Lebens

Und obgleich seitdem schon fünf Generationen vorübergegangen sind, sind uns noch heute wenige Gestalten der Literaturgeschichte so nah vertraut und intim bekannt wie er. Seine Biographie ist eine Geschichte aus unseren Tagen; aus allen Tagen. Nirgends spürt man eine Distanz, weil er, in Größe und Schwäche, immer ein warmer lebensprühender Mensch war. Er war eine sonderbare Mischung aus einem Epikuräer und einem Asketen der Arbeit. Schon als Knabe hatte er eine große Vorliebe für elegante Kleider und gutes Essen und sein ganzes Leben lang war er bestrebt, sich mit einem grandseigneuralen Luxus zu umgeben, zu dem er sich aber mehr durch seine Leidenschaft für schöne Form und großartige Verhältnisse als durch wirkliche Genußsucht hingezogen fühlte. Als er auftrat, war ein homme de lettres ein gesellschaftlich unmöglicher Mensch, ein Desperado, Taugenichts und outlaw, Schmarotzer, Hungerleider und Trunkenbold. Voltaire war der erste Berufsschriftsteller, der mit dieser festgewurzelten Tradition brach. Er führte von allem Anfang an ein Leben im vornehmen Stil und brachte es zumal in der zweiten Hälfte seines Daseins zu fürstlichem Reichtum. Er besaß zwanzig Herrschaften mit zwölfhundert Untertanen und einem Jahresertrag von 160000 Francs, herrliche Villen und Schlösser mit Äckern und Weinbergen, Gemäldegalerien und Bibliotheken, kostbaren Nippes und seltenen Pflanzen, einen Stab von Lakaien, Postillonen, Sekretären, einen Wagenpark, einen französischen Koch, einen Feuerwerker, ein Haustheater, auf dem berühmte Pariser Künstler gastierten, und sogar eine eigene Kirche mit der Inschrift: » Deo erexit Voltaire.« Diesen Wohlstand verdankte er zum Teil Pensionen und Büchererträgnissen (die Henriade zum Beispiel hatte ihm allein 150000 Francs eingebracht, während er die Honorare für seine Theateraufführungen regelmäßig an die Schauspieler verschenkte), zur größeren Hälfte allerlei dubiosen Geldgeschäften, die er mit großem Geschick betrieb: Börsenspekulationen, Kaufvermittlungen, Korntransaktionen, Grundstückschiebungen, Armeelieferungen, hoch verzinsten Darlehen. In Berlin erregte er durch einen derartigen zweideutigen Handel, der ihn in einen skandalösen Konflikt mit dem jüdischen Bankier Abraham Hirschel verwickelte, das Mißfallen Friedrichs des Großen. Lessing fällte sein Urteil über diese Affäre in dem Epigramm: »Und kurz und gut den Grund zu fassen, warum die List dem Juden nicht gelungen ist; so fällt die Antwort ohngefähr: Herr Voltaire war ein größrer Schelm als er.« Es kann als nachgewiesen gelten, daß er damals einige Worte in den Verträgen mit Hirschel nachträglich geändert hat. Auch sonst nahm er es im Privatleben mit der Wahrheit nicht sehr genau. Um an die Stelle des Kardinals Fleury in die Akademie gewählt zu werden, schrieb er an verschiedene Personen Briefe, in denen er versicherte, er sei ein guter Katholik und wisse nicht, was das für »Lettres philosophiques« seien, die man ihm zuschreibe; er habe sie nie in der Hand gehabt. Als er sich später ein zweites Mal, und diesmal erfolgreich, um diese Ehre bewarb, die seinem Ruhme nicht das geringste hinzugefügt hat, verglich er Ludwig den Fünfzehnten mit Trajan. Beim Erscheinen des »Candide« schrieb er an einen Genfer Pastor: »Ich habe jetzt endlich den Candide zu lesen bekommen, und ganz wie bei der Jeanne d'Arc erkläre ich Ihnen, daß man von Vernunft und Sinnen sein muß, um mir eine derartige Schweinerei anzudichten.« In die »Pucelle« mischte er absichtlich Unsinn, damit man sie ihm nicht zutraue. Über seine »Histoire du Parlement de Paris« schrieb er in einem offenen Brief im »Mercure de France«: »Um ein solches Werk herausgeben zu können, muß man mindestens ein Jahr lang die Archive durchwühlt haben, und wenn man in diesen Abgrund hinabgestiegen ist, ist es noch immer sehr schwierig, aus ihm ein lesbares Buch herauszuholen. Eine solche Arbeit wird eher ein dickes Protokoll werden als eine Geschichte. Sollte ein Buchhändler mich für den Verfasser ausgeben, so erkläre ich ihm, daß er nichts dabei gewinnt. Weit davon entfernt, dadurch ein Exemplar mehr zu verkaufen, würde er umgekehrt dem Ansehen des Buches schaden. Die Behauptung, daß ich, der ich länger als zwanzig Jahre von Frankreich abwesend war, mich derartig in das französische Rechtswesen hätte hineinarbeiten können, wäre vollkommen absurd.« Über das Wörterbuch schrieb er an d'Alembert: »Sowie es die geringste Gefahr damit hat, bitte ich Sie sehr, mir davon Nachricht zu geben, damit ich das Werk in allen öffentlichen Blättern mit meiner gewohnten Ehrlichkeit und Unschuld desavouieren kann.« Und in einem Brief an den Jesuitenpater de la Tour erklärte er sogar, wenn man je unter seinem Namen eine Seite gedruckt habe, die auch nur einem Dorfküster Ärgernis geben könnte, so sei er bereit, sie zu zerreißen; er wolle ruhig leben und sterben, ohne jemand anzugreifen, ohne jemand zu beschädigen, ohne eine Ansicht zu vertreten, die jemand anstößig sein könnte. Man wird wohl sagen dürfen, daß er die Absicht, nirgends anzustoßen, nur sehr unvollkommen erreicht hat.

