Sigmund Freud
Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Sigmund Freud

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566 34. Vorlesung

Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen

Meine Damen und Herren! Darf ich einmal, sozusagen des trockenen Tones satt, über Dinge vor Ihnen reden, die sehr wenig theoretische Bedeutung haben, die Sie aber doch nahe angehen, insoferne Sie der Psychoanalyse freundlich gesinnt sind? Setzen wir z. B. den Fall, daß Sie in Ihren Mußestunden einen deutschen, englischen oder amerikanischen Roman zur Hand nehmen, in dem Sie eine Schilderung der Menschen und der Zustände von heute zu finden erwarten. Nach wenigen Seiten stoßen Sie auf eine erste Äußerung über Psychoanalyse und dann bald auf weitere, auch wenn der Zusammenhang es nicht zu erfordern scheint. Sie müssen nicht meinen, daß es sich dabei um Anwendungen der Tiefenpsychologie zum besseren Verständnis der Personen im Text oder ihrer Taten handelt; es gibt allerdings auch ernsthaftere Dichtungen, in denen das wirklich versucht wird. Nein, es sind meist spöttische Bemerkungen, mit denen der Verfasser des Romans seine Belesenheit oder seine intellektuelle Überlegenheit dartun will. Nicht immer bekommen Sie auch den Eindruck, daß er das wirklich kennt, worüber er sich ausspricht. Oder Sie gehen zu Ihrer Erholung in eine gesellige Vereinigung; es muß nicht gerade in Wien sein. Nach kurzer Zeit geht das Gespräch auf die Psychoanalyse. Sie hören die verschiedensten Leute ihr Urteil abgeben, meist im Tone unbeirrter Sicherheit. Dies Urteil ist ganz gewöhnlich ein geringschätzendes, oft eine Schmähung, zum mindesten wieder eine Spötterei. Wenn Sie so unvorsichtig sind zu verraten, daß Sie etwas von dem Gegenstand verstehen, fallen alle über Sie her, verlangen Auskünfte und Erklärungen und geben Ihnen nach kurzer Zeit die Überzeugung, daß alle diese strengen Urteile vor jeder Information gefällt worden waren, daß kaum einer von diesen Gegnern je ein analytisches Buch zur Hand genommen hat, oder wenn doch, daß er nicht über den ersten Widerstand beim Zusammentreffen mit dem neuen Stoff hinweggekommen ist.

Von einer Einführung in die Psychoanalyse erwarten Sie vielleicht auch eine Anweisung, welche Argumente man zur Richtigstellung der offenkundigen Irrtümer über die Analyse verwenden, welche Bücher man 567 zur besseren Information empfehlen, oder selbst, welche Beispiele aus Ihrer Lektüre oder Erfahrung Sie in der Diskussion anrufen sollen, um die Einstellung der Gesellschaft zu ändern. Ich bitte Sie, tun Sie nichts von alledem. Es wäre unnütz; am besten Sie verbergen überhaupt Ihr besseres Wissen. Wenn das nicht mehr möglich ist, so beschränken Sie sich darauf zu sagen, Sie meinen, soweit Sie orientiert sind, daß die Psychoanalyse ein besonderer Wissenszweig sei, recht schwer zu verstehen und zu beurteilen, daß sie sich mit sehr ernsthaften Dingen beschäftige, so daß man ihr mit ein paar Scherzen nicht nahekomme, und daß man sich für gesellschaftliche Unterhaltungen lieber ein anderes Spielzeug aussuchen solle. Natürlich beteiligen Sie sich auch nicht an Deutungsversuchen, wenn unvorsichtige Leute ihre Träume erzählen, und widerstehen auch der Versuchung, durch Berichte von Heilungen um Gunst für die Analyse zu werben.

Sie können aber die Frage aufwerfen, warum diese Leute, sowohl die Bücher schreiben als die Konversation machen, sich so inkorrekt benehmen, und Sie werden zur Annahme neigen, daß dies nicht nur an den Leuten, sondern auch an der Psychoanalyse liegt. Das meine ich auch; was Ihnen in Literatur und Gesellschaft als Vorurteil entgegentritt, ist die Nachwirkung eines früheren Urteils – nämlich des Urteils, das die Vertreter der offiziellen Wissenschaft über die junge Psychoanalyse gefällt hatten. Ich habe mich schon einmal in einer historischen Darstellung darüber beklagt und werde es nicht wieder tun, – vielleicht war schon dies eine Mal zuviel, – aber wirklich, es gab keine Verletzung der Logik, aber auch keine des Anstandes und guten Geschmacks, die sich die wissenschaftlichen Gegner der Psychoanalyse damals nicht gestattet hätten. Es war eine Situation, wie sie im Mittelalter verwirklicht war, wenn ein Missetäter oder auch nur ein politischer Gegner an den Pranger gestellt und der Mißhandlung durch den Pöbel preisgegeben wurde. Und Sie machen es sich vielleicht nicht klar, wie weit hinauf in unserer Gesellschaft die Pöbelhaftigkeit reicht und welchen Unfug sich die Menschen erlauben, wenn sie sich als Massenbestandteil und der persönlichen Verantwortung überhoben fühlen. Ich war zu Beginn jener Zeiten ziemlich allein, sah bald ein, daß Polemisieren keine Aussicht habe, daß aber auch das Sich-beklagen und die Anrufung besserer Geister sinnlos sei, da es ja keine Instanzen gäbe, bei denen die Klage anzubringen wäre. Somit ging ich einen anderen 568 Weg; ich machte die erste Anwendung der Psychoanalyse, indem ich mir das Benehmen der Masse als Phänomen desselben Widerstands aufklärte, den ich bei den einzelnen Patienten zu bekämpfen hatte, enthielt mich selbst der Polemik und beeinflußte meine Anhänger, als sie allmählich hinzukamen, nach derselben Richtung. Das Verfahren war gut, der Bann, in den damals die Analyse getan wurde, ist seither aufgehoben worden, aber wie ein verlassener Glaube als Aberglaube fortlebt, eine von der Wissenschaft aufgegebene Theorie als Volksmeinung erhalten bleibt, so setzt sich heute jene ursprüngliche Ächtung der Psychoanalyse durch wissenschaftliche Kreise in der spöttischen Geringschätzung der Bücher schreibenden oder Konversation machenden Laien fort. Darüber werden Sie sich also nicht mehr verwundern.

