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Erstes Kapitel

Die Ouvertüre der Barocke

Wenn wir geboren werden, weinen wir,
Daß wir die große Narrenbühne Welt
Betreten müssen.
Lear

Während die Barockkultur sich anschickt, ihre ersten dunklen Blüten zu entfalten, sieht man in einem östlichen Winkel Mitteleuropas einen wilden Krieg aufflammen, der, an plötzlichen Zufällen entzündet und doch aus den tiefsten Untergründen der Zeitseele hervorbrechend, sogleich gierig weiter rast, sich unaufhaltsam in den halben Erdteil hineinfrißt und, launisch bald hier, bald dort emporlodernd, Städte, Wälder, Dörfer, Felder, Kronen, Weltanschauungen in Asche legt, schließlich aber nur noch seinem eigenen Gesetz gehorcht, indem er wahllos überallhin züngelt, wo er noch Nahrung vermutet, bis er eines Tages ebenso rätselhaft verlischt, wie er entbrannt war, als einzige große Veränderung nichts hinter sich lassend als eine ungeheure gespenstische Leere: zerbrochene Menschen, beraubte Erde, tote Heimstätten und eine entgötterte Welt.

Unter den vielen langen und sinnlosen Kriegen, von denen die Weltgeschichte zu berichten weiß, war der Dreißigjährige einer der längsten und sinnlosesten, wahrscheinlich gerade darum so lang, weil er so sinnlos war. Denn er hatte kein festumschriebenes Ziel, das zu erreichen oder zu verfehlen, keinen runden greifbaren »Zankapfel«, der zu gewinnen oder zu verlieren gewesen wäre. Es läßt sich überhaupt beobachten, daß zumeist nur verhältnismäßig kleine Kriege ein deutliches Streitobjekt und infolgedessen eine klare Entscheidung aufweisen. So handelte es sich, um nur einige Beispiele aus der jüngsten Geschichte zu nennen, im Jahr 1866 um die deutsche Hegemonie, im Jahr 1870 um die deutsche Einheit, im russisch-japanischen Krieg um Korea, im Balkankrieg um die europäische Türkei. Die großen, die sogenannten Weltkriege hatten aber in der Regel nur sehr allgemeine Intentionen wie »Vernichtung der Vorherrschaft« einer bestimmten Großmacht, »Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichts«, »Befreiung der Völker« und dergleichen; auch endeten sie fast immer als Remispartien: man denke an den Spanischen Erbfolgekrieg, den Siebenjährigen Krieg, die napoleonischen Kriege (und dies ließe sich sogar vom letzten Weltkrieg beweisen, was zu erörtern aber hier nicht der Ort ist). Derartige ungeheure Konvulsionen bedeuten, im Großen, aus der Ferne und von oben gesehen, nichts anderes als geheimnisvolle Vitalitätsäußerungen der menschlichen Gattung, die sich automatisch, vegetativ und ohne ersichtlichen »praktischen« Zweck vollziehen, nicht moralisch, nicht politisch, nicht logisch, sondern bloß physiologisch zu werten sind und »sinnlos« erscheinen wie alles, was über unsere Sinne geht. Es sind gigantische Stoffwechselphänomene unseres Weltkörpers, Elementarereignisse, an denen wir nur das Katastrophale zu erkennen vermögen, vielleicht großartige Selbstreinigungsvorgänge, vielleicht heilkräftige Fiebererscheinungen, vielleicht zyklische Krankheitsprozesse: wir wissen es nicht. Eine gewisse Periodizität kommt ihnen aber ganz zweifellos zu, und eine der Zukunft vorbehaltene Wissenschaft, nämlich die Biologie und Pathologie des Organismus »Menschheit«, deren Aufgabe es bilden wird, die Dynamik dieses mysteriösen Lebewesens auf Grund seiner bisherigen Entwicklungs- und Krankheitsgeschichte zu erforschen, wird hierüber wahrscheinlich einmal exakte Aufschlüsse geben können.

Das Unkraut

Zu dieser »Sinnlosigkeit«, die dem Dreißigjährigen Krieg mit den übrigen Riesen unter den Kriegen gemeinsam war, kam aber noch eine zweite Eigenschaft, die im besonderen Charakter der Zeit wurzelte: das eigentümlich Verfilzte, Verholzte, Wuchernde, Unkrauthafte aller Bildungen, die diese Periode, zumal in Deutschland, hervorgebracht hat. Einer der Grundzüge des Geschlechts, das damals lebte, war eine Verzwicktheit und Umständlichkeit, Direktionslosigkeit und Gedankenflucht, die ihresgleichen sucht: wir wissen bereits, daß eine derartige Chaotik und seelische Labilität in einem gewissen Grade das Merkmal aller Zeitalter bildet, in denen sich Neues vorbereitet. Trat hiezu nun noch die wüste Desperadoroheit und hemmungslose Amoralität, die der damaligen Generation ebenfalls in seltenem Maße eigen war, so war es ganz unvermeidlich, daß das schauerlich-groteske Monstrum dieses bestialischen, blindwütigen, endlosen und prinzipienlosen Krieges entstand, der ein Menschenalter lang fraß, um zu fressen, und nicht begreifen läßt, warum er anfing, warum er aufhörte und warum er überhaupt auf der Welt war.

Denn er hätte sich noch jahrelang, wenn auch immer armseliger und hungriger, fortschleppen können. Unendliche Verhandlungen gingen dem Friedensschluß voraus und ebenso unendliche hätten ihn noch hinausziehen können. Es war weder auf der schwedisch- französischen noch auf der kaiserlich-bayrischen Seite ein absolut zwingender Grund vorhanden, den Kampf einzustellen. Und daß er erst im Jahr 1618 ausbrach, war ebenfalls keine historische Notwendigkeit. Der Konflikt, den er zu entscheiden suchte und trotz so starker und langer Anspannung der Kräfte nicht im geringsten entschied, wurzelte in der Streitfrage, ob Deutschland ein katholisches oder ein protestantisches Land sein solle; und diese Streitfrage war hundert Jahre alt. Andrerseits aber bestand schon nach einem Jahr die Möglichkeit, die Fehde zu beenden. Matthias Thurn stand Anfang Juni 1619 mit einem starken Aufgebot in Wien, Ferdinand der Zweite hatte fast gar keine Truppen; die niederösterreichischen Stände hätten ihn ohne weiteres gefangennehmen und zum Frieden zwingen können. Aber eine so einfache, rasche und klare Lösung wäre ganz gegen die österreichischen und ganz gegen die Barockusancen gewesen. Im nächsten Jahre, nach der Schlacht am Weißen Berge, ist der Krieg wiederum zu Ende, diesmal zugunsten der kaiserlichen Partei. Die gesamten österreichischen Erblande leisteten, vollkommen niedergeworfen, Ferdinand den bedingungslosen Huldigungseid; die Union der protestantischen deutschen Fürsten löste sich auf. Aber mit diesem unerwarteten und restlosen Siege sich zufriedenzugeben, wäre ganz gegen die habsburgischen und die katholischen Usancen gewesen. Ferdinand trug den Krieg in die Pfalz und damit nach Deutschland; und nun gibt es binnen kurzem kaum ein europäisches Staatswesen, das sich nicht, mutwillig oder gezwungen, leidenschaftlich oder lässig, militärisch oder bloß finanziell und diplomatisch, dauernd oder sporadisch, an dem Kampf beteiligt: Polen, Schweden, Dänemark, Holland, England, Frankreich, Spanien, Italien werden nach und nach in den Wirbel hineingezogen. Gleichwohl ist nach Wallensteins Tod auf keiner Seite mehr ein Anlaß, den Krieg fortzuführen, alle Beteiligten sind erschöpft und saturiert zugleich. Aber obwohl er fast gar keine Lebenskraft mehr hat, kann er sich doch nicht entschließen, zu sterben, und so keucht er fast ebenso lange weiter, als er schon währte, immer asthmatischer, immer anämischer, eine vierzehnjährige Agonie. Als er endlich ausgerungen hat, ist im wesentlichen alles beim alten gebheben: Habsburg ist nicht aus seiner Vormachtstellung verdrängt, aber die Souveränität der deutschen Landesfürsten ist ebensowenig vermindert, ja erhöht; der Papismus hat nichts von seiner Machtfülle eingebüßt, aber die Gleichberechtigung der Evangelischen muß er aufs neue und noch entschiedener als bisher anerkennen; und fast ein jeder muß sich fragen: wofür haben wir diesen Krieg geführt und erlitten, während dieser dreißig langen Jahre alles geopfert, was zu opfern in unserer Macht stand? Manchem freilich hatte er noch immer nicht lange genug gedauert. Als General Wrangel die Nachricht vom Friedensschluß erhielt, bekam er einen Tobsuchtsanfall, schleuderte seinen Generalshut zu Boden, trat ihn mit Füßen und wies dem Unglücksboten unter Flüchen die Tür.

Kurz: was den Dreißigjährigen Krieg mehr charakterisiert als jeden anderen, ist seine Zufälligkeit. Alles war an ihm zufällig: seine Entstehung, sein Verlauf, seine Ausbreitung, sein Ende. Aber diese Zufälligkeit selber war nichts weniger als zufällig: sie floß aus der innersten Natur der Epoche, die seinen Namen trägt. Er war so lang und langstielig, so leer und lahm, so unzusammenhängend, geistverlassen und durch das bloße Gesetz der Trägheit weiterrollend wie die Reden und Carmina, Dokumente und Episteln, Allüren und Formalitäten jener Zeit. Er hatte, so paradox es klingen mag, trotz seiner gigantischen Maße und formidabeln Zerstörerkräfte etwas Amorphes, Asyndetisches, Anekdotisches.

»Die Helden«

Und in der Tat hat die Nachwelt bei allem Schauder, den sie noch nach Menschenaltern vor ihm empfand, ihn immer nur anekdotisch gesehen, ohne jemals zu einem wirklichen Verständnis seines Wesens zu gelangen; aus dem sehr einfachen Grunde, weil an ihm nichts zu verstehen ist. Der Dreißigjährige Krieg hat keine eigentliche Geschichte, er besteht nur aus einer Anzahl von Geschichten, die ein mehr oder weniger lückenhaftes Mosaik ergeben, aber kein komponiertes Gemälde. Was uns von ihm in der Hand geblieben ist, sind ein halbes Dutzend origineller Charakterköpfe, ein paar packende Kulturkuriosa und ein Haufen gruseliger Schreckensmärchen. Dies zeigt sich zum Beispiel gleich an der berühmtesten Einzelheit des Krieges, der Erstürmung Magdeburgs, die in Deutschland durch Schillers virtuose Schilderung jedermann vertraut geworden ist. Der brillante Schlachtkarton, den er entwirft, beruht auf einer Fiktion. Es ist nämlich durch neuere Forschungen sehr wahrscheinlich gemacht worden, daß der Brand nicht von den Soldaten Tillys gelegt wurde, sondern im Gegenteil das Werk des Leiters der Verteidigung war, des von Gustav Adolf entsendeten Hofmarschalls Dietrich von Falkenberg, der, als er sah, daß er die Stadt nicht mehr halten könne, mit Hilfe einer Schar evangelischer Fanatiker diese ungeheure Katastrophe hervorrief; übrigens war die Plünderung Mantuas, der zumeist gar keine Beachtung geschenkt wird, ein ebenso furchtbares Ereignis: sie hat aber keinen Homer gefunden. Indes: obgleich Schiller auch sonst mit ungenügendem oder dubiosem Material arbeitet und sogar oft selber ganz bewußt retouchiert, wird sein Bild des Dreißigjährigen Krieges doch immer eine hohe dichterische Wahrheit behalten. Und ebenso hat er im »Wallenstein« mit genialem Flair erkannt, daß das »Lager«, also wiederum die Anekdote, das Wesentliche und historisch Bedeutsame an diesem Kriege war. Hier haben wir den ganzen Hexenkessel beisammen mit allen seinen gefährlichen und kindischen, kostbaren und ekelhaften, schaurigen und lächerlichen Ingredienzien; bunt, roh und zynisch wie das Kostüm der Zeit ist diese zerklüftete Welt, in der sich alle Stände, Nationen und Lebensformen durcheinander mischten: Adel und Gemeinheit, Gottesstreitertum und Verbrecherwesen, Tollkühnheit und Krämersinn, Todesschauer und Galgenhumor. Und überall nur Genrefiguren und Chargenspieler, Köpfe, die bestenfalls ein Profil haben oder eine gute Maske; aber nirgends volle Menschen. Aus diesem fast unübersehbaren Aufgebot von Episodisten, Figuranten und Komparsen ragen nur zwei ernstliche Protagonisten hervor, die mit einiger Berechtigung als »Helden« des Dreißigjährigen Krieges bezeichnet werden können: der König von Schweden und der Herzog von Friedland.

Aber wie sonderbar verzerrt, befleckt und degradiert tritt uns die Gestalt des Helden in diesem unbegreiflichen Zeitalter entgegen! Nur die Führerrolle ist ihm geblieben: alle blicken auf ihn, alle folgen ihm willig, seiner höheren Einsicht und Übersicht, Tatkraft und Festigkeit vertrauend; aber er ist für sie alle nur ein Führer in Dunkel und Wirrnis, in Niederungen und Abgründe. Keine göttliche Idee lebt in ihm, auch keine irdische, überhaupt keine Idee. Keine edle Überzeugung treibt ihn manisch vorwärts, nicht einmal ein sublimes Vorurteil, ein frommer Irrtum. Er ist bloß klüger als die Herde, aber nicht weiser, bloß stärker als sie, aber nicht besser. Sein Himmelsglaube ist die Astrologie und sein Bibelglaube ist Politik.

Wallenstein

Als Staatsmänner waren Gustav Adolf und Wallenstein einander ebenbürtig, als Feldherr war der Schwedenkönig die größere Potenz, dafür war der Friedländer ein einzigartiger Organisator. Er besaß das Talent, in jener aus den Fugen gegangenen Zeit buchstäblich Armeen aus der Erde zu stampfen. Dies kann nicht allein sein Reichtum, seine Geschicklichkeit und sein militärisches Renommee bewirkt haben, sondern es muß noch eine geheimnisvolle Wirkung seiner Persönlichkeit hinzugekommen sein, die wir uns für die damalige Zeit gar nicht faszinierend genug vorstellen können. Das ruchlose, aber in seiner großzügigen Einfachheit unwiderstehliche Prinzip, daß der Krieg sich selbst ernähren müsse, hat erst er entdeckt und zur vollen Wirksamkeit gebracht. Auch sonst überrascht er nicht selten durch eine Klarheit und Gesundheit des Denkens, die seinem Zeitalter völlig fremd ist; aber er legitimiert sich andrerseits wiederum als Sohn seines Jahrhunderts durch die zögernde und tastende, abwägende und hinausschiebende, stets zwischen mehreren Chancen unsicher schwankende Art seiner Diplomatie und Kriegführung, die ihn keines seiner politischen Ziele ganz erreichen ließ, ihm mehr als einmal seine militärischen Erfolge schmälerte und schließlich zu seinem Untergang führte. Mit großem Scharfblick erkannte er gleich bei Beginn des Krieges den springenden Punkt, auf den alles ankam: der große Religionskampf mit all den innerpolitischen und territorialen Streitfragen, aus denen er stets neue Nahrung zog, konnte nur definitiv entschieden werden, wenn es der habsburgischen Dynastie gelang, einen vollkommenen Absolutismus aufzurichten, wie er in Frankreich und Spanien bereits bestand und in England das stehende Programm der Stuarts bildete: diesen auch in Deutschland mit allen verfügbaren Mitteln zu erzwingen, empfahl er immer wieder aufs nachdrücklichste, und hiebei hatte er sich allem Anschein nach die Rolle des Militärdiktators vorbehalten. Diese Stellung wäre etwa der eines Majordomus gleichgekommen und das eigentliche Zentrum der Macht gewesen, denn wer der Armee befahl, befahl Deutschland; aber eben aus diesem Grunde konnte Ferdinand der Zweite, der seinem Generalissimus vom ersten Tage an mißtraute, sich mit diesem Plan nicht befreunden; auch an dem Widerstand Maximilians von Bayern, des Hauptes der katholischen Liga, wäre er gescheitert. Später hatte dann Wallenstein die Absicht, sich als Herzog von Mecklenburg ein großes nordisches Fürstentum zu schaffen, wobei er weitblickend auch das Dominium über die Ostsee ins Auge faßte: hier kam ihm weniger der Kaiser als Gustav Adolf in die Quere. Dann dachte er an eine Allianz mit den Schweden, und es unterliegt keinem Zweifel, daß er darüber Verhandlungen geführt hat, obgleich schriftliche Dokumente aus naheliegenden Gründen nicht existieren; aber der »Schneekönig« traute ihm ebensowenig wie der Habsburger. Nach Lützen versuchte er dasselbe Spiel mit den evangelischen Reichsfürsten, wobei er vermutlich auf die böhmische Krone aspirierte. Dies wäre wahrscheinlich für ihn die passendste Lösung gewesen, denn in Böhmen hätte seine Herrschaft eine starke Tradition vorgefunden, hier besaß er nicht nur ausgedehnte Liegenschaften, sondern auch große Sympathien, und er hätte als Oberhaupt eines Tschechenreichs sicher eine vorzügliche Figur gemacht. Aber er griff nicht rasch genug zu, und über diesen Vorschlägen und Gegenvorschlägen, die von beiden Seiten ohne volle Aufrichtigkeit und unter steter Sicherung der Rückzugslinie geführt wurden, kam es zu seiner Ermordung. Daß sie mit sehr schlechtem Gewissen anbefohlen wurde, zeigt das nachherige Verhalten des Wiener Hofes, der alles tat, um die Schuld von sich abzuschieben. In allen erwähnten Fällen ist Wallenstein nicht wie ein kaiserlicher Beamter, sondern wie ein Potentat aufgetreten, der er auch war, denn in jener Zeit gab es unter Hunderten von Schein- und Titularsouveränitäten nur eine reelle: die des kriegsgewaltigen Kondottiere mit seiner Geld-, Truppen- und Talentmacht.

Gustav Adolf

Um die Gestalt Wallensteins liegt ein seltsam düsterer Glanz, der sie interessant und suggestiv macht, aber keine menschliche Teilnahme erweckt. Schon zu seinen Lebzeiten wuchs er ins Überlebensgroße. Man glaubte, er sei »kugelfest«, befehlige unsichtbare Reiterscharen und habe mit dem Teufel einen Pakt geschlossen. Zweifellos gehörte er in die Reihe jener diplomatisch-strategischen Ingenien von weitem Blickfeld und überragender Fähigkeit zur Synthese, an deren Spitze Napoleon steht. Aber sein eisiger Egoismus, seine finstere Herrschsucht, sein Mangel an jeglichen sozusagen privaten Eigenschaften bringt ihn zugleich mit unserer Sympathie um unser Verständnis. Man hat ihm daher mit Vorliebe Gustav Adolf gegenübergestellt: als die Kontrastfigur des sonnigen Helden aus Nordland, der segenspendend ans Land steigt, Duldung, Schutz und Befreiung auf der Spitze seines Schwertes tragend. Aber das ist eine protestantische Legende. In Wirklichkeit war er ein naher geistiger Blutsverwandter Wallensteins, ebenso gierzerfressen und selbstsüchtig, schlangenklug und kaltherzig.

Gustav Adolfs Glaube an die lutherische Lehre war zweifellos ebenso echt wie Wallensteins Glaube an die Astrologie; aber sowenig dieser den Sternen zuliebe seine Pläne ins Werk setzte, so wenig hätte jenen die evangelische Sache allein dazu vermocht, sich in den Krieg zu mengen. Vielmehr war für den einen die Bibel, was für den anderen das Horoskop war: ein Instrument der Politik. Was Wallenstein einmal vorübergehend ins Auge gefaßt hatte, war der permanente Leitgedanke Gustav Adolfs: die Herrschaft über die Ostsee. Er kam, um dem bedrängten Protestantismus gegen den Kaiser zu helfen; aber wie hätte er diese Hilfe zu einer dauernd wirksamen machen können, ohne sich bleibend in Deutschland festzusetzen? Die Reformation sollte über Rom siegen; das hieß, ins Schwedische übersetzt: Pommern, Preußen, halb Norddeutschland sollte an die Wasas fallen.

Sein Siegeslauf setzte ganz Europa in Staunen und Schrecken. Ein Jahr nach seiner Landung stand er schon in München. Diese Erfolge verdankte er zum Teil seinen Truppen, die ein wirkliches Nationalheer bildeten und nicht einen durch Raubsucht, Abenteuerlust und Aberglauben zusammengetriebenen Haufen wie die übrigen Armeen, in erster Linie aber seinem eigenen Genie. Fast alle Teile des Heerwesens hat er mit einem Scharfblick, der der Zeit weit vorauseilte, entscheidend reformiert: er verbesserte die Feuertechnik, indem er statt der umständlichen Hakenbüchsen leichte Handgewehre und statt der Holzpatronen Papierpatronen einführte, die man in der Tasche tragen konnte; die Taktik, indem er die Infanterie in drei Gliedern aufstellte: das vorderste kniete, das mittlere stand, das dritte lud; die Strategie, indem er seinen Truppeneinheiten eine erhöhte Manövrierfähigkeit verlieh und mitten in der Schlacht Schwenkungen ausführte, was damals für etwas Unerhörtes galt; und er machte, was das Wichtigste war, die Reiterei wieder zur dominierenden Waffe. Aber mit den Siegen steigerte sich auch sein Appetit, und es kann keinem Zweifel unterliegen, daß er am Ende seiner Laufbahn entschlossen war, sich nicht mehr mit einem norddeutschen Küstensaum zufrieden zu geben, sondern sich viel Höheres und Dauerhafteres zu sichern. Höchstwahrscheinlich dachte er an die deutsche Kaiserkrone und an das Herzogtum Bayern, das bei einem entscheidenden Sieg der protestantischen Partei dem katholischen Maximilian verlorengegangen wäre: hiefür ist sehr bezeichnend, daß er dem »Winterkönig« die Pfalz, die diesem vom Kaiser zugunsten Bayerns abgenommen worden war, bei ihrer Wiedereroberung nicht zurückgab. Es war daher kein Wunder, daß auch den Evangelischen vor ihrem Befreier allmählich bange wurde. Aber alle diese Pläne und Befürchtungen wurden bei Lützen unter kroatischen Pferdehufen zertrampelt. Darin war Gustav Adolf, dieser stahlharte nüchterne Realpolitiker, eben doch noch Romantiker, nordischer Seekönig, daß er, obgleich kurzsichtig und fettleibig, stets inmitten seiner Truppen den Kampf ausfocht und eines Tages im wildesten Getümmel wie ein gepanzerter Herzog aus dem grauen Mittelalter seinen Tod fand, spät genug, um die Welt seine überlegene Kraft kennen gelehrt zu haben, früh genug, um noch als reiner Schirmherr der Freiheit und des Glaubens in protestantische Lesebücher und Festspiele eingehen zu können.

