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Es war ein warmer Morgen gegen Ende Juni, und der Westen von London begann allmählich zu veröden, aber obgleich fast jeder, der irgend etwas in der Gesellschaft vorstellte, schon lange die Stadt verlassen hatte, so gab es dennoch einen Ort, an dem hiervon nichts zu merken war, und der, unabhängig von Mode oder Jahreszeit, stets dieselbe Fülle aufweist.
Das Lesezimmer des Britischen Museums war so voll wie je, und die Stammgäste desselben waren tätig bei der Arbeit. Da saß das jugendliche, schwärmerische Fräulein, das ihre Damenzeitschrift redigierte; da war die ältliche, unglücklich ausschauende Jungfrau, die Übersetzungen anfertigte, der stellungslose Schauspieler, der den Tag über hier schlafend zubrachte, und viele andere. Die Hitze wirkte erschlaffend, es herrschte völlige Lautlosigkeit und die Kuppel des Lesesaales hallte ausnahmsweise nicht von dem Echo des Grunzens, Seufzens, Stöhnens und der anderen unartikulierten Laute wider, womit sonst die ständigen Leser der Bibliothek ihre literarische Studien zu begleiten pflegen.
Das Lesezimmer war ein Ort, an dem Pringle aus zweierlei Gründen oft zu finden war. Als angeblicher Inhaber eines literarischen Bureaus war es ja seine Pflicht, sich stets über die moderne Literatur auf dem Laufenden zu halten; aber noch mehr, um seine Menschenkenntnis zu bereichern, war er dort anzutreffen.
Der Saal war an diesem Tage gerade sehr voll, und Pringle war zweimal um den ganzen Saal herumgegangen, bevor er einen Sitz für sich erspähen konnte, von dem sich gerade ein anderer Leser erhob, um fortzugehen. Der Sitz war an dem Ende einer der langen Schreibtafeln gelegen, Pringle nahm von dem nächsten Bücherregal einen Band von Froudes »Geschichte von England« und setzte sich. Neben ihm saß ein Mann, der den Anschein erweckte, als ob er schliefe; aber bei näherem Zusehen bemerkte Pringle, daß jener sich nur völlig in seinem Sitze zurückgelehnt hatte und mit weltverlorener Miene die Kuppel anstarrte. Sein langes, ungeschnittenes Haar und ein Bart von derselben Beschaffenheit, ebenso wie ein Paar großer Brillengläser verliehen ihm das Äußere eines Gelehrten. Er suchte augenscheinlich einen Gedanken zu erfassen und hoffte auf eine Eingebung von oben, und mehrere Blätter Briefpapier auf dem Schreibtisch vor ihm schienen Entwürfe zu einem bereits halbfertigen Briefe zu sein, den er unfähig war zu beendigen. Rund herum um ihn lag eine Menge von Büchern in verschiedensten Formaten, viele in Prachteinband mit Goldschnitt gebunden, verstreut und aufgehäuft. Da lagen Adreßbücher und Adelsverzeichnisse, genealogische Handbücher usw., die teils aus der Nachschlage-Bibliothek von den Wänden des Lesezimmers entnommen, teils erst durch die Bibliotheksdiener aus den Magazinen herbeigeschafft waren. Hier und da lag ein Haufen von befleckten und schmutzigen Zeitungsausschnitten, die sorgfältig mit Markenpapier zusammengeklebt waren und die den Wirrwarr auf dem Schreibtisch nur noch vermehrten.
