Gustav Freytag
Verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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8. Noch einmal Tacitus.

Unser Volk weiß, daß alle verlorenen Dinge unter den Krallen des Bösen liegen. Wer etwas sucht, der hat zu rufen: »Teufel, nimm die Pratze weg.« Dann liegt's plötzlich da vor den Augen der Menschen, es war so leicht zu finden, man ist hundertmal herum gegangen, man hat darüber und darunter gesehen, das Unwahrscheinlichste hat man durchsucht und an das Nächste nicht gedacht. Zuverlässig war es mit der Handschrift nicht anders, sie lag unter der Tatze des Bösen oder eines Kobolds ganz in der Nähe der Freunde; wenn man die Hand ausstreckte, war sie zu fassen; der Erwerb wurde nur noch durch ein Bedenken aufgehalten, durch die Frage: wo? Ob diese Verzögerung für beide Gelehrte die große oder kleine Frage peinlicher Tortur werden sollte, das allein war noch zweifelhaft. Indeß auch über diese Unsicherheit konnte man hinwegkommen; die Hauptsache war, daß die Handschrift selbst wirklich und vorhanden da lag. Und kurz, die Sache stand im Ganzen so gut als irgend möglich, es fehlte nur noch eben die Handschrift.

»Ich sehe,« sagte der Doctor dem Freunde, »du bist angestrengt beflissen, die Erwachsenen zu bilden, ich senke den Codex in die Seelen der nächsten Generation. Hans der älteste ist weit entfernt, die Auffassung des Vaters und der Schwester zu theilen, er zeigt Gemüth, für den alten Schatz. Und wenn uns selbst nicht gelingt, die Entdeckung zu machen, er wird einmal die Hausmauer nicht schonen.«

Im Einvernehmen mit Hans nahm der Doctor ganz in der Stille seine Nachforschungen wieder auf. In ruhigen Stunden, wo der Landwirth arglos bei seiner Ernte umherritt und der Professor im Zimmer arbeitete oder in der Gaisblattlaube saß, strich der Doctor spionirend im Innern des Hauses. In dem Kittel eines Arbeiters, den Hans auf sein Zimmer gebracht hatte, durchforschte er die staubigen Höhen und Tiefen des Raumes. Und mehr als einmal erschreckte er die dienenden Frauen der Wirthschaft, wenn er plötzlich hinter einer alten Tonne des Kellers auftauchte, oder wenn er rittlings auf einem Balken des Dachstuhls dahinfuhr. Bei dem Milchkeller war für Anbau einer Eisgrube ein Loch gegraben, die Arbeiter hatten sich in der Mittagstunde entfernt, und die Mamsell ging arglos in der Nähe der bloßgelegten Mauer vorüber. Da erblickte sie plötzlich einen Kopf ohne Leib, mit feurigen Augen und gesträubtem Haar, welcher langsam auf dem Erdboden dahinwandelte und hohnlachend das Gesicht auf sie zukehrte. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und stürzte in die Küche, wo sie auf einem Schemel in Ohnmacht sank und erst durch vieles Zureden und Begießen mit Wasser zum Leben erweckt wurde. Beim Mittagessen war sie so verstört, daß sie jedermann auffiel, und da ergab sich endlich, daß der teuflische Kopf auf den Schultern ihres Tischnachbars saß, der heimlich in das Loch gestiegen war, um das Mauerwerk zu untersuchen.

Bei dieser Gelegenheit entdeckte der Doctor mit einiger Schadenfreude, daß das gastliche Dach, welches ihn und den Codex vor Regen schützte, über einem anerkannten Gespensterhause stand. Es spukte heftig in dem alten Bau, Geister wurden häufig gesehen, und die Berichte gingen nur darin auseinander, ob es ein Mann in grauer Kutte, ein Kind in weißem Hemdchen, oder ein Kater von der Größe eines Esels sei. Jedermann wußte, daß ab und zu ein unerklärliches Klopfen, Rasseln, Donnern und unsichtbares Steinwerfen stattfand, zuweilen war das ganze Ansehen des Landwirths und seiner Tochter nöthig, um den Ausbruch eines panischen Schreckens unter den Dienstboten zu verhindern. Auch die Freunde hörten in stiller Nacht unberechtigte Töne, Geächz, Gepolter und herausforderndes Geklopf an den Wänden. Diese Unarten des Hauses erklärte der Doctor zur Zufriedenheit des Landwirths aus seiner Theorie der alten Mauern. Er erläuterte, daß viele Geschlechter von Wieseln, Ratten und Mäusen den dicken Steinbau canalisirt und ein System von bedeckten Gängen und Burgen angelegt hatten. Deshalb wurde jedes gesellige Vergnügen und jede Zänkerei, welcher sich die Insassen der Mauer ergaben, durch dumpfes Getöse bemerkbar. Aber in der Stille horchte der Doctor doch ärgerlich auf das geheime Rumoren Seiner Wandnachbarn. Denn wenn diese so angeregt um den Codex herumtobten, drohten sie die spätere Arbeit der Wissenschaft sehr zu erschweren. So oft er heftig knabbern hörte, mußte er denken, sie Fressen wieder eine Zeile weg, jedenfalls wird eine Menge Conjecturen nöthig werden. Und es war nicht das Nagen allein, wodurch dies Mausevolk den Codex, der unter ihnen lag, verunzierte.