Übertreibende Beurteilungen

Der »Große Krieg«, wie man ihn nannte, hat überhaupt die Nachwelt im Guten wie im Bösen immer wieder zu stilisierenden und übertreibenden Beurteilungen verlockt. Man gewöhnte sich daran, ihn durch ein Vergrößerungsglas zu sehen, und hat bis in die jüngste Zeit auch seine verheerenden Wirkungen sehr überschätzt, indem man sich dabei ausschließlich auf die zeitgenössischen Darstellungen stützte, ohne zu bedenken, daß diese durchwegs polemischen Charakter tragen und daher ebensowenig die natürliche Lebensgröße wiedergeben wie etwa heutige Schilderungen des weißen oder roten Regimes in den einzelnen Ländern und daß außerdem eine Sucht, alles zu verzerren, aufzublasen, ins Abstruse und Monströse zu steigern, zum Grundcharakter der Zeit gehörte. Auch das berühmteste Zeitdokument, Grimmelshausens »Simplizissimus«, hat nur den Wert eines ebenso groben wie starken Farbendrucks, einer phantastischen, obschon sehr eindrucksvollen Karikatur und macht von dem dichterischen Recht, die Dinge komprimierter zu geben als die Wirklichkeit, einen sehr naiven und ausschweifenden Gebrauch. Ferner vergaß man, daß diese Mißgeburt von Krieg eben überhaupt keine zusammenhängende Aktion darstellte, sondern ein amorphes Gemenge von einzelnen isolierten Kriegshandlungen und daher nur wenige Gegenden dauernd von ihm betroffen wurden, die meisten nur vorübergehend oder in großen Intervallen, manche gar nicht. Auch fehlte ihm jede Ähnlichkeit mit den heutigen Kriegen, deren Charakter die Anspannung aller verfügbaren Kräfte bis zum Äußersten ist. Von einer Heranziehung aller Landesteile, aller Volksschichten, aller physischen und materiellen Kampfmittel war nirgends die Rede. Eine Pflicht zum Waffentragen bestand nicht einmal für die Bürger belagerter Städte. Soldat war man nur, wenn es einem gefiel und solange es einem gefiel. Zur Armee ging man aus Beruf, aus Verkommenheit, aus Gewinnsucht, aus Ehrgeiz, aus Sport, und so bestand das Kriegsvolk im wesentlichen aus dreierlei Menschensorten: Professionals, Deklassierten und Sensationslustigen. Infolgedessen waren nach unseren Begriffen die Heere sehr klein, die Schlachten sehr kurz und von geringer Ausdehnung, auch infolge des zaudernden Charakters der ganzen Kriegführung nicht häufig. Während also die Formlosigkeit und Undiszipliniertheit des Zeitalters es zu einem »Weltkrieg« in unserem Sinne gar nicht kommen ließ, führte sie allerdings in Einzelfällen zu den empörendsten Ausschreitungen; doch darf man auch hier nicht glauben, daß Vorgänge, wie sie Grimmelshausen schildert, einfach die Regel waren. Wenn man sich erinnert, was für Geschichten über die Greueltaten der Russen in Polen und die »atrocités« der Deutschen in Belgien seinerzeit verbreitet waren und zum Teil noch heute geglaubt werden, so wird man auch hier die nötigen Reduktionen vornehmen.

Gleichwohl kann man sich den Zustand Deutschlands nach dem Krieg gar nicht desolat genug vorstellen. Aber wir haben es hier wiederum mit jener Verwechslung von Ursache und Wirkung zu tun, die uns im ersten Buch bereits einige Male begegnet ist. Nicht weil gegen Ausgang des Mittelalters Gewerbe und Handel emporblühten, entwickelte sich eine neue materielle Kultur, sondern weil damals eine Menschheit mit dieser Wirtschaftsgesinnung lebte, hob sich der internationale Verkehr, entstand die Geldwirtschaft, steigerte sich die Gütererzeugung. Nicht durch die Entdeckung Amerikas, die Buchdruckerkunst, die Reformation ist die »Neuzeit« entstanden, sondern weil um die Wende des fünfzehnten Jahrhunderts eine bestimmte Menschenvarietät, der »Mensch der Neuzeit«, die Bühne der Geschichte betrat, wurden die Küsten Westindiens erforscht, Bücher gedruckt, die Institutionen der römischen Kirche bekämpft. Und ebenso ist das deutsche Volk nicht durch den Dreißigjährigen Krieg heruntergebracht worden, sondern weil es so heruntergekommen war, entstand der Dreißigjährige Krieg.

Wirtschaftliche Deroute

Dies zeigt sich am deutlichsten auf dem wirtschaftlichen Gebiet. Deutschland verlor schon vor dem Krieg die Führung in der Tuchindustrie durch die überlegene Konkurrenz des Westens, vor allem Hollands, und während es im ganzen sechzehnten Jahrhundert der europäische Markt für die Luxuserzeugnisse des Kunstgewerbes gewesen war, wurde es nunmehr auch auf diesem Felde von den französischen Manufakturen überholt, mit denen es weder in der Mode noch in der Qualität gleichen Schritt halten konnte. Auch war der Mittelmeerhandel, für den Deutschland die natürliche Durchgangsstation nach Norden bildete, längst vom atlantischen Seeweg aus seiner dominierenden Stellung verdrängt worden, zum Teil durch die Verbesserung der Schiffahrt und die großen Entdeckungen, zum Teil aber auch durch Deutschlands eigene Schuld, denn die zahllosen Zollschranken mit ihren Schikanen und Erpressungen und die vielfachen Münzsorten machten den festländischen Handelsverkehr zu einer wahren Tortur. Besonders der letztere Umstand, der Mangel einer einheitlichen Geldwährung, führte zu einer Landplage, die Deutschland noch viel mehr geschädigt hat als der Krieg: dem in zahllosen zeitgenössischen Flugschriften beklagten Unwesen der »Kipper und Wipper«. Dies war der volkstümliche Spitzname für die Münzer und Geldwechsler, der damals ebenso oft und in ebenso schmeichelhaftem Sinne gebraucht wurde wie heutzutage das Wort »Schieber«; und diese Elemente machte man, gewiß nicht ohne einige Berechtigung, für das ganze Elend verantwortlich. Die Hauptschuldigen waren aber eigentlich die Landesherren. Diese hatten bald herausbekommen, daß der Mißstand der verschiedenen Währungen für sie einen großen Vorteil hatte, indem er ihnen ermöglichte, eigenes Geld von geringerem Feingehalt zum vollen Zwangskurs auszugeben: es war dies die damalige primitive Form, sich durch Staatsanleihen zu bereichern. Zuerst hatte die Bevölkerung gar nichts dagegen einzuwenden, denn das vollwertige alte Gold, wovon fast ein jeder Ersparnisse gesammelt hatte, stieg dadurch im Preise; aber im weiteren Verlaufe war die allgemeine Deroute unvermeidlich. Alsbald bemächtigten sich Schmuggel, Zwischenhandel, betrügerischer Tauschverkehr und andere unreelle Praktiken der Geldmanipulation; »leichtes« Geld auszugeben, gutes aufzukaufen wurde eine Spekulation, die dem heutigen Börsenspiel entsprach. Die Landesfürsten, in einen circulus vitiosus geraten (da auch sie jetzt ihre Steuern und Abgaben in ihrem eigenen schlechten Gelde bezahlt bekamen), griffen zu immer verzweifelteren Maßregeln; schließlich bestanden die Münzen nur noch aus versilbertem Kupfer oder noch wertloserem Material und waren zu reinen Rechenmarken geworden: es vollzog sich etwas Ähnliches wie in unseren Tagen, nur statt in Papier in Blech. Die Folge waren auch ganz analoge soziale Erscheinungen: plötzlicher Reichtum und ausschweifender Luxus der glücklichen Spekulanten, Not der Festbesoldeten und der geistigen Arbeiter, Verarmung der kleinen Sparer, rapide Entwertung aller Kapitalforderungen, endlose Streiks, wilde Tumulte.

Die »konstituierte Anarchie«

Den Ruin vollendete der Westfälische Friede, der Deutschland fast zu einem Binnenlande machte; denn nunmehr war beinahe keine große Strommündung mehr in deutschem Besitz: der Rhein holländisch, die Weichsel polnisch, Oder, Elbe, Weser schwedisch; um die Ostsee stritten Dänen, Schweden und Polen, um die Nordsee Franzosen, Holländer und Engländer: für Deutschland war nirgends Platz. Und zugleich verewigte dieser Friedensschluß den deutschen Partikularismus, indem er sämtlichen Reichsständen die superitas territorialis und damit das Recht zuerkannte, Bündnisse untereinander und mit auswärtigen Mächten zu schließen, »außer gegen Kaiser und Reich«, was aber eine bloße Formel war. Der schwedische Kanzler Oxenstierna, von dem der weise Ausspruch stammt: »An nescis, mi fili, quantilla prudentia regatur orbis?; aber weißt du denn nicht, mein Sohn, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird?«, scheint auch dieses bescheidene Quantum in der deutschen Verfassung vermißt zu haben, denn er bezeichnete sie als eine nur von der Vorsehung erhaltene Konfusion; noch deutlicher war zweihundert Jahre später Hegel, der sie eine »konstituierte Anarchie« nannte.

Das Ende des Mittelalters

Der Dreißigjährige Krieg, ursprünglich als »Glaubenskrieg« entbrannt. verliert schon während seines ersten Jahrzehnts den religiösen Charakter und politisiert sich während seines weiteren Verlaufs immer mehr. Wie wir gesehen haben, war das Hauptmotiv für das Eingreifen Gustav Adolfs keineswegs konfessionelle Parteinahme: er trieb schwedische Großmachtpolitik und wandte sich gegen die kaiserliche Partei vor allem auch deshalb, weil sie seine Erbfeinde, die Polen, und deren Prätensionen auf den Thron der Wasas unterstützte; außerdem beunruhigten ihn die Pläne Wallensteins, der vom Kaiser zum General des Baltischen Meeres ernannt worden war und alles daransetzte, aus diesem Titel eine Wirklichkeit zu machen. Und dieser selbst hat während seiner ganzen Laufbahn nicht einen Augenblick an die katholische Sache gedacht. Nach der zweiten Schlacht bei Leipzig hindert der protestantische König von Dänemark die Schweden durch seine drohende Haltung an der Ausnützung ihrer Siege. Im Frieden von Prag, der etwa in die Mitte des Krieges fällt, tritt die lutherische Vormacht Kursachen zu den Kaiserlichen über. Und der nun anhebende letzte Abschnitt steht gänzlich unter dem Einfluß Frankreichs, das durch protestantische Fürsten und Feldherren den Krieg gegen die katholische Partei fortsetzt. Das Haupt und der Kopf dieser Politik war ein Kardinal der römischen Kirche, der große Richelieu, der damit das Testament Heinrichs des Vierten vollstreckte, des allerchristlichsten Königs von Frankreich. Nach seinem Tode wurde sein Lebenswerk von Mazarin fortgesetzt und vollendet, der ebenfalls römischer Kardinal war. Nur Ferdinand der Zweite kämpfte für seine »Generalissima«, die Muttergottes; und sein Jugendfreund Maximilian von Bayern war ebenfalls ein papistischer Glaubensstreiter. Aber das Leben schritt über sie hinweg, und schließlich hatte jedermann vergessen, woraus der Krieg entsprungen war: Katholiken kämpften im schwedischen, Protestanten im kaiserlichen Heere. So erwies sich das Gesetz der Zeit stärker als beide Parteien: jener Wille zur Säkularisation aller menschlichen Betätigungen und Beziehungen, den wir als das Wesen der Reformation erkannt haben, ergreift auch die katholische Welt. Und während noch im sechzehnten Jahrhundert konfessionelle Überzeugungen und Leidenschaften in der Seele der Menschen eine solche Alleinherrschaft innehatten, daß sie alle nationalen, sozialen, patriotischen Erwägungen und Gefühle verdrängten, ereignet sich nun genau das Umgekehrte: ganz Europa ist völlig politisiert, säkularisiert, rationalisiert. Das Mittelalter ist zu Ende.

Die Vorbarocke

Der erste Abschnitt der eigentlichen Neuzeit, der demnach etwa gleichzeitig mit dem Dreißigjährigen Krieg einsetzt, reicht ungefähr bis zum Jahre 1660 und läßt sich als eine Art »Vorbarocke« bezeichnen: das neue Weltbild tritt in teils noch allzu groben, teils noch allzu blassen Zügen langsam ins Blickfeld. Es ist eine Ära der Vorbereitung, in der gleichsam der provisorische Entwurf, die erste Skizze, das Brouillon des Barockmenschen konzipiert wird. Der Anfang der sechziger Jahre macht hier eine ziemlich deutliche Zäsur. Nach dem Tode Cromwells erfolgt 1660 die Restauration der Stuarts; nach dem Tode Mazarins gelangt 1661 Ludwig der Vierzehnte zur selbständigen Regierung. 1660 stirbt Velasquez, 1662 Pascal. Diese vier Daten, um die sich zahlreiche zweiten Ranges von ähnlicher Bedeutung gruppieren, schließen eine geschichtliche Etappe ab und eröffnen eine neue.

Die Staatsraison

Der politische Zentralbegriff dieses Zeitraums, in dem der Absolutismus heranreift, ist die Staatsraison, die ratio status, von der der deutsche Satiriker Moscherosch sagt: »Ratio status ist ihrem Ursprünge nach ein herrlich, trefflich und göttlich Ding. Aber was kann der Teufel nicht tun? Der hat sich auch zur Ratio status gesellt und dieselbe also verkehrt, daß sie nun nichts mehr als die größte Schelmerei von der Welt ist, daß ein Regent, der rationem status in Acht nimmt, unter derselben Namen frei tun mag, was ihm gelüstet.« Und in einer anderen zeitgenössischen Schrift heißt es: »Es ist ein Augenpulver oder Staub, welchen die Regenten den Untertanen in die Augen sprengen; es ist eins der vornehmsten Kunststücklein, den Pöbel in Ruhe zu halten.« Die führende politische Person wird der allmächtige Staatsminister mit seinen allwissenden Gesandten und Sekretären, der mit allen Ränken, Finten und Finessen der Geheimdiplomatie vertraut ist; an die Stelle des Hoftheologen tritt der Hofjurist, während jener, soweit ihm noch ein bestimmender Einfluß geblieben ist, sich durch besonders gehässige Intoleranz hervortut, und zwar am stärksten im lutherischen Lager und mit gleicher Erbitterung gegen die helvetische und die römische Lehre. Der kursächsische Hofprediger von Hohenegg zum Beispiel äußerte, für die Calvinisten die Waffen ergreifen sei nichts anderes als dem Urheber des Calvinismus, nämlich dem Teufel, Reiterdienste tun; wer nur in der geringsten Einzelheit vom Augsburger Bekenntnis abwich, hieß Synkretist, die furchtbarste Beschimpfung in den Augen der strengen Lutheraner; selbst ein Mann von so echter und persönlicher Frömmigkeit wie Paulus Gerhardt sagte: »Ich kann die Calvinisten quatales nicht für Christen halten«; kurz, es war der Zustand, den Karl von Hase in seiner prachtvollen Kirchengeschichte mit den Worten charakterisiert: »Bei aller Subtilität dachte man doch eigentlich Gott als einen großen lutherischen Pastor, der zur Rettung seiner Ehre mit Fäusten dreinschlägt.« Nur Angelus Silesius, ursprünglich ebenfalls Protestant, später Katholik, macht eine Ausnahme: in seinem »Cherubinischen Wandersmann« entfaltet die deutsche Mystik noch einmal ihre ganze Tiefe und Schöpferkraft. Und sogar dieser reine und starke Geist, der gedichtet hat: »Wer saget, daß sich Gott vom Sünder abewendt, der gibet klar an Tag, daß er Gott noch nicht kennt«, hat in seinen letzten Lebensjahren die Welt mit zelotischen Schriften überschwemmt, worin er den Protestantismus mit demselben engen und harten Fanatismus verfolgte, der diesen so tief herabgewürdigt hatte.

Damals erhielt das Wort »politisch« jenen Nebensinn von versiert, gerieben, diplomatisch, weitläufig, den es noch heutigentags in der Volkssprache besitzt. Ein »politischer Kopf«: das war einer, der sich darauf verstand, alle Mitmenschen geschickt zu behandeln und zu gebrauchen, alles pfiffig zu seinem Vorteil zu wenden, sich in alle Verhältnisse charakterlos einzuschmeicheln, kurz, jene Gaben zur Geltung zu bringen, mit denen man in der Welt zu allen Zeiten Karriere zu machen pflegte. Unter »Politesse« hinwiederum verstand man die Kunst der abgeschliffenen Manieren, des schmiegsamen Verkehrs, der flüssigen Konversation: ebenfalls lauter Mittel, in den höheren Kreisen vorwärtszukommen. Auch einige andere Worte erhalten in bezeichnender Weise einen neuen Sinn: was allen gemein ist, nennt man nun gemein; als gesittet gilt, wer sich höflich, hofmäßig benimmt; schlecht, bisher gleichbedeutend mit schlicht, gerade, heißt jetzt so viel wie gering.

Germanische und romanische Kultur

Obgleich sich die damaligen Menschen auf ihre gesellschaftlichen Formen und Fertigkeiten besonders viel zugute taten, war doch das deutsche Leben niemals loser, lockerer, unbeherrschter als gerade zu jener Zeit. Eine wirkliche Gesellschaft, wie sie die romanischen Völker fast immer besaßen, hat ja in den germanischen Ländern niemals bestanden, und am wenigsten in Deutschland. Niemals gab es auf deutschem Boden einen allgemeinen Schönheitsstil des öffentlichen Lebens, eine allgemeine Kunst des Betragens, der Urbanität, der Unterhaltung, eine allgemeine Reinheit und Gefälligkeit der Rede, der Schrift, des Geschmacks. Dieser vielgerühmte Vorzug der Romanen hat jedoch auch seine Schattenseiten: er ist begründet in einem Mangel an innerer Freiheit und Individualität. Hohe Gesamtkultur setzt annähernde Gleichförmigkeit der Menschen voraus, nämlich den gemeinsamen Willen, sich auch im Geistigen gewissen Konventionen, Traditionen, Gesetzbüchern, Reglements zu unterwerfen. Hieraus ergibt sich nun ein bemerkenswerter Gegensatz zwischen den germanischen und den romanischen Kulturen. In Italien, in Spanien, in Frankreich herrscht ein höherer Kollektivgeist und dementsprechend gibt es dort kaum die Erscheinung des verkannten Genies; aber dafür sehen wir das Genie dort nicht so oft über die ganze Menschheit hinausragen wie in England, Deutschland, Skandinavien. Diese Länder besitzen ein tieferes Gesamtniveau, ihre großen Geister werden überaus langsam, nicht selten erst nach ihrem Tode begriffen; aber Erscheinungen von allerhöchstem Range wird man auf romanischem Boden weniger häufig begegnen. Und ebenso schwer wird sich dort ein Großer finden lassen, der auf sein eigenes Volk herabgeblickt, sich in seinem Vaterlande wie im Exil gefühlt und seine Versteher im Ausland gesucht hätte, was aber bei den germanischen Genies fast die Regel ist: man denke an Friedrich den Großen, Schopenhauer, Nietzsche, Händel, Beethoven, Strindberg, Ibsen, Shaw, Byron und viele andere. Dante blieb auch verbannt sein Leben lang Florentiner, Voltaire blickte Tag und Nacht aus seinem Schweizer Asyl sehnsüchtig nach Frankreich, Descartes hat in seiner freigewählten »holländischen Einsiedelei« immer nur für seine Pariser Freunde meditiert, Victor Hugo hat auf Guernsey nur für Frankreich und über Frankreich geschrieben, und überhaupt niemals wäre irgendein italienischer, spanischer, französischer Künstler oder Denker auf den für ihn wahnwitzigen Gedanken gekommen, für etwas anderes leben und schaffen zu wollen als für sein Land, seine Hauptstadt, sein Volk, seine Kultur. Dies alles kommt aber eben daher, daß, wie wir schon im Abschnitt über die italienische Renaissance hervorgehoben haben, bei den Romanen der große Mann der zusammengefaßte Ausdruck, die Essenz seines Volkes ist, bei den Germanen aber nicht. Wie aber in Natur und Geschichte nach dem großen Gesetz der Aktion und Reaktion scheinbare Schädigungen und Attacken immer wieder ausgeglichen, ja überkompensiert werden, so steigert sich auch in diesem Falle das Genie bisweilen gerade durch den stumpfen oder aggressiven Widerstand der Umwelt zu Kraftleistungen, die es sonst nirgends erreicht. In Descartes, Calderon, Balzac, Verdi kulminiert die Rasse, in Kant, Shakespeare, Goethe, Beethoven die Menschheit.

Das »alamodische Wesen«

Es versteht sich von selbst, daß in jener sterilsten Periode, die Deutschland erlebt hat, alle entscheidenden Anregungen in Literatur, Kunst, Luxus, Sitte vom Ausland kamen. Das Ideal der Zeit war der homme du monde, auch homme de cour, honnête homme, monsicur à la mode genannt. Man bezeichnete daher das ganze Treiben mit Vorliebe als »alamodisches Wesen«. Der stärkste fremdländische Einfluß kam aber damals noch nicht von Frankreich, sondern von Holland: die »Kavaliertour« ins Ausland, die für jeden, der mitreden wollte, unerläßlich war, ging zumeist nach den Niederlanden. Andrerseits klagt schon Moscherosch sehr drastisch über die allgemeine Französierung: »O ihr mehr als unvernünftigen Nachkömmlinge! Welches unvernünftige Tier ist doch, das, um andern zu gefallen, seine Sprache und Stimme änderte? Hast du je eine Katze, dem Hunde zu gefallen, bellen, einen Hund der Katze zu Lieb mauchzen hören? Nun sind wahrhaftig in ihrer Natur ein teutsches festes Gemüt und ein schlüpfriger welscher Sinn anders nicht als Hund und Katze gegen einander geartet und gleichwohl wollet ihr, unverständiger als die Tiere, ihnen wider allen Dank nacharten? Hast du je einen Vogel blärren, eine Kuh pfeifen hören?« Die Briefsprache der Adeligen ist bereits durchwegs französisch. Und von Adel war eigentlich jedermann. Denn es war ungemein leicht, sich den Adelstitel zu verschaffen, entweder durch Kauf oder durch Verdienste um irgendeinen kleinen Duodezfürsten. Dieser »Briefadel«, der vom Uradel ebenso heftig wie erfolglos angefochten wurde, umfaßte schließlich alle oberen Zehntausend: von hier datiert die in Österreich bis in unsere Tage festgehaltene Sitte, jeden gutangezogenen Menschen mit »Herr von« anzureden; noch weiter ging man in Italien, wo man jeden Angehörigen der besseren Gesellschaft zum Marchese beförderte. In diesem Streben nach äußerer Nobilitierung bei fortdauernder innerer Vulgarität kündigt sich der Servilismus an, der bald zur hervorstechenden Signatur des sozialen Lebens werden sollte. Die »Reputation«, die »Honnêteté« gilt nunmehr als alleiniger Wertmesser, und ihre Reversseite ist die »Fuchsschwänzerei«, das Kriechen vor dem Hof, der Bürokratie und jedem, der eine Staffel höher steht. Die Kunst des artigen Benehmens und der wohlgesetzten Rede lehrten ganz grob und mechanisch die »Komplimentierbücher«, und was die Franzosen schon damals leicht, anmutig und natürlich trafen, suchte man in Deutschland auf eine sehr plumpe, philiströse und abgeschmackte Weise nachzuahmen. Vor allem huldigt jedermann einem affektierten und in dieser Winkelwelt höchst deplaciert wirkenden Aristokratismus. Das Degentragen wird allgemein: als man es den Studenten in Jena verbot, machten sie den Witz, sich die Degen auf Karren nachfahren zu lassen. Für besonders vornehm galt auch der möglichst häufige Gebrauch des Zahnstochers.

Die Konversation war trotz allen diesen Edukationsmitteln höchst trocken und langweilig; in größeren Gesellschaften herrschte die geistlose Methode, ein bestimmtes Thema aufzuwerfen und jeden der Reihe nach seine Ansicht sagen zu lassen; Rede und Gegenrede bestanden zumeist im Austausch einstudierter hochtrabender Redensarten, bei denen niemand etwas dachte oder empfand. Lernte ein Jüngling ein Mädchen kennen, so war sie sogleich eine Pallas Athene, anbetungswürdige Göttin und »hochtugendselige Nymphe«; bei der Verlobung gehörte es zum guten Ton, daß beide Teile einander in endlosen stereotypen Phrasen versicherten, daß sie dieser Ehre nicht würdig seien. Unter diesem betonten Formalismus gewannen die geringfügigsten Umstände eine ungeheure Wichtigkeit. Ein großes Problem war es, ob man einem bestimmten Gast ein Taburett oder einen Fauteuil zum Sitzen anbieten solle, jahrelang wurde darüber gestritten, ob die Kutschen der höheren Gesandten, auch wenn sie leer seien, den Vorrang vor denen der niederen Gesandten hätten, wenn diese in persona darin säßen, und endlose Debatten erfüllten den Reichstag, als die fürstlichen Gesandten den kurfürstlichen das Recht bestritten, als einzige ihre Stühle auf den Teppich des Konferenzsaals zu stellen, bis schließlich entschieden wurde, daß es ihnen gestattet sein solle, wenigstens die Vorderfüße ihrer Sessel auf die Fransen des Teppichs zu setzen. Schon in der merkwürdig verschnörkelten, wie aus lauter Initialen zusammengesetzten Schrift zeigt sich der Charakter der Zeit, ebenso in den Adressen und Briefköpfen: die einfache Anrede »Herr« genügte nicht mehr, man schrieb: »dem hochwohlgeborenen Herrn Herrn«, und die offizielle Adresse des Reichskammergerichts zu Wetzlar lautete: »Denen hoch- und wohlgeborenen, edlen, festen und wohlgelahrten, dann respektiven hochgebornen, hoch- und wohledelgebornen, respektive Ihro kaiserlichen und königlichen katholischen Majestät verordneten wirklichen geheimen Räten, dann des löblich kaiserlichen und Reichskammergerichts zu Wetzlar fachverordneten Kammer-Richter-Präsidenten und Beisitzern, unseren besonders lieben Herren und lieben Besondern, dann hochgeehrtest auch respektive freundlich vielgeliebten und hochgeehrten Herren Vettern, dann hoch- und vielgeehrten wie auch weiteres respektive insonders hochgeneigt und hochgeehrtesten Herren.« Die Freude am Fremdklingenden und Aufgedonnerten zeigt sich auch in der Latinisierung der Namen, die, früher nur von den Humanisten geübt, jetzt allgemeine Mode wird. »Es will keiner mehr Roßkopf heißen, sondern Hippocephalus, nicht Schütz, sondern Sagittarius«, sagt Moscherosch, und damals sind jene vielen Textor, Molitor, Faber, Sartorius entstanden, die ursprünglich ganz schlicht Weber, Müller, Schmidt und Schneider hießen.