Die schöpferischen Gedanken schienen dem Manne recht langsam zu kommen; denn Pringles Neugier wurde ungefähr eine halbe Stunde auf die Probe gestellt, bevor jener den angefangenen Brief zu seiner Zufriedenheit vollendet hatte. Er machte nun von demselben eine saubere Abschrift, faltete ihn und steckte ihn in einen Briefumschlag, den er mit besonderer Sorgfalt adressierte. Als er nun aufstehen wollte, stieß er versehentlich mit dem Ellbogen an einen der aufgetürmten Bände, der mit lautem Geräusch zu Boden fiel. Er bückte sich deshalb, um ihn aufzuheben, und Pringle benutzte diesen Augenblick, um sich auf den Schreibtisch seines Nachbarn herüberzubeugen und die Aufschrift des unter so großen Schwierigkeiten vollendeten Briefes zu lesen. Diese lautete:
»An Sr. Hochgeboren den Marquis of Lundy,
65 Clarges Street, Mayfair, W.«
Der Unbekannte machte nun auf seinem Tische Ordnung, brachte eine Anzahl der Bände an die Ausgabestelle in der Mitte des Saales zurück, um sie abzugeben, und stellte die anderen Werke aus der Nachschlage -Bibliothek in die verschiedenen Fächer zurück, und Pringle benutzte diese Gelegenheit, um seine Schreibunterlage aus Löschpapier mit derjenigen seines Nachbarn zu vertauschen. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß die beiden Unterlagen gleichmäßig stark mit Tintenflecken beschmutzt waren, so daß dem Nachbarn der Tausch nicht auffallen konnte. Kaum hatte Pringle sein Vorhaben ausgeführt, so kehrte sein Nachbar auch bereits wieder zurück. Pringle hatte sicher einen recht guten Einfall gehabt, denn der Briefschreiber löste, nachdem er die Bücherscheine zerrissen und in eine Ecke des Schreibtisches geworfen hatte, das oberste Blatt Löschpapier mit seinem Federmesser ab! Begreiflicherweise dachte er auch nicht einen Augenblick daran, daß eine Auswechselung der Schreibunterlagen stattgefunden haben könnte, er steckte deshalb arglos das losgelöste Blatt mit seinen anderen Papieren in eine lederne Brieftasche und verließ den Saal.
Sobald er fort war, griff Pringle unter den Schreibtisch seines Nachbarn und eignete sich die zerrissenen Bücherscheine an. Die Unterschrift auf einem derselben war ganz geblieben, und er konnte in großen, kräftigen Buchstaben den Namen »Julius Schillinghammer« deutlich lesen.
Schillinghammer, das mußte gewiß ein Deutscher sein, überlegte Pringle; kein Wunder also, daß die Anfertigung eines englischen Briefes ihm derartige Schwierigkeiten gemacht hatte. Er sah für einen Schreiber von Bettelbriefen zu anständig aus, es war auch augenscheinlich, daß der Brief von äußerster Wichtigkeit sein mußte, denn weshalb hätte er sonst sich wohl die Mühe genommen, sogar das Löschblatt loszulösen und mitzunehmen? Aber Pringle war alt genug geworden, um über nichts hier auf Erden mehr erstaunt zu sein. Er war deshalb froh, daß er die Schreibunterlagen ausgetauscht hatte, löste ebenfalls das oberste Blatt Löschpapier seiner Schreibunterlage ab, steckte es zu sich und eilte dem Deutschen nach.
Als Pringle den Garderoberaum erreichte, fand er seinen Weg durch einen jähzornigen alten Herrn versperrt, der seine Garderobenmarke für eine kleine schwarze Handtasche verloren hatte und nun in zornigen Worten seiner Verwunderung Ausdruck gab, daß der Beamte ihm die Rückgabe seines Eigentums verweigerte. Heftige Worte wurden beiderseits gewechselt, und Pringle verlor einige kostbare Minuten, bevor er seinen eigenen Hut und Stock wiedererlangen konnte. Schließlich hatte er das Seinige, aber, wie er befürchtet, war in der Vorhalle von dem Fremden nichts mehr zu sehen. Rasch lief er die Eingangsstufen hinab und konnte gerade noch sehen, wie der Mann durch das Gitter des Vorgartens schritt. So schnell er konnte, eilte er ihm nach, und es glückte ihm, gerade noch zu sehen, wie der Deutsche in die Museumstraße einbog. Nun folgte ihm Pringle nach; der Fremde kreuzte die Oxford-Straße, immer in einiger Entfernung vorsichtig von Pringle verfolgt, bis Schillinghammer schließlich in die Essex-Straße einbog und ungefähr in der Mitte der Straße plötzlich in einem Hause verschwand. Pringle merkte sich die Lage des Hauses an einer Straßenlaterne, ließ einen kurzen Zeitraum verstreichen und ging dann langsam an dem Hause vorüber. Es war eines der kleineren in der Straße und, wie die Mehrzahl der Häuser in der Essex-Straße, ein Geschäftshaus. An der Tür befand sich nur ein einziges Geschäftsschild, und dieses trug die Inschrift: In- und Ausländisches Privat-Auskunftsbureau Essex«.