Aber für die große Geduld, welche in dieser Angelegenheit nöthig war, wurde der Doctor durch andere Entdeckungen entschädigt. Er beschränkte sich nicht auf Haus und Hof, sondern durchsuchte auch die Umgegend nach alten VoIkserinnerungen, welche noch hie und da am Rocken der Spinnstuben hingen und sich um den Kochtopf alter Mütterchen kräuselten. Gleich am zweiten Tage machte er durch geheime Vermittelung der Taglöhnerfrau die Bekanntschaft einer Märchenerzählerin im nächsten Dorfe. Nachdem die liebe alte Frau den ersten Schreck vor dem Titel des Doctors und die Furcht überwunden hatte, er wolle ihr wegen unbefugter ärztlicher Praxis zu Leibe gehen, sang sie ihm mit zitternder Stimme die Liebeslieder ihrer Jugend und erzählte mehr, als der Hörer nachzuschreiben vermochte. Jeden Abend brachte der Doctor beschriebene Blätter nach Hause, sehr bald fand er in seiner Sammlung alle bekannten Charaktere unserer Volkssagen, einen wilden Jäger, einige Frau Hollen, drei weiße Fräulein, mehre Mönche, einen undeutlichen Nix, der in der Geschichte zwar als Handwerksbursche auftrat, aber ganz unleugbar ursprünglich ein Wassermann gewesen war, und zuletzt viele kleine Zwerge. Zuweilen begleitete ihn auf diesen Ausflügen Hans, der älteste, der den Doctor bei der Landleuten einführte, und sich hütete, dem Vater und der Schwester über diese Jagdzüge eine Mittheilung zu gönnen. Nun ist allerdings möglich, daß hier und da ein Erdloch oder ein Brunnen im Felde ohne Berechtigung mit einem Geiste versehen wurde. Denn als die weisen Frauen des Dorfes merkten, wie sehr der Doctor sich über solche Mittheilungen freute, wurde in ihnen die uralte Erfindungskraft des Volkes aus langem Schlummer geweckt, und es kam ihnen so vor, als ob noch hie und da etwas von dem Geistervolk stecken müsse. Im Ganzen aber bewiesen beide Theile einander deutsche Treue und Gewissenhaftigkeit, und zuletzt war der Doctor auch kein Mann, den man leicht hintergehen konnte.

Als er einst von solchem Besuche nach dem Schloß zurückkehrte, begegnete er auf einsamem Fußpfad der Taglöhnerfrau. Sie sah sich vorsichtig um und gestand ihm endlich, wenn er sie nicht dem Gutsherrn verrathen wolle, so könne sie ihm wohl etwas mittheilen. Der Doctor gelobte unverbrüchliche Verschwiegenheit. Darauf erzählte die Frau, im Keller des Schlosses, auf der Seite gegen Morgen in der rechten Ecke sei ein Stein, mit drei Kreuzen bezeichnet. Dahinter liege der Schatz. Das habe sie von ihrem Großvater gehört, und der habe es von seinem Vater, und dieser sei im Schloß in Diensten gewesen, und zu dessen Zeit hätte der damalige Oberamtmann den Schatz heben wollen; als sie aber deshalb in den Keller gingen, habe es einen fürchterlichen Knall und ein Solches Getöse gegeben, daß Sie entsetzt zurückgelaufen seien. Das aber mit dem Schatz sei sicher, denn sie habe den Stein selbst angefühlt, die Zeichen seien deutlich eingegraben. Jetzt sei der Weinkeller dort, der Stein durch ein Holzgestell verdeckt.