Man muß allerdings bedenken, daß es zu jener Zeit für einen Schriftsteller äußerst gefährlich war, sich zu Werken zu bekennen, die bei der Kirche oder der Regierung Mißfallen erregen konnten, und daß nahezu alle Kollegen Voltaires in solchen Fällen dieselbe Taktik des Ableugnens und der Anonymität beobachteten. »Ich bin«, sagte er zu d'Alembert, »ein warmer Freund der Wahrheit, aber gar kein Freund des Märtyrertums.« Wir müssen in Voltaire gleichwohl eine neue Form des Heldentums erblicken: an die Stelle der Märtyrer des Todes waren die Märtyrer des Lebens getreten und die Läuterung durch Askese wird nicht mehr in den Klostermauern, sondern mitten im Drängen der Welt gesucht; der Tod erscheint nicht mehr als Glorifikation des Lebens und als Held gilt nicht mehr, wer dem Leben entsagt, sondern wer im Leben entsagungsvoll weiterkämpft.

Voltaires Charakter

Aus Voltaires überreiztem und hyperaktivem Kämpfertum erklären sich auch seine vielen kleinen Bosheiten, für die sein Verhältnis zu Friedrich dem Großen, der ihm hierin ähnlich war, besonders charakteristisch ist. Durch unvermeidliche Reibung haben diese beiden Genies einander ununterbrochen Funken des Hasses, der Liebe und des Geistes entlockt. Schon die Art, wie sie sich zusammenfanden, war sehr sonderbar. Um Voltaire in Frankreich zu kompromittieren und ihn dadurch an seinen Hof zu bekommen, ließ Friedrich der Große einen sehr ausfälligen Brief des Dichters bei den zahlreichen einflußreichen Personen verbreiten, die darin angegriffen waren; Voltaire wiederum suchte aus der Schwäche, die der König für ihn hatte, möglichst viel Geld herauszuschlagen. Friedrich der Große, der nachträglich fand, daß er Voltaire überzahlt habe, beschränkte ihn im Verbrauch von Licht und Zucker; Voltaire steckte im Salon Kerzen ein. Lamettrie teilte Voltaire mit, der König habe über ihn gesagt: »man preßt die Orange aus und wirft sie fort«; Maupertuis teilte dem König mit, Voltaire habe über ihn gesagt: »ich muß seine Verse durchsehen, er schickt mir seine schmutzige Wäsche zum Waschen.« Voltaire richtete gegen Maupertuis einen anonymen und verletzenden Angriff; Friedrich verfaßte eine ebenso anonyme und ebenso verletzende Antwort. Friedrich ließ Voltaire bei seiner Rückreise nach Frankreich in Frankfurt verhaften und auf kompromittierende Schriftstücke untersuchen; Voltaire schrieb, enthaftet, gleichwohl in Frankreich kompromittierende Enthüllungen.

