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Ich konnte an diesem Abend vor Fieber nicht schlafen. Ich lag mit offenen Augen neben dem Lazarettzelt und sah zu, wie sie sich um die Verwundeten und um die Kranken mühten. Sie nahmen eine Zeltbahn und schlugen sie einmal zusammen und knüpften die offenen Seiten zu und stopften in diese so entstandenen Säcke das lange, dürre Gras und legten den Leidenden darauf und taten ihm Gutes, so viel sie konnten. Gegen Morgen kam ein neuer Kranker; er kam mit schleppenden Füßen und halbgeschlossenen Augen, blaß wie der Tod. Am Vormittag kamen wieder zwei.
Nun lagen da schon neben siebzehn Verwundeten vierzehn Kranke. Die Kranken lagen teilnahmlos da, wie von einem Schlag vor den Kopf betäubt. Wenn man sie fragte, sagten sie, sie fühlten keinen Schmerz, sie wären aber so matt und so heiß.
In den folgenden drei Tagen wurden weiter zwölf krank. So ging es Tag für Tag.
Da sagten sie es offen, daß es Typhus wäre. Er war durch die geringe und schlechte Nahrung und durch das verdorbene Wasser und den Schmutz und das Frieren in den dünnen, verlumpten Kleidern gekommen.
Wenn wir am Morgen an möglichst großem Feuer, damit wir uns nach der kalten Nacht wärmten, unsern Kaffee oder unsere Mehlsuppe gebraut hatten, traten die Kameraden an und übten Griffe, als wenn sie in Kiel auf dem Kasernenhof wären. Dann schwärmten sie zugweise aus in den Busch, krochen, schlichen, duckten sich, warfen sich hin und lagen im Anschlag, zielten gegen die Sonne und mit der Sonne, sprangen auf und stürmten mit Hurra. Aber die alten Afrikaner höhnten und sagten, sie schrien nicht »Hurra«, sondern »Hunger«.
Um zwölf kam von den Wagen her die Stimme des Feldwebels: »Proviant empfangen!« Die Vertrauensmänner rannten hin und kamen mit ein wenig Mehl in der Zeltbahn und Reis und Salz und ungebranntem Kaffee wieder. Und dann begann in jeder Backschaft das Feuern und Rühren, Reden und Raten, Löffeln und Essen. Ich konnte nichts weiter tun als ein wenig Wasser tragen.
Um drei begann wieder der Dienst. Korporalschaftsweise saßen sie in den Schützengräben und reinigten ihre Gewehre. Ich saß bei ihnen. Die Unterhaltung ging langsam und träge. Ein trauriges Lied wurde angestimmt: Zu Straßburg auf der Schanz', oder: Steh' ich in finstrer Mitternacht. Aber es klang stumpf und verstummte bald.
Abends dunkelte es rasch. Wir saßen im Windschutz der aufgestellten Zeltbahn, redeten von diesem und jenem und sangen ein Lied. Vom Zelt des Alten her kam eine helle Stimme, ein Scheltwort oder ein Lachen. Aus der dunklen Öffnung des langen Lazarettzeltes blinkte das irrende Licht des Wärters, der von einem zum andern ging. Hier und da glimmte noch aus einem Feuerloch ein Schein empor. Unter einem Baum saßen die schwarzen Ochsentreiber und sangen leise und mehrstimmig einen Choral, den die Missionare ihnen beigebracht hatten. Der Offizier vom Dienst kommt von den Unteroffiziersposten, die rund ums Lager stehen, ruft den Schwarzen kurz zu, den Mund zu halten: »Will jelle slap?!« und geht in sein Zelt.
So verging ein Tag nach dem andern. Wunderliche Gerüchte gingen immer wieder neu durchs Lager: tausend Reiter wären von Deutschland her unterwegs, uns zu helfen; der Gouverneur hätte die Schwarzen in einer zweitägigen Schlacht geschlagen; es wären unzählige Schwarze getötet und auf Scheiterhaufen verbrannt worden.