Der Doctor nahm diese Mittheilung mit Ruhe auf, beschloß aber, ganz für sich Nachforschungen anzustellen. Er sagte weder dem Professor, noch seinem Hans ein Wort, lauerte aber auf eine Gelegenheit. Seine Vertraute trug den Wein, welcher unabänderlich vor dem Platz der Gäste stand, zuweilen selbst aus dem Keller und wieder zurück. Am nächsten Morgen folgte er ihr kühnlich, die Frau sprach kein Wort als er hinter ihr in den Verschlag trat, sondern wies scheu in eine Ecke der Wand. Der Doctor ergriff die Lampe, hob ein Dutzend Flaschen von ihrer Stelle und tastete an dem Gestein; es war ein großer behauener Stein mit drei Kreuzen. Er sah die Frau bedeutungsvoll an, – Sie hat später im engsten Vertrauen erzählt, die gläsernen Schilde vor seinen Augen hätten in diesem Augenblick so schrecklich gegen die Lampe geleuchtet, daß ihr ganz angst geworden sei, – er aber ging schweigend herauf, entschlossen, die Entdeckung bei erster Gelegenheit gegen den Landwirth zu benutzen.

Doch die größte Ueberraschung stand dem Doctor noch bevor, seine stille Arbeit wurde durch den seligen Frater Tobias selbst unterstützt, ja durch das Lebensende dieses frommen Märtyrers gleichsam geweiht. Die Freunde stiegen nämlich nach Rossau hinab, von dem Landwirth den ein Geschäft zur Stadt führte, begleitet. Der Landwirth führte die Freunde zum Bürgermeister und ersuchte diesen, den Herren, als zuverlässigen Männern, vorzulegen was etwa in dem Städtischen Bereich von alten Schriften vorhanden sei. Der Bürgermeister, ein ehrlicher Gerber, fuhr in seinen Rock und brachte die Gelehrten zunächst vor das alte Klostergebäude. Es war nicht viel daran zu sehen, ein neues Dach, innerer Umbau, nur die Mauern standen noch, kleine Beamte des Landesherrn wohnten in den Zellen. Ueber das Rathsarchiv stellte der Bürgermeister die Muthmaßung auf, daß wohl nicht viel darin sein werde, er empfahl die Herren in dieser Angelegenheit dem Stadtschreiber und ging selbst nach dem Schießhause, um sich nach schwerem Regierungsact eine Partie Solo anzuthun. Der Stadtschreiber neigte sich respectvoll vor seinen Collegen von der Feder, ergriff ein rostiges Schlüsselbund und öffnete das kleine Gewölbe des Rathhauses, wo alte Acten in dicker Staubhülle die Zeit erwarteten, in welcher ihr Stillleben unter dem Stampfer einer Papiermühle enden würde. Die Stadtschreiberei wußte ein wenig unter den alten Papieren Bescheid, begriff auch vollständig die Wichtigkeit der Mittheilungen, welche von ihr erwartet wurden, versicherte aber der Wahrheit gemäß, daß durch zwei Stadtbrände sowie durch Unordnung in früherer Zeit jede alte Nachricht verloren sei. Man kannte auch keinerlei Aufzeichnung in einem Privathause, nur in der gedruckten Chronik einer Nachbarstadt waren einige Notizen über das Schicksal Rossaus im dreißigjährigen Kriege erhalten. Darnach war der Ort durch einige Jahre ein Trümmerhauf und fast unbewohnt gewesen. Im Uebrigen lebte das Städtchen geschichtslos fort und der Stadtschreiber beteuerte, man wisse hier nichts von der alten Zeit und kümmere sich gar nicht darum. Vielleicht sei in der Residenz etwas über die Stadt zu erfahren.

Die Freunde schritten unermüdlich von einem klugen Mann zum andern, und frugen wie im Märchen nach dem Vogel mit goldenen Federn. Zwei Erdmännchen hatten nichts gewußt, jetzt blieb noch das dritte. Sie ließen sich also zu dem katholischen Pfarrer führen. Ein kleiner alter Herr empfing sie mit tiefen Bücklingen, der Professor setzte ihm auseinander, daß er über die letzten Schicksale des Klosters Auskunft suche, vor Allem, was aus einem der letzten Mönche, dem ehrwürdigen Bruder Tobias Bachhuber, in seinen Jahren geworden sei.

»Aus so entlegener Zeit werden keine Totenscheine verlangt,« versetzte der Geistliche, »ich kann den hochverehrten Herren deshalb keinerlei Bescheid versprechen. Dennoch, wenn es Ihnen nur darum zu thun, und Sie nichts der Kirche Nachteiliges aus alten Schriften eruiren wollen, bin ich gewillt, denselben das älteste der vorhandenen Bücher zu präsentiren.« Er ging in eine Kammer und brachte ein langes schmales Buch hervor, dem der Moder des feuchten Raumes die Ränder beschädigt hatte. »Anhier sind einige Notata meiner im Herrn ruhenden Vorgänger, vielleicht daß den verehrten Herren dieses dienen kann. Weiteres bin ich nicht im Stande, weil Aehnliches nicht mehr vorhanden.«

Auf dem Vorsetzblatt stand ein Verzeichniß geistlicher Würdenträger des Ortes in lateinischer Sprache. Eine der ersten Notizen war: »Im Jahre des Herrn 1637 im Monat Mai ist der verehrungswürdige Bruder Tobias Bachhuber, der letzte Mönch hiesigen Klosters, an der Seuche der Pestilenz gestorben. Der Herr sei ihm gnädig.« Der Professor wies dem Freunde schweigend die Stelle, der Doctor schrieb die lateinischen Worte ab, sie gaben dankend das Buch zurück und empfahlen sich.