Wir haben absichtlich gerade die bedenklichsten Punkte in der Lebensgeschichte Voltaires hervorgehoben, weil man lange Zeit, und bisweilen noch heute, aus diesen und ähnlichen kleinen Zügen das Bild eines zweideutigen, tückischen, ja schmutzigen Charakters zu kombinieren versucht hat. Von den schlechten Eigenschaften, die man Voltaire vorzuwerfen pflegt, kann ihm nur die Eitelkeit in vollem Maße zugesprochen werden; hierin unterschied er sich sehr unvorteilhaft von Friedrich dem Großen. Aber diese teilte er mit den allermeisten Künstlern und überhaupt mit den allermeisten Menschen, und zudem hatte sie bei ihm eine liebenswürdige, kindliche, ja oft geradezu kindische Note, die versöhnend wirkt. Daß er boshaft und verlogen war, ist schon eine Behauptung, die nur zur Hälfte wahr ist; denn das erstere war er nur im Verteidigungszustand, das letztere nur in kleinen Dingen, wenn seine Eitelkeit oder seine Ängstlichkeit, beide begründet in seiner fast pathologischen Reizbarkeit, mitredeten; in allen großen Fragen war er von der lautersten Aufrichtigkeit. Und daß er maßlos egoistisch gewesen sein soll, ist vollkommen und ohne jede Einschränkung falsch: er war habgierig nur während der Zeit, wo er seine Reichtümer sammelte, von dem Augenblick an, wo er sie besaß, verwendete er sie in der uneigennützigsten und großartigsten Weise für andere, und was die inkorrekte Art angeht, auf die er sie erwarb, so dürfen wir nicht vergessen, daß wir uns im Rokoko befinden, dessen Decadencecharakter sich unter anderem auch darin äußerte, daß es alle moralischen Maßstäbe verloren hatte: wenn man so oft die Frage aufgeworfen hat, wie es kam, daß dieser große Geist nicht integer war, so lautet die Antwort: weil der Geist des Rokoko nicht integer war. Zu jenen überlebensgroßen Heroen der Sittlichkeit, die, als Gegenspieler der großen Verbrecher, außerhalb der Moralgesetze ihrer Zeit stehen, indem sie sich aus den zeitlosen Tiefen ihrer Seele eine eigene Ethik aufbauen, hat aber Voltaire nicht gehört und niemals gehören wollen.