Wohl fünfzigmal kam immer wieder von neuem das Gerede: wir sollten abgelöst werden und nach Hause. Davon sprachen wir am liebsten. Nach Hause! Was werden sie zu Hause sagen, wenn wir wiederkommen? Was werden sie für frohe Gesichter machen! Was werden wir alles zu erzählen haben! Wenn die ausgesandte kleine Patrouille von fünf, sechs Mann auf ihren mageren und müden Pferden heimkam, wußte man bald an jedem Kochloch, was sie ausgekundschaftet hatte, und man stellte große Behauptungen auf. Jeder war ein Generalstäbler und weiser als alle andern. Und dann, wenn wir den Feind so oder so geschlagen haben, dann geht es nach Haus! O, nach Haus! Wir wollten alle, alle nach Haus.
Die drückende Hitze des Tages und die schneidende Kälte der Nacht, die jämmerliche Nahrung, das erbärmliche Wasser machten immer mehr Kameraden schlaff, träge und gleichgültig. Wir bekamen alle eine andere Sprache; ohne Leben, ohne Schwung; wie schlaftrunken redeten wir. Einige wenige blieben munter. Heinrich Gehlsen kam oft zu mir, mich zu ermuntern. Er war trotz seiner Armwunde immer tätig, hatte an allem, was er Neues sah, Interesse: an dem Vogel in der Luft, an der Wolke am Himmel, an der Sprache der schwarzen Treiber, an dem Fieber der Kranken. Heinrich Hansen, der alte Schutztruppler, winkte mir zuweilen heimlich und steckte mir im Schutz des Proviantwagens einen Lappen kalten Pfannkuchen in die Hand. Der durchgeschossene Arm schmerzte und fieberte; dazu hatte ich im Leib ein widerlich drückendes Gefühl. Ich war so matt, daß mir zuweilen am hellen Tage, wenn ich so am Feuerloch saß und das Leben um mich besah, die Augen zufielen und das Kinn auf die Brust sank und ich langsam zur Seite fiel und schlief.
Der Gesang im Lager wurde immer, immer weniger, die Unterhaltung immer mühsamer. Wir wurden immer hungriger, schmutziger, kranker. Gleichmütig und still sahen wir an jedem Abend einen oder zwei von uns in ihre abgerissenen, schmutzigen Lumpen und in ihre grauen Wolldecken gewickelt unten in der fremden, grauen Erde liegen, schwer und müde hoben die Befohlenen die Arme in die Luft zum Feuern, den Toten zur Ehre; müde und stumpfsinnig schaufelten sie Erde auf sie und legten Dornen darauf. Nachts erwachte ich von den müden, wirren Reden der Kranken und von dem Heulen der Schakale, welche die Gräber witterten.
Als wir vierzehn Tage so gelegen hatten, war es so weit, daß jeder vierte Mann krank war. In zwei langen Reihen lagen sie auf der nackten Erde in voller Uniform, eine Zeltbahn über sich gegen den Sonnenbrand. Sie mußten da in ihrer schweren Krankheit liegen, nicht allein ohne irgendwelche Medizin, sondern auch ohne Stärkung. Wir hatten nicht einmal Milch und Eier. Wir hatten nicht einmal ein Stück trockenes Brot. Wir hatten nicht einmal ein bißchen Reinlichkeit.
Der Alte stellte sich, als wenn er immer guten Mut hätte, und tat alles für uns, was er erdenken konnte. Mancher hat seine letzte Freude auf der Erde, ein gutes, munteres Wort, von ihm bekommen. Ich sah ihn oft aus dem Lazarettzelt kommen und freute mich oft an seinem guten Trost.
Als aber immer mehr von uns krank wurden und immer mehr so gleichgültig dumpf ihrer Arbeit nachgingen, und immer noch keine Nachricht oder Proviant oder Lazarett kam, da mußte auch er die Hoffnung aufgeben. Er dachte wohl einmal daran, wieder vorzugehen, aber er erkannte, daß seine kleine Truppe keinen Heerzug mehr darstellen würde, sondern einen Krankentransport. Da schickte er Boten an die Hauptabteilung, daß er ohnmächtig wäre und vom Feind ablassen müsse und dies Hinsterben der Jugend nicht länger ansehen dürfe und eine bessere Wasserstelle suchen wollte.