Nun erwarten Sie aber nicht, die frohe Botschaft zu hören, der Kampf um die Analyse sei zu Ende und habe mit ihrer Anerkennung als Wissenschaft, ihrer Zulassung als Lehrstoff zur Universität geendet. Es ist keine Rede davon, er setzt sich fort, nur in mehr gesitteten Formen. Neu ist auch, daß sich in der wissenschaftlichen Gesellschaft eine Art von Pufferschicht zwischen der Analyse und ihren Gegnern gebildet hat, Leute, die etwas an der Analyse gelten lassen, es auch unter ergötzlichen Verklausulierungen bekennen, dafür anderes ablehnen, wie sie nicht laut genug verkünden können. Was sie bei dieser Auswahl bestimmt, ist nicht leicht zu erraten. Es scheinen persönliche Sympathien zu sein. Der eine nimmt Anstoß an der Sexualität, der andere am Unbewußten; besonders unbeliebt scheint die Tatsache der Symbolik zu sein. Daß das Gebäude der Psychoanalyse, obwohl unfertig, doch schon heute eine Einheit darstellt, aus der nicht jeder nach seiner Willkür Elemente herausbrechen kann, scheint für diese Eklektiker nicht in Betracht zu kommen. Von keinem dieser Halb- oder Viertelanhänger konnte ich den Eindruck bekommen, daß ihre Ablehnung auf Nachprüfung begründet war. Auch manche hervorragende Männer gehören zu dieser Kategorie. Sie sind freilich entschuldigt durch die Tatsache, daß ihre Zeit wie ihr Interesse anderen Dingen gehören, nämlich jenen, in deren Bewältigung sie so Bedeutendes geleistet haben. Aber sollten sie dann nicht lieber mit ihrem Urteil zurückhalten, anstatt so entschieden Partei zu nehmen? Bei einem dieser Großen gelang mir einmal eine rasche Bekehrung. Es war ein weltberühmter Kritiker, der den geistigen Strömungen der Zeit mit wohlwollendem Verständnis und prophetischem Scharfblick gefolgt war. Ich lernte ihn erst kennen, als er das achtzigste Jahr überschritten hatte, aber er war noch immer bezaubernd 569 im Gespräch. Sie werden leicht erraten, wen ich meine. Ich war es auch nicht, der auf die Psychoanalyse zu reden kam. Er tat es, indem er sich auf die bescheidenste Weise an mir maß. »Ich bin nur ein Literat«, sagte er, »aber Sie sind ein Naturforscher und Entdecker. Aber das eine muß ich Ihnen sagen: ich habe nie sexuelle Gefühle für meine Mutter gehabt.« »Aber das brauchen Sie ja gar nicht gewußt zu haben«, war meine Erwiderung, »das sind ja für den Erwachsenen unbewußte Vorgänge.« »Ach, so meinen Sie das«, sagte er erleichtert und drückte meine Hand. Wir plauderten noch einige Stunden im besten Einvernehmen. Ich hörte später, daß er in dem kurzen Lebensrest, der ihm noch vergönnt war, sich wiederholt freundlich über die Analyse äußerte und gerne das ihm neue Wort »Verdrängung« gebrauchte.

 

Ein bekannter Spruch mahnt, man soll von seinen Feinden lernen. Ich gestehe, daß mir dies nie gelungen ist, aber ich dachte doch, es könnte für Sie lehrreich werden, wenn ich mit Ihnen eine Musterung aller der Vorwürfe und Einwendungen vornähme, die die Gegner der Psychoanalyse gegen sie erhoben haben, und dann auf die so leicht aufzudeckenden Ungerechtigkeiten und Verstöße gegen die Logik hinwiese. Aber »on second thoughts« habe ich mir gesagt, das würde gar nicht interessant, sondern ermüdend und peinlich werden und gerade das sein, was ich in all diesen Jahren sorgfältig vermieden habe. Entschuldigen Sie mich also, wenn ich diesen Weg nicht weiter verfolge und Sie mit den Urteilen unserer sogenannt wissenschaftlichen Gegner verschone. Handelt es sich doch fast immer um Personen, deren einziger Befähigungsnachweis die Unbefangenheit ist, die sie sich durch Fernhaltung von den Erfahrungen der Psychoanalyse bewahrt haben. Aber ich weiß, so leichten Kaufs werden Sie mich nicht in anderen Fällen entlassen. Sie werden mir vorhalten: Es gibt doch soviel Personen, für die Ihre letzte Bemerkung nicht zutrifft. Diese sind der analytischen Erfahrung nicht ausgewichen, haben Patienten analysiert, sind vielleicht selbst analysiert worden, waren sogar eine Zeitlang Ihre Mitarbeiter und sind doch zu anderen Auffassungen und Theorien gekommen, auf Grund deren sie von Ihnen abgefallen sind und selbständige Schulen der Psychoanalyse begründet haben. Über die Möglichkeit und Bedeutung dieser in der Geschichte der Analyse so häufigen Abfallsbewegungen sollten Sie uns Aufklärung geben.

570 Ja, ich will es versuchen; in Kürze zwar, denn es kommt dabei weniger für das Verständnis der Analyse heraus, als Sie erwarten mögen. Ich weiß, Sie denken in erster Linie an die Adlersche Individualpsychologie, die z. B. in Amerika als eine gleichberechtigte Nebenlinie unserer Psychoanalyse betrachtet und regelmäßig mit ihr zusammen genannt wird. In Wirklichkeit hat sie sehr wenig mit ihr zu tun, führt aber infolge gewisser historischer Umstände eine Art von parasitärer Existenz auf ihre Kosten. Auf ihren Gründer treffen die Bedingungen, die wir für die Gegner dieser Gruppe angenommen haben, nur in geringem Ausmaß zu. Der Name selbst ist unpassend, scheint ein Produkt der Verlegenheit; wir können uns seine berechtigte Verwendung als Gegensatz zu Massenpsychologie nicht stören lassen; auch was wir treiben ist zumeist und vor allem Psychologie des menschlichen Individuums. In eine objektive Kritik der Adlerschen Individualpsychologie werde ich heute nicht eingehen, sie liegt nicht im Plan dieser Einführung, auch habe ich sie schon einmal versucht und habe wenig Anlaß, etwas an ihr zu ändern. Den Eindruck, den sie hervorruft, will ich aber durch eine kleine Begebenheit in den Jahren vor der Analyse illustrieren.