Pringle bummelte nun die Straße bis zu ihrem nahen Ende hinunter, dann blieb er stehen, um einen Blick rückwärts nach dem Auskunftsbureau zu werfen, und sah plötzlich, wie ein Mann eilig das Haus verließ und mit schnellen Schritten dem »Strand« zueilte. Ohne einen Augenblick zu verlieren, kehrte Pringle um und machte sich an die Verfolgung des Mannes; denn obgleich dieser jetzt mit einem schwarzen Gehrock und einem Zylinder bekleidet war, so war es doch zweifellos niemand anders als Herr Julius Schillinghammer.
An dem Ende der Essex-Straße blieb der Deutsche stehen und schien nach einer Fahrgelegenheit zu suchen, da er aufmerksam die vorüberrollenden Omnibusse musterte. Schließlich sah er auf einem Omnibus, der nach dem Westen Londons bestimmt war, einen freien Platz, sprang auf und kletterte die Treppe nach dem Verdeck hinauf. Pringle, der unterdessen scheinbar den Inhalt eines Buchhändlerschaufensters eifrig musterte, hatte die Bewegungen des andern in der Spiegelscheibe des Schaufensters genau verfolgt, lief deshalb sofort dem Omnibus nach und nahm im Innern des Wagens, soweit als möglich von der Tür entfernt, Platz. Als sie durch Piccadilly fuhren, verdoppelte Pringle seine Wachsamkeit, und diese wurde endlich in der Nähe des Greenpark belohnt, denn hier sprang Schillinghammer ab und bog in Clarges Street ein. Er war scheinbar in großer Eile, und als Pringle, der ihm auf der andern Seite der Straße nachgefolgt war, gegenüber von Nummer 65 anlangte, sprach der Deutsche bereits mit einem Diener in Livree, dem er einen Brief einhändigte. Pringle ging ruhig weiter und blickte erst, als er in die nächste Seitenstraße einbog, nach dem Hause Nummer 65 zurück; aber die Tür desselben war bereits geschlossen, und als er nun Clarges Street wieder zurückging, vermochte er noch gerade zu sehen, wie Schillinghammer um die Ecke verschwand. Pringle kehrte nun nach seiner Wohnung zurück und machte sich ans Werk, die Hieroglyphen auf dem Löschblatt zu entziffern.
Schillinghammer hatte anscheinend eine »J«-Feder benutzt, was für die Untersuchung sowohl seine Vorteile, als auch seine Nachteile hatte; denn wenn einerseits die einzelnen Worte scharf und deutlich gekommen waren, so waren andrerseits durch die Breite der Feder die Worte oft auf dem Löschpapier ineinandergelaufen und verschmiert. Nach einiger Überlegung beschloß Pringle, zuerst nach Schriftzügen zu suchen, die Ähnlichkeit mit der Unterschrift des Deutschen hätten, da diese ihm ja aus den Bücherscheinen bekannt war, und mit Hilfe eines Spiegels, der ihm die Schriftzüge umgekehrt, also so wie sie geschrieben waren, zeigte, gelang es ihm schließlich, ein verwischtes »lius Schilling« in einer Ecke zu entziffern. Das war schon äußerst befriedigend, insofern es bewies, daß der Schreiber den Brief mit seinem richtigen Namen unterzeichnet hatte. Aber als Pringle dann weiter fortfuhr, unter der Menge von Tintenklecksen und -strichen einige weitere Worte zu suchen oder wenigstens einzelne Buchstaben zu entziffern, schien die gestellte Aufgabe fast hoffnungslos. Pringle war aber nicht der Mann, der sich durch Schwierigkeiten abschrecken ließ, wie unüberwindlich dieselben beim ersten Anblick auch erscheinen mochten; geduldig kehrte er immer und immer wieder zu seiner Aufgabe zurück, indem er die Bücherscheine benutzte, um die Schriftzeichen des Deutschen festzustellen und von den Buchstaben anderer Personen, die das Löschblatt vor jenem benutzt hatten, zu unterscheiden. Schließlich nach mehreren Stunden, nachdem er durch den Gebrauch eines Vergrößerungsglases bereits Augenschmerzen und einen peinigenden Kopfschmerz davongetragen hatte, gelang es ihm, eine Anzahl Worte zusammenzustellen, die anscheinend am kräftigsten geschrieben waren und zweifellos aus der Reinschrift von Schillinghammers Briefe herstammten.