»Und die Handschrift liegt doch in dem Hause,« rief der Professor auf der Straße. Der Doctor dachte an die drei Kreuze und lächelte vor sich hin. Er war keineswegs mit den taktischen Maßregeln einverstanden, welche er seinen Freund zur Rettung des Codex ausführen sah. Wenn der Professor behauptete, daß ihre einzige Hoffnung auf dem Antheil beruhe, den sie nach und nach dem Hausherrn beibringen könnten; so hegte der Doctor den Verdacht, daß sein Freund zu dieser langsamen Kriegführung nicht durch reinen Eifer für die Handschrift gebracht werde.

Der Landwirth aber beobachtete über die Handschrift ein hartnäckiges Schweigen; warf der Doctor einmal eine Anspielung hin, so verzog der Wirth spöttisch das Gesicht und lenkte das Gespräch sogleich auf etwas Anderes. Das durfte so nicht bleiben. Der Doctor beschloß jetzt, wo seine Abreise bevorstand, eine Entscheidung zu erzwingen. Als die Männer am Abend im Garten zusammen saßen, und der Landwirth in heiterer Ruhe auf seine Obstbäume sah, begann der Doctor den Angriff. »Ich gehe nicht von hier, mein Gastfreund, ohne sie an unsern Contract erinnert zu haben.«

»An welchen Contract?« frug der Landwirth wie ein Mann, der sich an nichts erinnert.

»Wegen der Handschrift,« fuhr der Doctor entschlossen fort, »die bei Ihnen verborgen liegt.«

»So? Sie sagten ja selbst, es sei Alles hohl. Da wird uns nichts übrig bleiben, als das Haus vom Dach bis zum .Keller nieder zu reißen; ich dächte, damit warteten wir bis zum nächsten Frühjahr, wo Sie wieder zu uns kommen sollen. Denn wir müßten in diesem Falle doch in den Scheunen wohnen, und die sind jetzt voll.«

»Das Haus mag vorläufig stehen bleiben,« sagte der Doctor, »wenn Sie aber immer noch meinen, daß die Mönche ihr Klostergut wieder heraus geholt haben, so steht dieser Ansicht ein Umstand entgegen. Wir haben in Rossau ermittelt, daß der wackere Bruder, der im April die Sachen hier versteckt hatte, schon im Mai an der Pestilenz gestorben ist. Laut Angabe des Kirchenbuches; hier ist die Stelle.«

'Der Landwirth sah in die Brieftafel des Doctors, klappte sie wieder zu und sagte: »Dann haben seine Herren Mitbrüder das Eigenthum herausgeholt.«

»Das ist kaum möglich,« versetzte der Doctor, »denn er war der letzte seines Klosters.«

»Dann also haben's andere Stadtleute geholt.«

»Aber die Einwohner der Stadt haben sich damals verlaufen, der Ort lag Jahre lang verwüstet, menschenleer, in Trümmern.«

»Hm,« begann der Landwirth in guter Laune, »die Herren Gelehrten sind strenge Mahner und wissen auf ihrem Recht zu bestehen. Sagen Sie also gerade heraus, was wollen Sie von mir? Sie müßten mir doch vor allem eine einzelne Stelle angeben können, die nicht nur Ihnen verdächtig ist, sondern die auch nach gemeinem Urtheil etwas zu verschließen scheint, und das sind Sie zuverlässig nicht im Stande.«

»Ich weiß eine solche Stelle,« erwiederte der Doctor dreist, »und ich stelle Ihnen gegenüber die Vermutung auf, daß der Schatz dort liegt.«

Der Professor und der Landwirth sahen erstaunt auf ihn. »Folgen Sie mir in den Keller,« rief der Doctor.

Ein Licht wurde angezündet, der Doctor führte zu dem Verschlage, in welchem der Wein lag. »Wie kommst du zu der siegesfrohen Zuversicht?« frug ihn der Professor leise auf dem Wege.