In der Nähe der mährischen Kleinstadt, in der ich geboren bin und die ich als Kind von drei Jahren verlassen habe, befindet sich ein bescheidener Kurort, schön im Grünen gelegen. In den Gymnasialjahren war ich mehrmals auf Ferien dort. Etwa zwei Jahrzehnte später wurde die Erkrankung einer nahen Verwandten der Anlaß, diesen Ort wiederzusehen. In einer Unterhaltung mit dem Kurarzt, der meiner Verwandten Beistand geleistet hatte, erkundigte ich mich auch nach seinen Beziehungen zu den – ich glaube – slowakischen Bauern, die im Winter seine einzige Klientel bildeten. Er erzählte, die ärztliche Tätigkeit spiele sich in folgender Weise ab: Zur Stunde seiner Ordination kommen die Patienten in sein Zimmer und stellen sich in einer Reihe auf. Einer nach dem anderen tritt dann hervor und klagt über seine Beschwerden. Er hat Kreuzschmerzen oder Magenkrämpfe oder Müdigkeit in den Beinen usw. Dann untersucht er ihn, und nachdem er sich orientiert hat, ruft 571 er ihm die Diagnose zu, in jedem Fall die nämliche. Er übersetzte mir das Wort, es heiße soviel wie »verhext«. Ich fragte erstaunt, ob die Bauern denn keinen Anstoß daran nehmen, daß er bei allen Kranken denselben Befund habe. »O nein«, erwiderte er, »sie sind sehr zufrieden damit, es ist das, was sie erwartet haben. Jeder, der in die Reihe zurücktritt, deutet den anderen durch Mienen und Gebärden: ›Ja, das ist einer, der's versteht‹.« Wenig ahnte ich damals, unter welchen Verhältnissen ich einer analogen Situation wieder begegnen würde.

Ob nämlich einer ein Homosexueller ist oder ein Nekrophile, ein verängstigter Hysteriker, ein abgesperrter Zwangsneurotiker oder ein tobender Wahnsinniger, in jedem Fall wird der Individualpsychologe Adlerscher Richtung als das treibende Motiv seines Zustandes angeben, daß er sich zur Geltung bringen, seine Minderwertigkeit überkompensieren, oben bleiben, von der weiblichen auf die männliche Linie gelangen will. Etwas ganz Ähnliches hatten wir als junge Studenten auf der Klinik gehört, wenn einmal ein Fall von Hysterie vorgestellt wurde: Die Hysterischen erzeugen ihre Symptome, um sich interessant zu machen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wie doch alte Weisheiten immer wiederkehren! Aber dieses Stückchen Psychologie schien uns schon damals die Rätsel der Hysterie nicht zu decken, es ließ z. B. unerklärt, warum die Kranken sich keiner anderen Mittel zur Erreichung ihrer Absicht bedienen. Etwas an dieser Lehre der Individualpsychologen muß natürlich richtig sein, ein Partikelchen für das Ganze. Der Selbsterhaltungstrieb wird versuchen, sich jede Situation zunutze zu machen, das Ich wird auch das Kranksein zum Vorteil wenden wollen. Man nennt das in der Psychoanalyse den »sekundären Krankheitsgewinn«. Freilich, wenn man an die Tatsachen des Masochismus denkt, des unbewußten Strafbedürfnisses und der neurotischen Selbstschädigung, die die Annahme von Triebregungen nahelegen, welche der Selbsterhaltung zuwiderlaufen, wird man auch an der Allgemeingültigkeit jener banalen Wahrheit irre, auf der das Lehrgebäude der Individualpsychologie erbaut ist. Aber der großen Menge muß eine solche Lehre hoch willkommen sein, die keine Komplikationen anerkennt, keine neuen, schwer faßbaren Begriffe einführt, vom Unbewußten nichts weiß, das auf Allen lastende Problem der Sexualität mit einem Hieb beseitigt, sich auf die Aufdeckung der Schliche beschränkt, mit denen man sich das Leben bequem machen will. Denn die 572 Menge ist selbst bequem, verlangt zur Erklärung nicht mehr als einen Grund, dankt der Wissenschaft nicht für ihre Weitläufigkeiten, will einfache Lösungen haben und Probleme erledigt wissen. Erwägt man, wie sehr die Individualpsychologie diesen Anforderungen entgegenkommt, so kann man die Erinnerung an einen Satz im Wallenstein nicht zurückdrängen:

»War' der Gedank' nicht so verwünscht gescheidt,
Man wär' versucht, ihn herzlich dumm zu nennen.«

Die Kritik der Fachkreise, so unerbittlich gegen die Psychoanalyse, hat die Individualpsychologie im allgemeinen mit Samthandschuhen angefaßt. Es hat sich zwar in Amerika ereignet, daß einer der angesehensten Psychiater einen Aufsatz gegen Adler veröffentlichte, den er »Enough« überschrieb, in dem er seinem Überdruß an dem »Wiederholungszwang« der Individualpsychologen energischen Ausdruck gab. Wenn andere sich weit liebenswürdiger benommen haben, so hat wohl die Gegnerschaft gegen die Analyse viel dazu getan.

Über andere Schulen, die von unserer Psychoanalyse abgezweigt haben, brauche ich nicht viel zu sagen. Daß es geschehen ist, läßt sich weder für noch gegen den Wahrheitsgehalt der Psychoanalyse verwerten. Denken Sie an die starken affektiven Momente, die es vielen schwermachen, sich einzuordnen oder unterzuordnen, und an die noch größere Schwierigkeit, die der Spruch quot capita tot sensus mit Recht betont. Wenn die Meinungsverschiedenheiten ein gewisses Maß überschritten hatten, wurde es das Zweckmäßigste, sich zu trennen und von da an verschiedene Wege zu gehen, besonders wenn die theoretische Differenz eine Änderung des praktischen Handelns zur Folge hatte. Nehmen Sie z. B. an, daß ein Analytiker den Einfluß der persönlichen Vergangenheit geringschätzt und die Verursachung der Neurosen ausschließlich in gegenwärtigen Motiven und auf die Zukunft gerichteten Erwartungen sucht. Dann wird er auch die Analyse der Kindheit vernachlässigen, überhaupt eine andere Technik einschlagen und den Ausfall der Ergebnisse aus der Kindheitsanalyse durch Steigerung seines lehrhaften Einflusses und durch direkte Hinweise auf bestimmte Lebensziele wettmachen müssen. Wir anderen werden dann sagen: Das mag eine Schule 573 der Weisheit sein, ist aber keine Analyse mehr. Oder ein anderer mag zur Einsicht gekommen sein, daß das Angsterlebnis der Geburt den Keim zu allen späteren neurotischen Störungen legt; dann mag es ihm rechtmäßig erscheinen, die Analyse auf die Wirkungen dieses einen Eindrucks einzuschränken und therapeutischen Erfolg von einer drei- bis viermonatigen Behandlung zu versprechen. Sie merken, ich habe zwei Beispiele gewählt, die von diametral entgegengesetzten Voraussetzungen ausgehen. Es ist ein fast allgemeiner Charakter dieser »Abfallsbewegungen«, daß eine jede sich eines Stücks aus dem Motivenreichtum der Psychoanalyse bemächtigt und sich auf Grund dieser Besitzergreifung selbständig macht, etwa des Machttriebs, des ethischen Konflikts, der Mutter, der Genitalität usw. Wenn es Ihnen scheint, daß solche Sezessionen in der Geschichte der Psychoanalyse heute schon häufiger sind als bei anderen geistigen Bewegungen, so weiß ich nicht, ob ich Ihnen recht geben soll. Wenn es so ist, so muß man die innigen Beziehungen zwischen theoretischen Ansichten und therapeutischem Handeln dafür verantwortlich machen, die in der Psychoanalyse bestehen. Meinungsverschiedenheiten allein würden weit länger ertragen werden. Man liebt es, uns Psychoanalytikern Intoleranz vorzuwerfen. Die einzige Äußerung dieser häßlichen Eigenschaft war eben die Trennung von den Andersdenkenden. Sonst wurde ihnen nichts angetan; im Gegenteile, sie sind auf die Butterseite gefallen, haben es seither besser als vorhin, denn bei ihrem Ausscheiden haben sie sich gewöhnlich von einer der Belastungen frei gemacht, unter denen wir keuchen – vom Odium der kindlichen Sexualität etwa oder von der Lächerlichkeit der Symbolik –, und gelten jetzt der Umwelt als halbwegs ehrlich, was wir, die Zurückgebliebenen, noch immer nicht sind. Auch haben sie sich – bis auf eine bemerkenswerte Ausnahme – selbst ausgeschlossen.