Er schrieb diese Worte nebeneinander auf ein Stück Papier, und diese erschienen nun folgendermaßen:
»92 Lang, Fräul, Vermög, Brüder, verbergen, Geschäft, Tausend, Güte, orsamster«
und schließlich die Unterschrift.
Außerdem hatte er auch noch eine große Anzahl von längeren und kleineren Wortstücken, sowie von einzelnen Buchstaben und Silben gefunden. Diese stellte er auf einem anderen Blatt Papier zusammen, und nach einem genauen Studium ihrer Reihenfolge auf dem Löschblatt fertigte er schließlich ein Schriftstück an, das aus folgenden Bruchstücken bestand:
»92 Lang–erfa–Fräul–Chic–obt–Vermög–Ordn–Fam–ichte–kenne–es–lein–intere–Ich–Dok–Brüder–stmord–verbergen–wunde–öffn–Eng–lass–land–Geschäft–erw–ittel–Tausend–ankno–Güte–alten–Abr–nie–hör–orsamster–
Julius Schillinghammer.«
Nachdem er dieses Flickwerk vollendet hatte, steckte sich Pringle eine Zigarette an, setzte sich in einen bequemen Sessel und nahm eine Zeitung vor, um seinem angestrengten Gehirn eine kurze Ruhepause zu gönnen. Es war eine Zeitung, die von der großen Welt gelesen wurde und alle Vorgänge in der guten Gesellschaft Londons ausführlich berichtete, aber obgleich gerade keine große geistige Anstrengung dazu erforderlich war, um ihren Inhalt durchzulesen, kehrten Pringles Gedanken doch immer und immer wieder zu seinem Brieffragment zurück. Gerade so, wie der kleinste Lichtstrahl in einem dunklen Zimmer genügt, um einer Person, die dasselbe verlassen will, den Ausgang zu zeigen, so genügte hier eine einzige Silbe, um schließlich das ganze Rätsel des Briefes zu lösen. Hatte vorher Pringle ohne jede Aufmerksamkeit gelesen und war nur zufälligerweise sein Blick auf einem Worte haften geblieben, so nahm er jetzt all seinen Scharfsinn zusammen und las nochmals mit größter Aufmerksamkeit den Zeitungsartikel:
»Ein Ereignis, das wir bereits vor einigen Wochen vorhersagten, beweist aufs neue, daß die Heiraten zwischen Mitgliedern des englischen Adels und den schönen und eleganten jungen Amerikanerinnen noch immer außerordentlich beliebt sind. Wir können heute in aller Form mitteilen, daß der Marquis of Lundy in Kürze Fräulein Peterson, die einzige Tochter des wohlbekannten Chicagoer Millionärs, heiraten wird, und unsere Leser werden sich sicher daran erinnern, welches Aufsehen ihre Schönheit und ihre eleganten Toiletten in der letzten Gesellschaftssaison hervorgerufen haben.«
Pringle warf die Zeitung beiseite und griff hastig nach den Bruchstücken des von ihm zusammengestellten Briefes. Das war es also, und darüber konnte kein Zweifel herrschen – Chic, das Bruchstück eines Wortes, über das er nicht fortgekommen war, und das er sich bisher in keiner Weise hatte erklären können, sollte natürlich nichts anderes als Chicago heißen! Diese Entdeckung spornte ihn aufs neue an, und er nahm wieder Platz und studierte die Zeitung eifrig weiter durch.