Der Trompeter von Säckingen

Auf das Kostüm hat zunächst natürlich der Krieg eingewirkt. Die spanische Tracht, deren gepreßte Steifheit wir im vorigen Buche kennengelernt haben, war für Soldaten unbrauchbar; da aber in jener Zeit überhaupt das Militär den Ton angab, so wurde die Kleidung allgemein bequemer, handfester, kriegerischer: man trägt weite sackartige Hosen, hohe sporenklirrende Kanonenstiefel, mächtige Stulpenhandschuhe, große herausfordernde Filzhüte mit wippender Feder und breiter, auf einer Seite aufgeschlagener Krempe, flache weiße Umlegkragen und den Degen im rasselnden metallbesetzten Bandelier: es ist im wesentlichen das Kostüm, das noch heute die Chargierten der Studentenverbindungen bei festlichen Anlässen anzulegen pflegen, außerdem jedermann bekannt aus den billigen und süßen Buntdrucken, die die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in Form von Romanen und Opern produziert haben und deren berühmtestes Exemplar wohl Neßlers »Trompeter von Säckingen« sein dürfte. Es ist bemerkenswert, wie es die verklärende Macht des historischen Rückblicks hier verstanden hat, eine der rohesten, poesielosesten und banalsten Kulturperioden mit dem Schimmer der Romantik zu umkleiden.

Das Haar, das infolge der spanischen »Mühlsteinkrause« notgedrungen kurz war, trägt man nun wieder in langen freien Locken, den Schnurrbart hochgezwirbelt und dazu anfangs noch den Knebelbart, der aber im Laufe des Krieges aus der Mode kommt. Auch hier ist der entscheidende Gesichtspunkt das Provokante, Schneidige, Martialische; um diese Wirkung möglichst vollkommen zu erreichen, bediente man sich schon damals der Schnurrbartbinden und dunkler Färbemittel, die den drohenden finsteren Eindruck unterstreichen sollten: das Ideal ist, mit einem Wort, der Bramarbas, der aber sehr bald zur lächerlichen Figur wird, von Gryphius im »Horribiliscribifax« nicht ohne einen gewissen schleppenden Humor geschildert, in der französischen Literatur durch die Figur des capitaine Rodomont verewigt, dessen Geburtsort nach Spanien, dem Lande der größten Renommisten und Scharfmacher, verlegt ist, und schließlich der commedia dell'arte als die stehende Maske des capitano einverleibt, dessen Aussehen und Wesen die genaue Karikatur des damaligen Typus ist: er hat einen Bart wie ein Luchs, einen riesigen Stoßdegen, handgroße Sporen und einen schreckenerregenden Federhut und spricht ununterbrochen von Krieg, Duellen, verführten Weibern und abgehauenen Gliedmaßen; in Wirklichkeit interessiert er sich aber nur für Küchengerüche und Weinflaschen und macht sich bei dem geringsten verdächtigen Geräusch aus dem Staube.

Die Damen trugen Korsetts mit Stahlschienen, verzichteten aber auf den Reifrock, der einem weiten faltenreichen Schoß weicht: dafür wurde es Mode, mehrere verschiedenfarbige Unterröcke übereinander zu tragen. Das Haar wurde ähnlich wie das männliche getragen, nur in Lockenbündel geteilt und rechts und links über die Ohren fallend. Übrigens wechselte die Frisur in ihren Einzelheiten, in der Anordnung der Stirn- und Schläfenlöckchen und des Scheitels, ungemein rasch, und ebenso die Barttracht der Männer: der Schnurrbart ist zuerst mächtig und ausladend, später nur eine dunkle Linie auf der Oberlippe, schließlich besteht er bloß aus zwei Punkten rechts und links von der Nase. Die Gestalt des Huts änderte sich fast alle Vierteljahre; er sieht abwechselnd aus wie ein Buttertopf, ein Holländerkäse, ein Zuckerhut, ein Kardinalshut. Auch die Farben sind großen Wandlungen unterworfen: anfangs werden die starken und lärmenden bevorzugt, später die zarten und gebrochenen wie bleu-mourant und Isabelle. Eine ebenso große Vielfältigkeit zeigten die Knöpfe, Tressen und Rosetten in ihren oft abenteuerlichen und aufdringlichen Formen und die reichen Spitzeneinfassungen am Kragen und an den Stiefelschäften.

Tabak und Kartoffel

Zwei andere Modeartikel, wenn man sie so nennen kann, fanden damals in Deutschland ebenfalls Verbreitung: der Tabak und die Kartoffel. Die »Tartuffelfrucht«, von der man zuerst glaubte, das Eßbare an ihr sei die Samenkapsel, wurde von Walter Raleigh nach Irland gebracht, wo sie zuerst wenig Beachtung fand, später aber das bevorzugte und leider nicht selten alleinige Volksnahrungsmittel wurde. In Frankreich galt sie lange Zeit nur als Leckerbissen, was sie ja auch tatsächlich ist. In Deutschland bürgerte sie sich durch die Not des Krieges rascher und widerstandsloser ein als anderwärts, und seither ist sie infolge ihrer Nahrhaftigkeit (obgleich sie bei ihrem relativ großen Stärkegehalt fast gar kein Eiweiß besitzt und daher nur als Zusatzgericht in Betracht kommt), ihres leichten Anbaus und ihrer unerschöpflichen Küchenverwendbarkeit die Lieblingsspeise des Deutschen geworden, die für ihn dieselbe Bedeutung hat wie die Feige für den Kleinasiaten, der Reis für den Japaner und die Tomate für den Italiener. Das »Tabakessen«, wie man das Kauen, das »Tabaktrinken«, wie man das Rauchen damals nannte, und das Schnupfen, das als die feinste Form des Tabakgenusses galt, gelangte von England über Holland und Frankreich nach Deutschland, wo die Pfeife bald zum unentbehrlichen Inventarstück des Soldaten, Studenten und Stutzers wurde und selbst von den Damen geschätzt zu werden begann. Natürlich bemächtigten sich sogleich die Satiriker in ihrer groben und salzlosen Art des aktuellen Themas, während die Ärzte die Krankheiten, die Prediger die Höllenstrafen schilderten, die die neue Unsitte im Gefolge habe; mit dem Erfolg, den solche Warnungen vor modischen Vergnügungen zu allen Zeiten gehabt haben. Urban der Achte erließ gegen das Schnupfen sogar eine Bulle, und in Rußland kam man auf den liebenswürdigen Gedanken, es dadurch zu verhindern, daß man seinen Anhängern die Nase abschnitt. Aber schon während der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gab es in Europa Tabakkulturen und allenthalben »Tabagien«, besondere Lokale, wo man alle nötigen Einrichtungen vorfand, mit deren Hilfe man das begehrte Kraut ungestört essen, trinken und wieder von sich geben konnte. Und sehr bald versöhnte sich auch der strenge Absolutismus mit dem neuen Höllenlieferanten, indem er ihn durch Steuern und Monopole zu einer sehr ergiebigen Finanzquelle machte.

Die Poeterey

Ungehobelt und verschnörkelt, lärmend und koloriert, eine Mischung aus Roheit und Geziertheit ist auch die Literatur jener Periode. Zur Reinigung der Sprache von den zahlreichen spanischen, italienischen und französischen Brocken wurden zwei große literarische Vereine gegründet: 1617 die Fruchtbringende Gesellschaft oder der Palmenorden, 1644 die Pegnitzschäfer oder der Gekrönte Blumenorden; aus dem Kreise des letzteren ging der berühmte Nürnberger Trichter hervor: »Poetischer Trichter, die Teutsche Dicht- und Reimkunst in sechs Stunden einzugießen.« Aber der Purismus, den diese Reformer so eifrig betrieben, war nichts als gewendete Kauderwelscherei. Der rabiateste von ihnen, Philipp von Zesen, begnügte sich nicht damit, alle Fremdwörter zu exkommunizieren, sondern wollte auch den griechischen Göttern nicht ihre ehrlichen Namen lassen, indem er Pallas in Kluginne, Venus in Lustinne, Vulkan in Glutfang verdeutschte, und duldete nicht einmal gute deutsche Lehnwörter, indem er Fenster in Tageleuchter, Natur in Zeugemutter und sogar Kloster in Jungfernzwinger übersetzte: eine besonders grausame Maßregel, durch die die ohnehin schon durch ihre Lehnwortbenennung kompromittierten Mönche auf die Straße gesetzt werden.

Die Poesie ist von einer gedankenlosen und kunstlosen Bildermechanik beherrscht; sie wird zu einer Art kindischem primitiven Mosaik- und Legespiel. Es bildete sich nämlich eine Dichterei heraus, die für jede Vorstellung eine bestimmte Vokabel als die »poetische« einsetzt und zu jedem Substantivum ebenso automatisch bestimmte Beiwörter als die »schmückenden« hinzutut: eine nur fürs Auge berechnete, konventionelle und äußerliche, leere und gefallsüchtige, im toten Arrangement von Farben, Finessen und Falten aufgehende Wortschneiderei. Die Reimpaare Hans Sachsens und der Meistersinger, für den damaligen noch wenig differenzierten Seelenzustand eine sehr adäquate Ausdrucksform, werden verpönt und als »Knüttelverse« verhöhnt; der französische Alexandriner, im Deutschen ganz unmöglich, stelzt und stolziert wie ein klappernder Storch daher. Die hölzerne Gravität und Wichtigtuerei, verbunden mit der Sucht, durch Überschwang und gemachte Exaltiertheit um jeden Preis Eindruck zu erwecken, hat zur Folge, daß die Produkte jener Zeit für uns großenteils zur humoristischen Literatur gehören. Bei Lohenstein schildert zum Beispiel der Held seine Gemütsverfassung in folgendem Monolog:

O hätte je mein Blut des Sinans Durst gestillet! O hätt' ich meine Seel' im Würgen ausgebillet! O war' ein gifftig Pfeil durch Lung und Herz geschlippt! O hätt' ein Persisch Beil mir Hals und Stirn zerkippt!

und einer der Pegnitzschäfer besingt den Frühling mit den poetischen Versen:

Im Lentzen da glänzen die blumigen Auen, Es grünet das Feld, Es lachet die Welt, Der Gärtner löst Geld.

Eine allenthalben aufgeklebte Gelehrsamkeit erhöht noch diese skurrile Wirkung und nimmt der Dichtung den letzten Rest von Ursprünglichkeit. Gryphius nennt daher die einzelnen Teile seiner Theaterstücke mit Recht »Abhandlungen«. Er war ein Nachahmer Senecas, der selber schon ein kalter akademischer Epigone war, und von diesem hat er, wie die ganze Dramatik seiner Zeit, den Hang für das Ungeheuerliche und Gräßliche, den rohen Zirkuseffekt. In den »Mordspektakeln«, die, wie schon der Titel sagt, nichts waren als eine Aneinanderreihung von wüsten und absurden Blutszenen, ist der banausische Realismus auf die Spitze getrieben. Wenn der Held sich umbringen mußte, so rannte er zu diesem Zweck mit Vorliebe den Kopf gegen die Wand, weil das am greulichsten war, wozu die Regiebemerkung zu lauten pflegte: »Er fellt in Verzweiflung, laufft mit dem Kopf an die Wand, daß das Blut unter dem Hut herfür dringet, welches mit einer Blase wohl gemacht werden kan.« Von Mars wird verlangt, er solle auftreten »herausbrausend mit Trommelschall und Büchsenknall, mit einem blutigen Degen in der Faust, brüllend und das Maul voll Tabakrauch, den er herausbläset«. Vossius, einer der berühmtesten holländischen Gelehrten, der in allen Fragen der Kunst und Wissenschaft für ein Orakel galt, schlug sogar vor, man solle in der Tragödie wirkliche Verbrecher hinrichten lassen. Die Komödie beherrschte der »Pickelhering«, der niederländische Ableger des englischen Clowns und Vorläufer des deutschen Hans Wurst, durch ein stehendes Repertoire ebenso alberner wie ordinärer Späße, die ihren Höhepunkt erreichten, wenn er die Hosen verlor. Im übrigen behandelte die Komödie nach Opitzens Einteilung »schlechtes Wesen und Personen, Hochzeiten, Gastgebote, Spiele, Betrug und Schalkheit der Knechte, ruhmrätige Landsknechte, Buhlersachen, Leichtfertigkeit der Jugend, Geitz des Alters, Kupplerey und solche Sachen, die täglich unter gemeinen Leuten vorlaufen«, während die Tragödie »Totschläge, Verzweiffelungen, Kinds- und Vatermorde, Brand, Blutschande, Krieg, Aufruhr, Klagen, Heulen, Seufzen« zum Inhalt hatte.

Dieser Opitz, schon deshalb allgemein verhaßt, weil mit ihm auf der Schule die Tortur der Jahreszahlen und Büchertitel anhebt, von seinen Zeitgenossen als princeps poetarum Germaniae gefeiert, war in der Tat nicht mehr als der Häuptling dieser Gilde von ledernen, eingebildeten und blutarmen Pedanten, und auch die geistvolle und tiefdringende Ehrenrettung, die Gundolf erst jüngst an ihm versucht hat, vermag wohl die Kenntnis seiner psychologischen Anatomie zu verfeinern und zu verdeutlichen, dürfte aber im übrigen sein schlechtes Renommee kaum aus der Welt schaffen. Er war, und daher wahrscheinlich die Treue, mit der die Schulmeister noch heute an ihm hängen, in erster und letzter Linie ein Präzeptor: er zeigte, theoretisch und praktisch, wie man dichten müsse, worunter er eine Art ergötzlicher Belehrung verstand (die aber bei ihm nur insoweit ergötzt, als sie unfreiwillig belustigt); er war also ein doppelter Schulmeister: ein Lehrer des Lehrens. Da aber den wirklichen Dichtern zu allen Zeiten beides gleichermaßen zuwider gewesen ist: sowohl Lehrer zu haben wie Lehrer zu sein, so müssen wir in ihm einen der vollkommensten Antipoden erblicken, die jemals in die Poesie hineingeredet haben. Für die Geschichte der deutschen Sprache und Metrik mag er eine gewisse Bedeutung haben; für die Geschichte der europäischen Kultur besteht keine Veranlassung, sich mit dieser Panoptikumfigur näher zu befassen.

Comenius

Auch auf den übrigen Wissenschaftsgebieten herrschte derselbe starrsinnige intransigente Doktrinarismus. An den Universitäten wurde der Theolog auf die Dogmen vereidigt, der Jurist auf das Corpus iuris, der Philosoph auf den Aristoteles. Eine Gestalt wie die des großen Pädagogen Comenius sucht in dieser Zeit vergeblich ihresgleichen. Es klingt wie eine Rede aus einer anderen Welt, wenn er fordert, daß der Mensch sich nicht von fremder, sondern von eigener Vernunft leiten lassen solle, daß er die Kenntnis der Dinge nicht aus den Büchern, sondern aus den Originalen schöpfen müsse: aus dem Himmel, der Erde, den Eichen und Buchen, allen den Gegenständen, die ihm täglich leiblich vor Augen stehen, daß immer zuvörderst die Sache zu kommen habe und dann erst der Begriff, daß das A und O der Pädagogik nicht die Bibel sei, sondern die Natur. Sein Ideal war die »Pansophia«, eine Synthese aus Frömmigkeit und Naturkenntnis, die alle christlichen Sekten unter der freien Gläubigkeit wissender Humanität vereinigen sollte.

Die Naturwissenschaft

Nur auf dem Felde der Naturforschung hat auch Deutschland Bedeutendes hervorgebracht. Der Magdeburger Bürgermeister Otto von Guericke erfand die Luftpumpe, das Manometer, die Elektrisiermaschine, das Wasserbarometer und wies nach, daß im luftleeren Raum das Feuer verlischt, Tiere nach kurzer Zeit sterben, der Schall sich nicht fortpflanzt, hingegen das Licht ungehindert weitergeleitet wird; dem fränkischen Arzt Johann Rudolf Glauber gelang die Darstellung des Salmiaks und des schwefelsauern Natrons, das nach ihm Glaubersalz genannt wird und noch heute als Blutreinigungsmittel Verwendung findet; auch sind beide dadurch bemerkenswert, daß sie sich dem Verständnis des Polaritätsphänomens näherten, indem Guericke zeigte, daß gleichnamig elektrisierte Körper sich abstoßen, und Glauber den Begriff der chemischen Verwandtschaft aufstellte, die sich gerade bei verschiedenartigen Stoffen am stärksten äußert. Überhaupt läßt das siebzehnte Jahrhundert schon in dieser seiner ersten Hälfte allenthalben erkennen, daß wir uns dem klassischen Zeitalter der Naturwissenschaften nähern. Die beiden bedeutendsten Forscher dieser Periode sind der Italiener Torricelli und der Engländer Boyle. Evangelista Torricelli bearbeitete mit großem Erfolg ein bis dahin noch wenig beachtetes Gebiet der Physik, die Dynamik der Flüssigkeiten, wobei er unter anderem das hochwichtige Gesetz entdeckte, daß ein Strahl, der aus einem gefüllten Behälter heraustritt, immer die Form der Parabel annimmt und eine Ausflußgeschwindigkeit besitzt, die der Quadratwurzel aus der Druckhöhe proportional ist. Robert Boyle, dem seine Landsleute den Beinamen »the great experimenter« verliehen, kann als der Begründer der modernen Chemie angesehen werden. Sein Hauptwerk, der »Chymista scepticus« ist, wie schon der Titel andeutet, eine Ablehnung der bisherigen chemischen Methoden. »Die Chemiker«, sagt er darin in der Vorrede, »haben sich bisher durch enge Prinzipien leiten lassen, die der höheren Gesichtspunkte entbehrten. Sie erblickten ihre Aufgabe in der Bereitung von Heilmitteln und in der Verwandlung der Metalle. Ich habe versucht, die Chemie von einem ganz andern Gesichtspunkte zu behandeln, nicht als Arzt, nicht als Alchimist, sondern als Naturphilosoph.« Chemie ist für ihn Erkenntnis der Zusammensetzung der Körper. Er definierte zum erstenmal mit voller Klarheit den Begriff des Elements, machte Untersuchungen über die Bestandteile der Luft und das Verhältnis zwischen Druck und Volumen bei Gasen und wies nach, daß beim Rosten der Metalle eine Gewichtszunahme stattfindet. Neben ihm wirkte William Harvey, der den doppelten Blutkreislauf entdeckte und den Satz aufstellte: »Omne animal ex ovo.« Auf dem Gebiet der praktischen Mechanik: des Schiffsbaus, des Festungsbaus, des Kanalbaus exzellierte Holland, das überhaupt in jenem Zeitraum die wirtschaftliche und kulturelle Führung innehat.

Die Vorherrschaft Hollands

Der kühne und opfervolle Kampf der Niederländer gegen die spanische Despotie hatte mit der vollen Anerkennung ihrer Unabhängigkeit geendet. Nun hatte dieses Volk endlich die Freiheit, seine ebenso bewundernswerten wie unsympathischen Gaben voll zu entfalten. Die Holländer sind das erste große Handelsvolk der Neuzeit. Sie erinnern in ihrem harten und platten Materialismus, ihrem listigen und skrupellosen Erwerbsegoismus und ihrer turbulenten verrotteten Oligarchie an die Phönizier; sie verdankten ihre wirtschaftliche Übermacht ebenso wie diese dem Umstande, daß sie in der Entwicklung des merkantilen Denkens den anderen Völkern voraus waren; und sie konnten ihre Vorherrschaft aus den gleichen Gründen nicht dauernd behaupten: ihrem emsigen und zähen Ringen fehlte es an einer höheren Idee und daher an wirklicher Lebenskraft und außerdem waren sie an Kopfzahl viel zu gering, um auf die Länge die halbe Welt beherrschen und aussaugen zu können. Es war dasselbe Mißverhältnis, das auch die schwedische Großmachtstellung zu einer Episode machte: die nationale Basis war zu schmal.

Die Kultur stand damals in Holland zweifellos auf einem höheren Niveau als im übrigen Europa. Die Universitäten genossen internationalen Ruf, besonders Leyden galt als die hohe Schule der Sprachforschung, der Staatswissenschaften und der Naturkunde. In Holland lebten und wirkten Descartes und Spinoza, die berühmten Philologen Heinsius und Vossius, der große Rechtsphilosoph Grotius, von dem wir schon gehört haben, der Dichter Vondel, dessen Dramen in der ganzen Welt nachgeahmt wurden. Die Verlegerdynastie Elzevir beherrschte den Buchhandel Europas, und die Elzevirdrucke, Duodezausgaben der Bibel, der Klassiker und der hervorragenden Zeitgenossen waren wegen ihrer erlesenen Schönheit und Korrektheit in jeder Bibliothek zu finden. Während sonst überall der Analphabetismus noch weit verbreitet war, konnte in Holland fast jedermann schreiben und lesen, und holländische Bildung und Sitte waren so geschätzt, daß man in der höheren Gesellschaft nur für voll galt, wenn man von sich sagen konnte, man sei in Holland erzogen, civilisé en Hollande.

Die Kolonisationstätigkeit der Holländer setzt ungefähr gleichzeitig mit dem neuen Jahrhundert ein und erfüllt seine beiden ersten Drittel. Es gelang ihnen sehr schnell, in allen Weltteilen Fuß zu fassen. Sie besetzten an der Nordostküste Südamerikas Guayana und gründeten in Nordamerika Neu-Amsterdam, das spätere New York: noch nach Jahrhunderten galten die holländischen Familien, die »Knickerbockers«, dort als eine Art Aristokratie. Sie breiteten sich als »Buren« an der Südspitze Afrikas aus und importierten von dort den vorzüglichen Kapwein. Ein ganzer Weltteil trug ihren Namen: Neu-Holland, das spätere Australien, das Tasman zum erstenmal umsegelte; er drang aber nicht ins Innere und hielt die später Tasmanien genannte Insel für eine Halbinsel. Auch die Südspitze Amerikas wurde von ihnen zuerst betreten und nach der Geburtsstadt ihres Entdeckers Cap Hoorn genannt. Die größten Erwerbungen machten sie aber auf den Sundainseln: Sumatra, Java, Borneo, Celebes, die Molukken gelangten in ihren Besitz. Sie dehnten sich auch auf Ceylon und in Hinterindien aus und gründeten schon 1610 ihren Hauptstützpunkt Batavia mit seinen prachtvollen Handelsgebäuden: sie beherrschten den ganzen indischen Archipel. Sie besaßen sogar eine Zeitlang Brasilien. Sie haben aber niemals im eigentlichen Sinne kolonisiert, sondern überall bloße Handelsemporien angelegt, periphere Niederlassungen mit Forts und Faktoreien, die lediglich der wirtschaftlichen Ausbeutung des Landes und der Sicherung der Seelinien dienten, und nirgends ist es ihnen gelungen, wirkliche Eroberungen zu machen, wofür, wie gesagt, ihre Bevölkerungsziffer zu niedrig war und sie auch, als ein reines Kaufmannsvolk, gar kein Interesse besaßen. Ihre Hauptausfuhrartikel waren kostbare Gewürze, Reis und Tee, an den man sich in Europa nur langsam gewöhnte: am englischen Hof taucht er erst 1664 zum erstenmal auf, man fand ihn aber nicht sehr schmackhaft, denn er kam als Gemüse auf den Tisch; in Frankreich war er schon ein Menschenalter früher bekannt, doch hatte er auch dort gegen große Vorurteile zu kämpfen; zudem wurde sein Konsum durch die Holländer selbst beschränkt, die im Besitze seines alleinigen Exports die Preise aufs ausbeuterischste in die Höhe trieben. Dies war überhaupt ihr durchgängiges System und sie schreckten dabei vor den infamsten Praktiken wie dem Verbrennen großer Pfeffer- und Muskatkulturen und dem Versenken ganzer Schiffsladungen nicht zurück. Auch ihre heimische Produktion beherrschte durch eine Reihe von Spezialitäten den europäischen Markt. Alle Welt bezog von ihnen die Tonpfeifen, eine Fischerflotte von mehr als zweitausend Fahrzeugen versorgte ganz Europa mit Heringen, Delft war der Hauptsitz der Fayenceindustrie: von hier gingen die beliebten blau-weiß glasierten Krüge, Schüsseln und Eßbestecke, Kacheln, Kamine und Nippesfiguren in alle Windrichtungen.