Was für Ansprüche erheben Sie noch im Namen der Toleranz? Daß, wenn jemand eine Meinung geäußert hat, die wir für grundfalsch halten, wir ihm sagen: »Danke Ihnen schön, daß Sie diesen Widerspruch geäußert haben. Sie schützen uns gegen die Gefahr der Selbstgefälligkeit und geben uns Gelegenheit, den Amerikanern zu beweisen, daß wir wirklich so >broadminded< sind, wie sie es immer wünschen. Wir glauben zwar kein Wort von dem, was Sie sagen, aber das macht nichts. Wahrscheinlich haben Sie ebenso recht wie wir. Wer kann denn überhaupt wissen, wer recht hat? Erlauben Sie uns, daß wir trotz der 574 Gegnerschaft Ihre Ansicht in der Literatur vertreten. Wir hoffen, Sie werden die Liebenswürdigkeit haben, sich dafür für unsere einzusetzen, die Sie verwerfen.« Dies wird offenbar in der Zukunft die Gepflogenheit im wissenschaftlichen Betrieb werden, wenn sich der Mißbrauch der Einsteinschen Relativität vollends durchgesetzt hat. Es ist wahr, vorläufig haben wir es noch nicht so weit gebracht. Wir beschränken uns nach alter Manier darauf, nur unsere eigenen Überzeugungen zu vertreten, setzen uns der Gefahr des Irrtums aus, weil man sich dagegen nicht schützen kann, und lehnen ab, was uns widerspricht. Von dem Recht, unsere Meinungen abzuändern, wenn wir glauben, etwas Besseres gefunden zu haben, haben wir in der Psychoanalyse reichlich Gebrauch gemacht.

 

Es war eine der ersten Anwendungen der Psychoanalyse, daß sie uns die Gegnerschaft verstehen lehrte, die uns die Mitwelt bewies, weil wir Psychoanalyse trieben. Andere Anwendungen, von objektiver Natur, können ein allgemeineres Interesse beanspruchen. Unsere erste Absicht war ja, die Störungen des menschlichen Seelenlebens zu verstehen, weil eine merkwürdige Erfahrung gezeigt hatte, daß hier Verständnis und Heilung beinahe zusammenfallen, daß ein gangbarer Weg von dem einen zum anderen führt. Es war auch lange Zeit die einzige Absicht. Aber dann erkannten wir die nahen Beziehungen, ja die innere Identität zwischen den pathologischen und den sogenannt normalen Vorgängen, die Psychoanalyse wurde zur Tiefenpsychologie, und da nichts, was Menschen schaffen oder treiben, ohne Mithilfe der Psychologie verständlich ist, ergaben sich die Anwendungen der Psychoanalyse auf zahlreiche Wissensgebiete, besonders geisteswissenschaftliche, von selbst, drängten sich auf und forderten Bearbeitung. Leider stießen diese Aufgaben auf Hindernisse, die, in der Sachlage begründet, auch heute noch nicht überwunden sind. Eine solche Anwendung setzt fachliche Kenntnis voraus, die der Analytiker nicht besitzt, während diejenigen, die sie besitzen, die Fachleute, von Analyse nichts wissen und vielleicht nichts wissen wollen. Es hat sich also ergeben, daß die Analytiker als Dilettanten mit mehr oder weniger zureichender Ausrüstung, oft in Eile zusammengerafft, Einfälle in jene Wissensgebiete unternommen haben, wie Mythologie, Kulturgeschichte, Ethnologie, Religionswissenschaft usw. Sie wurden von den dort ansässigen Forschern nicht besser 575 behandelt als Eindringlinge überhaupt, ihre Methoden wie ihre Resultate, soweit sie Aufmerksamkeit fanden, zunächst abgelehnt. Aber diese Verhältnisse sind in stetiger Besserung, auf allen Gebieten wächst die Anzahl der Personen, die Psychoanalyse studieren, um sie in ihrem Spezialfach zu verwerten, als Kolonisten die Pioniere abzulösen. Wir dürfen hier eine reiche Ernte an neuen Einsichten erwarten. Anwendungen der Analyse sind auch immer Bestätigungen derselben. Dort, wo die wissenschaftliche Arbeit von einer praktischen Betätigung weiter entfernt ist, werden wohl auch die unvermeidlichen Meinungskämpfe weniger erbittert ausfallen.

Ich empfinde es als eine starke Versuchung, Sie durch all die Anwendungen der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften zu führen. Es sind Dinge, wissenswert für jeden Menschen mit geistigen Interessen, und eine Zeitlang nichts von Abnormität und Krankheit zu hören, wäre eine verdiente Erholung. Aber ich muß darauf verzichten, es führte uns wiederum über den Rahmen dieser Vorträge hinaus und, ehrlich gestanden, ich wäre der Aufgabe auch nicht gewachsen. Auf einigen dieser Gebiete habe ich zwar selbst den ersten Schritt getan, aber heute übersehe ich die Fülle nicht mehr und hätte viel zu studieren, um zu bewältigen, was seit meinen Anfängen hinzugekommen ist. Die unter Ihnen, die durch meine Absage enttäuscht sind, mögen sich an unserer Zeitschrift Imago schadlos halten, die für die nicht medizinischen Anwendungen der Analyse bestimmt ist.