»Jahre hindurch waren die Besitzungen der Lundys in Verfall geraten, zum Teil durch Mißernten, aber hauptsächlich durch schlechte Wirtschaft und übergroßen Aufwand ihrer früheren Besitzer, und das Schloß der Familie in Norfolk stand seit langem unbenutzt. Der jetzige Marquis hatte als jüngerer Sohn früher nur geringe Aussichten, den Titel und die Güter zu erben, hätte nicht der Tod seiner beiden älteren Brüder ihn an deren Stelle gesetzt. Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß der verstorbene Marquis und seine beiden Söhne alle durch Unglücksfälle aus dem Leben schieden; der älteste Sohn wurde eines Tages im Walde tot aufgefunden, und man nahm an, daß er beim Jagen gestrauchelt sei und sich durch das Losgehen seines Gewehrs tödlich verletzt hätte. Der jüngere Sohn, der die Fähigkeiten zu haben schien, eine hervorragende Rolle im Parlament zu spielen und eine große Zukunft vor sich hatte, vergiftete sich versehentlich. Der verstorbene Lord Lundy wurde bald nachher als Leiche aus dem Wasser gezogen; er hatte anscheinend in einer dunklen Nacht den Weg verfehlt und war ins Wasser gestürzt. Der gegenwärtige Besitzer des Titels hat immer eine große Rolle in der Londoner Gesellschaft gespielt, und, wie wir hören, wird er bereits mit Glückwünschen zu seiner bevorstehenden Hochzeit überschüttet, die einen der großen gesellschaftlichen Glanzpunkte des Jahres bilden wird.«
War Schillinghammer nach allem also weiter nichts als ein Erpresser? überlegte sich Pringle. Das Bruchstück »ankno« hieß sicher nichts anderes als Banknoten, und ebenso war »Tausend« auch unzweideutig. Genügten nicht eigentlich schon diese beiden Worte, um den Sinn des ganzen Briefes zu erklären? Der Deutsche schien tausend Pfund in Banknoten zu verlangen. Das war eine große Summe, die er forderte, und er mußte im Besitze eines wertvollen Geheimnisses sein, um einen derartigen Preis dafür verlangen zu können. Wenn man zwischen den Zeilen der Zeitung las, so schien die Familiengeschichte der Lundys ein Geheimnis zu bergen. Die Lösung des Rätsels war sicher äußerst interessant, deshalb kehrte Pringle an seine Aufgabe mit erneutem Eifer zurück.
Er suchte nun weiter nach Wortstücken auf dem Löschblatt, fügte einzelne Buchstaben und unzusammenhängende Silben aneinander, hier und da kam ihm ein glücklicher Gedanke zu Hilfe, und schließlich stellte er aus den Fragmenten den nachfolgenden Brief zusammen:
92 Langbourne Street,
Leicester Square.
Ew. Lordschaft!
Ich habe erfahren, daß Sie sich mit Fräulein Peterson aus Chicago verlobt haben, um auf diese Weise Ihre zerrütteten Vermögensverhältnisse in Ordnung zu bringen. Dabei fiel mir ein, daß ich Ihre Familiengeschichte genau kenne, und es auch vielleicht die Familie Ihres Fräulein Braut interessieren würde, näheres hierüber zu erfahren. Ich bin im Besitze von Dokumenten, die beweisen, daß sowohl Ihr Vater, als auch Ihre beiden Brüder durch Selbstmord endeten, was Sie bisher sorgfältig zu verbergen verstanden.