Ein allgemein begehrter Artikel waren auch die Tulpenzwiebeln. Es wurde ein Sport und eine Wissenschaft, immer neue Farben, Formen und Muster dieser prächtigen Blume zu züchten, riesige Tulpenkulturen bedeckten den holländischen Boden und es kam damals vor, daß von Liebhabern oder Spekulanten für eine einzige seltene Spielart der Preis eines Landguts bezahlt wurde. Leute, die rasch reich werden wollten, warfen sich nun auf den Terminhandel, das heißt: sie verkauften kostbare Exemplare, die oft nur in der Phantasie existierten, auf Zeit, indem sie bloß die Differenz zwischen dem vereinbarten und dem am Verfallstage notierten Preis entrichteten. Die Holländer haben überhaupt den wenig ehrenvollen Ruhm, das moderne Börsenwesen mit allen seinen heutigen Manipulationen begründet zu haben. Der große »Tulpenkrach« vom Jahr 1637, der sich aus diesen »Windgeschäften« entwickelte, ist der erste Börsenkrach der Welt; die Aktien ihrer Handelskompanien, besonders der ostindischen, die 1602, und der westindischen, die 1621 ins Leben gerufen wurde, waren die ersten börsenmäßig gebändelten Effekten: in kurzer Zeit stiegen die Kurse auf das Dreifache und die Dividenden bis zu zwanzig Prozent und darüber; die weltbeherrschende Börse von Amsterdam wurde die hohe Schule des Hausse- und Baissespiels. Ferner waren die Holländer während der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts die Zwischenhändler von ganz Europa: ihre Handelsflotte war dreimal so groß wie die aller übrigen Staaten. Und obgleich oder vielmehr weil die ganze Welt auf sie angewiesen war, entwickelte sich gegen sie ein allgemeiner erbitterter Haß, seltsam kontrastierend mit der überschwenglichen Bewunderung, die man ihren Sitten und Einrichtungen entgegenbrachte, und gesteigert durch die brutale Hemmungslosigkeit, mit der sie überall in der Wahrung ihres Vorteils bis zum Äußersten gingen. »Frei muß der Handel sein, überall, bis in die Hölle«, lautete ihr höchster Glaubensartikel. Unter Handelsfreiheit verstanden sie aber nur Freiheit für sich selbst, das heißt: rücksichtslos ausgenütztes Monopol. So war es auch gemeint, wenn Grotius in seinem berühmten völkerrechtlichen Werk »Mare liberum« ausführte, die Entdeckung fremder Länder gebe allein noch kein Recht auf ihren Besitz und das Meer entziehe sich seiner Natur nach überhaupt jeder Besitzergreifung, es sei das Eigentum aller. Da das Meer sich aber tatsächlich im Besitz der Holländer befand, so war diese liberale Philosophie nichts als eine heuchlerische Maskierung ihres wirtschaftlichen Terrorismus.

Durch ihn wurden die »Vereinigten Staaten« zum reichsten und blühendsten Land Europas. Es war so viel Geld vorhanden, daß der Zinsfuß nur zwei bis drei Prozent betrug. Aber obgleich das Volk sich natürlich in viel besseren Lebensumständen befand als anderwärts, so hatte doch den Hauptprofit eine verhältnismäßig kleine Oligarchie von harten und dicken Geldsäcken, die sogenannten »Regentenfamilien«, die das Land, da alle leitenden Stellen in der Verwaltung, der Judikatur und den Kolonien aus ihnen besetzt wurden, fast absolutistisch beherrschten und auf den einfachen Mann, den »Jan Hagel«, ebenso geringschätzig herabblickten wie die Aristokratien der anderen Länder. Ihnen stand die Partei der Oranier gegenüber, die nach einem ungeschriebenen Gesetz die erbliche Statthalterwürde innehatten und eine legitime Monarchie anstrebten, aber dabei viel demokratischer dachten als die »Hochmögenden« und daher beim Volk sehr beliebt waren. Um sie scharten sich die großen militärischen und technischen Talente: in ihrem Stab befanden sich die ersten Strategen des Zeitalters; sie erzogen eine Generation von Virtuosen des Festungskriegs, des Kaperkriegs, des Artilleriewesens, der Ingenieurkunst; das von ihnen geschaffene Wassernetz, das ganz Holland überzog, galt für ein Weltwunder; auch waren sie Meister der Diplomatie.

Das niederländische Bilderbuch

Aber wenn man von der damaligen Kultur Hollands spricht, so denkt jedermann zuerst an die Malerei. Sie wurzelt in dem gesunden Tatsachensinn und vorurteilslosen Weitblick, den der weltumspannende Imperialismus dem ganzen Volke verlieh; aber andrerseits darf man sich nicht vorstellen, daß sie durch ein organisiertes und kunstbewußtes Mäcenatentum wesentlich gefördert wurde. Die Prosa und Trockenheit, Phantasiearmut und Herzensenge, die jedes Kaufmannsregime kennzeichnet, war auch die Signatur Hollands, und das Milieu, in dem diese Kunst aufgewachsen ist, hat ihr jenen Charakter von grandioser Alltäglichkeit aufgedrückt, der sie in den meisten ihrer Vertreter zu einem Phänomen zweiten Ranges macht; wo sie sich zu überlebensgroßen, wahrhaft genialen Schöpfungen erhebt, hat sie es in bitterem Kampf gegen ihr Milieu getan. Die Langweiligkeit, Schwunglosigkeit und rechnerische Korrektheit nüchterner und »ehrbarer« Großkrämer, die sich alles recht »ordentlich« und stattlich wünscht, aber alles »Überflüssige« und »Extravagante« ängstlich vermeidet, zeigt sich am deutlichsten in dem öden Geschäftsstil der Architektur, zum Beispiel am Amsterdamer Rathaus, das lange Zeit für ein Meisterwerk der Baukunst galt. Frans Hals, Ruisdael, Rembrandt, um nur drei der bedeutendsten Künstler zu nennen, starben in Not; und andrerseits hat Belgien fast ebenso viele große Namen aufzuweisen wie Holland.

In den meisten Kunstgeschichten werden diese beiden Länder in scharfer Trennung behandelt; doch liegt dazu eigentlich kein zwingender Anlaß vor. Zwar sagte schon Grotius, dem Norden und dem Süden sei nichts gemeinsam als der Haß gegen die Spanier, aber es verhielt sich fast umgekehrt, denn gerade die Ungleichheit des Hasses gegen Spanien, der im Süden viel schwächer war als im Norden, führte zur Teilung in die spanischen Niederlande, die unter habsburgischer Herrschaft blieben und ungefähr dem heutigen Belgien entsprachen, und in die republikanische Vereinigung der nördlichen Provinzen, während im übrigen die Bevölkerung beider Gebiete eine große Ähnlichkeit zeigt. Die nördliche Hälfte Belgiens ist von den Flamen bewohnt, die mit den Holländern in Sprache und Abstammung, Charakter und Lebensauffassung fast vollständig übereinstimmen, und in der Tat: was ist zum Beispiel an den Belgiern Jordaens, Brouwer, Teniers, Snyders nicht holländisch? Die südliche Hälfte ist allerdings von den französisch sprechenden romanischen Wallonen bevölkert, die aber auf die Kunst und Kultur des Landes keinen nennenswerten Einfluß ausgeübt haben. Nur in einem Punkte unterscheidet sich auch der nördliche Teil Belgiens sehr wesentlich von Holland: er ist durchwegs katholisch. Dies ist aber eher ein kunstförderndes Moment gewesen, während der holländische Calvinismus mit seiner puritanischen Prüderie und seiner fast mosaischen Bildlosigkeit des Kultus die Malerei der großen Stoffe beraubte, wodurch sie, auf Porträt, Sittenbild und Naturstudie beschränkt, ein genrehaftes Gepräge erhielt. Wie sehr der philiströse Geist in den Publikumsbedürfnissen vorherrschte, zeigt sich daran, daß man selbst historischen Kompositionen, zu denen doch die Vergangenheit des Landes dringend aufgefordert hätte, nur wenig Interesse entgegenbrachte.

Die Kunst Hollands ist rein bürgerlich. Der Bürger will in erster Linie sich selbst gemalt sehen, sich und was ihm das Leben lebenswert macht: seine Familie, seine Geschäfte, seine Festlichkeiten, seine Genüsse. Also: Einzelporträts und Gruppenbilder, auf denen die ganze Verwandtschaft halb schüchtern, halb patzig Modell steht; »Schützenstücke«, auf denen der Spießer Soldat spielt; gravitätische Ratskollegien, Vereinssitzungen, Bankette; protzige Interieurs und verführerische Stilleben mit gemütlichem Hausrat, bunten Topfpflanzen, kostbarem Tafelgeschirr, Weinflaschen, Fischen, Schinken, Wildbret und all den übrigen Dingen, womit dieses Volk von fetten Schlemmern sich das Dasein schmackhaft zu machen wußte. Außer diesen Gegenständen, die sich alle auf der Verlängerungslinie seiner eigenen Persönlichkeit befinden, pflegt den Bürger nur noch die Anekdote zu interessieren: saftig erzählte Familienszenen, Raufereien, Sportberichte, rührende, komische oder schauerliche Charaktergemälde, alles nachdrücklich auf die Pointe gestellt, die man möglichst breit und deutlich ablesen will. Daher kommt es denn auch, daß in Holland jene Maler den größten Publikumserfolg hatten, die fleißig und banal genug waren, ihre Produktion auf einen einzigen Artikel einzustellen: Paul Potter war Spezialist für Rinder, Philips Wouwerman für Schimmel, Melchior d'Hondecoeter für Geflügel, Willem van de Velde für Schiffe, Jan van Huysum für Blumen, Abraham van Beijeren für Austern, Hummer, Früchte, Pieter Claesz für feines Silberzeug. Kurz: die ganze niederländische Pinselkunst ist, einige wenige von niemand verstandene Große ausgenommen, ein einziger großer »Hausschatz« und Bilderbogen, ein Unterhaltungsbuch und Familienalbum.

Die Mythologie des Alltags

Aber andrerseits ist die holländische Genremalerei von einer verschwenderischen Vielfältigkeit und Fülle, lapidaren Sachlichkeit und Unbeteiligtheit, großartigen Roheit und selbstverständlichen Nacktheit, schäumenden Kraft und schwellenden Fruchtbarkeit, wie sie sonst nur die Natur besitzt. Was ausschließlich geschildert, aber mit einem wahren Heißhunger, einer wilden kochenden Gier geschildert wird, ist das Leben sans phrase, ohne Beschönigung, ohne Moral, ohne Auswahl, ohne Sinn-Interpolation, das Leben als Selbstzweck, ein kurzer selbstgenießerischer Augenblick aufzischender hemmungsloser Vitalität.

Kunst hat immer die unwiderstehliche Tendenz zur Potenzierung der Wirklichkeit, zur Ideologie in irgendeinem Sinne. Aber diese Holländer befanden sich in einer sehr unglücklichen Situation. Der konventionelle Idealismus der Vergangenheit, die italienische Tradition war ihnen im Innersten zuwider, und einen neuen eigenen Idealismus aus ihrer Zeit und ihrem Volke hervorzubringen, war ihnen in einer Kulturwelt, deren Protagonisten der Pfaffe und der Krämer waren, gänzlich unmöglich gemacht. So blieb nur das Ventil eines ins Dämonische gesteigerten Naturalismus. Auf diesem Wege kamen sie dazu, den Ewigkeitszug im Niedrigsten, die Symbolik im Trivialsten, das Göttliche im Gemeinen zu entdecken. Sie bewiesen, daß der Mensch auch heroisch fressen, saufen, kotzen, unter die Röcke greifen kann, wenn nämlich gezeigt wird, daß hinter alledem geheimnisvoll und majestätisch die schöpferische Natur thront. Indem sie das Dasein in seiner vollen überwältigenden Lebensgröße wiedergaben, haben sie das Wunder zuwege gebracht, eine Art Mythologie des Alltags zu schaffen.

Rembrandt

In einsamer Superiorität ragt aus ihrer emsigen lärmenden Schar ein Riese hervor, ihren zur Erde gesenkten Blicken entzogen: Rembrandt. Wie Shakespeare und Michelangelo in ihrem Zeitalter, so steht er in dem seinen: als ein Exilierter und Fremder, dem alle ausweichen und den niemand wirklich kennt. Mit Michelangelo ist ihm die Zeitlosigkeit gemeinsam: er gehört überallhin und nirgendhin, denn er hätte ebensogut hundert Jahre früher leben können, als ein unverstanden schaffender Renaissancemeister, und ebensogut zweihundert Jahre später, als ein Führer des Impressionismus. Mit Shakespeare teilt er die Anonymität, denn er verschwindet völlig hinter seinem Lebenswerk, das in seiner Vieldeutigkeit und Gestaltenfülle das Antlitz seines Schöpfers undeutlich und unbestimmbar macht. Und mit beiden ist er aufs tiefste verwandt durch die Kunst seiner letzten Lebensperiode, die sich völlig ins Transzendente verliert und geheimnisvolle Schöpfungen hervorbringt, auf die so grobe und banale Bezeichnungen wie Realismus und Idealismus nicht mehr passen. Die Kunst, um die er zuerst mühsam rang, mit der er auf der Höhe seines Schaffens souverän spielte, hat er am Ende seiner Erdenbahn völlig durchschaut: in ihrer Leere, ihrer Ohnmacht, ihrer Äußerlichkeit, er weiß jetzt, daß sie nicht das Höchste ist, wie er sein Leben lang glaubte, und sie fällt von ihm ab, Tieferem Platz machend, das sich aber, weil es nicht mehr völlig irdisch ist, menschlichem Fassen entzieht.

Rubens

Er ist daher ebensowenig ein Ausdruck seiner Zeit gewesen wie Michelangelo und Shakespeare, und wie wir damals die Rolle des representative man einem weit Geringeren zuweisen mußten, nämlich das einemal Raffael, das andremal Bacon, so ist auch hier der Held der Zeit ein viel flacherer Meister gewesen: Peter Paul Rubens. In Rubens ist die trunkene Lebensfreude, die triumphierende Bejahung der strotzenden Gegenwart Farbe geworden, sein Werk ist ein einziger großer Hymnus auf die gesunde Genußkraft, den stämmigen Materialismus des niederdeutschen Menschenschlags. Als Katholik und Flame hat er den doppelten Sieg der Gegenreformation und des holländischen Handels in leuchtenden Tinten, groß ausladenden Kompositionen und olympischen Kraftgestalten koloriert und besungen. Der Mensch, wie er ihn sieht, ist eine Art Halbgott, auf die Erde herabgestiegen, um seine unversieglichen Kräfte spielen zu lassen, niemals krank, niemals müde, niemals melancholisch, auch im zerfleischendsten Kampfe heiter, noch als Lazarus ein Athlet, im Grunde ein prachtvolles Raubtier, das jagt, kämpft, frißt, sich begattet und eines Tages auf der Höhe seiner Kraft brüllend verreckt. Seine Weiber sind niemals Jungfrauen, ja nicht einmal Mütter, sondern fette rosige Fleischstücke mit exemplarischen Becken, Busen und Hintern, nur dazu da, um nach wildem Brunstkampf, der den Genuß nur erhöht, aufs Bett geschmissen zu werden. Eine massive Geilheit nach ausschweifender Lebensbetätigung in jeder Form ist das Grundpathos aller seiner Gemälde; es ist, als läge um sie die süße duftende Brutwärme eines summenden Bienenstocks oder die riesige weiße Samenwolke eines laichenden Heringszugs. Auch in ihrer Form sind sie nur zur Erhöhung des Lebensprunks und der Daseinsfreude gedacht, als farbenglühende Dekorationsstücke, geschmackvolle und phantasiereiche Prachttapeten. Im übrigen ist sein Verhältnis zur antiken Vorstellungswelt, der er seine festlichsten Allegorien entlehnt, ein ganz kühles und akademisches, sie sind sein Ausstattungsvokabular, nicht mehr.

Man hat Rubens in den Zeitaltern wirtschaftlichen Aufschwungs immer sehr gefeiert. Aus seiner immer jubelnden, immer sinnenfreudigen Animalität spricht das gute Gewissen, das gute Geschäfte verleihen, spricht die Flachheit des Glücklichen, denn Rubens war Zeit seines Lebens ein Liebling des Glücks, und spricht vor allem jener tiefe Atheismus, der allmählich von Europa Besitz ergreift und zuerst in Holland als dem vorgeschrittensten Lande sein Haupt erhebt. Rubens ist zweifellos einer der irreligiösesten Maler, die jemals den Pinsel geführt haben, und darum wird er auch immer der Abgott aller jener bleiben, die Gott beschwerlich oder überflüssig finden. Aber jedes feinere Gefühl wird sich, wenn es ehrlich gegen sich selbst ist, bei aller Bewunderung für seine Maße, seine Farbengewalt und seine grandiose Gabe, die Hülle des Menschen zu erfassen, zu dem Geständnis zwingen müssen, daß er nichts gewesen ist als ein königlicher Tiermaler und Verherrlicher einer dampfenden Übergesundheit, die ebenso unwiderstehlich wie barbarisch ist.

King Charles

Die Blüte Hollands war ebenso üppig wie kurz, denn es konnte auf die Dauer nicht ausbleiben, daß die wirklichen Großmächte diesen feisten Parvenü aus seiner unorganischen Vormachtstellung verdrängten. Vor allem England mußte es sehr bald unerträglich finden, daß der ganze Nordseeverkehr und sogar sein eigener Handel sich in fremden Händen befand. Wir erinnern uns, daß dieses Land in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts auf allen Gebieten einen überraschend schnellen Aufschwung nahm und daß diesen Fortschritt auch die Regierung Jakobs des Ersten nicht aufzuhalten vermochte, der, obgleich er einer der beschränktesten, ordinärsten und unfähigsten Menschen und überhaupt die Karikatur eines Königs war, von seinem Gottesgnadentum eine so extreme Auffassung hatte wie wenige seines Standes. Schon in seiner Thronrede sagte er: »Gott hat Gewalt, zu schaffen und zu vernichten, Leben und Tod zu geben. Ihm gehorchen Seele und Leib. Dieselbe Macht haben die Könige, sie schaffen und vernichten ihre Untertanen, gebieten über Leben und Tod, richten in allen Dingen, sind niemand verantwortlich als Gott allein. Sie können mit ihren Untertanen handeln wie mit Schachpuppen, das Volk wie eine Münze erhöhen und herabsetzen.« Sein Sohn Karl der Erste war in vielem sein Gegenteil: klug, liebenswürdig, gesittet, ein vollendeter Kavalier und feinnerviger Förderer der Künste und Wissenschaften. Van Dyck hat den ganzen englischen Hof gemalt: den selbstbewußten eleganten König, die dekorative träumerische Königin, die zarten steifen Prinzessinnen, den anämischen femininen Kronprinzen, eine vornehme dekadente Welt in diskreten absterbenden Farben.

Aber Karl besaß eine schlechte Eigenschaft, die alle seine guten aufwog: er war nicht imstande, ein gerades Wort und eine gerade Handlung hervorzubringen. Nach ihm sind die noch heute beliebten King-Charles-Hündchen benannt, sehr blaublütige und sensitive, aber ziemlich falsche und eingebildete Geschöpfe. Einen ebensolchen Charakter besaß der König. Es war schlechterdings unmöglich, mit ihm zu verhandeln, er hinterging und belog jedermann, hielt niemals, was er versprochen hatte, und verdrehte seine eigenen Worte ins Gegenteil. Er war so töricht, zu glauben, es sei die beste Kampfmethode, alle Parteien zu täuschen, um dadurch über alle zu herrschen. Es scheint, daß diese grundsätzliche Doppelzüngigkeit und Wortbrüchigkeit bei ihm nicht bloß in der erblichen Perfidie der Stuarts begründet war, sondern auch in der Überzeugung, der König stehe so hoch über seinen Untertanen, daß ihm ihnen gegenüber alles erlaubt sei. So geriet er immer mehr in ein Netz von Finten und Widersprüchen und verlor schließlich das Vertrauen des ganzen Landes. Es ist aber trotzdem eine tendenziöse Unwahrheit demokratischer Geschichtschreiber, wenn sie behaupten, seine Hinrichtung sei der Wille des Volkes gewesen. Sie erregte allgemeines Entsetzen und war überhaupt keine Hinrichtung, sondern ein politischer Mord, denn sie wurde von einer hiezu nicht befugten Jury ausgesprochen und auch von dieser nur unter Pression.

Seine Situation war anfangs nichts weniger als ungünstig. Seine Thronbesteigung wurde von dem größten Teil der Bevölkerung mit Jubel begrüßt, und auch als die Lage anfing, kritisch zu werden, hätte er sich durch eine einigermaßen vernünftige und eindeutige Politik leicht behaupten können. Die Majorität des Parlaments war stets auf der Seite der Monarchie, wenn auch nicht des Absolutismus, und selbst beim niedrigen Volk genossen die Royalisten immer noch mehr Sympathien als die Independenten. Er versuchte aber sogleich, gegen und sogar ohne das Parlament zu regieren. Er machte zum leitenden Staatsmann den Grafen von Strafford, der, getreu seiner Devise » Through!«, mit allen Mitteln der Rechtsbeugung und Gewalt die unumschränkte Despotie durchzusetzen suchte, und zum leitenden Kirchenmann den Erzbischof Laud, der bestrebt war, die anglikanische Kirche der römischen bis zur fast vollkommenen Identität anzunähern, was dem größten Teil der Engländer ein Greuel war. Aber der Aufruhr brach nicht in England aus, sondern bei den Schotten. Durch den unklugen Versuch, die Laudsche Liturgie auch bei ihnen einzuführen, aufs äußerste erbittert, schlossen sie den covenant, einen Bund zum Schutze ihrer religiösen und politischen Freiheiten. Gegen sie sandte Karl ein Heer, das, da das mißtrauische Parlament ihm kein Geld für Truppen bewilligen wollte, durch freiwillige Spenden der königlich Gesinnten aufgebracht worden war. Alsbald traten diesen, die die »Kavaliere« genannt wurden, im ganzen Lande die demokratischen »Rundköpfe« entgegen, anfänglich noch Anhänger einer durch das Parlament beschränkten und kontrollierten Monarchie, später immer mehr zur Republik geneigt. Der Bürgerkrieg war unvermeidlich geworden.

Cromwell

Und nun reckt sich aus dem Dunkel die eherne Gestalt Cromwells, der an der Spitze seiner »Eisenseiter« wie ein Dampfpflug über das Land fegt und alles niederwirft: König und Volk, Hochkirche und Covenant, Oberhaus und Unterhaus, Iren und Schotten.