 

Nur an einem Thema kann ich nicht so leicht vorbeigehen, nicht weil ich besonders viel davon verstehe oder selbst soviel dazugetan habe. Ganz im Gegenteil, ich habe mich kaum je damit beschäftigt. Aber es ist so überaus wichtig, so reich an Hoffnungen für die Zukunft, vielleicht das Wichtigste von allem, was die Analyse betreibt. Ich meine die Anwendung der Psychoanalyse auf die Pädagogik, die Erziehung der nächsten Generation. Ich freue mich wenigstens sagen zu können, daß meine Tochter Anna Freud sich diese Arbeit zur Lebensaufgabe 576 gesetzt hat, mein Versäumnis auf solche Art wiedergutmacht. Der Weg, der zu dieser Anwendung geführt hat, ist leicht zu übersehen. Wenn wir in der Behandlung eines erwachsenen Neurotikers der Determinierung seiner Symptome nachspürten, wurden wir regelmäßig bis in seine frühe Kindheit zurückgeleitet. Die Kenntnis der späteren Ätiologien reichte weder für das Verständnis noch für die therapeutische Wirkung aus. So wurden wir genötigt, uns mit den psychischen Besonderheiten des Kindesalters bekanntzumachen, und erfuhren eine Menge von Dingen, die anders als durch Analyse nicht zu erfahren waren, konnten auch viele allgemein geglaubte Meinungen über die Kindheit richtigstellen. Wir erkannten, daß den ersten Kinderjahren (etwa bis fünf) aus mehreren Gründen eine besondere Bedeutung zukommt. Erstens, weil sie die Frühblüte der Sexualität enthalten, die für das Sexualleben der Reifezeit entscheidende Anregungen hinterläßt. Zweitens, weil die Eindrücke dieser Zeit auf ein unfertiges und schwaches Ich treffen, auf das sie wie Traumen wirken. Das Ich kann sich der Affektstürme, die sie hervorrufen, nicht anders als durch Verdrängung erwehren und erwirbt solcherart im Kindesalter alle Dispositionen zu späteren Erkrankungen und Funktionsstörungen. Wir haben verstanden, die Schwierigkeit der Kindheit liegt darin, daß das Kind in einer kurzen Spanne Zeit sich die Resultate einer Kulturentwicklung aneignen soll, die sich über Jahrtausende erstreckt, Triebbeherrschung und soziale Anpassung, wenigstens die ersten Stücke von beiden. Nur einen Teil dieser Veränderung kann es durch seine eigene Entwicklung erreichen, vieles muß ihm von der Erziehung aufgedrängt werden. Wir verwundern uns nicht, wenn das Kind diese Aufgabe oft nur unvollkommen bewältigt. Viele Kinder machen in diesen frühen Zeiten Zustände durch, die man den Neurosen gleichstellen darf, gewiß alle, die späterhin manifest erkranken. Bei manchen Kindern wartet die neurotische Erkrankung nicht die Zeit der Reife ab, sie bricht schon in der Kinderzeit aus und macht Eltern und Ärzten zu schaffen.

Wir haben kein Bedenken getragen, die analytische Therapie bei solchen Kindern anzuwenden, die entweder unzweideutige neurotische Symptome zeigen oder auf dem Weg zu einer ungünstigen Charakterentwicklung waren. Die Besorgnis, dem Kind durch die Analyse zu schaden, der Gegner der Analyse Ausdruck gegeben haben, erwies sich als unbegründet. Unser Gewinn bei diesen Unternehmungen war, daß wir am lebenden Objekt bestätigen konnten, was wir beim Erwachsenen sozusagen aus historischen Dokumenten erschlossen hatten. Aber 577 auch der Gewinn für die Kinder war sehr erfreulich. Es ergab sich, daß das Kind ein sehr günstiges Objekt für die analytische Therapie ist; die Erfolge sind gründliche und halten an. Natürlich muß man die für Erwachsene ausgearbeitete Technik der Behandlung für das Kind weitgehend abändern. Das Kind ist psychologisch ein anderes Objekt als der Erwachsene, es besitzt noch kein Über-Ich, die Methode der freien Assoziation trägt nicht weit, die Übertragung spielt, da die realen Eltern noch vorhanden sind, eine andere Rolle. Die inneren Widerstände, die wir beim Erwachsenen bekämpfen, sind beim Kind zumeist durch äußere Schwierigkeiten ersetzt. Wenn sich die Eltern zu Trägern des Widerstandes machen, wird oft das Ziel der Analyse oder diese selbst gefährdet, daher ist es oft notwendig, mit der Analyse des Kindes ein Stück analytischer Beeinflussung der Eltern zu verbinden. Anderseits werden die unvermeidlichen Abweichungen der Kinderanalyse von der Erwachsener durch den Umstand verringert, daß manche unserer Patienten so viel infantile Charakterzüge bewahrt haben, daß der Analytiker, wiederum in Anpassung an das Objekt, nicht umhin kann, sich bei ihnen gewisser Techniken der Kinderanalyse zu bedienen. Es hat sich von selbst ergeben, daß die Kinderanalyse die Domäne weiblicher Analytiker geworden ist, und dabei wird es wohl bleiben.

Die Einsicht, daß die meisten unserer Kinder in ihrer Entwicklung eine neurotische Phase durchmachen, trägt den Keim einer hygienischen Forderung in sich. Man kann die Frage aufwerfen, ob es nicht zweckmäßig wäre, dem Kind mit einer Analyse zu Hilfe zu kommen, auch wenn es keine Anzeichen von Störung zeigt, als eine Maßregel der Fürsorge für seine Gesundheit, so wie man heute gesunde Kinder gegen Diphtherie impft, ohne abzuwarten, ob sie an Diphtherie erkranken. Die Diskussion dieser Frage hat heute nur ein akademisches Interesse; ich kann mir gestatten, sie vor Ihnen zu erörtern; der großen Menge unserer Zeitgenossen würde schon das Projekt als ein ungeheurer Frevel erscheinen, und bei der Stellung der meisten Elternpersonen zur Analyse muß man derzeit jede Hoffnung auf dessen Durchführung aufgeben. Eine solche Prophylaxe der Nervosität, die wahrscheinlich sehr wirksam sein würde, setzt auch eine ganz andere Verfassung der Gesellschaft voraus. Das Stichwort für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Erziehung fällt heute an anderer Stelle. Machen wir uns klar, was die nächste Aufgabe der Erziehung ist. Das Kind soll Triebbeherrschung lernen. Ihm die Freiheit geben, daß es uneingeschränkt allen seinen Impulsen folgt, ist unmöglich. Es wäre ein sehr lehrreiches 578 Experiment für Kinderpsychologen, aber die Eltern könnten dabei nicht leben und die Kinder selbst würden zu großem Schaden kommen, wie es sich zum Teil sofort, zum anderen Teil in späteren Jahren zeigen würde. Die Erziehung muß also hemmen, verbieten, unterdrücken und hat dies auch zu allen Zeiten reichlich besorgt. Aber aus der Analyse haben wir erfahren, daß gerade diese Triebunterdrückung die Gefahr der neurotischen Erkrankung mit sich bringt. Sie erinnern sich, wir haben eingehend untersucht, auf welchen Wegen dies geschieht. Die Erziehung hat also ihren Weg zu suchen zwischen der Scylla des Gewährenlassens und der Charybdis des Versagens. Wenn die Aufgabe nicht überhaupt unlösbar ist, muß ein Optimum für die Erziehung aufzufinden sein, wie sie am meisten leisten und am wenigsten schaden kann. Es wird sich darum handeln zu entscheiden, wieviel man verbieten darf, zu welchen Zeiten und mit welchen Mitteln. Und dann hat man noch in Rechnung zu setzen, daß die Objekte der erziehlichen Beeinflussung sehr verschiedene konstitutionelle Veranlagungen mitbringen, so daß das nämliche Vorgehen des Erziehers unmöglich für alle Kinder gleich gut sein kann. Die nächste Erwägung lehrt, daß die Erziehung bisher ihre Aufgabe sehr schlecht erfüllt und den Kindern großen Schaden zugefügt hat. Wenn sie das Optimum findet und ihre Aufgabe in idealer Weise löst, dann kann sie hoffen, den einen Faktor in der Ätiologie der Erkrankung, den Einfluß der akzidentellen Kindheitstraumen, auszulöschen. Den anderen, die Macht einer unbotmäßigen Triebkonstitution, kann sie auf keinen Fall beseitigen. Überlegt man nun die schwierigen Aufgaben, die dem Erzieher gestellt sind, die konstitutionelle Eigenart des Kindes zu erkennen, aus kleinen Anzeichen zu erraten, was sich in seinem unfertigen Seelenleben abspielt, ihm das richtige Maß von Liebe zuzuteilen und doch ein wirksames Stück Autorität aufrechtzuhalten, so sagt man sich, die einzig zweckmäßige Vorbereitung für den Beruf des Erziehers ist eine gründliche psychoanalytische Schulung. Am besten ist es, wenn er selbst analysiert worden ist, denn ohne Erfahrung an der eigenen Person kann man sich die Analyse doch nicht zu eigen machen. Die Analyse der Lehrer und Erzieher scheint eine wirksamere prophylaktische Maßregel als die der Kinder selbst, auch setzen sich ihrer Durchführung geringere Schwierigkeiten entgegen.