Für junge aufstrebende Schriftsteller hatte er immer Rat und Geld übrig, trotz fast regelmäßig empfangenem Undank; vermutlich aus einer Art zärtlicher und wehmütiger Pietät gegen seine eigene Jugend. Er ließ die Nichte Corneilles auf seine Kosten erziehen, verschaffte ihr durch die von ihm besorgte und kommentierte Neuausgabe Corneilles eine reiche Mitgift und schenkte ihr bei der Geburt ihres ersten Kindes zwölftausend Livres: »es gehört sich«, sagte er, »für einen alten Soldaten, der Tochter seines Generals nützlich zu sein.« Als Grundherr übte er die großzügigste Wohltätigkeit; er kämpfte gegen die Leibeigenschaft, trocknete Sümpfe aus, ließ weite Heidestrecken bebauen und rief eine blühende Seiden- und Uhrenindustrie ins Leben, indem er den Arbeitern aus eigenem Besitz Häuser und Betriebskapital zur Verfügung stellte. In den durch ihn berühmt gewordenen religiösen Tendenzprozessen gegen die Hugenotten Jean Calas und Peter Paul Sirven, die beide fälschlich beschuldigt worden waren, eines ihrer Kinder ermordet zu haben, weil es zum Katholizismus übertreten wollte, entwickelte er eine fieberhafte Agitation durch Flugschriften, Essais, Veröffentlichung von Dokumenten und Zeugenaussagen, Verwendung bei allen ihm erreichbaren Machthabern, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Das Grundpathos seines ganzen Lebens war überhaupt ein flammendes Rechtsgefühl, ein heißer, verzehrender, fast trunkener Haß gegen jede Art öffentlicher Willkür, Dummheit, Bosheit, Parteilichkeit. «Wenn die Welt heute nur noch zu zwei Fünfteln aus Schurken und zu drei Achteln aus Idioten besteht, so ist das zu einem guten Teil Voltaire zu verdanken.

Voltaires Werk

Er sagt einmal, der Mensch sei ebenso zur Arbeit geschaffen, wie es in der Natur des Feuers hege, emporzusteigen. Als eine solche Feuersäule der Arbeit und des Geistes erhob er sich über der staunenden Welt, immer höher emporschwelend und alles Finstere und Lichtscheue mit seinem unheimlichen Rotlicht erhellend. Er arbeitete oft achtzehn bis zwanzig Stunden im Tage, diktierte so schnell, daß der Sekretär kaum nachkommen konnte, sagte noch in seinem vierundsechzigsten Lebensjahr von sich: »ich bin schmiegsam wie ein Aal, lebendig wie eine Eidechse und unermüdlich wie ein Eichhörnchen« und ist es noch zwanzig Jahre geblieben. Friedrich der Große schrieb an ihn: »Ich zweifle daran, daß es einen Voltaire gibt, und ich bin im Besitz eines Systems, mit dessen Hilfe ich seine Existenz zu bestreiten vermag. Es ist unmöglich, daß ein einzelner Mensch die ungeheure Arbeit vollbringen kann, die Herrn von Voltaire zugeschrieben wird. Offenbar gibt es in Cirey eine Akademie, aus der Elite der Erde zusammengesetzt: Philosophen, die Newton übersetzen und bearbeiten, Dichter heroischer Epopöen, Corneilles, Catulls, Thukydidesse, und die Arbeiten dieser Akademie werden unter dem Namen Voltaire herausgegeben, wie man die Taten eines Heeres auf den Feldherrn zurückführt.« Kurz vor seinem Tode machte ihm ein Schriftsteller seine Huldigungsvisite und sagte: »heute bin ich nur gekommen, um Homer zu begrüßen, das nächstemal will ich Sophokles und Euripides begrüßen, dann Tacitus, dann Lucian«; »mein lieber Herr«, erwiderte Voltaire, »ich bin, wie Sie sehen, ein ziemlich alter Mann, könnten Sie nicht alle diese Besuche auf einmal abmachen?« Er war nicht allenthalben schöpferisch wie Leibniz, aber er durchdrang alles und gab vielem durch seine künstlerisch runde und scharfe, lichte und leichte Darstellung erst die klassische Form, was man auch als eine Art Schöpfertätigkeit ansehen muß. Nicht, wie so oft behauptet wird, sein Witz war seine schriftstellerische Kardinaleigenschaft, sondern seine Klarheit und Formvollendung, seine sprudelnde Farbigkeit und federnde Aktivität. Er war, gleich einem Zitterrochen, der bei der geringsten Berührung einen Hagel lähmender Schläge austeilt, voll aufgespeicherter Elektrizität, die nur der Auslösung harrte, um in einem Strom von gefährlichen Kraftentladungen ihre siegreiche Wirkung zu erproben. Sein literarisches Werk ist mit seinen Büchern, die allein eine Bibliothek bilden, noch nicht erschöpft; es umfaßt auch seine zahllosen Briefe, die infolge der damaligen Sitte, interessante Mitteilungen kursieren zu lassen, zu einem großen Teil Öffentlichkeitscharakter hatten. Er zeigte Casanova 1760 in Ferney eine Sammlung von etwa fünfzigtausend an ihn gerichteten Briefen; da er die Gepflogenheit hatte, alle irgendwie bemerkenswerten Zuschriften zu beantworten, läßt sich daraus schließen, welchen Umfang seine Korrespondenz gehabt haben muß. Und dazu kam noch seine Konversation, die nach dem Zeugnis aller, die jemals in seiner Nähe weilen durften, von der bezauberndsten Wirkung gewesen sein muß: »er ist und bleibt selbst die beste Ausgabe seiner Bücher«, sagte der Chevalier von Boufflers.