»Ich argwöhne, daß du deine Geheimnisse hast,« versetzte der Doctor, »laß mir die meinen.« Geschäftig räumte er die Flaschen aus einer Ecke, leuchtete an den Stein und schlug mit einem großen Schlüssel an die Mauer, »die Stelle ist hohl, und der Stein bezeichnet.«

»Es ist richtig,« sagte der Landwirth, »dahinter ist ein leerer Raum; und er ist jedenfalls nicht klein. Aber der Stein ist einer von den Grundsteinen des Hauses und nirgend ist sichtbar, daß er einmal aus seiner Lage gerückt wurde.«

»Nach So langer Zeit würde man das schwerlich erkennen,« warf ihm der Doctor entgegen.

Der Landwirth untersuchte selbst die Mauer. »Eine große Platte liegt darüber, es ist vielleicht möglich, den bezeichneten Stein von der Stelle zu heben.« Er überlegte eine Weile und fuhr endlich fort: »Ich sehe, ich muß Ihnen einen Preis zahlen. Ich will damit die erste Stunde unserer Bekanntschaft ausgleichen, die mir immer noch auf der Seele liegt. Und da wir drei hier wie Verschwörer im Keller stehen, so wollen wir uns auf das frühere Abkommen verpflichten. Ich will einmal thun, was ich für sehr unnöthig halte. Dafür werden Sie, wenn Sie jemals über die Sache sprechen oder schreiben, auch mir das Zeugniß nicht versagen, daß ich allen billigen Wünschen nachgegeben habe.«

»Wir werden sehn, was sich thun läßt,« versetzte der Doctor.

»Wohlan, in einem Steinbruch an meiner Grenze sind fremde Arbeiter beschäftigt, sie sollen versuchen, den Stein auszulösen und wieder in seine Lage zu bringen. Damit wird, wie ich hoffe, diese Sache für immer abgemacht. – Ilse, laß morgen in der Frühe das Holzgestell im Weinkeller ausräumen.«

Am nächsten Tag kamen die Steinarbeiter, mit ihnen stiegen die drei Herren und Ilse in den Keller und sahen neugierig zu, wie Spitzhacke und Brecheisen ihre Gewalt an dem vierkantigen Stein versuchten. Er war auf den Fels gesetzt und tüchtige Anstrengung war nöthig, ihn zu lösen. Aber auch die Leute erklärten, daß dahinter eine große Höhlung sei, und arbeiteten mit einem Eifer, der durch den Ruf des gespenstigen Hauses sehr gesteigert wurde. Endlich wich der Stein, eine dunkle Oeffnung bot sich den Augen, die Zuschauer traten näher, die beiden Gelehrten in lebhafter Spannung, auch der Landwirth und seine Tochter voll Erwartung. Der Steinbrecher faßte schnell das Licht und hielt es vor die Oeffnung, ein feiner Dunst zog heraus, erschreckt fuhr der Mann mit dem Lichte zurück. »Da drin liegt etwas Weißes,« rief er zwischen Angst und Hoffnung. Ilse sah auf den Professor, der mit Mühe die Erregung beherrschte, welche in seinem Antlitze arbeitete. Er griff nach dem Licht, da wehrte sie ihm und rief ängstlich: »Nicht Sie.« Sie eilte zu der Oeffnung und fuhr mit der Hand in den hohlen Raum. Sie faßte Greifbares, man hörte ein Rasseln, sie zog schnell die Hand zurück, aber auch sie warf, was sie festgehalten, erschreckt auf den Boden: es war ein Stück Gebein.

»Das ist eine ernste Antwort auf Ihre Frage,« rief der Landwirth, »wir zahlen einen theuren Preis für den Scherz.« Er nahm das Licht und suchte jetzt selbst in der Oeffnung, ein Haufen zusammengefallener Knochen lag darin. Die Andern standen in unbehaglichem Schweigen herum. Endlich warf der Landwirth einen Schädel in den Keller und rief sich erhebend als ein Mann, der von peinlichem Gefühl befreit wurde: »Es ist das Gebein eines Hundes!«

»Es war ein kleiner Hund,« bestätigte der Steinhauer, und schlug mit dem Eisen an einen Knochen, das morsche Gebein brach in Stücke.

»Ein Hund!« rief der Doctor erfreut, und vergaß für einen Augenblick seine getäuschte Hoffnung. »Das ist lehrreich. Die Grundmauer dieses Hauses muß sehr alt sein.«

»Es freut mich, daß Sie auch mit diesem Fund zufrieden sind,« versetzte der Landwirth ironisch.

Der Doctor aber ließ sich nicht stören und erzählte, wie im frühen Mittelalter ein abergläubischer Brauch gewesen sei, in die Grundmauer fester Gebäude etwas Lebendes einzuschließen. Die Gewohnheit stamme aus uralter Heidenzeit. Die Fälle seien selten genug, wo man dergleichen in alten Bauten gefunden, und das Gerippe des Thieres sei eine schöne Bestätigung.