Nur nebenbei sei einer indirekten Förderung der Kindererziehung durch 579 die Analyse gedacht, die mit der Zeit zu größerem Einfluß kommen kann. Eltern, die selbst eine Analyse erfahren haben und ihr viel verdanken, darunter die Einsicht in die Fehler ihrer eigenen Erziehung, werden ihre Kinder mit besserem Verständnis behandeln und ihnen vieles ersparen, was ihnen selbst nicht erspart geblieben war. Parallel mit den Bemühungen der Analytiker um die Beeinflussung der Erziehung laufen andere Untersuchungen über die Entstehung und Verhütung der Verwahrlosung und der Kriminalität. Auch hier öffne ich Ihnen nur die Türe und zeige Ihnen die Gemächer dahinter, führe Sie aber nicht hinein. Ich weiß, wenn Ihr Interesse der Psychoanalyse treu bleibt, werden Sie über diese Dinge viel Neues und Wertvolles hören können. Ich mag aber das Thema der Erziehung nicht verlassen, ohne eines bestimmten Gesichtspunktes zu gedenken. Es ist – und gewiß mit Recht – gesagt worden, jede Erziehung sei eine parteiisch gerichtete, strebe an, daß sich das Kind der bestehenden Gesellschaftsordnung einordne, ohne Rücksicht darauf, wie wertvoll oder wie haltbar diese an sich sei. Wenn man von den Mängeln unserer gegenwärtigen sozialen Einrichtungen überzeugt ist, kann man es nicht rechtfertigen, die psychoanalytisch gerichtete Erziehung noch in ihren Dienst zu stellen. Man muß ihr ein anderes, höheres Ziel setzen, das sich von den herrschenden sozialen Anforderungen frei gemacht hat. Ich meine aber, dies Argument ist hier nicht am Platz. Die Forderung geht über die Funktionsberechtigung der Analyse hinaus. Auch der Arzt, der zur Behandlung einer Pneumonie gerufen wird, hat sich nicht darum zu kümmern, ob der Erkrankte ein braver Mann, ein Selbstmörder oder ein Verbrecher ist, ob er verdient am Leben zu bleiben und ob man es ihm wünschen soll. Auch dies andere Ziel, das man der Erziehung setzen will, wird ein parteiisches sein, und es ist nicht Sache des Analytikers, zwischen den Parteien zu entscheiden. Ich sehe ganz ab davon, daß man der Psychoanalyse jeden Einfluß auf die Erziehung verweigern wird, wenn sie sich zu Absichten bekennt, die mit der bestehenden sozialen Ordnung unvereinbar sind. Die psychoanalytische Erziehung nimmt eine ungebetene Verantwortung auf sich, wenn sie sich vorsetzt, ihren Zögling zum Aufrührer zu modeln. Sie hat das ihrige getan, wenn sie ihn möglichst gesund und leistungsfähig entläßt. In ihr selbst sind genug revolutionäre Momente enthalten, um zu versichern, daß der von ihr Erzogene im späteren Leben sich nicht auf die Seite des Rückschritts und der Unterdrückung stellen wird. Ich meine sogar, revolutionäre Kinder sind in keiner Hinsicht wünschenswert.

 

580 Meine Damen und Herren! Ich habe noch vor, Ihnen einige Worte über die Psychoanalyse als Therapie zu sagen. Das Theoretische darüber habe ich schon vor 15 Jahren besprochen und kann es heute auch nicht anders formulieren; die Erfahrung dieser Zwischenzeit soll nun auch zu Worte kommen. Sie wissen, die Psychoanalyse ist als Therapie entstanden, sie ist weit darüber hinausgewachsen, hat aber ihren Mutterboden nicht aufgegeben und ist für ihre Vertiefung und Weiterentwicklung immer noch an den Umgang mit Kranken gebunden. Die gehäuften Eindrücke, aus denen wir unsere Theorien entwickeln, können auf andere Weise nicht gewonnen werden. Die Mißerfolge, die wir als Therapeuten erfahren, stellen uns immer wieder neue Aufgaben, die Anforderungen des realen Lebens sind ein wirksamer Schutz gegen das Überwuchern der Spekulation, die wir in unserer Arbeit doch auch nicht entbehren können. Mit welchen Mitteln die Psychoanalyse den Kranken hilft, wenn sie hilft, und auf welchen Wegen, das haben wir schon vor Zeiten erörtert; heute wollen wir fragen, wieviel sie leistet.