Voltaire als Dicher

Seinen ersten großen Erfolg hatte Voltaire mit dem Epos »La Ligue ou Henri le Grand«, das er zur Hälfte in der Bastille verfaßt hatte, indem er den Text mit Bleistift zwischen die Zeilen eines Buches schrieb, und das fünf Jahre später in einer erweiterten Umarbeitung als »Henriade« die Welt eroberte. Gewohnt, bei allen seinen künstlerischen Plänen von verstandesmäßigen Erwägungen auszugehen, hatte er sich gesagt, daß den Franzosen ein großes Epos fehle und er daher verpflichtet sei, ihnen ein solches zu schenken; und seine Landsleute nahmen das Geschenk an. Die Wirkung des Werkes läßt sich nur aus der damaligen geistigen Situation Frankreichs und Europas erklären. Es ist das kühle und blasse Produkt eines virtuosen Kunsthandwerkers und geistreichen Kulturphilosophen, das mit den leeren Attrappen allegorischer Personifikationen wie Liebe, Friede, Zwietracht, Fanatismus arbeitet und sich nicht etwa an Homer, Dante oder Milton orientiert, sondern an Virgil, was aber zu jener Zeit, wo man gelacht hätte, wenn jemand Homer über Virgil gestellt hätte, nur als Vorteil angesehen wurde. Friedrich der Große erklärte, jeder Mann von Geschmack müsse die Henriade der Iliade vorziehen.

Sein zweites Epos »La Pucelle d'Orléans«, eine Parodie auf Jeanne d'Arc, ist eine private Lausbüberei, die er gar nicht für die Veröffentlichung bestimmt hatte; aber der Gedanke, ein Werk Voltaires nicht zu kennen, wäre der damaligen gebildeten Welt unerträglich gewesen und man wußte sich durch seine Sekretäre heimliche Abschriften zu verschaffen. Das Gedicht besaß übrigens alle Eigenschaften, die es für ein Rokokopublikum zu einer Ideallektüre machen mußten: es war witzig, schlüpfrig und antiklerikal.

Als Dramatiker hat Voltaire vor allem das Verdienst, daß er mit der pseudoantiken Tradition gebrochen hat: er brachte amerikanische, afrikanische, asiatische Stoffe auf die Bühne. Von Shakespeare war er nicht ganz so unbeeinflußt, wie man nach Lessings überstrenger Kritik glauben sollte; von ihm hat er das Geistreiche, Bunte, in einem höheren Sinne Aktuelle; in seinen »Briefen über England« rühmt er ihn denn auch als kräftiges, fruchtbares, natürliches und erhabenes Genie von seltsamen und gigantischen Ideen, als alter Mann nannte er ihn allerdings einen Dorfhanswurst, gotischen Koloß und trunkenen Wilden. Als Charakterzeichner und Kompositeur steht er so tief unter Shakespeare, daß er nicht einmal als dessen Schüler angesprochen werden kann. Seine Stärke lag auch bei seinen Dramen in der vollendeten Form. Der Alexandriner, in seiner Eigenschaft als zweigabelig antithetisches und auf den Reim zugespitztes Versmaß, bewirkt, daß alles, was durch ihn gesagt wird, sich unwillkürlich in eine Pointe, ein Epigramm, ein dialektisches Kreuzfeuer, ein melodisches Plaidoyer verwandelt. Hier war nun Voltaire in seinem ureigensten Element, und es ist kein Wunder, daß der souveräne Beherrscher dieser Tiradenpoesie der Lieblingsdramatiker eines Volkes von Rhetorikern und eines Jahrhunderts der Philosophie geworden ist.