»Wenn es Ihre Ansicht bestätigt,« sagte der Landwirth, »meine bestätigt es auch. Eilt, ihr Leute, den Stein wieder fest zu machen.«

Jetzt leuchtete und fühlte auch der Steinmauer in die Oeffnung und erklärte, daß nichts mehr darin sei. Die Arbeiter rückten den Stein an seine Stelle, der Wein wurde eingeräumt und die Sache war abgetan. Der Doctor aber trug die spöttischen Bemerkungen, welche der Landwirth nicht sparte, mit großer Ruhe, und sagte ihm: »Was wir erreicht haben, ist allerdings nicht viel, aber wir wissen doch jetzt mit Sicherheit, daß die Handschrift nicht an dieser Stelle Ihres Hauses liegt, sondern an einer andern. Ich nehme ein sorgfältiges Verzeichniß aller hohlen Stellen mit, und wir begeben uns unserer Ansprüche an Ihr Haus wegen dieses Fundes durchaus nicht, sondern wir betrachten Sie von jetzt ab als einen Mann, der den Codex zu seinem Privatgebrauch auf unbestimmte Zeit geliehen hat, und ich versichere Sie, Wunsch und Sorge werden uns unaufhörlich um dieses Haus schweben.«

»Lassen Sie den Menschen, die darin wohnen, auch etwas von den guten Wünschen zu Theil werden,« sagte lachend der Landwirth, »und vergessen Sie nicht, daß Sie bei Ihrem Suchen nach der Handschrift in Wahrheit auf den Hund gekommen sind. Ich hoffe übrigens, daß diese Entdeckung mein armes Haus von dem üblen Rufe befreien wird, Schätze zu enthalten. Und um diesen Gewinn will ich mir die unnötige Arbeit recht gern gefallen lassen.«

»Das ist der größte Irrtum Ihres Lebens,« erwiederte der Doctor überlegen, »gerade das Entgegengesetzte wird stattfinden. Unsere Entdeckung wird von allen Leuten, welche ein Gemüth für Schätze haben, so verstanden werden, daß Ihnen nur der Glaube fehlte, und daß Sie nicht die nöthige Feierlichkeit anwandten; deshalb ist der Schatz Ihren Augen entrückt, und zur Strafe der Hund beigesetzt worden. Ich weiß besser, wie Ihre Nachbarn dergleichen der Nachwelt überliefern. Harre in Frieden deiner Entdeckung, Tacitus, dein beharrlichster Freund scheidet, denn er, den ich dir zurücklasse, fängt an, der Gleichgültigkeit dieses Hauses unbillige Zugeständnisse zu machen.«

Er sah ernsthaft auf den Professor hinüber und rief seinen Begleiter Hans zu einem letzten Besuche im Dorfe, um dort noch von seinen weisen Frauen dankbaren Abschied zu nehmen und ein schönes Volkslied einzuheimsen, dem er auf die Spur gekommen war.

Er blieb lange aus, denn nach dem Liede kam unvermutet noch eine wundervolle Geschichte zum Vorschein von einem Herrn Dietrich und seinem Pferd, welches Feuer schnaubte.

Als der Professor gegen Abend nach ihm aussah, traf er auf Ilse, welche, ihren Strohhut in der Hand, zu einem Gang ins Freie gerüstet war. »Ist Ihnen recht,« sagte sie, »so gehen wir Ihrem Freunde entgegen.« Sie schritten einen Rain entlang, zwischen abgeräumten Feldern, auf denen hier und da wildes Grün aus den Stoppeln herauftrieb.

»Der Herbst naht,« bemerkte der Professor, »das ist die erste Mahnung.«

»Wir in der Wirthschaft,« erwiederte Ilse, »sind wie Till Eulenspiegel gutes Muths, so oft wir im Winter durchmachen, was Andern lästig scheint. Wir denken dann auf das nächste Frühjahr, und wir freuen uns der Ruhe. Wenn die Windsbraut dahinfährt und den Schnee mannshoch in die Thäler weht, wir sitzen im Warmen.«

»Uns in der Stadt aber vergeht der Winter, fast ohne daß wir ihn merken. Nur die kurzen Tage, die weißen Dächer erinnern daran, unsere Arbeit aber verläuft unabhängig vom Wechsel der Jahreszeiten. Und doch hat mich der Blätterfall seit meiner Kindheit betrübt, und im Frühjahr habe ich immer Lust, die Bücher bei Seite zu werfen und durch das Land zu laufen, wie ein Handwerksgesell.«

Sie standen an einem Garbenhaufen. Ilse bog einige Aehrenbündel zum Sitz zurecht und sah über die Felder nach den fernen Bergen.