Sie wissen vielleicht, ich war nie ein therapeutischer Enthusiast; es ist keine Gefahr, daß ich diesen Vortrag zu Anpreisungen mißbrauche. Ich sage lieber zu wenig als zu viel. Zur Zeit, als ich noch der einzige Analytiker war, pflegte ich von Personen, die meiner Sache angeblich freundlich gesinnt waren, zu hören: Das ist alles recht schön und geistreich, aber zeigen Sie mir einen Fall, den Sie durch Analyse geheilt haben. Das war eine der vielen Formeln, die einander im Lauf der Zeiten in der Funktion abgelöst haben, die unbequeme Neuheit beiseite zu schieben. Sie ist heute ebenso veraltet wie viele andere – der Stoß von Dankbriefen geheilter Patienten findet sich auch in der Mappe des Analytikers. Dabei macht die Analogie nicht halt. Die Psychoanalyse ist wirklich eine Therapie wie andere auch. Sie hat ihre Triumphe wie ihre Niederlagen, ihre Schwierigkeiten, Einschränkungen, Indikationen. Zu einer gewissen Zeit lautete eine Anklage gegen die Analyse, sie sei als Therapie nicht ernst zu nehmen, denn sie getraue sich nicht, eine Statistik ihrer Erfolge bekanntzugeben. Seither hat das von Dr. Max Eitingon gegründete psychoanalytische Institut in Berlin einen Rechenschaftsbericht über sein erstes Jahrzehnt veröffentlicht. Die Heilerfolge geben weder einen Grund, damit zu prahlen, noch sich ihrer zu schämen. Aber solche Statistiken sind überhaupt nicht lehrreich, das verarbeitete Material ist so heterogen, daß nur sehr große Zahlen etwas 581 besagen würden. Man tut besser, seine Einzelerfahrungen zu befragen. Da möchte ich sagen, ich glaube nicht, daß unsere Heilerfolge es mit denen von Lourdes aufnehmen können. Es gibt soviel mehr Menschen, die an die Wunder der heiligen Jungfrau, als die an die Existenz des Unbewußten glauben. Wenden wir uns zur irdischen Konkurrenz, so haben wir die psychoanalytische Therapie mit den anderen Methoden der Psychotherapie zusammenzustellen. Organische physikalische Behandlungen neurotischer Zustände braucht man heute kaum zu erwähnen. Als psychotherapeutisches Verfahren steht die Analyse nicht im Gegensatz zu den anderen Methoden dieses ärztlichen Spezialfachs; sie entwertet sie nicht, schließt sie nicht aus. Es ginge in der Theorie sehr gut zusammen, daß ein Arzt, der sich Psychotherapeut nennen will, die Analyse neben allen anderen Heilmethoden bei seinen Kranken verwendet, je nach der Eigenart des Falles und der Gunst oder Ungunst äußerer Verhältnisse. In der Wirklichkeit ist es die Technik, die die Spezialisierung der ärztlichen Tätigkeit erzwingt. So mußten sich auch Chirurgie und Orthopädie voneinander sondern. Die psychoanalytische Tätigkeit ist schwierig und anspruchsvoll, sie läßt sich nicht gut handhaben wie die Brille, die man beim Lesen aufsetzt und fürs Spazierengehen ablegt. In der Regel hat die Psychoanalyse den Arzt entweder ganz oder gar nicht. Die Psychotherapeuten, die sich gelegentlich auch der Analyse bedienen, stehen nach meiner Kenntnis nicht auf sicherem analytischen Boden; sie haben nicht die ganze Analyse angenommen, sondern sie verwässert, vielleicht »entgiftet«; man kann sie nicht zu den Analytikern zählen. Ich meine, das ist bedauerlich; aber ein Zusammenwirken in der ärztlichen Tätigkeit eines Analytikers mit einem Psychotherapeuten, der sich auf die anderen Methoden des Fachs beschränkt, wäre durchaus zweckmäßig.

Mit den anderen Verfahren der Psychotherapie verglichen, ist die Psychoanalyse das über jeden Zweifel mächtigste. Es ist auch recht und billig so, sie ist auch das mühevollste und zeitraubendste, man wird sie in leichten Fällen nicht anwenden; man kann mit ihr in geeigneten Fällen Störungen beseitigen, Änderungen hervorrufen, auf die man in voranalytischen Zeiten nicht zu hoffen wagte. Aber sie hat auch ihre sehr fühlbaren Schranken. Der therapeutische Ehrgeiz mancher meiner Anhänger hat sich die größte Mühe gegeben, über diese Hindernisse hinwegzukommen, so daß alle neurotischen Störungen durch die Psychoanalyse heilbar würden. Sie haben versucht, die analytische Arbeit in eine verkürzte Dauer zu zwängen, die Übertragung so zu steigern, daß 582 sie allen Widerständen überlegen wird, andere Arten der Beeinflussung mit ihr zu vereinigen, um die Heilung zu erzwingen. Diese Bemühungen sind gewiß lobenswert, aber ich meine, sie sind vergeblich. Sie bringen auch die Gefahr mit sich, daß man selbst aus der Analyse hinausgedrängt wird und in ein uferloses Experimentieren gerät. Die Erwartung, alles Neurotische heilen zu können, ist mir der Abkunft verdächtig von jenem Laienglauben, daß die Neurosen etwas ganz Überflüssiges sind, was überhaupt kein Recht hat zu existieren. In Wahrheit sind sie schwere, konstitutionell fixierte Affektionen, die sich selten auf einige Ausbrüche beschränken, meist über lange Lebensperioden oder das ganze Leben anhalten. Die analytische Erfahrung, daß man sie weitgehend beeinflussen kann, wenn man sich der historischen Krankheitsanlässe und der akzidentellen Hilfsmomente bemächtigt, hat uns veranlaßt, den konstitutionellen Faktor in der therapeutischen Praxis zu vernachlässigen; wir können ihm ja auch nichts anhaben; in der Theorie sollten wir seiner immer gedenken. Schon die durchgängige Unzugänglichkeit der Psychosen für die analytische Therapie sollte bei deren naher Verwandtschaft mit den Neurosen unsere Ansprüche bei diesen letzteren einschränken. Die therapeutische Wirksamkeit der Psychoanalyse bleibt durch eine Reihe von bedeutsamen und kaum angreifbaren Momenten beengt. Beim Kind, wo man auf die größten Erfolge rechnen könnte, sind es die äußerlichen Schwierigkeiten der Elternsituation, die aber doch zum Kindsein gehören. Beim Erwachsenen sind es in erster Linie zwei Momente, das Maß von psychischer Erstarrung und die Krankheitsform mit allem, was sie an tieferen Bestimmungen deckt. Das erste Moment wird mit Unrecht oft übersehen. So groß die Plastizität des seelischen Lebens und die Möglichkeit der Auffrischung alter Zustände auch ist, es läßt sich nicht alles wieder beleben. Manche Veränderungen scheinen endgültig, entsprechen Narbenbildungen nach abgelaufenen Prozessen. Andere Male empfängt man den Eindruck einer allgemeinen Erstarrung des Seelenlebens; die psychischen Vorgänge, die man sehr wohl auf andere Wege weisen könnte, scheinen unfähig, die alten Wege zu verlassen. Aber vielleicht ist das dasselbe wie vorhin, nur anders gesehen. Gar zu häufig glaubt man zu verspüren, daß es der Therapie nur an der erforderlichen Triebkraft fehlt, um die Änderung durchzusetzen. Eine bestimmte Abhängigkeit, eine gewisse Triebkomponente ist zu stark im Vergleich mit den Gegenkräften, die wir mobil machen 583 können. Ganz allgemein ist es so bei den Psychosen. Wir verstehen sie so weit, daß wir wohl wüßten, wo die Hebel anzusetzen wären, aber sie könnten die Last nicht bewegen. Hier knüpft sogar die Zukunftshoffnung an, daß die Kenntnis der Hormonwirkungen – Sie wissen, was das ist – uns die Mittel leiht, mit den quantitativen Faktoren der Erkrankungen erfolgreich zu ringen, aber heute sind wir davon weit entfernt. Ich verstehe, daß die Unsicherheit in all diesen Verhältnissen einen ständigen Antrieb gibt, die Technik der Analyse und besonders der Übertragung zu vervollkommnen. Besonders der Anfänger in der Analyse wird bei einem Mißerfolg im Zweifel bleiben, ob er die Eigenheiten des Falles oder seine ungeschickte Handhabung des therapeutischen Verfahrens beschuldigen soll. Aber ich sagte schon, ich glaube nicht, daß man durch die Bemühungen nach dieser Richtung viel erreichen kann.