Zweck und Hauptthema ist in der Henriade der Kampf gegen Fanatismus und Intoleranz, in der Pucelle die Verhöhnung der Wundersucht und des Aberglaubens, und ebenso dominiert in Voltaires Dramen überall die Tendenz. »Alzire« schildert die Grausamkeit und Unduldsamkeit der Christen, die Peru erobern, »Le Fanatisme ou Mahomet, le prophète« zeigt schon im Titel die polemische Absicht an und in der Tat ist der Held, wie Voltaire selbst sagt, ein bloßer »Tartuffe mit dem Schwert in der Hand« und sein offen eingestandenes Ziel »tromper l'univers«. Selbst in der »Zaire«, einem der wenigen Stücke Voltaires, in deren Mittelpunkt die Liebe steht, handelt es sich in der Hauptsache doch wiederum um den Fluch der religiösen Vorurteile. Voltaire bezeichnet selber einmal die Bühne als Rivalin der Kanzel. Sie ist für ihn immer nur das Megaphon seiner Ideen: Rostra, Tribunal, Katheder, philosophischer Debattierklub oder pädagogisches Hanswursttheater; aber niemals schafft er Menschen und Schicksale bloß aus dem elementaren Trieb, zu gestalten. Darum ist diesem stärksten satirischen Genie des Jahrhunderts auch kein Lustspiel gelungen. Jener geheimnisvolle Vorgang, durch den dem dozierenden Dichter seine Abstraktionen sich unter der Hand mit Blut füllen, seine Zweckgeschöpfe sich plötzlich vom Draht der Tendenz lösen und selbständig machen, trat bei ihm nie ein. Dieser Kaffeetrinker war zu wach, zu luzid, zu beherrscht, um sich von seinen Kreaturen unterkriegen zu lassen.

Voltaire als Historiker

»Ich möchte etwas behaupten, was Ihnen wunderlich erscheinen wird«, schrieb Voltaire 1740 an d'Argenson, »nur wer eine Tragödie schreiben kann, wird unserer trockenen und barbarischen Geschichte Interesse verleihen. Es bedarf, wie auf dem Theater, der Exposition, Verwicklung und Auflösung.« Sein Doppeltalent des Betrachtens und Gestaltens, das ihn auf der Bühne nur zu zeitgebundenen Schöpfungen gelangen ließ, hat ihn als Historiker zu Leistungen befähigt, die der Zeit weit vorauseilten. Während seine Tragödien in Geschichtsphilosophie zerrinnen, verdichten sich seine historischen Darstellungen zu wahren Dramen. Sein »Siècle de Louis Quatorze« und sein »Essai sur les moeurs et l'esprit des nations« sind die ersten modernen Geschichtswerke. Statt der bisher beschriebenen langwierigen und langweiligen Feldzüge, Staatsverhandlungen und Hofintrigen schilderte er zum erstenmal die Kultur und die Sitten, statt der Geschichte der Könige die Schicksale der Völker. Die stupende Beweglichkeit und Energie seines Geistes, die sich für alles interessierte und alles interessant zu machen wußte, kam ihm auf diesem Gebiete besonders zu Hilfe. Allerdings dient auch hier die Darstellung der Polemik gegen den Erbfeind, die Kirche; aber diese tendenziösen Absichten wirken in seinen historischen Gemälden der Natur der Sache nach viel weniger störend als in seinen dramatischen und epischen und sie treten in ihnen merkwürdigerweise auch viel weniger aufdringlich hervor.