»So ist's mit uns gerade umgekehrt und anders als man denken sollte,« begann sie nach einer Weile, »wir sind hier wie die Vögel, die Jahr aus Jahr ein lustig mit den Flügeln schlagen, Sie aber denken und sorgen um andere Zeiten und andere Menschen, die lange vor uns waren; Ihnen ist das Fremde so vertraut, wie uns der Aufgang der Sonne und die Sternbilder. Und wie Ihnen wehmütig ist, daß der Sommer endet, ebenso wird es mir schmerzlich, wenn ich einmal von vergangener Zeit höre und lese, und am traurigsten machen mich die Geschichtsbücher. So viel Unglück auf Erden, und gerade die Guten nehmen so oft ein Ende mit Leid. Ich werde dann vermessen und frage, warum hat der liebe Gott das so gewollt? Und es ist wohl recht thöricht, wenn ich das sage, ich lese deshalb nicht gern in der Geschichte.«

»Diese Stimmung begreife ich,« erwiederte der Professor. »Denn wo die Menschen ihren Willen durchzusetzen streben gegen ihr Volk und gegen ihre Zeit, werden sie am Ende fast immer als die Schwächeren widerlegt; auch was der Stärkste etwa Siegreich durchsetzt, hat keinen ewigen Bestand. Und wie die Menschen und ihre Werke, vergehen auch die Völker. Aber wir sollen nicht an die Schicksale eines einzelnen Mannes oder Volkes unser Herz hängen, sondern wir sollen verstehen, wodurch sie groß wurden und untergingen, und welches der bleibende Gewinn war, welcher dem Menschengeschlecht durch ihr Leben erhalten wurde. Dann wird der Bericht über ihre Schicksale nur wie eine Hülle, hinter welcher wir die Thätigkeit anderer lebendiger Kräfte erkennen. Denn wir erraten, daß in den Menschen, welche zerbrechen, und in den Völkern, welche zerrinnen, noch ein höheres geheimes Leben waltet, welches nach ewigen Gesetzen Schaffend und Zerstörend dauert. Und einige Gesetze dieses höhern Lebens zu erkennen und den Segen zu empfinden, welchen dies Schaffen und Zerstören in unser Dasein gebracht hat, das ist Aufgabe und Stolz des Geschichtsforschers. Von diesem Standpunkt verwandelt Sich Auflösung und Verderben in neues Leben. Und wer sich gewöhnt, die Vergangenheit so zu betrachten, dem vermehrt sie die Sicherheit und sie erhebt ihm das Herz.«

Ilse schüttelte das Haupt und Sah vor sich nieder. »Der römische Mann, dessen verlorenes Buch Sie zu uns geführt hat, und von dem heut wieder die Rede war, ist er Ihnen deshalb lieb, weil er die Welt ebenso freudig angesehen hat wie Sie?«

»Nein,« versetzte der Professor, »gerade das Gegenteil macht uns seine Arbeit beweglich. Sein ernster Geist wurde niemals durch fröhliche Zuversicht gehoben. Das Schicksal seines Volkes, die Zukunft der Menschern liegt ihm als ein unheimliches Räthsel schwer auf der Seele, in der Vergangenheit erblickt er eine bessere Zeit, freieres Regieren, stärkere Charaktere, reinere Sitten, er erkennt an Seinem Volke und im Staat einen Verfall, der selbst durch gute Regenten nicht mehr aufzuhalten ist. Es ist ergreifend, wie der besonnene Mann zweifelt, ob dies furchtbare Schicksal von Millionen eine Strafe der Gottheit ist, oder die Folge davon, daß kein Gott sich um das Loos der Sterblichen kümmert. Ahnungsvoll und ironisch betrachtet er die Geschicke der Einzelnen, die beste Weisheit ist ihm, das Unvermeidliche schweigend und duldend ertragen. Daß er in eine trostlose Oede starrt, erkennt man auch dann, wenn ihm einmal ein kurzes Lächeln die Lippen bewegt; man meint zu sehen, daß um sein Auge doch die Furcht hängt und der starre Ausdruck, welcher dem Menschen bleibt, den einmal tötliches Grauen geschüttelt.«

»Das ist traurig,« rief Ilse.