Man kann nicht sagen, daß es während des Jahrzehnts seiner Regierung eine Partei gab, die ihm unbedingt anhing. Den Royalisten war er als Königsmörder verhaßt, den Republikanern als Vergewaltiger des Parlaments, den Episkopalen als brutaler Fanatiker, den Independenten als lauer Kompromißler, den Großgrundbesitzern als Sozialrevolutionär, den Levellers als Schützer des Kapitals und allen zusammen als Diktator und Tyrann. Er stand vollkommen allein, weil er als genialer Politiker, der er war, überhaupt keinen bestimmten vorgefaßten Standpunkt hatte, sondern immer nur den der jeweiligen Situation und Sache. Er paßte nicht, wie alle die engen und kleinen Geister, die ihn umgaben, die Dinge sich, sondern sich den Dingen an. Mit einem Wort: er wußte immer, als Diplomat, als Organisator, als Stratege, worauf es ankam; und das nahmen ihm die Menschen schrecklich übel.

Aber er war in der glücklichen Lage, nicht viel danach fragen zu müssen. Denn durch diese ebenso einfache wie seltene Fähigkeit, mit gesundem Blick den Kern jeder Sache zu ergreifen, besiegte er alle, und obgleich die Cromwellpartei eigentlich nur aus ihm selbst bestand, hat er doch über drei Reiche mit einer Unumschränktheit geherrscht, wie sie kein Plantagenet des Mittelalters besessen hat. Großbritannien hat nur ein einziges Mal einem absoluten König gehorcht: dem Lord-Protektor Oliver Cromwell. Das hatte zunächst einen äußerlichen Grund: er war der einzige Regent, der ein stehendes Heer besaß. Aber der wahre und innere Titel seiner Herrschaft beruhte nicht auf seiner Macht, sondern auf seinem Recht, einem ungeschriebenen, »ungesetzlichen«, von keinem Parlament feierlich anerkannten, durch keinen »Volksvertrag« verbrieften und doch dem gegründetsten, legitimsten, ja einzigen Recht auf Königtum: er war der stärkste, der tapferste, der weiseste und, wenn wir die Dinge von einem höheren Standpunkt betrachten als die demokratische Philistermoral, auch der sittlichste Mann seines Landes. Er selber sagte von sich, er wolle der Nation dienen »not as a king, but as a constable«. Aber ist ein guter Konnetabel nicht der beste König und sogar mehr als ein König? Dieser einfache Landvogt hat für sein Land mehr getan als die rabiatesten Lancasters und Yorks, die schlauesten Tudors, die stolzesten Stuarts: er hat Ordnung in die ganze innere Verwaltung gebracht, Irland pazifiziert, die Handelstyrannei des gierigen Rivalen jenseits des Wassers zerbrochen, ein neues Calais gewonnen, eine der schönsten und reichsten Inseln Westindiens erobert und den festen Grund für die glänzende Zukunft gelegt, die England zur ersten Seemacht der Welt machen sollte. Ja wir werden der Bedeutung Cromwells vielleicht am gerechtesten, wenn wir dem Wort Constable seinen heutigen Sinn beilegen: er war nicht mehr und nicht weniger als der treue und unermüdliche, energische und kluge »Schutzmann« seines Landes.

Es ist eine alte historische Tradition, in Cromwell einen der größten Heuchler und Ränkeschmiede zu erblicken, die je gelebt haben, den »Fürsten der Lügner«. Demgegenüber behauptet sein großer Apologet Carlyle, er habe überhaupt niemals in seinem Leben gelogen. Im Grunde haben beide Auffassungen recht. Cromwell hatte in seinem Wesen eine Vorliebe für das englisch Verzwickte, Doppelbödige, Hintergründige, für mehrdeutige, verklausulierte, absichtlich dunkle Reden und insoferne etwas Gewundenes, Verfitztes, Verbogenes, aber sicherlich nichts Verlogenes. Die Position des Engländers zur Wahrheit ist eben, wie wir schon im ersten Buch bei der Betrachtung des cant hervorgehoben haben, keine einfache und einsinnige und ergibt niemals eine reine Lösung. Das Verhältnis der einzelnen Nationen zur »Realität« ist überhaupt ein sehr ungleichartiges. Der Franzose benimmt sich zu ihr wie ein passionierter Liebhaber, der aber in seiner Blindheit sehr leicht zu betrügen ist; der Deutsche behandelt sie wie ein grundehrlicher, aber etwas langweiliger und pedantischer Verlobter; und der Engländer spielt ihr gegenüber den brutalen Ehemann, den Haustyrannen. Der genußsüchtige Franzose will nur das Angenehme, einerlei ob es wahr oder falsch ist, der biedere Deutsche will um jeden Preis die Wahrheit, ob sie angenehm oder unangenehm ist, und der praktische Engländer dekretiert, daß das Angenehme wahr und das Unangenehme falsch ist.

Die Puritaner

Der englische Cant hat seinen Gipfel in den Puritanern erreicht, die damals England beherrschten. Aus ihnen bestand die Armee, die Verwaltung und sogar das neugeschaffene Oberhaus. Jedermann machte sich so schnell wie möglich aus dem Staube, wenn diese ebenso lächerlichen wie gefährlichen neuen Heiligen erschienen, näselnd, augenverdrehend, kurzgeschoren, schwarzgekleidet, von langsamem Gang und gemessenen Bewegungen, überall Verderbtheit, Gottlosigkeit und Ärgernis witternd. Es war selbstverständlich eine Sünde, zu trinken, zu spielen, zu lärmen; es war aber auch eine Sünde, zu tanzen, ins Theater zu gehen, Liebesbriefe zu schreiben, einen gestärkten Kragen zu tragen, sich das Essen schmecken zu lassen; und sonntags war überhaupt alles eine Sünde. An diesem heiligen Tage war es verboten, ein Beet zu begießen, sich rasieren zu lassen, einen Besuch zu machen, ja sogar zu lächeln; und am Samstag und Montag, die dem Sonntag so nahe benachbart sind, waren solche Dinge zumindest suspekt. Aus dieser übertriebenen Sabbatheiligung spricht der Geist des Judentums; und in der Tat: es fällt schwer, die Puritaner überhaupt noch als christliche Sekte anzusehen; sie stützten sich in fast allem auf das Alte Testament. Sie nannten sich nach den israelitischen Helden, Propheten und Patriarchen, sie durchsetzten ihre Rede mit hebräischen Wendungen, Sprüchen und Gleichnissen, sie fühlten sich als militante Diener Jehovahs, die er berufen habe, die Götzenanbeter, Irrgläubigen und verstockten Kanaaniter mit Feuer und Schwert zu vertilgen. Auch er hatte ja sein Volk durch Plagen und Strafen zum rechten Glauben gezwungen und Schrecken und Vernichtung unter den Abgefallenen verbreitet. Die Streiter Gottes, das auserwählte Volk waren sie, die rechtgläubigen Puritaner, und jedes Mittel der List, Gewalt und Grausamkeit war erlaubt zum guten Endzweck: der Niederwerfung der Heiden und der Aufrichtung der Theokratie. Ihr Gott ist der Gott Mosis, ein Gott der Rache, des Zornes, der erbarmungslosen Gerechtigkeit und eifervollen Demütigung der Sünder. Und wiederum rächte sich die unglückliche Verkuppelung der Evangelien mit dem Judenbuche, von der wir schon sprachen, an einem Teile der Christenheit.

Die Quäker

Nur ein Zweig des Puritanismus kann zum Christentum gezählt werden: die unter dem Spottnamen »Quäker« oder Zitterer bekannte Gesellschaft der Freunde des Lichts, die sich in Pennsylvanien am Delaware ausbreitete und noch heute in Amerika besteht. Sie machten nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis mit den Lehren des Neuen Testaments Ernst, wie die Independenten mit den Geboten des Alten Testaments Ernst gemacht hatten. Sie verweigerten den Kriegsdienst, den Eid, den Sklavenhandel, ja sogar den Verkauf von Kriegsartikeln und erweiterten ihre Kolonien auf völlig friedlichem Wege, ohne mit den Indianern zu kämpfen oder sie auch nur auszubeuten. Sie verschmähten die reguläre Predigt, die sie in ihrem Mutterland als eine Ausgeburt geistloser Routine und selbstgefälliger Unaufrichtigkeit erkannt hatten, und gestatteten jedermann, zu sprechen, aber nur wenn er vom »inneren Licht« inspiriert sei. Sie verwarfen die Liturgie und die Sakramente und auch im täglichen Leben alles Zeremonienwesen, redeten jedermann mit du an und zogen vor niemand den Hut. Sie sind, wenn ihnen auch infolge ihrer Übertreibungen und Schrullen etwas Genremäßiges anhaftet, eine der liebenswürdigsten und erfreulichsten Erscheinungen in der Geschichte der christlichen Bekenntnisse.

Milton

Der Dichter des Puritanismus ist der große John Milton, zugleich einer der hervorragendsten Publizisten seines Landes, der in seiner berühmten »Defensio pro populo Anglicano« eine wissenschaftliche Verteidigung des Königsmordes geliefert hat. An der grandiosen Rhetorik des Miltonschen Satans hat der jüngere Pitt sich zum Redner geschult; und es ist nichts weniger als ein Zufall, daß dem Dichter gerade der Fürst der Hölle unter den Händen und fast wider Willen zu einer so überwältigenden Figur emporgewachsen ist. Dies kommt eben daher, daß in Milton der Puritanergeist Gestalt geworden ist, ein Geist, der des Teufels ist, weil er durch und durch weltlich ist, in seiner Verwerfung der Welt noch hundertmal weltlicher als der Katholizismus in seiner sinnlichsten Weltbejahung; und der des Teufels ist, weil er rächt und richtet. In Miltons titanischem Epos wird die ganze Weltgeschichte streng und gnadenlos, parteiisch und ohne den geringsten Willen zum Feindesverständnis, geschweige denn zur Feindesliebe vorgerufen, verhört und verurteilt vom Standpunkt des Puritanismus, der die alleinige Wahrheit und Gerechtigkeit ist. Gott schickt gegen die Heerscharen der rebellierenden Engel seinen Sohn, der zehntausend Blitze auf sie schleudert: »wie eine Herde Ziegen, die vom Ungewitter überfallen sind« fliehen sie und stürzen in die Tiefe. Christus als Donnergott: dies ist eine ebenso monumentale Blasphemie wie der Christus Michelangelos, der als Apoll und Herakles in den Wolken thront. Ein Gott, der mit Köcher, Bogen, Blitzen und Streitwagen, mit Scharen von kämpfenden Heiligen siegt: das ist ganz offenbar nicht der Gottessohn der Evangelien, der Christus, an den die Christen glauben, sondern der legitime Sohn Jehovahs.

Hobbes

Der Gegenspieler Miltons, der scharfsinnige und geistesmächtige Advokat der Monarchie, der Restauration und der Legitimität, war Thomas Hobbes. Seine Philosophie ist nicht niedrig oder böse, wie man bisweilen gemeint hat, sondern bloß pessimistisch. Er sieht überall, wohin er blickt, auf der einen Seite eine Welt wilder und starker, hart und scharf rechnender Herrennaturen und auf der anderen Seite eine Masse stumpfer und sklavischer, nur durch das Gesetz der Trägheit in Bewegung gehaltener Herdenmenschen, beide bloße Automaten ihrer gröberen oder feineren Freß- und Greifinstinkte, und zieht aus diesem Beobachtungsmaterial seine Induktionsschlüsse, aus diesen Prämissen seine Gesetze. Unter diesen Voraussetzungen wird ihm der Staat zum allmächtigen Riesenungeheuer, das alle, die sich ihm feindlich entgegenstellen, erbarmungslos verschlingt. Der Staat ist ein sterblicher Gott und die bestehende Ordnung ist allemal die rechtmäßige, weil sie die Ordnung ist. Freiheit ist, was die Gesetze nicht verbieten, Gewissen ist Privatmeinung, das Gesetz aber das öffentliche Gewissen, dem allein der Bürger zu gehorchen hat. Eine nicht staatlich legitimierte Religion ist Aberglaube. Daß die Könige unmittelbar von Gott eingesetzt seien, lehrt er nicht, vielmehr hat das Volk dem Staatsoberhaupt die höchste Gewalt übertragen; aber von diesem Augenblick an hat es keine Rechte mehr. Die Monarchie ist bloß deshalb die beste Staatsform, weil sie die zentralisierteste ist, und daß sie absolut sein muß, folgt einfach aus der Forderung, daß die Leitung eines Staates unter allen Umständen, auch wenn sie einer Körperschaft anvertraut wäre, absolute Gewalt haben muß.

Nimmt man diese Lehren nach dem Buchstaben, so erscheinen sie wie zur Rechtfertigung der Stuarts bestellt: der größenwahnsinnigen Doktrinen Jakobs des Ersten, der Intransigenz Karls des Ersten, der noch auf dem Schafott souveräner Autokrat blieb, der Wiederherstellungspläne Karls des Zweiten, dessen Lehrer Hobbes war. Faßt man aber ihren Geist ins Auge, so erscheint als ihr klügster Schüler und ihre siegreichste Verkörperung niemand anders als der Plebejer, Rebell und Usurpator Oliver Cromwell.

Die Fundamente dieser Staatsphilosophie, die in ihrer harten und klaren Unsentimentalität und ihrer rein naturwissenschaftlichen Wertung der politischen Phänomene noch beträchtlich über Machiavell hinausgeht, sind so, wie sie bei einem so konsequenten Denker wie Hobbes nicht anders sein können: eine nihilistische Ethik: an sich ist nichts gut oder böse, ein bestimmter Maßstab der Moral ist erst im Staat gegeben; eine materialistische Ontotogie: alles Sein ist Körper, alles Geschehen Bewegung, auch Empfindungen sind hervorgerufen durch körperliche Bewegungen; eine sensualistische Psychologie: es gibt nur Empfindungen, alles andere ist aus ihnen abgezogen, Gattungsbegriffe und dergleichen sind nichts als verblaßte Erinnerungsbilder früherer Wahrnehmungen; eine mechanistische Erkenntnislehre: Worte sind Noten oder Marken für Vorstellungen, Begründen und Folgern ein Addieren und Subtrahieren dieser Zeichen, alles Denken ist Rechnen.

Spinoza

Noch viel weiter aber ging Baruch Spinoza, vielleicht der merkwürdigste Denker, der je gelebt hat. In einer Geschichte der Philosophie müßte er nach Descartes behandelt werden, auf dem er fußt; aber da in unserem Zusammenhange nicht die Lehrgebäude von Bedeutung sind, sondern die Weltanschauungen, und auch diese nur, soweit sie als formbildendes Prinzip repräsentativer Persönlichkeiten oder großer Zeitströmungen gewirkt haben, so erscheint uns eine didaktische Anordnung, die der begrifflichen Entwicklung folgt, nicht unerläßlich. In seinem Privatleben war Spinoza weder ein Heiliger, wie das sentimentale achtzehnte Jahrhundert behauptet hat, noch ein Verworfener, wie das zelotische siebzehnte Jahrhundert geglaubt hat. Er hat die Verfolgungen, denen er ausgesetzt war, weder streitbar zurückgewiesen noch als Märtyrer erduldet, sondern sich ihnen kühl und überlegen entzogen. Sein Vater war ein portugiesischer Jude, der schon in früher Jugend vor der Inquisition nach Amsterdam flüchtete, wo zahlreiche seiner Glaubensgenossen ein Asyl gefunden hatten. Kaum genossen aber die jüdischen Gemeinden in dem »neuen Jerusalem«, wie sie es nannten, ihre volle Freiheit, als sie auch schon mit erneuter Kraft jene gehässige Unduldsamkeit zu entwickeln begannen, die ihrer Religion immer eigentümlich war und leider zum Teil auch auf die christliche Kirche vererbt worden ist. Der Geist des Kaiphas, der die ganze Geschichte des Volkes Israel bestimmt hat, solange es noch seine nationale Selbständigkeit besaß, ist später oft infolge äußerer Umstände ohnmächtig gewesen, aber immer wieder zum Leben erwacht, wenn es zur Macht gelangte. So verhielt es sich auch diesmal. Der Fall des Uriel da Costa, der wegen seiner freireligiösen Ansichten von der Amsterdamer Synagoge durch die boshaftesten Peinigungen in den Tod getrieben wurde, ist ein trauriges Beispiel dafür. Spinoza war damals acht Jahre alt. Ein halbes Menschenalter später geriet er selbst in einen ähnlichen Konflikt. Man hatte von seinen philosophischen Neigungen und Beschäftigungen gehört und bemühte sich, ihn zuerst durch Bekehrungsversuche, dann durch Drohungen zur Rechtgläubigkeit zurückzubringen. Als beides fehlschlug, griff man zur Bestechung, indem man ihm ein Jahrgehalt von tausend Gulden anbot, wenn er dem Judentum treu bleiben wolle. Da er auch auf diese Art nicht zu gewinnen war, hielt es ein Mitglied der Gemeinde für angezeigt, ihn zu ermorden; aber das Attentat mißlang. Nun blieb der Synagoge nur noch das Mittel der Exkommunikation. Vor versammelter Gemeinde wurde über ihn der große Bannfluch verhängt, der mit den Worten schloß: »Er sei verflucht bei Tag und sei verflucht bei Nacht! Er sei verflucht, wenn er schläft und sei verflucht, wenn er aufsteht! Er sei verflucht bei seinem Ausgang und sei verflucht bei seinem Eingang! Der Herr wolle ihm nie verzeihen! Er wird seinen Grimm und Eifer gegen diesen Menschen lodern lassen, der mit allen Flüchen beladen ist, die im Buche des Gesetzes geschrieben sind. Er wird seinen Namen unter dem Himmel vertilgen.« So handelte das Judentum an einem Manne, dessen ganze Schuld darin bestand, daß er ein gedankenvolleres, friedfertigeres und weltabgewandteres Leben führte als seine Stammesgenossen. Da es aber von jeher gute jüdische Tradition war, die Propheten zu steinigen, so liegt in diesem Vorgang nichts Auffallendes; und zudem sind wir der Ansicht, daß Spinoza nicht zu den größten Söhnen Israels gehört hat, denen dieses Schicksal widerfuhr, da wir in ihm nur eine, allerdings monumentale und einzigartige, Kuriosität zu erblicken vermögen.

Die »Ethik«

Spinoza selbst verlor über dem Geschrei der Rabbiner nicht einen Augenblick seine Ruhe und lebte fortan in gänzlicher Zurückgezogenheit nur seinen Studien und Schriften, vollkommen uneigennützig und bedürfnislos, jede Berührung mit den Genüssen und Ehren, Ablenkungen und Strapazen der Welt vermeidend. Die unter den schmeichelhaftesten Bedingungen angebotene Heidelberger Professur lehnte er ab. Sein philosophischer Ruhm, der aber erst ein Jahrhundert nach seinem Tode die Welt zu erfüllen begann, beruht auf seinem »theologisch-politischen Traktat«, dem ersten großen Versuch einer historischen Bibelkritik, und seiner »Ethik«, die sein System erschöpfend zur Darstellung bringt. Indes: niemals hat ein Buch seinen Titel mit geringerer Berechtigung geführt als dieses.

Sein Lehrgebäude errichtete Spinoza in einem sehr ungewöhnlichen und etwas marottenhaften Stil. Da er der Überzeugung war, daß sichere Erkenntnis nur gewonnen werden könne, wenn sie sich der mathematischen Methode bediene, so beschloß er, sein ganzes System geometrico modo zu demonstrieren. Jeder Paragraph beginnt zunächst mit den erforderlichen Begriffsbestimmungen oder Definitionen, an diese schließen sich die Grundsätze oder Axiome, aus denen sich die Lehrsätze oder Propositionen ergeben, dann folgen die Beweise oder Demonstrationen und die Folgesätze oder Corrolarien und den Beschluß machen die Erläuterungen oder Scholien. Infolgedessen liest sich das ganze Werk wie ein mathematisches Lehrbuch, wodurch es nicht nur etwas Mazeriertes und Trockenes, sondern auch etwas Gezwungenes und Konstruiertes erhält.

Da Gott, schließt Spinoza, nur als ein vollkommen unendliches und daher vollkommen unbestimmtes Wesen gefaßt werden kann, so kann er auch kein Selbst und keine Persönlichkeit besitzen. Und da sowohl Verstand wie Wille ein Selbstbewußtsein voraussetzen, so sind auch diese beiden Fähigkeiten ihm abzusprechen. Außer diesem absolut unendlichen Wesen kann nichts existieren. Folglich ist die ganze Welt identisch mit Gott, und es ergibt sich die berühmte Formel: deus sive natura. Aus dieser Gottnatur gehen alle Dinge mit derselben Notwendigkeit hervor, wie es aus der Natur des Dreiecks folgt, daß die Summe seiner Winkel gleich zwei Rechten ist. Daher gibt es keine Freiheit: ein Mensch, der glaubt, frei zu sein, ist wie ein Stein, der während des Wurfs sich einbildet, zu fliegen. Und da Gott keinen Verstand besitzt, so fehlt ihm auch das Vermögen, Zwecke zu setzen: diese sind ebenfalls eine menschliche Illusion. Ebensowenig gibt es Werte, denn diese bezeichnen nicht die Eigenschaften der Dinge selbst, sondern nur deren Wirkungen auf uns.

In seiner Psychologie erklärt Spinoza für die Grundkraft der menschlichen Natur den appetitus, das Streben nach Selbsterhaltung. Was dieses Streben fördert, nennen wir gut; was es beeinträchtigt, böse: wir begehren die Dinge nicht, weil sie gut sind, sondern wir nennen sie gut, weil wir sie begehren (wobei jedoch ignoriert wird, daß alle höheren Religionen, vor allem das Christentum, in der Begierde und deren Objekt, der sinnlichen Welt, stets das Prinzip des Bösen erblickt haben). Alle Affekte lassen sich in zwei Grundformen scheiden: in aktive und passive; die ersteren sind von Lust oder Freude, die letzteren von Schmerz oder Trauer begleitet. In dieser Einteilung gehört das Mitleid zu den schädlichen Affekten, da es Schmerz verursacht; man soll daher den Leidenden zwar helfen, aber ohne Anteilnahme, nur aus vernünftiger Erwägung. Ebenso verhält es sich mit der Reue, da sie zu den schlechten Handlungen, die an sich schon ein Unglück sind, noch den Schmerz der Zerknirschung hinzufügt. Ähnliche amoralische Prinzipien statuiert Spinoza auch für die Politik; so erklärt er zum Beispiel: »Ein Vertrag zwischen Völkern besteht, solange seine Ursache besteht: die Furcht vor Schande oder die Hoffnung auf Gewinn.« Den höchsten Gipfel aber erreicht die Seele im amor Dei intellectualis, der intellektuellen Liebe zu Gott, die nichts anderes ist als die Erkenntnis der ewigen Substanz, also nach gewöhnlichen Begriffen etwas von Gottesliebe sehr Entferntes. Da jeder Mensch nur ein Teil der Gottnatur ist, so lebt Gott in dieser Liebe sich selbst.

Die Gleichung aus zwei Nullen

Wir stehen nicht an, dieses System, das wir hier nur in ganz aphoristischer Skizzierung wiedergegeben haben, für das Werk eines bewunderungswürdig scharfsinnigen Geistesgestörten zu erklären. Der cartesianische Rationalismus war erträglich durch seine Inkonsequenz, Spinoza jedoch denkt jeden Begriff so folgerichtig und unerbittlich zu Ende, daß er ihn annulliert: die Idee Gottes so folgerichtig, daß er zum nackten Atheismus gelangt; die Kausalität so folgerichtig, daß er zum toten Automatismus gelangt; die Verschiedenheit der Geister und der Körper, daß er zu der Behauptung gelangt, es gebe zwischen ihnen überhaupt keine Beziehung; die wünschbare Herrschaft über die Affekte, daß er zum Postulat der Fühllosigkeit gelangt; den Pantheismus, die Identität von Gott und Natur, daß er zu einem trostlosen Naturalismus gelangt, der die Welt völlig entgeistet und zu einer schaurigen Öde und gespenstischen Wüstenei macht, kurz: er hebt durch sein anomal konsequentes Denken die Objekte dieses Denkens auf, vernichtet sie, zersetzt sie, denkt sie zugrunde. Zurück bleibt als »letzte Wahrheit« eine leere Gleichung aus einem Gott, der ein Nichts ist, und einer Welt, die weniger als ein Nichts ist.