Diesem ruhmvollsten Zweig seiner literarischen Tätigkeit hat er sich erst in der zweiten Hälfte seines Lebens mit voller Intensität gewidmet. In seinen jüngeren Jahren gehörte sein wissenschaftliches Hauptinteresse den exakten Disziplinen. Er schrieb eine klassische Darstellung der Philosophie Newtons, die diesen auf dem Kontinent erst populär machte, und hatte in Cirey ein großes Laboratorium, wo er mit Madame du Châtelet, die ein außergewöhnliches Talent für die mathematischen und physikalischen Fächer besaß, fleißig experimentierte. Lord Brougham sagte von ihm: »Voltaire würde auf der Liste der großen Erfinder stehen, wenn er sich länger mit Experimentalphysik befaßt hätte.«

Voltaire als Philosoph

Im Bewußtsein des achtzehnten Jahrhunderts figurierte er auch als großer Philosoph, obgleich er selbständige Gedanken nicht produziert hat, sondern auch hier wiederum nur das Verdienst der glänzenden Formulierung für sich in Anspruch nehmen kann. Wenn man versucht, seine vielfältigen philosophischen Äußerungen auf ein größtes gemeinschaftliches Maß zu bringen, so dürfte sich die Forderung nach möglichster Freiheit aller Lebensbetätigungen als generelle Grundstimmung ergeben. Er kämpfte gegen den Despotismus, wo immer er ihn fand oder zu finden glaubte, und verteidigte die unbeschränkte Selbstbestimmung des Individuums in allen geistigen und physischen Dingen, sogar das Recht auf Homosexualität und Selbstmord. Die Revolutionsmänner haben ihn daher für sich reklamiert und ließen 1791 an seinem Geburtstag seinen Leichnam unter ungeheuerm Gepränge ins Pantheon überführen. Aber wenn er die Jakobiner noch erlebt hätte, so wäre er vermutlich zur Feier seines hundertsten Geburtstags guillotiniert worden. Er dachte nämlich, wenn er von Freiheit redete, immer nur an die oberen Zehntausend; vom Volke aber sagte er: »Es wird immer dumm und barbarisch sein; es sind Ochsen, die ein Joch, einen Stachel und Heu brauchen.« Er erwartete die Reform von oben, durch eine aufgeklärte Regierung. 1764 schrieb er: »Alles, was ich rings um mich geschehen sehe, legt den Keim zu einer Revolution, die unfehlbar eintreten wird, von der ich aber schwerlich mehr Zeuge sein werde. Die Franzosen erreichen ihr Ziel fast immer zu spät, endlich aber erreichen sie es doch. Wer jung ist, ist glücklich; er wird noch schöne Dinge erleben.« Gibt man den letzten Worten eine falsche Betonung, so können sie in der Tat als Prophezeiung der Revolution gelten.