»Ja, es ist fürchterlich. Und wir begreifen schwer, wie man bei solcher Trostlosigkeit das Leben ertrug. Die Freude, unter einem Volke mit aufsteigender Kraft zu leben, hatte damals nicht der Heide, nicht der Christ. Denn das ist doch das höchste und unzerstörbare Glück des Menschen, wenn er vertrauend auf das Werdende, mit Hoffnung auf das Zukünftige blicken kann. Und so leben wir. Viel Schwaches, viel Verdorbenes und Absterbendes umgibt uns, aber dazwischen wächst eine unendliche Fülle von junger Kraft herauf. Wurzeln und Stamm unseres Volkslebens sind gesund. Innigkeit in der Familie, Ehrfurcht vor Sitte und Recht, harte, aber tüchtige Arbeit, kräftige Rührigkeit auf jedem Gebiet. In vielen Tausenden das Bewußtsein, daß Sie ihre Volkskraft steigern, in Millionen, die noch zurückgeblieben sind, die Empfindung, daß auch sie zu ringen haben nach unserer Bildung. Das ist uns Modernen Freude und Ehre, das hilft wacker und stolz machen. Und wir wissen wohl, die frohe Empfindung dieses Besitzes kann auch uns einmal getrübt werden, denn jeder Nation kommen zeitweise Störungen ihrer Entwickelung, aber das Gedeihen ist nicht zu ertöten und nicht auf die Dauer zurüchhalten, solange diese letzten Bürgschaften der Kraft und Gesundheit vorhanden sind. Deshalb ist jetzt auch glücklich, wer den Beruf hat, längst Vergangenes zu durchsuchen, denn er blickt von der gesunden Luft der Höhe hinab in die dunkle Tiefe.«

Ilse sah hingerissen in das Antlitz des Mannes; er aber bog sich über die Garbe, welche zwischen ihm und ihr lehnte, und fuhr begeistert fort: »jeder von uns holt aus dem Kreise seiner persönlichen Erfahrungen Urtheil und Stimmung, welche er bei Betrachtung großer Weltverhältnisse verwendet. Blicken Sie um sich her auf die lachende Sommerlandschaft, dort in der Ferne auf die thätigen Menschen, und was Ihrem Herzen näher liegt, auf Ihr eigenes Haus und den Kreis, in dem Sie aufgewachsen sind. So mild das Licht, so warm das Herz, verständig, gut und treu der Sinn der Menschen, die Sie umgeben. Und denken Sie, welchen Werth, auch für mich hat, das zu sehen und an Ihrer Seite zu genießen. Und wenn ich über meinen Büchern recht innig empfinde, wie wacker und tüchtig das Leben meines Volkes ist, welches mich umgibt, so werde ich fortan auch Ihnen zu danken haben.« Er streckte seine Hand aus über die Garben, Ilse faßte sie, hielt sie mit beiden Händen fest und eine warme Thräne fiel darauf. So sah sie mit feuchten Augen zu ihm hin, eine ganze Welt von Seligkeit lag in ihrem Antlitz. Allmählich ergoß sich ein helles Roth über ihre Wangen, sie stand auf, noch ein Blick voll hingebender Zärtlichkeit fiel auf ihn, dann schritt sie flüchtig von ihm abwärts, den Rain entlang.

Der Professor blieb stehen an die Garben gelehnt. Auf der Spitze der Aehre über seinem Haupte zwitscherte fröhlich die Haidelerche, er drückte seine Wange an die Getreidebüschel, welche ihn halb verbargen. So sah er in seliger Vergessenheit dem Mädchen nach, das zu den fernen Arbeitern hinabstieg.

Als er die Augen erhob, stand ihm der Freund zur Seite, er schaute ein Antlitz, in welchem inniges Mitgefühl zuckte, und hörte die leise Frage: »Und was soll werden?«

»Mann und Weib,« sprach der Professor stark, drückte dem Freunde die Hand und schritt über das Feld dem Ruf der Lerche nach, welche auf jeder Garbenspitze anhielt, ihn zu erwarten.

Fritz war allein. Das Wort war gesprochen, ein neues ungeheures Schicksal erhob sich über das Leben des Freundes. Also dies sollte das Ende sein? Thusnelda statt des Tacitus? – Ach, die sociale Erfindung der Ehe war sehr ehrwürdig, das empfand Fritz tief, es war fast allen Menschen unvermeidlich, die aufwühlenden Kämpfe durchzumachen, welche eine Veränderung der gesammten Lebensordnung zur Folge haben. Aber den Freund konnte er sich gar nicht denken unter den Büchern, mit den Collegen, und dazu diese Frau! Schmerzlich fühlte er, daß auch sein Verhältniß zu dem Gelehrten dadurch geändert werden mußte. – Aber er dachte nicht lange an sich selbst, mißtrauisch, ängstlich sorgte er um den Waghalsigen. Und nicht weniger um sie, die so gefährlich in die Seele des Andern eingedrungen war. – Und der Treue sah, zornig in die Runde auf Stoppeln und Strohhalme, und er ballte eine Faust gegen den seligen Bachhuber, gegen das Thal von Rossau, ja auch gegen sie, die letzte Ursache der heillosen Verwirrung, – gegen die Handschrift des Tacitus.


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