Man pflegt Spinozas System unter die pantheistischen zu zählen; aber das ist ein irreführender Vorgang. Der Pantheismus beruht allerdings auf der Gleichsetzung von Gott und Welt: insoweit wäre die Klassifizierung berechtigt. Aber man vergißt, daß der Deus, den Spinoza mit der natura identifiziert, gar kein Gott ist, sondern eben ein blindes totes Nichts, eine ohnmächtige mathematische Chiffre, etwa wie das Zeichen oder die Zahl 0. Es ist eine heillose Verwirrung dadurch entstanden, daß man den Pantheismus der Mystik mit dem spinozistischen in eine Reihe gestellt hat, denn diese kommt zu ihrem Prinzip der Allgöttlichkeit nicht durch logische Schlußfiguren, sondern durch das religiöse Erlebnis; und wenn sie in Gott ebenfalls ein unendliches, unfaßbares, undefinierbares Wesen erblickt, so tut sie es aus tiefster Ehrfurcht und höchster Gläubigkeit und nicht aus Nihilismus und mathematischer Marotte. Mit anderen Worten: der Mystiker gelangt zu seiner Gottesvorstellung durch frommen Agnostizismus, er ist von der Größe Gottes so erfüllt, daß sie seinen Begriffen entschwindet; der Spinozist hiegegen (wenn es außer Spinoza je einen wirklichen gegeben haben sollte) gelangt zu einem ähnlichen Resultat durch selbstherrlichen Rationalismus: er ist so sehr von seiner eigenen Größe und der Unfehlbarkeit seiner Denkoperationen erfüllt, daß ihm die Gottheit unter lauter logischen Begriffen ebenfalls entschwindet.

Die Welt ohne Zwecke

Die schauerliche Monstrosität dieses Systems, die zugleich seine unvergleichliche Originalität bildet, wird völlig klar, wenn man bedenkt, daß es das einzige ist, das ganz und gar ohne Teleologie auszukommen vermochte. Daß alle spiritualistischen Philosophen den Zweckbegriff an die Spitze gestellt haben, ist nur selbstverständlich. Aber auch die gegnerischen Richtungen konnten ihn nicht entbehren. Kein noch so kompakter Materialismus, kein noch so luftiger Skeptizismus vor oder nach Spinoza hat zu behaupten gewagt, daß die kosmische Kausalität sich in derselben willenlosen und absichtslosen Weise abwickle wie ein Kettenschluß. Man hat sehr häufig mit blinden Kräften, unbewußten Willensimpulsen, intelligenzlosen Instinkten operiert. Aber alle diese Potenzen verfolgen, ob sie es wissen oder nicht, einen bestimmten Zweck. Auch wenn wir uns die Welt aus lauter stupiden Atomen aufgebaut denken, so wollen diese doch noch irgend etwas, vermöge einer dumpfen Zielstrebigkeit, die ihre Anordnung und Bewegung bestimmt. Der Darwinismus, der als die stärkste Antithese gegen alle metaphysischen Welterklärungsversuche gilt, ist sogar ein extrem teleologisches System, indem er den Begriff der Entwicklung zu seinem Kardinalprinzip macht; auch der von ihm hergeleitete Monismus, der sich rühmte, die theologische Weltanschauung für immer entthront zu haben, ist emsig bemüht, an allen Naturerscheinungen die höchste Zweckmäßigkeit aufzuzeigen. Und der ausschweifendste Pessimist glaubt immer noch an böse Zwecke und räumt dem Weltgeschehen zumindest ein Ziel ein: nämlich den Untergang, wie ja auch der vollkommenste Gottesleugner eine Welt bestehen läßt, die ohne Gott bestimmten Absichten gehorcht, und der extremste Phänomenalist die Illusion einer solchen Welt. Aber eine Welt, in der ein Geschehnis aus dem andern in derselben Weise folgt wie die Gleichheit der Radien aus der Natur des Kreises, in der, mit einem Wort, die alleinige Ursache aller Dinge und Erscheinungen ihre Definitionen sind, eine solche Welt hat nur einer ersonnen. Vielleicht ist die Vorstellung der Zwecke wirklich nur ein unvermeidlicher Anthropomorphismus; aber eben daraus ergibt sich, daß, wer sie völlig negiert, außerhalb der Menschheit steht. Ein solches Geschöpf ist entweder weniger als ein Mensch oder mehr als ein Mensch, aber auf jeden Fall ein Unmensch.

Die Logik der folie raisonnante

Spinoza war von einer exzessiven, penetranten, alles zerfressenden und aufsaugenden, pathologischen Logik und kam daher auch zu vollkommen pathologischen Resultaten. Es ist wahr, daß man, wenn man vollkommen konsequent folgert und ausschließlich geometrico modo denkt, zu solchen Ergebnissen gelangen muß; aber dies eben ist nicht natürlich, nicht menschlich und wahrscheinlich auch nicht göttlich. Denn sowohl die Natur wie der Mensch wie Gott (wenigstens der christliche und der aller höheren Religionen) handeln nicht vollkommen folgerichtig, logisch und mathematisch, sondern paradox und überlogisch.

Und in der Tat: »le misérable Spinoza«, wie ihn der edle Malebranche mit einer Mischung von Schauder und Erbarmen nannte, war sicherlich nicht geistig normal. Es ist bekannt, daß gewisse Irrsinnige sich durch tadellose Logizität auszeichnen. Nur die erste Prämisse ist bei ihnen falsch, von da an folgern sie mit einer staunenswerten Schlußfähigkeit, Geistesstärke und Denkschärfe: es ist jene Gehirnkrankheit, die unter dem Namen »folie raisonnante« beschrieben wird. Wir wollen damit natürlich nicht sagen, daß Spinoza wirklich wahnsinnig gewesen sei, sondern nur, daß der Verstand bei ihm zu einer unnatürlichen Ausschließlichkeit, Einseitigkeit und Alleinherrschaft entwickelt war. Chesterton macht in einem seiner Werke die tiefe Bemerkung: »Große Rationalisten sind nicht selten geisteskrank; und Geisteskranke sind in der Regel große Rationalisten ... Wer mit einem Irrsinnigen diskutiert, wird wahrscheinlich den kürzeren ziehen; denn in mancher Hinsicht funktioniert sein Geist nur um so schneller, je weniger er sich bei all den Erwägungen aufhält, die für den gesunden Menschenverstand in Betracht kommen. Er wird durch keine humoristische Anwandlung gehemmt, durch keine Regung der Nächstenliebe, durch keinen Einwand der eigenen Lebenserfahrung. Er ist gerade deshalb logischer, weil gewisse Sympathien bei ihm nicht mehr vorhanden sind. Insofern ist der Terminus irrsinnig irreführend. Der Irrsinnige ist nicht ein Mensch, der die Vernunft verloren hat; vielmehr ist er der Mensch, der alles verloren hat, nur nicht die Vernunft. Die Aussagen, die ein Irrsinniger macht, sind stets erschöpfend und, vom rein rationellen Standpunkt betrachtet, auch einwandfrei... Sein Geist beherrscht einen vollkommenen, aber zu engen Kreis. Die Erklärungen eines Wahnsinnigen sind ebenso vollkommen wie die eines Gesunden, nur sind sie nicht so umfassend ... Das stärkste und unverkennbarste Merkmal des Wahnsinns ist eben jene Vereinigung von fehlerloser Logik und geistiger Kontraktion ... Der Kranke befindet sich in der leeren und grellen Zelle einer einzelnen Idee, auf die sein Geist mit peinvoller Schärfe konzentriert ist ... Der Materialismus trägt den Stempel einer gewissen wahnwitzigen Einfachheit, genau wie die Argumente eines Irrsinnigen; man gewinnt sofort den Eindruck, daß hier alles gesagt und zugleich alles ausgelassen ist. Der Materialist versteht alles, aber dieses Alles erscheint zugleich als sehr nichtig.« Diese Charakteristik läßt sich wörtlich auf Spinoza und sein System anwenden.

Das luftleere System

Von der reinen Verstandesmäßigkeit Spinozas kommt auch die unerträgliche Kälte, die seine Werke ausströmen: aber es ist nicht die Kälte der Höhenregion, wie bisweilen an ihnen gerühmt worden ist, sondern die Kälte des luftleeren Raums. Man hat das erhabene und trostlose Gefühl, als ob man sich in einem der ungeheuern Zwischenraume befände, die die Weltkörper voneinander trennen: in einem Medium, das kein Leben, keine Wärme, kein Atmen, keinen Schall duldet und nichts hindurchläßt als das strenge Licht einer fernen fremden Sonne. Man erfriert, wenn man aus seiner »Ethik« erfährt, daß nichts anders sein könnte oder auch nur anders sein sollte, als es ist, daß alle Dinge gleich vollkommen, alle Handlungen gleich gut sind, weil sie alle gleich notwendig sind, wie ja auch ein mathematischer Lehrsatz nicht vollkommener ist als der andere. »Ich werde«, sagt er in dem Abschnitt »Über den Ursprung und die Natur der Affekte«, »die menschlichen Handlungen und Begierden ganz so betrachten, als ob es sich um Linien, Flächen und Körper handelte«; denn man soll sie, nach einem seiner berühmtesten Aussprüche, »weder beklagen noch belachen noch verabscheuen, sondern begreifen«. Daß man aber in die Seelen seiner Mitmenschen durch Mitleid, durch Humor und sogar durch leidenschaftliche Gegnerschaft eher eine Brücke bauen kann als durch sterile Intelligenz, das wußte er nicht.

Spinoza steht als ein Unikum in seiner Zeit, ja in der ganzen Menschheit. Er war natürlich kein Christ: über die Inkarnation schrieb er an einen Freund (indem er wiederum eines seiner schrecklichen mathematischen Beispiele heranzog), was dieses Dogma angehe, so erkläre er ausdrücklich, daß er es nicht verstehe, vielmehr erscheine es ihm ebenso ungereimt, wie wenn jemand behaupten wollte, der Kreis habe die Natur des Quadrats angenommen. Er war aber auch kein Heide, denn der sinnliche naturnahe Pantheismus der Antike und der Renaissance hat eine ganz andere Farbe als der seinige. Am allerwenigsten aber war er ein Jude: niemand hat den Erwählungsglauben, die Gesetzesfrömmigkeit, den versteckten Materialismus der mosaischen Religion schärfer durchschaut und greller durchleuchtet als er. Ja er war nicht einmal das, was man im landläufigen Sinne einen Atheisten nennt, weshalb es ein ganz richtiger Instinkt war, daß man lange Zeit »Spinozist« als eine Steigerung von »Atheist« empfand.

Nur in einem könnte man Spinoza als Juden ansprechen: in seinem Extremismus. Denn die Juden sind das Volk der äußersten Polaritäten; keine Nation hat eine solche Spannweite. Sie sind die zähesten Stützen des Kapitalismus und die engagiertesten Vorkämpfer des Sozialismus; sie sind die Erfinder der Kirche und des Pfaffentums und die leidenschaftlichsten Prediger der Freiheit und der Toleranz; sie sind im europäischen Kulturkreis die ersten gewesen, die das Evangelium verbreitet haben, und die einzigen geblieben, die es bis zum heutigen Tage verleugnen. Und so haben sie auch den Schöpfer des Monotheismus hervorgebracht und den stärksten Verneiner des Monotheismus: Moses und Spinoza.

Sigmund Freud sagt am Schlusse seines Aufsatzes »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse«: »Es ist vielleicht kein bloßer Zufall, daß der erste Vertreter der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr zu bekennen, brauchte es ein ziemliches Maß von Bereitwilligkeit, das Schicksal der Vereinsamung in der Opposition auf sich zu nehmen, ein Schicksal, das dem Juden vertrauter ist als einem anderen.« In einer ähnlichen, nur noch viel krasseren Situation befand sich Spinoza. Er steht völlig isoliert da: ohne Familie, ohne Gemeinde, ohne einen einzigen Gleichgesinnten oder Versteher, ja selbst ohne Hörer. Er spricht völlig ins Leere oder vielmehr mit sich selbst: seine Philosophie ist ein einziger herzbeklemmender Monolog, den ein von der Welt Verstoßener in seiner stillen ärmlichen Kammer führt; und diese völlige Absperrung und Aussperrung hat sicher den pathologischen Zug in ihm noch verstärkt. Hiedurch: durch diesen heroischen Verzicht auf jede antwortende Stimme, über dessen Unvermeidlichkeit er sich von allem Anfang an klar war, durch diesen zähen lautlosen Kampf gegen Mitwelt und Nachwelt, gegen das ganze Menschengeschlecht wächst seine Gestalt ins Tragische und zugleich ins Zeitlose, wo sie sich menschlichem Begreifen und Werten ebenso entzieht wie die Gottheit seiner »Ethik«.

Der künstliche Irrationalismus

Die werdende Barocke war in der Tat für nichts weniger empfangsbereit als für eine solche Philosophie. Wir haben am Schluß des vorigen Buches in Kürze zu schildern versucht, wie in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts eine asketische, spiritualistische Strömung die katholischen Teile Europas ergriff. Diese Rückkehr zur Strenge und Geistigkeit des Mittelalters war die Antwort auf den Ernst und Purismus der Reformation, weshalb diese Bewegung den sehr bezeichnenden Namen der Gegenreformation erhalten hat. Man verwarf und verfolgte in der Kunst das Nackte und Profane, in der Poesie das Schlüpfrige und Heitere, in der Philosophie das Libertinische und Skeptische. Man bekleidete die Gestalten Michelangelos und »reinigte« die Sonette Petrarcas. Aber diese klerikale Reaktion blieb ebenso eine Episode wie der düstere Reformversuch, den Savonarola auf der Höhe der Renaissance versucht hatte. In dem Maße, als der Papismus seine frühere Macht über die Gemüter zurückgewann, begann er sich wieder der Welt zu öffnen, um so mehr als er einsah, daß gerade sein weitherziges und mildes Verständnis für die sinnliche Hälfte der Menschenkreatur ihm eine große Überlegenheit über den doktrinären und phantasiearmen Protestantismus verlieh. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts rückt an die Stelle der ringenden und leidenden Kirche die herrschende und triumphierende Kirche, die in rauschenden Jubelakkorden ihren Sieg feiert und dem Sensualismus einer Menschheit, die danach begehrte, ihre Kräfte frei auszuleben, wieder vollen Lauf läßt. Der Mensch der Neuzeit, einmal da, ließ sich eben auf die Dauer nicht unterdrücken. Aber es ergab sich hier keine ganz reine Lösung. Der Erbfeind der Kirche war der Rationalismus. Sie macht daher, da sie ihn nicht völlig zu vertilgen vermag, den Versuch, ihn durch die andere gefährliche, aber für sie doch nicht ebenso gefährliche Großmacht der Zeit: durch den Sensualismus auszutreiben; sie will den Rationalismus durch Sensualismus ablösen, auslösen, erlösen. Hiedurch entstand jene merkwürdige Psychose, die man Barocke genannt hat. Die Barocke ist keine natürliche normale Rückkehr zum Irrationalismus, sondern eine ausgeklügelte Therapie, ein stellvertretendes Surrogat, ein aufreizender Exorzismus. Der Mensch, unfähig, zur echten Naivität zurückzufinden, erzeugt in sich eine falsche durch allerlei Drogen, Elixiere, Opiate, Berauschungs- und Betäubungsgifte; er verzichtet nicht auf seine Vernunft, weil das gar nicht in seiner Macht steht, er versucht bloß, sie zu benebeln, zu verwirren, zu ertränken, durch raffinierte Narkotika auszuschalten. Und hieraus, gerade aus ihrer Künstlichkeit erklärt es sich, daß die Barocke einen überwältigenden und vielleicht einzig dastehenden Triumph der Artistik darstellt.

Das Welttheater

Die Farbenanschauung der tenebrosi, die alles in düsteren Tinten hielten, und der »Kellerlukenstil«, der alles so darstellte, als ob das Licht von oben in einen finsteren Keller fiele, ist nicht bloß für die Malerei, sondern für Weltgefühl und Lebensform der ganzen Generation bestimmend gewesen, die auf das Konzil von Trient folgte. Mit einem Mal aber dringt Musik, Dekoration, Pomp, Weihrauch in die katholische Kirche und von da in die Kunst. Die Architektur bekommt etwas Spektakulöses, Weitausholendes, Beredtes, fast Geschwätziges. Arkaden und Kolonnaden, Loggien und Galerien häufen sich nebeneinander, gewundene und geknickte Säulen, abenteuerliche Ornamente und Dachprofile drängen sich hervor: allenthalben kann die Formensprache nicht ostentativ und eindringlich genug sein. Die Fassaden, die schon in der Renaissance wie aufgeklebt wirkten, erhalten jetzt völlig den Charakter einer prachtvollen, nur für sich selbst geschaffenen Kulisse: sie ragen oft um ganze Stockwerke über das eigentliche Gebäude hinaus; die Innendekoration schwelgt in Spiegeln, Damastblumen, Girlanden, Goldleisten, Stuckaturen. Kurz: es ist ein vollkommener Theaterstil, aber eben darum ein wirklicher Stil, wie man ihn seit der Gotik nicht mehr erlebt hatte: ganz wie im Theater ist alles einem großen Zentralzweck untergeordnet, der alle Künste, alle Lebensbetätigungen tyrannisch in sein Herrschaftsreich zieht; in jeder Pore fiebert der leidenschaftliche Wille zur zauberischen Illusion, die stärker ist als die Wirklichkeit, zur hypnotischen Faszination, die packt und umwirft, zur Magie der »Stimmung«, die alles in den Duft und Schimmer einer farbigeren und aromatischeren Welt taucht. Und wie im Theater neigt man dazu, die Grenzen der einzelnen Künste zu verwischen: man malt Deckengewölbe, die aufs täuschendste wirkliche Architektur nachahmen, man macht die Schatten- und Lichtverhältnisse der Gebäudenischen, worein man die Skulpturen plaziert, zum integrierenden Bestandteil des plastischen Kunstwerks, man stellt dem spröden Stein Aufgaben, die man bisher kaum der Malerei zugemutet hatte, modelliert Blitze, Lichtstrahlen, Flammen, flatternde Bärte, gebauschte Gewänder, die Wolken des Himmels, die Wellen des Meeres, den Glanz der Seide und die Wärme des Fleisches. Säulen und Querbalken, die bisher dazu da waren, zu tragen, verlieren ihre Funktion: man verdoppelt und verdreifacht die Pfeiler, setzt sie an Stellen, wo sie nichts zu stützen haben, und bricht die Mauerbogen in der Mitte entzwei: sie sollen ja nicht einen organischen Bauteil bilden oder auch nur vortäuschen, sondern lediglich zum rhetorischen Effekt und lärmenden Schmuck dienen; und drei Säulen reden lauter und energischer als eine, gespaltene Wölbungen origineller und frappanter als geschlossene. Logische und praktische Bedenken können sich nicht erheben, denn es ist ja alles nur ein Theater. Man inszeniert sogar die Natur: künstliche Felsen, Wasserfälle, Fontänen, Schluchten, Brunnen müssen auch ihr den Charakter einer dramatischen Komposition verleihen. Und weil man überall, selbst an dem kalten Marmor und der starren Bronze, bemüht ist, das Zerfließende, Gestaltlose, nicht endgültig und eindeutig Konturierte zu suggerieren, um hiedurch den Stimmungsgehalt, die geheimnisvolle Bühnenwirkung zu erhöhen, wirft man sich mit besonderer Leidenschaft auf Wasserwerke und Feuerwerke, die, aus einem stets Farbe und Form wechselnden Material aufgebaut, sich launisch und ungreifbar jeder Fixierung entziehen. Der geniale Regisseur dieses Theaters war der Cavaliere Bernini, Architekt, Bildhauer, Dichter, Maschinenmeister und Ausstattungschef in einer Person, der durch eine unerschöpfliche Fülle von Einfällen, eine grandiose, vor keiner Kühnheit zurückschreckende Phantasie und einen bei aller Bizarrerie unerbittlich einheitlichen Stilwillen der Kunstdiktator des damaligen Europa geworden ist.

Exaltation, Extravaganz, Aenigmatik, latente Erotik

Es war, wie man sieht, die äußerste Reaktion gegen die Renaissance. War dort das Ideal die gravità riposata, so herrschte hier die zügellose, ja oft gemacht zügellose Leidenschaft, Bewegung, Exaltation. In Architektur und Plastik, in Malerei und Ornament, in den Schöpfern und den Nachahmern weht uns immer wieder dieses Brausende, Rauschende, Schnaubende und dabei Schmachtende, Schwimmende, Schwebende entgegen. Diese Kunst hält nicht vornehm Distanz wie die Hochrenaissance, sucht nicht sanft zu überreden wie die Frührenaissance, ist nicht andächtig in sich selbst versunken wie die Gotik, sondern treibt ganz unverhohlen Propaganda, deklamiert, schreit, gestikuliert mit einer Leidenschaftlichkeit, ja Schamlosigkeit, die Einwände gar nicht aufkommen läßt. Sie ist immer unerbittlich entschlossen, das Äußerste zu geben. Ob sie mit himmelndem, bis zur Affektation demütigem Augenaufschlag in Sehnsucht und Zerknirschung vergeht, sich in visionären Krämpfen der Ekstase bis zur religiösen Hysterie steigert oder die Wirklichkeit in ihren monströsesten, erschreckendsten Gestaltungen rückhaltlos abschildert: immer ist es das Exaggerierte und Exorbitante, das Schrille und Grelle, wonach sie ihre Produktion orientiert. Sie wählt mit Leidenschaft gerade jene Stoffe, die die kühle Renaissanceästhetik hochmütig vermieden hatte: das Kranke, Geschlagene, Aussätzige; das Alte, Dekrepide, Erschöpfte; das Zerlumpte, Verwitterte, Mißgewachsene; den Tod, das Skelett, die Verwesung; sie läßt die Kreatur heulen, grinsen, zittern, sich in Verzerrungen und Verzückungen winden: sie hebt das Extravagante und das Häßliche, weil es das Stärkere und das Wahrere ist. Und während es der tiefste Wille und das höchste Ziel der Renaissance war, zu umgrenzen und zu erhellen, zu harmonisieren und zu ordnen, ist sie aufs raffinierteste bestrebt, den Duft der ewigen Sehnsucht und Unerfülltheit, den Reiz des Rätsels, der Verwirrung, der Dissonanz um ihre Schöpfungen zu breiten. Ihr artistisches Meisterstück ist es, daß sie sogar das Licht, jene scheidende und klärende Macht, die seit jeher aller Kunst als Verdeutlichungsmittel gedient hatte, in ihre Dienste zieht: durch die Unbestimmtheit, die sie den Übergängen vom Schatten zur Helle verleiht, durch die Betonung der undefinierbaren Aura, die, den Umriß verwischend, alle Objekte umhüllt, versteht sie es, Undurchsichtigkeit und Verschwommenheit zu erzeugen und die Farbenmischung zum Range einer mystischen Kunst zu erheben: eine der gewaltigsten und umwälzendsten Taten, die die Geschichte des Sehens zu verzeichnen hat.

Zugleich umgibt sie alles mit einer Atmosphäre des Schwülen und Schwellenden, der latenten Erotik. Man bekleidet die Gestalten, aber die Gewandung wirkt im Verschweigen viel lüsterner als die frühere Nacktheit. Der Mensch, in der Renaissance bloß anatomisch schön, erhält nun eine sexuelle Schönheit; unter der dezenten Drapierung atmet viel wärmeres Fleisch. Bisweilen gibt man den Hüllen eine Anordnung, daß sie jeden Augenblick zu fallen drohen; oder man drängt die ganze Sinnlichkeit ins Gesicht. Grausamkeit und Wollust fließen ineinander. Man schwelgt in Blutszenen, Martern und Wunden, man verherrlicht die Süße des Schmerzes. Schließlich vereinigen sich Erotik, Algolagnie und Sehnsucht nach dem Übernatürlichen zu jener bizarren Mischung, deren überwältigendster Ausdruck Berninis Heilige Theresa ist, ein Werk, das zugleich ewig denkwürdig bleiben wird durch die sublime Kunst der raffiniertesten Illusionswirkungen, wie sie sonst nur die Bühne erreicht. Es ist ganz ohne Zweifel eine tief religiöse Konzeption; und doch spürt man überall, in der Gesamtkomposition wie im Arrangement jeder Einzelheit, geheime Schminke und Rampe. Aber warum sollten Theater und Religion völlig unvereinbare Gegensätze sein? Ist denn nicht das Theater für alle, die ihm ernst und leidenschaftlich dienen, eine Art Religion und ist die Religion in ihrem sinnfälligen Kultus nicht eine Art Theatrum Dei, eine Schaustellung der Größe Gottes?