Sie werden sich hiernach nicht wundern, wenn ich Ihnen eröffne, daß ich England zu verlassen und in Deutschland ein Geschäft zu begründen beabsichtige, und daß ich erwarte, die mir hierzu fehlenden Mittel von tausend Pfund in Banknoten durch die Güte Ew. Lordschaft zu erhalten. Es würde dann meiner sofortigen Abreise nichts mehr im Wege stehen, und ich gebe Ihnen das Versprechen, daß Sie nie mehr von mir hören werden.
Ew. Lordschaft gehorsamster
Julius Schillinghammer.
So oder so ähnlich mußte wohl der Brief gelautet haben, den Schillinghammer nicht einmal der Post anvertraut – sondern den er persönlich abgegeben hatte, und Pringle war begreiflicherweise stolz darauf, das Rätsel des Briefes schließlich gelöst zu haben. Wahrscheinlich hatten die Berichte der Zeitungen Schillinghammer die Idee eingegeben, daß in der Familiengeschichte der Lundys etwas nicht in Ordnung wäre, und die Einzelheiten hatte er dann wohl aus verschiedenen Zeitungen zusammengesucht, jedenfalls stand ihm auch das Auskunftsbureau in der Essex-Straße zur Verfügung, an dem er vielleicht beteiligt, wenn nicht gar der Besitzer war. Die am Kopfe des Briefes angegebene Adresse kannte Pringle als einen Ort, an dem man Briefe gegen geringes Entgelt in Empfang nehmen konnte und es hatte ihm keine Schwierigkeit gemacht, die volle Adresse aus den Bruchstücken zusammenzustellen.
Jetzt mußte er also darangehen, die erlangte und sicher wertvolle Kenntnis auszunutzen. Er hatte den ganzen Nachmittag zu seiner Arbeit gebraucht, und es war jetzt sechs Uhr vorüber. Zwar war der Marquis nicht zu Hause gewesen, als Schillinghammer bei ihm vorgesprochen hatte; aber es war wahrscheinlich, daß er denselben jetzt anträfe, denn selbst wenn er nicht zu Hause essen würde, so mußte er doch zurückkehren, um sich zum Essen umzukleiden. Pringle wollte also keinen Augenblick verlieren und beschloß, den Marquis sofort aufzusuchen. Mit etwas Spiritus beseitigte er das Muttermal auf seiner Backe und hatte bald sein blondes Haar durch ein Färbemittel schwarz gefärbt. Dann setzte er einen hohen runden Hut auf, wie ihn die Polizisten zu tragen Pflegen, zog einen leichten, langen Mantel an und eilte dem Westen zu.
*
»Kann ich Lord Lundy sprechen?«
Der Diener wußte nicht, ob sein Herr zu sprechen sein würde, war aber bereit nachzufragen, falls er ihm seinen Namen angeben würde.
»Sagen Sie Sr. Lordschaft, daß ich eine wichtige Botschaft von dem deutschen Herrn, der heute Morgen hier vorsprach, zu bestellen habe,« sagte Pringle, und nach ein paar Minuten folgte er dem Diener in den ersten Stock.
Er wurde in ein Zimmer geleitet, das halb Bibliothek, hall Rauchzimmer zu sein schien und mit eleganten Mahagonimöbeln und einem prachtvollen alten Kamin aus dem achtzehnten Jahrhundert ausgestattet war. Ein großer junger Mann mit kurz zugestutztem Bart saß in einem bequemen Armsessel und rauchte seine Zigarre. Er richtete sich halb auf, als sich die Tür öffnete, und wartete, ohne Pringles Verbeugung zu beachten, bis sich der Diener entfernt hatte, dann erst hub er zu sprechen an:
»Ich erwartete Sie nicht vor morgen,« sagte er kurz angebunden, »aber da Sie einmal da sind, so teilen Sie mir Ihr Anliegen so kurz als möglich mit, da meine Zeit äußerst gemessen ist.«
»Ich muß Ew. Lordschaft zunächst mitteilen, daß ich an dem Manne kein anderes Interesse habe, als ihn, wenn irgend möglich, zu verhaften.«
»Ihn zu verhaften?!« rief der Marquis aus.