Da er in allem, was er sprach und schrieb, die Essenz seiner Zeit war, so hat er auch als Religionsphilosoph deren Platitüden geteilt. Er erblickt in Jesus einen »ländlichen Sokrates«, an dem er vor allem den Kampf gegen die Hierarchie schätzt, und in den Wundern, die ihm zugeschrieben werden, teils spätere Erfindungen, teils Täuschungen, die er sich erlaubte, um das abergläubische Volk für seine Lehre zu gewinnen: »Je genauer wir sein Benehmen betrachten, desto mehr überzeugen wir uns, daß er ein ehrlicher Schwärmer und guter Mensch war, der nur die Schwachheit hatte, von sich reden machen zu wollen.« Die Evangelienkritik gehört zu den wenigen Gebieten, wo Voltaire tatsächlich der Banalität seines biederen Biographen David Friedrich Strauß nahegekommen ist, der im übrigen von ihm so viel Ahnung hat wie ein Oberlehrer von einer Satansmesse. Im kürzesten Auszug hat Voltaire seine Weltanschauung in seiner »Profession de Foi des Théistes« mitgeteilt: »Wir verdammen den Atheismus, wir verabscheuen den Aberglauben, wir lieben Gott und das Menschengeschlecht.« Anfänglich neigte er auch dem leibnizischen Optimismus zu; aber nach dem Erdbeben von Lissabon, das zwei Drittel der Stadt zerstörte und dreißigtausend Menschen tötete, änderte er seine Meinung: in dem Gedicht »Le désastre de Lisbonne« polemisierte er gegen Popes Satz: »whatever is, is right« und sprach die bloße Hoffnung aus, daß eines Tages alles gut sein werde; wer aber glaube, daß schon heute alles gut sei, befinde sich in einer Illusion. Die Willensfreiheit hat er ebenfalls anfangs bejaht, später geleugnet; über die Unsterblichkeit hat er sich oft, aber schwankend und widersprechend geäußert. Die Existenz Gottes hat er an keiner einzigen Stelle seiner Schriften in Abrede gestellt, wohl aber seine Erkennbarkeit: »Die Philosophie zeigt uns wohl, daß es einen Gott gibt«, sagt er in seinem »Newton« und ähnlich an vielen anderen Orten, »aber sie ist außerstande, zu sagen, was er ist, warum er handelt, ob er in der Zeit und im Raum ist. Man müßte Gott selbst sein, um es zu wissen.« Sein berühmter Ausspruch »wenn Gott nicht existierte, so müßte man ihn erfinden« scheint eine skeptische Pointe zu enthalten, weil er fast immer falsch, nämlich halb zitiert wird; aber die zweite Hälfte des Satzes lautet: »mais toute la nature nous crie quil existe«.

Le jardin

Indes ist es bei einem so sensibeln und desultorischen Geist, der so sehr der künstlerischen Stimmung und dem persönlichen Eindruck jedes Augenblicks unterworfen war, sehr schwer zu sagen, was seine wahre Meinung über diese Dinge war. Und zudem ist alles, was er öffentlich geäußert hat, nur exoterische Lehre; in den Geheimkammern seines Hirns befanden sich möglicherweise ganz andere und viel radikalere Gedanken. Vielleicht ist sein wahres Glaubensbekenntnis in den Worten an die Marquise du Deffand enthalten, die er sechs Jahre vor seinem Tode schrieb: »Ich habe einen Mann gekannt, der fest überzeugt war, daß das Summen einer Biene nach ihrem Tode nicht fortdaure. Er meinte mit Epikur und Lukrez, daß es lächerlich sei, ein unausgedehntes Wesen vorauszusetzen, das ein ausgedehntes Wesen regiere, und noch dazu so schlecht. ... Er sagte, die Natur habe es so eingerichtet, daß wir mit dem Kopfe denken, wie wir mit den Füßen gehen. Er verglich uns mit einem musikalischen Instrument, das keinen Ton mehr gibt, wenn es zerbrochen ist. Er behauptete, es sei augenscheinlich, daß der Mensch, wie alle anderen Tiere, alle Pflanzen und vielleicht alle Wesen der Welt überhaupt, gemacht sei, um zu sein und nicht mehr zu sein. ... Auch pflegte dieser Mann, nachdem er so alt geworden war wie Demokrit, es ebenso zu machen wie Demokrit und über alles zu lachen.« Und schon neun Jahre früher, an der Schwelle seines achten Jahrzehnts, gab er seiner tiefen Resignation in einem Briefe an d'Argenson Ausdruck: »J'en reviens toujours à Candide: il faut finir par cultiver son jardin; tout le reste, exepté l'amitié, est bien peu de chose; et encore cultiver son jardin n'est pas grande chose.«

Cultiver son jardin: diesen Garten, den Voltaire gepflanzt hatte, immer dichter und üppiger zu bebauen, war das Pensum, das die sogenannte »Aufklärung« sich stellte und löste. Voltaire hielt es für eine kleine Sache, sie aber hielt es für eine große.

 


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