Die natürliche Unnatürlichkeit

Es wird immer Menschen geben, die die Renaissance höher stellen als die Barocke. Es sind dies vorwiegend jene Menschen, die glauben, daß man ein Kunstwerk nur dann erhaben finden dürfe, wenn es langweilig ist, wie ja auch viele annehmen, daß ein philosophisches Werk nur dann tief sein könne, wenn es unverständlich ist. Dies sind jedoch Geschmacksfragen, über die unparteiisch zu urteilen fast unmöglich ist. Aber eines scheint uns ganz unwiderleglich, obgleich so oft das Gegenteil erklärt worden ist: daß die Barockkunst naturalistischer war als die Renaissancekunst. Diese Behauptung hätte noch vor wenigen Jahrzehnten wie ein schlechter Witz geklungen, denn man hatte sich im neunzehnten Jahrhundert daran gewöhnt, unter Barocke soviel wie äußerste Unnatur, Verschrobenheit und Verzerrung zu verstehen, wie ja auch im achtzehnten Jahrhundert gotisch soviel bedeutete wie roh, kunstlos, barbarisch. In diesem Bedeutungswandel der Fachausdrücke liegt eine ganze Geschichte der Ästhetik; und es ist nicht ausgeschlossen, daß auch das Wort »klassisch« eines Tages eine solche Metamorphose zum Schimpfwort durchmachen wird. In Wirklichkeit war aber gerade naturalezza das Losungswort der Barocke, und, gehalten gegen die Renaissance, bedeutete sie auch tatsächlich ein Freiwerden der ungebrochenen Instinkte, der quellenden Leidenschaft, der lebensvollen Lust am Spiel mit Formen, Farben, Motiven. Sie ist eine Rückkehr zur Natur sowohl in der Form wie im Inhalt: in der Form, weil sie überall auf elementaren Ausdruck geht, ohne sich durch die einseitigen Regeln einer kalten Kunstetikette binden zu lassen, und im Inhalt, weil sie in die Tiefen des Seelenlebens hinabsteigt und gerade das zu ihrem Lieblingsthema macht, was die Renaissance als unschön perhorreszierte: den Menschen in seiner Qual, seiner Verzückung, seinen Manien und Abgründen; in dieser Sucht, niemals die Norm, die Mitte, die gerade Linie zu geben, streift sie oft bis an die Karikatur. Sie war, um es paradox auszudrücken, gerade deshalb so natürlich, weil sie unnatürlich war. Denn die Normalität ist nicht die Regel, sondern die große Exzeption. Auf zehntausend Menschen kommt vielleicht ein einziger, der genau nach dem anatomischen Kanon gebaut ist, und wahrscheinlich nicht einmal ein einziger, dessen Seele vollkommen normal funktioniert. Der verzeichnete, der monströse, der pathologische Mensch, der Mensch als Verirrung und Fehlleistung der Natur ist der »normale« Mensch, und darum hat nur er unser ästhetisches Interesse und unser moralisches Mitgefühl. Natürlich ist dieser Schönheitsmaßstab ebenso subjektiv wie der klassizistische; aber eines wird an ihm jedenfalls klar: daß nämlich »Naturalismus« ein höchst problematischer Begriff ist. Jede neue Richtung hält sich für naturalistischer als die früheren, gegen die sie reagiert, für einen Sieg der Wahrheit, der Freiheit, des gesteigerten Wirklichkeitssinnes.

Die Hegemonie der Oper

In jedem Zeitalter hat eine bestimmte Kunst die Hegemonie: in der Renaissance war es die Plastik, im Barock ist es die Musik. Ein überreich besetztes Orchester schmettert uns aus allen seinen Schöpfungen entgegen. Und die Wende des sechzehnten Jahrhunderts ist auch für die Tonkunst selber die Geburtszeit der moderna musica, des stile nuovo. Fast gleichzeitig setzen sich eine Reihe höchst bedeutsamer Neuerungen durch. Die sonata, das Instrumentalstück, tritt in siegreichen Gegensatz zur cantata, dem Singstück: der a-cappella-Stil, der mehrstimmige Gesang ohne Orchester wird überwunden. Wir haben gehört, daß in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts das Prinzip der Polyphonie zur vollen Ausbildung gelangte; jetzt kommt wiederum die Monodie empor, der instrumental begleitete Sologesang. Da nämlich im Vergleich zur führenden Oberstimme die Gesamtheit der übrigen Stimmen nur noch die Bedeutung von akkompagnierenden Akkorden hat, wird sie durch Instrumente ersetzt und diese Begleitung allgemein skizziert im sogenannten basso generale. In der Bevorzugung des Tonwerkzeugs vor der menschlichen Stimme äußert sich das Spielerische und Artistische der Barocke, ihre Vorliebe für das Malerische und die Stimmung, ihr Wille zum gesteigerten künstlerischen Raffinement, zur Farbe und Nuancierung, Wucht und Ausdrucksfülle und zugleich ihr geringes Bedürfnis nach Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit und Einfachheit der Empfindungsäußerung.

Und alsbald bemächtigt sich die Musik auch der effektvollsten künstlerischen Ausdrucksform: der dramatischen. Emilio de' Cavalieris »Rappresentazione di anima e di corpo«, 1600 in Rom zur ersten Aufführung gelangt, gilt als das erste Oratorium, und in kurzer Zeit erreichte diese Kunstform, die sich zur Oper etwa verhält wie der Karton zum Gemälde, eine sehr hohe Blüte. Aber die geschichtliche Entwicklung hat sich nicht nach der didaktischen Reihenfolge gehalten, in der das Oratorium dem eigentlichen Musikdrama vorhergehen müßte, denn schon dieses erste Oratorium war mehr das, was man heute eine »Konzertoper« nennen würde (wie denn überhaupt das italienische Oratorium während des ganzen siebzehnten Jahrhunderts eine Hinneigung zur Oper zeigte und noch im achtzehnten Jahrhundert nicht selten in opernmäßiger Inszenierung vorgeführt wurde) und die erste wirkliche Oper ist drei Jahre früher geboren worden: die »Dafne«, zu der Ottavio Rinuccini den Text, Jacopo Peri die Musik geschrieben hatte, erlebte im Karneval 1597 zu Florenz ihre Uraufführung. Das dramma per musica, wie man anfangs sagte, war durch Versuche und Diskussionen eines geistreichen Dilettantenkreises entstanden, die auf die Wiederbelebung der antiken Tragödie abzielten: man dachte sich diese als eine Folge von Rezitationen zur Kithara, durch Chöre unterbrochen. Dementsprechend wählte man allerlei einfache Handlungen vorwiegend mythologischen Inhalts mit sangbaren Situationen und setzte sie in Musik. Diese Art Oper war unserer heutigen noch sehr unähnlich: mehr musikalische Deklamation als Gesang, psalmodierend in der Art der kirchlichen Litaneien des Mittelalters und von einem recht dürftigen Orchester unterstützt, das unsichtbar hinter den Kulissen aufgestellt war, dafür aber von allem Anfang an mit Tanz und verschiedenartigen Ausstattungseffekten verbunden. Man nannte diese neue Art des Sprechgesanges, die immerhin vor der bisherigen Vokalmusik die größere Natürlichkeit und Deutlichkeit voraushatte, da sie der normalen Betonung folgte, den stile rappresentativo oder stile parlante. Einen Fortschritt bedeutete bereits Claudio Monteverdis »Orfeo« vom Jahre 1607: das Rezitativ ist belebter, die Rolle der Musik viel selbständiger, indem ihr schon das Zwischenspiel und die Klangmalerei als eigene Aufgaben zugewiesen werden. Ferner verdankt die damalige Oper diesem ihrem stärksten Talent die Einführung des Duetts und die Erfindung des Geigentremolos, und schon in seinem ersten Werk taucht das Leitmotiv auf.

An äußerem Prunk haben die Opernvorstellungen der Barocke alle ihre Nachfolger übertrofFen. Man sah die Zwietracht auf ihrem Drachenwagen und Pallas Athene in ihrer Eulenkutsche durch die Lüfte schweben, Jupiter und Apoll in den Wolken thronen, das Schiff des Paris durch Wogen und Wetter steuern; die Unterwelt spie Geister und Ungeheuer aus ihrem roten Rachen; Pferde und Büffel, Elefanten und Kamele zogen vorüber, Truppenkörper von oft vielen hundert Menschen defilierten, lieferten Gefechte, beschossen Festungen; der Himmel mit Sonne und Mond, Sternen und farbigen Kometen spielte fast ununterbrochen mit. Bernini, der Meister aller dieser Künste, zeigte einmal die Engelsburg und davor den rauschenden Tiber mit Kähnen und Menschen: plötzlich riß der Damm, der den Fluß vom Zuschauerraum trennte, und die Wellen stürzten dem Publikum mit solcher Wucht entgegen, daß es entsetzt die Flucht ergriff; aber Bernini hatte alles so genau berechnet, daß das Wasser vor der ersten Reihe haltmachte. Ein andermal brachte er einen glänzenden Karnevalszug auf die Bühne, an der Spitze Maskierte mit Fackeln: ein Teil der Kulissen geriet in Brand, alles begann davonzulaufen; aber auf ein Zeichen verloschen die Flammen und die Bühne verwandelte sich in einen blühenden Garten, in dem ein feister Esel ruhig graste. Man ermißt an diesen grotesken und glänzenden Coups, wie blasiert und anspruchsvoll das damalige Theaterpublikum gewesen sein muß.

Die Oper wurde bald zur Königin des Zeitalters. 1637 entstand das erste öffentliche Opernhaus in Venedig, 1650 gab es dort bereits vier. 1627 erschien die erste deutsche Oper, die ebenfalls »Daphne« hieß, komponiert von Heinrich Schütz, dem bedeutendsten Vorläufer Händels und Bachs; den Text hatte der Literaturpapst Opitz höchst persönlich nach Rinuccini bearbeitet. Allmählich gliederte sich vom Rezitativ die Arie ab, der Chor trat fast ganz zurück und aus den Sängern wurden Statisten, die nur von Zeit zu Zeit einige Rufe von sich zu geben hatten wie »viva«, »mori«, »all'armi« und dergleichen. Daß es den neuen Dingen damals nicht anders ging als heutzutage, zeigt das Werk des Kanonikus Giovanni Maria Artusi, eines eingefleischten Kontrapunktisten, »Delle imperfezioni della moderna musica«, worin es heißt: »Die neuen Komponisten sind Ignoranten, die nur ein Geräusch machen und nicht wissen, was man schreiben darf und was nicht.«

el siglo de oro

Zur höchsten Blüte gelangte die Frühbarocke in Spanien. Wir haben hier wieder einen Beweis, daß politischer und wirtschaftlicher Aufschwung durchaus nicht immer die notwendige Vorbedingung für hohe künstlerische Entwicklung bildet. Denn das siebzehnte Jahrhundert bedeutet für die Spanier den Verlust ihrer Großmachtstellung und den völligen ökonomischen Ruin, und doch nennen sie es mit Recht el siglo de oro, das goldene Jahrhundert. Auf Philipp den Zweiten, den wir bereits näher kennen gelernt haben, folgte um die Wende des sechzehnten Jahrhunderts der phlegmatische energielose Philipp der Dritte, von dem er gesagt haben soll: »Gott, der mir so viele Reiche geschenkt hat, hat mir einen Sohn verweigert, der sie regieren könnte; ich fürchte, daß sie ihn regieren werden.« Die planlose und korrupte Günstlingsherrschaft, unter der sein Regime litt, verschlimmerte sich noch unter seinem Nachfolger Philipp dem Vierten, dessen Interesse den Freuden der Liebe und der Jagd, aber auch dem Theater und der Malerei gehörte. Die unfähige und träge Staatsverwaltung, die gleichwohl jede selbständige Regung der städtischen Kommunen und der Landbevölkerung unterdrückte, und die allgemeine Bestechlichkeit, Rückständigkeit und Protektion führte zu einem vollständigen Niedergang der Volkswirtschaft. Schließlich sah sich die Regierung zu dem verzweifelten Mittel genötigt, jedem Feldarbeiter den erblichen Adel zu versprechen, aber auch dies erwies sich als wirkungslos, denn Arbeit galt jedem freien Spanier als Schande. Von den unklugen und unmenschlichen Bedrückungen der Morisken haben wir schon gehört: im Jahre 1609 kam es zu ihrer völligen Vertreibung, die auf die heimische Industrie ungemein lähmend wirkte; ähnliche Folgen hatte die erzwungene Auswanderung der Juden nach Holland, wo sie viel zu dem großen wirtschaftlichen Aufschwung beigetragen haben. Auf dem flachen Lande und unter dem städtischen Proletariat, das nirgends zahlreicher und verkommener war als in Spanien, herrschte bitterste Hungersnot; aber auch das Kleinbürgertum befand sich in sehr gedrückter Lage. Die Steuern wurden immer uneinbringlicher, und so wurden auch Adel und Hof in den Bankerott hineingezogen: man konnte nicht selten die königliche Leibwache an den Klostertüren um die Armensuppe betteln sehen. Brot, Zwiebeln, getrocknete Trauben, etwas Schafkäse und ein paar Eier bildeten die tägliche Nahrung des Spaniers; nur selten konnte er sich sein Nationalgericht, die berühmte olla podrida leisten, eine aus Kohl, Rüben, Knoblauch, Hammelfleisch und Speck bereitete Suppe. Einen staatlichen Schulunterricht oder gar Schulzwang gab es nicht; nur die Angehörigen des Adels und des höheren Bürgertums waren imstande zu lesen, und auch diese nur, was ihnen eine streng und fanatisch gehandhabte Zensur gestattete. Das Inquisitionsgericht stand nach wie vor in voller Wirksamkeit, und durch die Bestimmung, daß der Angeklagte die Zeugen und Angeber nicht zu Gesicht bekommen dürfe, war der feigen Rachsucht und hinterlistigen Denunziation der größte Spielraum gewährt. Eine ausgedehnte Verbrecherorganisation, die sogenannte germanía, die mit der Polizei kartelliert war, beunruhigte das ganze Land. Trotz der Verarmung war die Spielsucht bei hoch und nieder allgemein, und der Staat war als Inhaber des Monopols für die Fabrikation von Spielkarten der Nutznießer dieses Lasters. Nur die Trunksucht gehörte nicht zu den spanischen Nationalübeln: das Schimpfwort borracho, Trunkenbold, galt als eine Beleidigung, die nur mit Blut gesühnt werden konnte. Überhaupt war in allen Kreisen der äußerliche Ehrbegriff zu krankhafter Höhe entwickelt. Diese Seite des spanischen Volkscharakters, in der sich seine Härte, Leidenschaftlichkeit und Verbohrtheit am sinnfälligsten ausprägt, ist aus der Dichtung allgemein bekannt, am ergreifendsten geschildert in Calderons »Arzt seiner Ehre«. Lope de Vega sagt: »Ehre ist etwas, das im andern beruht, niemand ist durch sich selbst geehrt, denn durch den andern empfängt er die Ehre.« Das deckt sich merkwürdig mit der Definition Schopenhauers: »Die Ehre ist, objektiv, die Meinung anderer von unserem Wert und, subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung.« Sehr bezeichnend für die fast pathologische Loyalität der Spanier ist es übrigens, daß es für sie trotz ihrer extremen Empfindlichkeit, die lieber den Tod als eine ungestrafte Kränkung ertrug, Beleidigungen durch den König nicht gab, wie sich dies in einer Reihe berühmter Dramen, in Zorillas » Del Rey abajo ninguno« zum Beispiel schon im Titel ausdrückt, der so viel bedeutet wie »Unter dem König darf niemand beleidigen«; auch konnte das Machtwort des Königs jede verletzte Ehre wiederherstellen.

Nicht bloß die Dörfer, sondern auch die Städte bestanden mit Ausnahme der Paläste und öffentlichen Gebäude aus Lehmhäusern, es gab keine Trottoirs und für die Beleuchtung sorgten bloß die Öllämpchen, die unter den Muttergottesbildern brannten. Die Reinlichkeit war kaum größer als in Rußland, der Schmutz Madrids sprichwörtlich; Postkutschen waren unbekannt, die Gasthöfe in einem so elenden Zustand, daß man sie gar nicht als solche ansehen kann; von einem geordneten Meldewesen, öffentlicher Sicherheit und dergleichen war keine Rede. Und doch war das Leben nicht ohne Farbe, Poesie und Heiterkeit. Die zahlreichen Feiertage brachten prachtvolle Prozessionen, in denen Kirche und Hof den Glanz ihrer Macht zur Schau stellten, bunte ausgelassene Volksfeste, imposante Stierkämpfe und vor allem Theateraufführungen, wie sie in der ganzen Welt nicht zu sehen waren. Und auch die Dürftigkeit des Alltags war gewürzt durch ewige Liebeshändel, Scherze voll Anmut und Galgenhumor und den berauschenden Duft der Gärten und Mondscheinnächte, die nichts kosteten.

Die Königinnen ohne Beine

Die Krone und Spitze dieser sonderbaren Welt bildete ein Geschlecht von glänzenden und melancholischen Drohnen, die Granden, die oft in großer Not lebten, aber auch dann noch ihre abgeschabte Capa und ihre stets stichbereite Espada mit einer stilvollen Würde trugen, die bis zum heutigen Tage sprichwörtlich geblieben ist. Ihr Stolz machte nicht einmal vor dem König halt, dem sie mit dem Hut auf dem Kopfe entgegentraten. Den müden Rassenhochmut ihres bis zur Anämie gereinigten Bluts, die zur Leblosigkeit geronnene Exklusivität ihres Standesbewußtseins, ihre ganz Maske und Form gewordene Geistigkeit hat Velasquez ebenso unvergleichlich festgehalten wie Tizian das so ganz anders geartete Selbstgefühl des Renaissancemenschen. Und die Frau, zugleich die Königin und die Sklavin dieser christlich-orientalischen Welt, erstarrt vollends zur Puppe. Eine dicke Schminkschicht aus Eiweiß und kandiertem Zucker verbirgt jede Regung ihres Antlitzes, eine enorme Tonne von Reifrock, guardia de virtud, Tugendwächter genannt, bedeckt ihren Unterkörper. Als die Braut Philipps des Vierten durch eine spanische Stadt reiste und ihr dort von der Cortes als Ehrengeschenk kostbare seidene Strümpfe überreicht wurden, rief der Zeremonienmeister, indem er sie empört zu Boden schleuderte: »Ihr sollt wissen, daß die Königinnen von Spanien keine Beine haben.«

Gracian

Ein sehr charakteristisches Denkmal hat sich die Weltanschauung jener Gesellschaftsklasse in dem 1653 erschienenen » Oraculo manual y arte de prudencia« des Jesuitenpaters Balthasar Gracian errichtet, das von Schopenhauer vortrefflich ins Deutsche übersetzt worden ist. Darin werden Lebensregeln erteilt wie die folgenden: »Über sein Vorhaben in Ungewißheit lassen: mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm, bei allem lasse man etwas Geheimnisvolles durchblicken«; »die Hoffnung erhalten, nie aber ganz befriedigen«; »nicht unter übermäßigen Erwartungen auftreten«; »stets handeln, als würde man gesehen«; »denken wie die wenigsten und reden wie die meisten«; »sich verzeihliche Fehler erlauben, denn eine Nachlässigkeit ist zu Zeiten die größte Empfehlung«; »sich vor dem Siege über Vorgesetzte hüten«; »was Gunst erwirbt, selbst verrichten, was Ungunst durch andere«; »nicht abwarten, daß man eine untergehende Sonne sei, die Dinge verlassen, ehe sie uns verlassen«; »weder ganz sich noch ganz den andern angehören, denn beides ist eine niederträchtige Tyrannei«. Und am Schluß gelangen diese Maximen zu dem überraschenden Resümee: »Mit einem Wort: ein Heiliger sein, und damit ist alles auf einmal gesagt. Drei Dinge, die mit S anfangen, machen glücklich: santitad, sanidad, sabidurîa, Heiligkeit, Gesundheit und Weisheit.«

El Greco

Aber aus dieser seltsamen Atmosphäre erblühten die rauschenden Sprachwunder Calderons; die brennenden Farbenorgien der Dekorationskunst, die mit ihren aneinandergereihten azulejos an die musivische Bilderpracht dieses Dichters erinnern; die in der Kunstgeschichte einzig dastehenden Holzplastiken, die durch grellste Bemalung, natürliche Fleischtönung, Blutgeriesel, Kristallaugen, Dornenkronen, Silberdolche, echte Seidengewänder, Tränen aus Glasperlen und Perücken aus wirklichem Haar die roheste Panoptikumillusion und gleichwohl eben damit eine geheimnisvolle suggestive Wirkung erzeugen, die über alle Kunst hinausgeht. Und in der Malerei hat der wuchtige Ernst und unerbittliche Naturalismus Riberas, die einfache und doch so tiefe Klosterfrömmigkeit Zurbarans die höchsten Schöpfungen vollbracht. Neben ihnen Murillo zu nennen, der dem ganzen neunzehnten Jahrhundert als der größte spanische Maler galt, ist fast eine Blasphemie. Seine auf süßen Parfüm- und Daunenwölkchen einherschwebende Kunst hat den seidigen Optimismus und die billige Beschwingtheit des Allerweltsvirtuosen, der dem großen Publikum immer imponiert, und seine berühmten Szenen aus dem spanischen Volksleben sind gefällige Opernarrangements und glasierte Idyllen, die, durch kolorierende Verfälschung der Wirklichkeit dem Philister schmeichelnd, es nur zu begreiflich machen, daß Murillo der Abgott der Bourgeoisie geworden ist. Murillo ist der spanische Raffael; aber es ist für die spanische Welt des siebzehnten Jahrhunderts bezeichnend, daß diesmal nicht, wie wir dies in Italien bei Raffael und in Holland bei Rubens konstatieren mußten, der flachste unter den bedeutenden Künstlern als der repräsentativste anzusehen ist, sondern der tiefste, nämlich el Greco.

Greco hat in Toledo gelebt, dessen Agonie gerade damals begann, obgleich es noch immer die stolze Stadt der Inquisition und der Konzile war; und er hat die Seele Toledos gemalt: den Triumph der römischen Weltkirche und die Todeswehen der spanischen Weltmonarchie. Aber dies allein ist es nicht, was seinen Bildern eine so unvergleichliche Macht verleiht, sondern vor allem jene vollkommene Entrücktheit, Unwirklichkeit und Transzendenz, die aus jeder seiner Gestalten redet: ihren welken Gebärden, ihren seltsam verkrümmten und in die Länge gestreckten Körpern, ihrem visionären, um höhere Geheimnisse wissenden Blick und der ganz unnatürlichen, nämlich magischen Raumverkürzung und Lichtverteilung. Gravitation, Ähnlichkeit, Perspektive: diese und dergleichen Dinge erscheinen uns vor seinen Bildern plötzlich als ungeheuer nebensächlich und flach, ja falsch. Dieser Grieche hat nicht die Wahrheit gemalt, die »verdächtige Wahrheit«, wie sie Calderons Vorgänger Alarcón in dem Titel eines seiner Stücke nennt, und man hat ihn jahrhundertelang für einen Narren angesehen, weil er den Verstand als Narrheit erkannt hatte, als den »Hofharren« der Menschheit, wie Calderon ihn darstellt. Aber eben darum ist er, zusammen mit Loyola und Don Quixote, der stärkste Ausdruck der spanischen Barocke.

Die drei Therapien gegen den Rationalismus

Es ist jetzt noch nicht der Augenblick, über die Barocke etwas Zusammenfassendes zu sagen; aber einige Züge treten bereits hervor. Die Barocke ist, wie jede geschlossene Weltanschauung, ein Versuch, mit der Wirklichkeit fertig zu werden, deren Widersprüche aufzulösen. Wir haben als das große Thema der Neuzeit den Rationalismus erkannt, den Versuch, alle Erscheinungen der Alleinherrschaft des Verstandes zu unterwerfen. Durch ihn gelangt in die Seele des modernen Menschen ein ungeheurer Hiatus, eine Kluft und Fuge, die ihn auseinanderreißt. Im Mittelalter war noch alles wahr, wirklich, göttlich; die Welt eine Tatsache des Glaubens. Der Rationalismus unterminiert den Glauben und damit die Wirklichkeit.