»Ja! Ich gehöre der Londoner Geheimpolizei an und bin mit der Verhaftung einiger ausländischer Anarchisten beauftragt, die von der Polizei eines auswärtigen Staates gesucht werden.«
»Darf ich Sie dann wohl fragen, warum Sie eigentlich zu mir gekommen sind?« fragte der Lord schon etwas weniger frostig.
»Einer von jenen Anarchisten mit Namen Hödel wurde heute in Gesellschaft eines andern Mannes, der sich Eppelstein nennt, bis zu Ihrer Straße hin verfolgt, und wir sahen, wie Eppelstein bei Ihnen vorsprach.«
»Aber was hat das mit mir zu tun?«
»Nichts weiter als das: Durch eine grobe Pflichtversäumnis des Beamten, der sie zu beobachten hatte, wurde Hödel aus dem Gesicht verloren, und ich kam in der Hoffnung hierher, daß Ew. Lordschaft so liebenswürdig sein würde, die Staatsbehörde zu unterstützen, und um Sie zu bitten, mir, wenn möglich irgendwelche Aufschlüsse über Hödels Gefährten zu geben, der heute hier vorsprach.«
»Bitte setzen Sie sich. Darf ich nach Ihrem Namen fragen?« Und Lord Lundy schob Pringle eine Kiste mit Zigarren über den Tisch hin.
»Ich heiße Fosterberry,« erwiderte Pringle, indem er sich setzte, jedoch bescheiden die Zigarren ablehnte.
»Schön, es würde mich freuen, Ihnen dienlich sein zu können; aber der Mann, der heute Morgen bei mir vorsprach, nannte sich nicht Hödel.«
»Nein, es war sein Begleiter namens Eppelstein, der hierher kam.«
»Auch das war nicht der Name. Ich habe den Mann nicht gesehen, da ich gerade ausgegangen war, aber ich fand bei meiner Rückkunft am Nachmittage einen Brief von ihm vor, und er hinterließ, er würde morgen früh um halb elf Uhr nochmals vorsprechen.«
»Welchen Namen gab er denn eigentlich an?«
»Schillinghammer.«
»Schillinghammer? So, das ist wieder ein neuer Name, den ich bis jetzt noch nicht kannte; aber dürfte ich vielleicht fragen, aus welchem Grunde er bei Ihnen vorsprach?«
Lord Lundy hustete verlegen und wippte in seinem Stuhle hin und her.
»Ich bitte höflichst um Entschuldigung,« sagte Pringle, »ich möchte nicht indiskret sein, und natürlich gehen mich auch Ihre Privatangelegenheiten nichts an. Ich erlaubte mir nur die Frage in der Annahme, daß Ew. Lordschaft mit ihm näher bekannt sei.«
»Mit ihm bekannt! Ich hörte heute zum ersten Male von diesem Lumpen!« rief der Lord aus, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. Dann, nachdem sich sein Unwille etwas gelegt hatte, zog er einen Brief aus der Tasche. »Das hier ist der Brief, den er für mich zurückließ. Es scheint, als wenn dieser Erpresser irgend etwas aus meiner Familiengeschichte erfahren hat, was ich begreiflicherweise geheim gehalten wissen möchte, und er verspricht mir, keinen Gebrauch von seinen Kenntnissen zu machen und will England verlassen, wenn ich ihm tausend Pfund gebe.«
»In der Tat,« sann Pringle nach, »das ist mir höchst interessant zu hören. Ich hatte bisher noch keine Ahnung, daß er sich auch auf diesem Gebiete betätigt. Es ist ja klar, der Kerl ist zu allem fähig, aber er muß ordentlich in Geldverlegenheiten sein, um ein so riskiertes Spiel zu wagen.«
»Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist jedenfalls nur das, daß er ein berufsmäßiger Erpresser zu sein scheint.«
»Darf ich Ew. Lordschaft fragen, ob Sie die Absicht haben zu zahlen?«