Die andere Einschränkung der analytischen Erfolge wird durch die Krankheitsform gegeben. Sie wissen schon, das Anwendungsgebiet der analytischen Therapie sind die Übertragungsneurosen, Phobien, Hysterien, Zwangsneurosen, außerdem noch Abnormitäten des Charakters, die an Stelle solcher Erkrankungen entwickelt worden sind. Alles, was anders ist, narzißtische, psychotische Zustände, ist mehr oder weniger ungeeignet. Nun wäre es ja durchaus legitim, sich durch sorgfältige Ausschließung solcher Fälle vor Mißerfolgen zu schützen. Die Statistiken der Analyse würden durch diese Vorsicht eine große Aufbesserung erfahren. Ja, aber das hat einen Haken. Unsere Diagnosen erfolgen sehr häufig erst nachträglich, sie sind von der Art wie die Hexenprobe des Schottenkönigs, von der ich bei Victor Hugo gelesen habe. Dieser König behauptete, im Besitz einer unfehlbaren Methode zu sein, um eine Hexe zu erkennen. Er ließ sie in einem Kessel kochenden Wassers abbrühen und kostete dann die Suppe. Danach konnte er sagen: das war eine Hexe, oder: nein, das war keine. Ähnlich ist es bei uns, nur daß wir die Geschädigten sind. Wir können den Patienten, der zur Behandlung, oder ebenso den Kandidaten, der zur Ausbildung kommt, nicht beurteilen, ehe wir ihn durch einige Wochen oder Monate analytisch studiert haben. Wir kaufen tatsächlich die Katze im Sack. Der Patient brachte unbestimmte, allgemeine Beschwerden mit, die eine sichere Diagnose nicht gestatteten. Nach dieser Probezeit mag sich herausstellen, daß es ein ungeeigneter Fall ist. Wir schicken dann den Kandidaten weg, versuchen dann beim Patienten noch eine Weile, ob wir ihn nicht in günstigerem Licht sehen können. Der Patient rächt sich dadurch, daß 584 er die Liste unserer Mißerfolge vergrößert, der abgewiesene Kandidat, wenn er ein Paranoider ist, etwa indem er selbst psychoanalytische Bücher verfaßt. Sie sehen, unsere Vorsicht hat uns nichts genützt.

Ich besorge, diese detaillierten Ausführungen gehen über Ihr Interesse hinaus. Aber noch mehr müßte es mir leid tun, wenn Sie meinen sollten, es sei meine Absicht, Ihre Achtung vor der Psychoanalyse als Therapie herabzusetzen. Vielleicht habe ich es wirklich ungeschickt angefangen; ich wollte nämlich das Gegenteil, die therapeutischen Beschränkungen der Analyse durch den Hinweis auf deren Unvermeidlichkeit entschuldigen. In derselben Absicht wende ich mich zu einem anderen Punkt, zum Vorwurf, daß die analytische Behandlung unverhältnismäßig lange Zeiten in Anspruch nimmt. Darauf ist zu sagen, psychische Veränderungen vollziehen sich eben nur langsam; wenn sie rasch, plötzlich eintreten, ist es ein übles Zeichen. Es ist wahr, die Behandlung einer schwereren Neurose zieht sich leicht über mehrere Jahre, aber legen Sie sich im Fall des Erfolgs die Frage vor, wie lange das Leiden gedauert hätte. Wahrscheinlich ein Dezennium für jedes Jahr Behandlung, das heißt das Kranksein wäre, wie wir es so oft an unbehandelten Kranken sehen, überhaupt nie erloschen. In manchen Fällen haben wir Grund, eine Analyse nach vielen Jahren wieder aufzunehmen, das Leben hatte auf neue Anlässe neue krankhafte Reaktionen entwickelt, in der Zwischenzeit war unser Patient gesund gewesen. Die erste Analyse hatte eben nicht alle seine pathologischen Dispositionen zum Vorschein gebracht, und es war natürlich, daß die Analyse eingestellt wurde, nachdem der Erfolg erreicht war. Es gibt auch schwer benachteiligte Menschen, die man ihr ganzes Leben über in analytischer Obhut hält und von Zeit zu Zeit wieder in Analyse nimmt, aber diese Personen wären sonst überhaupt nicht existenzfähig, und man muß froh sein, daß man sie mit dieser fraktionierten und rekurrierenden Behandlung aufrecht halten kann. Auch die Analyse von Charakterstörungen nimmt lange Behandlungszeiten in Anspruch, aber sie ist oft erfolgreich, und kennen Sie eine andere Therapie, mit der man diese Aufgabe auch nur in Angriff nehmen könnte? Therapeutischer Ehrgeiz mag sich durch diese Angaben unbefriedigt fühlen, allein wir haben am Beispiel der Tuberkulose und des Lupus gelernt, daß man Erfolg erst haben kann, wenn man die Therapie den Charakteren des Leidens angepaßt hat.

 

Ich sagte Ihnen, die Psychoanalyse begann als eine Therapie, aber nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern wegen 585 ihres Wahrheitsgehalts, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen, und wegen der Zusammenhänge, die sie zwischen den verschiedensten seiner Betätigungen aufdeckt. Als Therapie ist sie eine unter vielen, freilich eine prima inter pares. Wenn sie nicht ihren therapeutischen Wert hätte, wäre sie nicht an Kranken gefunden und durch mehr als dreißig Jahre entwickelt worden.


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