Aber auch in jener Übergangsära und Vorbereitungsperiode, die wir die »Inkubationszeit« nannten, verlor das Leben zwar sehr an Realität, war aber doch noch deutbar, faßbar, bestimmbar. Wir haben gesehen, wie mit dem Sieg des Nominalismus der »Zweiseelenmensch« in die Geschichte trat, der kontrapunktische Mensch, der nichts anderes ist als die fleischgewordene coincidentia oppositorum, die Vereinigung zweier extremer Gegensätze und Widersprüche. Dieser Mensch war zwar nicht mehr einheitlich, aber doch noch eindeutig. Er ist gleichsam eine gebrochene Zahl, aber doch noch eine rationale Zahl. Das ändert sich jetzt. Zum erstenmal erscheinen wirklich komplizierte Menschen auf der Bühne der europäischen Geschichte, die jeder Formel trotzen. Es kommt wiederum etwas Neues.

Wir haben den Rationalismus als einen Giftkörper bezeichnet, der zum Beginn der Neuzeit in die europäische Menschheit eintrat. Die ganze Geschichte der folgenden Jahrhunderte ist nun ein bewußter oder unbewußter Kampf gegen dieses Toxin. Ein solcher Kampf kann natürlich verschiedene Formen annehmen. Man kann, was viele für eine besonders glückliche Therapie halten, die Tatsache der Vergiftung einfach leugnen. Man kann versuchen, das Gift aus dem Blut zu entfernen, was meist nur durch Antitoxine gelingt. Und man kann schließlich auch zu dem sehr bedenklichen Mittel greifen, den Körper an das Gift zu gewöhnen.

Alle diese Möglichkeiten wurden im Laufe der Neuzeit verwirklicht. Renaissance und Reformation versuchten es mit der Leugnung, die erstere, indem sie behauptete, der Rationalismus sei identisch mit dem, was für sie das Höchste bedeutete, mit der Kunst, die letztere, indem sie erklärte: der Rationalismus kommt von Gott. Die letzte Phase der nunmehr abgelaufenen Neuzeit, die etwa um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts mit der sogenannten »Aufklärung« einsetzt, hatte sich an das Gift angepaßt und lehnte sich gegen die Krankheit überhaupt nicht mehr auf, die bereits zu einem Zustand geworden war. Die Barocke hingegen griff zum »Gegenkörper«, zum Antidot.

Zunächst sucht sie den Rationalismus durch Sensualismus zu verdrängen. Aber da beide, wie wir im ersten Buche nachzuweisen versuchten, im Grunde dasselbe sind, so war das kein sehr geeignetes Gegengift. Sie begibt sich daher sehr bald auf einen zweiten Ausweg. Da die Wirklichkeit nun einmal rational ist oder vielmehr: da der Mensch der Neuzeit nicht imstande ist, sie anders zu sehen, so verfällt sie auf die List, sie zu negieren, zu einer Realität zweiter Ordnung zu degradieren, indem sie sie entweder nicht ernst nimmt, mit ihr spielt: dies ist die künstlerische Form der Lösung, oder indem sie sie für unwahr und vorgetäuscht, für ein Trugbild erklärt: dies ist die religiöse Form der Lösung. Beide Formen vermögen sich recht wohl miteinander zu vermischen, sie haben sogar eine ausgesprochene Tendenz dazu.

Die Welt als Fiktion

Vor etwa einem halben Menschenalter erschien ein höchst bedeutsames, bis heute noch nicht genügend gewürdigtes Werk, dem man den Namen geben könnte: »Die Welt als Fiktion«. Tatsächlich heißt es anders, nämlich: »Die Philosophie des Als ob. System eines idealistischen Positivismus, herausgegeben von Hans Vaihinger.« Aber schon dieser Titel ist eine Fiktion, denn in Wirklichkeit war der Kantforscher Professor Vaihinger nicht der Herausgeber, sondern der Verfasser. Nach seiner Grunddefinition ist eine Fiktion nichts anderes als ein gewollter Fehler, ein bewußter Irrtum. Der sprachliche Ausdruck für diese Denkfunktion ist die Partikel »als ob«, eine Wortzusammensetzung, die wir in fast allen Kultursprachen wiederfinden. Merkwürdigerweise gelangen wir nun durch solche bewußt falsche Vorstellungen sehr oft zu neuen und richtigen Erkenntnissen. Denn es gibt nicht nur schädliche Wahrheiten, sondern auch fruchtbare Irrtümer. Wir erreichen durch solche Fiktionen häufig überhaupt erst die Möglichkeit, uns in der Wirklichkeit zurechtzufinden; sie haben daher, trotz ihrer theoretischen Unrichtigkeit, einen außerordentlichen praktischen Wert. Die Annahme der Willensfreiheit zum Beispiel ist die unerläßliche Grundlage unserer sozialen und juristischen Ordnungen, und doch sagt uns unser logisches Gewissen, daß diese Annahme ein Nonsens ist. Wir operieren in der Naturwissenschaft mit »Atomen«, obgleich wir wissen, daß diese Vorstellung willkürlich und falsch ist; aber wir operieren glücklich und erfolgreich mit dieser falschen Vorstellung: wir kämen ohne sie nicht so gut, ja überhaupt nicht zum Ziele. Wir rechnen mit »unendlich kleinen Größen«, einem völlig widerspruchsvollen Begriff (denn etwas, das unendlich klein ist, ist ja eben keine Größe mehr), und dennoch beruht die gesamte höhere Mathematik und Mechanik auf diesem Unbegriff. Die ganze Algebra basiert auf der Fiktion, daß symbolische Buchstaben für wirkliche Zahlen eingesetzt werden. Dies macht vielen Schülern furchtbares Kopfzerbrechen; aber jeder Mensch, der spricht, tut etwas ganz Ähnliches: er setzt symbolische Zeichen, nämlich Worte, für wirkliche Dinge. Die Geometrie arbeitet bereits in ihren einfachsten Grundbegriffen mit Fiktionen, mit unvorstellbaren Vorstellungen: mit Punkten ohne Ausdehnung, Linien ohne Breite, Räumen ohne Ausfüllung. Sie betrachtet den Kreis als eine Ellipse mit zwei Brennpunkten, die keine Distanz haben: ein offenbarer Unsinn, denn zwei Punkte, die keine Distanz haben, sind eben ein Punkt. Auch sämtliche botanischen und zoologischen Systeme, überhaupt alle wissenschaftlichen Klassifikationen sind willkürliche Fiktionen, und doch sind sie vortreffliche Hilfsmittel zur näheren Bestimmung der einzelnen Individuen und zur Übersicht über die verschiedenen Naturgebiete. In der Mechanik wird der Schwerpunkt eines schwebenden Ringes in dessen Mitte verlegt, also völlig ins Leere, was ohne Zweifel falsch ist. Einer der Grundbegriffe des christlichen Glaubens ist die Fiktion der »unsichtbaren Kirche«. Schon in den gewöhnlichen Phrasen des gesellschaftlichen Verkehrs zeigt sich die Herrschaft der Fiktion. Wenn ich zum Beispiel sage: »Ihr Diener«, so heißt das nicht: ich bin Ihr Diener, sondern: betrachten Sie mich so, als ob ich es wäre. Und in der Tat ist ohne diese hunderterlei »als ob« überhaupt keine höhere Kultur möglich. Wenn das Stubenmädchen dem Besucher sagt: »Die gnädige Frau ist nicht zu Hause«, obgleich diese tatsächlich zu Hause ist, so spricht sie, glauben wir, damit keine Lüge aus, denn diese Auskunft will nur so viel besagen wie: die gnädige Frau wünscht so behandelt zu werden, als ob sie nicht zu Hause wäre. Kunst, Philosophie, Religion, Politik, Sittlichkeit, Wissenschaft beruhen alle zum größten Teil auf solchen mehr oder weniger komplizierten Fiktionen. Auch dieses Werk tut ja nur so, als ob es eine Kulturgeschichte wäre, während es in Wirklichkeit etwas ganz anderes ist.

In der Barocke wird nun in einer vielleicht einzig dastehenden Weise das ganze Leben in allen seinen Formen und Betätigungen tyrannisch und prinzipiell unter den Aspekt des »als ob« gestellt. Für den Barockmenschen löst sich alles Geschehen in schönen Schein, in Fiktion auf. Er spielt mit der Wirklichkeit wie der souveräne Schauspieler mit seiner Rolle, der Meisterfechter mit seinem Partner: sie kann ihm nichts anhaben, denn er weiß ganz genau, daß sie ein Phantom, ein Maskenscherz, ein falsches Gerücht, eine Lebenslüge ist; er stellt sich nur so, als ob er sie für wirklich hielte. Aus dieser sonderbaren Barockposition versucht Hermann Bahr in seiner bereits erwähnten Studie »Wien«, die auf ihren acht Bogen eine ganze Kulturgeschichte im Extrakt enthält, sogar die zügellose Skrupellosigkeit in Sünde und Genuß herzuleiten, der sich in der Tat nicht wenige Barockmenschen hingaben: »Wer kann uns hemmen? Ein Gefühl des Unrechts? Tun wir es denn? Es träumt uns ja doch bloß ... frei vom Gewissen: du hast keine Schuld, denn du bist es nicht, der tut ... Recht ist hier derselbe Wahn wie Unrecht.« Aber dies kann doch nur für die kleinen Geister Geltung gehabt haben, die es zu allen Zeiten verstanden haben, das jeweils herrschende Weltbild in eine Legitimation für ihre Gier und Selbstsucht umzufälschen. Die Optik der Barocke ist, wie wir sahen, die des Künstlers und des homo religiosus. Aber der Künstler, obgleich er sein Werk, ja das ganze Dasein nur als farbige Illusion und Luftspiegelung ansieht, exzelliert gerade durch das empfindlichste moralische Verantwortungsgefühl und spielt mit einer Gewissenhaftigkeit, Hingabe und Sorgfalt, die man bei den »ernsten« Beschäftigungen des Philisters vergeblich suchen wird; und der religiöse Mensch, wiewohl er die irdische Welt als trügerische Versuchung und lügnerischen Schattenwurf des Teufels erkannt hat, erblickt in ihr gerade darum die schicksalentscheidende Vorbereitung auf jene wahre Welt, deren Zerrbild sie ist. Die legitime Deutung der »Vorbarocke« ist nicht im Jesuitismus zu finden, sondern in dessen vernichtendstem Gegner: Blaise Pascal, einem der wenigen, die als Boten und Erben einer reineren, höheren und unwirklicheren Welt durch das immer kompakter und grauer, immer gottleerer und selbsterfüllter werdende Chaos der Neuzeit schritten.

Pascals Lebenslegende

Das Einzigartige Pascals bestand darin, daß er zugleich der modernste und der christlichste Geist seines Zeitalters war. Bei ihm stieß eine exzeptionell scharfe Logizität und Denkkraft mit einer exzeptionell leidenschaftlichen und abgründlichen Religiosität zusammen. Er ist der luzideste Kopf, den das Mutterland der clarté hervorgebracht hat, und der feinste Seelenanalytiker seines Jahrhunderts: neben ihm erscheint Descartes als ein bloßer Rechenkünstler und virtuoser Mechaniker. Zugleich aber ist er ein fast hysterischer Religiöser und Gottsucher, ein Theomane. Religiosität, als ein ungeheures verzehrendes Pathos, geschmiedet an einen zerlegenden Forschergeist ersten Ranges: dies war die erschütternde Psychose Pascals, ein pittoreskes und spannendes Schauspiel des Geistes, wie es wenige gibt. Nicht umsonst kommt Nietzsche in seiner Polemik gegen das Christentum immer wieder auf Pascal zurück: auch wenn er ihn nicht nennt und ganz allgemein von der Korruption des europäischen Geistes durch christliche Wertungen spricht, merkt man, daß er insgeheim doch nur an ihn denkt; er hatte das richtige Gefühl, daß man, wenn man die christliche Gedankenwelt bekämpfen wolle, sie vor allem in Pascal bekämpfen müsse, ja man gewinnt fast den Eindruck, als habe er gespürt, daß man sie in Pascal gar nicht bekämpfen könne.

Schon in der Lebensgeschichte Pascals zeigt sich sein Doppelgesicht: sie ist zur einen Hälfte die glänzende Laufbahn eines modernen Gelehrten, zur andern Hälfte eine zarte mittelalterliche Heiligenlegende. Mit zwölf Jahren entdeckte er ganz selbständig, ohne andere Hilfsmittel als etwas Kohle und Papier, einen großen Teil der Lehrsätze des Euklid; mit sechzehn Jahren verfaßte er eine Abhandlung über die Kegelschnitte, von der die Zeitgenossen sagten, seit Archimedes sei nichts dergleichen geschrieben worden; mit neunzehn Jahren erfand er eine Rechenmaschine, mit der man alle arithmetischen Operationen ohne Kenntnis der Regeln fehlerfrei ausführen konnte; mit dreiundzwanzig Jahren überraschte er die Gelehrtenwelt durch seinen epochemachenden Traktat über den horror vacui und die berühmten Experimente zur Höhenmessung des Luftdrucks, die seinen Namen tragen. Schon um diese Zeit jedoch begann er zu erkennen, daß die Wissenschaft mit allen ihren Fortschritten für uns im höheren Sinne wertlos sei und die wahre Aufgabe des Geistes in der Hingabe an Gott bestehe. Er trat in nähere Beziehung zu den Jansenisten, einer Vereinigung von frommen und gelehrten Männern, die sich den Lehren des Bischofs Jansenius von Ypern anschlossen. Dieser hatte in einem nachgelassenen Werk »Augustinus« bewiesen, daß Papsttum und Scholastik der ketzerischen Lehre des Pelagius näher gestanden hätten und noch stünden als der augustinischen: dies ging vor allem gegen die Theorie und Praxis der Jesuiten; und aus diesem Gedankenkreise sind auch Pascals »Provinzialbriefe« hervorgegangen, jenes Meisterwerk satirischer Prosa, von dem wir bereits gesprochen haben. Die Kongregation lebte in der Nähe von Port-Royal des Champs in klösterlicher Zurückgezogenheit, aber ohne einen wirklichen Orden zu bilden: aus ihr erwuchs die berühmte Schule von Port-Royal, die später auch eine Filiale in Paris hatte und der Brennpunkt des ganzen wissenschaftlichen und religiösen Lebens jener Zeit war.

Die zweite Hälfte seines Lebens, das nur neununddreißig Jahre währte, hat Pascal unter den größten körperlichen Heimsuchungen verbracht, die er aber mit der edelsten Geduld und Fassung, ja fast mit Heiterkeit ertrug. Obgleich durch beständige Kolik, Kopfneuralgie, Zahnfleischentzündung und Schlaflosigkeit geplagt, verzichtete er doch auf jede Bequemlichkeit, machte sich alle Handreichungen selber und nahm sogar noch einen kranken Armen zu sich, den er bediente und pflegte. Er pries Gott für seine Krankheiten, denn Kranksein, pflegte er zu sagen, sei der einzige eines Christen würdige Zustand, ja er hatte eine förmliche Angst davor, wieder gesund zu werden. Und seine Leiden haben ihn in der Tat in Höhen entrückt, die dem gewöhnlichen Sterblichen verschlossen sind: durch die Schwerelosigkeit, die sie ihm verliehen, gelang es ihm, mitten in der profanen gierigen Welt des mazarinischen Frankreich und beim hellen Tageslicht seines rationalistischen Jahrhunderts ein magisches und mystisches Dasein zu führen. Um seine letzten Lebensjahre liegt ein überwirklicher Astralglanz.

Pascals Seelenanatomie

Pascals philosophische Methode ist in dem Satz enthalten: »Man muß dreierlei sein: Mathematiker, Skeptiker und gläubiger Christ.« Er gelangt, und dies ist das Besondere und Zeitgemäße an ihm, zum Glauben nicht durch das Dogma, sondern durch die Skepsis; und er zeigt, worin er sich als der äußerste Antipode Spinozas erweist, daß die Mathematik den Glauben nicht zerstört, sondern begründet. Man könnte sagen: die religiösen Wahrheiten nehmen bei ihm dieselbe Stelle ein wie die Wahrheiten der höheren Mathematik: der niedere Verstand hält sie so lange für ungereimt, als er sie nicht begreift; aber in dem Augenblick, wo er sie begreift, muß er sie als notwendig, bewiesen und unwiderleglich anerkennen.

Diesem Gegenstand sind die »Pensées« gewidmet, vermutlich das tiefste Buch der französischen Literatur. Sie befassen sich mit dem »Studium des Menschen«. Für den Naturforscher Pascal ist die menschliche Seele ein einziges großes Experimentierfeld, und mit den subtilsten Präzisionsinstrumenten der Analyse tritt er an sie heran, legt ihre geheimsten und zartesten, dunkelsten und widerspruchsvollsten Regungen bloß, mißt alle ihre Höhen und Tiefen aus, erhellt und fixiert ihre schwimmendsten Nuancen, kurz: er hat die von ihm begründete Wahrscheinlichkeitsrechnung auch auf die Psychologie angewandt, und wie er die Schwere der Luft maß, so hat er auch hier als erster das scheinbar Imponderable gewogen und zum Objekt exakter Untersuchung gemacht. Das Endresultat ist gleichwohl ein ungeheurer »amas d'incertitude«. »Denn schließlich, was ist der Mensch in der Natur? Ein Nichts, gehalten gegen das Unendliche, eine Welt, gehalten gegen das Nichts, ein Mittelding zwischen Null und All. Er ist unendlich weit entfernt von beidem und sein Wesen ist dem Nichts, woraus er emporgetaucht ist, ebenso fern wie dem Unendlichen, worein er geschleudert ist ... Dies ist unser wahrer Zustand. Dies bannt unsere Erkenntnis in bestimmte Grenzen, die wir nicht zu überschreiten vermögen, unfähig, alles zu wissen, und unfähig, alles zu ignorieren. Wir befinden uns auf einer weiten Mittelebene, immer unsicher, immer schwankend zwischen Unwissenheit und Erkenntnis ... Wir brennen vor Begierde, alles zu ergründen und einen Turm zu errichten, der sich in die Unendlichkeit emporreckt. Aber unser ganzes Gebäude kracht zusammen und die tiefe Erde öffnet ihren Abgrund.« »Wir sind ohnmächtig im Beweisen: das kann kein Dogmatismus widerlegen; wir tragen in uns die Idee der Wahrheit: das kann kein Skeptizismus widerlegen. Wir ersehnen die Wahrheit und finden nur Ungewißheit. Wir suchen das Glück und finden nur Elend ... Aber unser Elend ist die Folge unserer Größe und unsere Größe ist die Folge unseres Elends ... Denn der Mensch weiß, daß er elend ist. Er ist elend, weil er es weiß; aber er ist groß, weil er weiß, daß er elend ist. Was für eine Chimäre ist also dieser Mensch! Wunder, Wirrnis, Widerspruch! Richter über alle Dinge, ohnmächtiger Erdenwurm, Schatzkammer der Wahrheit, Dunkelkammer der Ungewißheit, Glorie und Schmach des Weltalls: wenn er sich rühmt, will ich ihn erniedrigen; wenn er sich erniedrigt, will ich ihn rühmen; und so lange will ich ihm widersprechen, bis er begreift, daß er unbegreiflich ist.« (Wozu Voltaire, der die »Pensées« mit Noten versehen hat, die Bemerkung macht: »Echtes Krankengerede«; und wozu wir bemerken möchten, daß es zwar völlig begreiflich ist, wenn Voltaire, der glänzende Herold und Dolmetsch des achtzehnten Jahrhunderts, hier nur »Gerede« hört, hingegen völlig unbegreiflich, wie er Pascal Krankheit vorwerfen kann, denn woher hatte denn er selber seine Genialität, wenn nicht aus seiner »physiologischen Minderwertigkeit«, seiner Rückgratsverkrümmung, seiner abnorm schwächlichen Konstitution, seiner pathologischen Reizbarkeit?)

Die Summe der Pascalschen Anthropologie dürfte in dem Satz enthalten sein: »Der Mensch ist nur ein schwaches Rohr, aber ein denkendes Rohr.« »Ainsi toute notre dignité consiste dans la pensée ... Travaillons donc à bien penser: voilà le principe de la morale.« Der gute Gebrauch der Denkkraft muß aber unausbleiblich zu Christus führen. »Alle Körper, das Firmament, die Sterne, die Erde und die Naturreiche zählen nicht so viel wie der kleinste der Geister; denn er weiß von alldem und von sich selbst, und der Körper von nichts. Und alle Körper und alle Geister zusammen und alle ihre Werke zählen nicht so viel wie die geringste Regung der Liebe; denn die Liebe gehört einer unvergleichlich erhabeneren Ordnung an. Aus allen Körpern zusammen könnte man nicht den kleinsten Gedanken bilden: das ist unmöglich, er ist von anderem Range. Alle Körper und alle Geister zusammen vermögen nicht eine einzige Regung wahrer Liebe hervorzubringen: das ist unmöglich, sie ist von anderem, durchaus übernatürlichem Range.«

Der Überwinder

Wir haben bereits gelegentlich beobachten können und werden bald genauer erkennen, daß das siebzehnte Jahrhundert den Sieg des wissenschaftlichen Geistes bezeichnet: in alle Gebiete hält er seinen triumphierenden Einzug; er ergreift die Naturforschung, die Sprachforschung, die Geschichtsforschung, die Politik, die Wirtschaft, die Kriegskunde, ja sogar die Moral, die Poesie, die Religion. Alle Gedankensysteme, die dieses Jahrhundert hervorgebracht hat, haben entweder von vornherein die wissenschaftliche Betrachtung sämtlicher Lebensprobleme zu ihrem Fundament oder sie sehen in ihr das höchste und letzte Endziel. Aber nur einer hat einen anderen Weg genommen, den Weg des gotterleuchteten Genies, indem er die Wissenschaft nicht bloß suchte wie alle, nicht bloß fand wie die wenigen Auserlesenen, sondern überwand: Pascal, der größte Geist, den die gallische Rasse geboren hat.

Der wahre Sonnenkönig

Der größte, aber nicht der wirksamste. Dies war ein anderer Denker, ihm an Weite ebenbürtig, aber nicht an Tiefe, an Helle, aber nicht an Erleuchtung. Es war der Mann, der das glänzende Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten geschaffen hat, das Grand Siècle, dem wir uns nunmehr zuwenden, und darüber hinaus den ganzen modernen Franzosen bis in die Revolution und den Weltkrieg hinein und der daher, obschon sein Leben unter den grauen Nebeln Hollands still und einsam dahinfloß, der wahre Sonnenkönig gewesen ist, während jener Ludwig nicht mehr war als eine vergoldete Dekorationspuppe und von ihm erfundene Theaterfigur: ein sehr merkwürdiger Vorgang, der eine um so genauere Betrachtung verdient, als er eine sehr wertvolle und überraschende Lektion enthält, nämlich die Erkenntnis, daß das Bleibende und Fortwirkende, das im wahren Sinne Historische immer von einigen wenigen Personen getan worden ist, die ihrer Zeit als unwesentliche und überflüssige, ja schädliche Grübler erschienen und die uns in demselben Lichte erscheinen würden, wenn sie heute lebten: von einigen Phantasten und Sonderlingen, deren Wirkungssphäre sich völlig abseits von dem befand, was ihre Zeitgenossen für beachtenswert und zentral hielten; und daß umgekehrt all dieses Wichtige, das so viel Glanz und Geschrei verbreitete, heute versunken, dem Fluch der Vergessenheit oder gar der Verachtung und Lächerlichkeit anheimgefallen ist. Kurzum: wir werden die Lehre empfangen, daß alles Große unnützlich und nichts Nützliches groß ist und daß die wahre Welthistorie in der Geschichte einiger weltfremder Träumereien, Visionen und Hirngespinste besteht.

Das Wunder, von dem wir reden, eine Art Schöpfung zweiten Grades, hat, ohne es selber zu ahnen, ein versponnener Begriffsdichter und menschenscheuer Aristokrat vollbracht: der chevalier René Descartes, seigneur de Perron.

 


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