»Ja. Sie werden mir ohne weiteres glauben, daß mir das durchaus kein Vergnügen macht, aber so wie ich mir die Sache zurechtgelegt habe, muß ich mich entweder von ihm anzapfen lassen, oder ich muß darauf gefaßt sein, noch eine viel größere Summe zu verlieren, ganz abgesehen von all den übrigen Unannehmlichkeiten, die daraus entstehen könnten, und die noch ganz unübersehbar sind.«
Während er sprach, glitten seine Blicke nach dem Kaminsims, auf dem in einem Silberrahmen die Photographie eines bestrickend schönen Mädchens stand. Quer über eine Ecke der Photographie war in kühnen, fast männlichen Schriftzügen geschrieben: » A vous, Bernice Peterson.« Pringle, der der Richtung seiner Blicke gefolgt war, hatte diese Einzelheiten wohl bemerkt, bevor der Marquis sich von neuem eine Haltung zu geben suchte, während er fast ungeduldig fortfuhr: »Können Sie denn eigentlich diesen Schillinghammer oder wie immer sein Name sein möge, nicht verhaften lassen, wenn er morgen wieder hierher kommt?«
»Es trifft sich recht unglücklich, daß er gerade augenblicklich nicht unter Anklage steht; sowohl die Londoner, als auch die ausländische Polizei kennen ihn recht gut als ein Mitglied des internationalen Anarchistenverbandes; aber augenblicklich setzen wir nur alle Kräfte daran, Hödel zu fassen und festzunehmen.«
»Es ist Ihnen also nicht möglich, auch den anderen Lumpen festzunehmen?«
»Leider nein! Kein Zweifel, daß er ein ebenso großer Schuft wie Hödel ist, besonders nach dem, was Ew. Lordschaft mir soeben erzählt hat; aber da die deutsche Polizei bisher seine Auslieferung nicht beantragt hat, haben wir auch kein Recht, seinetwegen einzugreifen. Selbstverständlich, Herr Marquis, wenn Sie bereit sind, ihn wegen Erpressungsversuchs anzuzeigen, so ist die Geschichte außerordentlich einfach, und wir werden sofort –«
»Nein, nein! Das würde in die Öffentlichkeit dringen, und das ist es ja gerade, was ich vermeiden will,« rief der Lord erregt aus, indem er hinzufügte: »Und das weiß ja gerade der Lump.«
»Dann fürchte ich, wird sich in der Sache nichts machen lassen.«
Lord Lundy seufzte und fuhr sorgenvoll mit der Hand über die Augen.
»Sie können mir keinen andern Rat geben?« fragte er verzagt.
»Der Fall liegt tatsächlich äußerst einfach,« setzte Pringle auseinander. »Wenn, wie Sie sagen, der Mann die Macht hat, Ew. Lordschaft durch Veröffentlichung seiner Kenntnisse Schaden zuzufügen, und Sie vor allen Dingen fürchten, daß die Sache in die Öffentlichkeit dringt, andrerseits aber auch die Hilfe der Behörden nicht in Anspruch nehmen wollen, was wird Ihnen da anders übrig bleiben, als seinen Wünschen zu willfahren und zu zahlen?«
Der Lord trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tische, und es vergingen einige Minuten, bevor er wieder anhub. »Vielleicht wäre es das Beste,« bemerkte er schließlich, »wenn man ihm blos die Hälfte der Summe, die er verlangt, jetzt gäbe und ihm die andere Hälfte durch ein deutsches Bankhaus persönlich auszahlen ließe.«
»Das ist ein vorzüglicher Plan,« stimmte Pringle bei. »Auf diese Weise sind Sie wenigstens auf jeden Fall sicher, daß er wirklich auch England verlassen hat, und, wie die Dinge nun einmal liegen, würde ich Ihnen den Rat geben, ihm die Summe nicht in Banknoten oder per Check, sondern in Gold zu zahlen. Wenn Sie per Check zahlen, würde es schwer möglich sein, die Auszahlung zu bewirken, ohne daß andere Leute von der Angelegenheit Kenntnis erhalten, und wenn Sie in Banknoten zahlen, und er hat Schwierigkeiten, dieselben loszuwerden, so könnten Sie ebenfalls in die Angelegenheit hineingezogen werden. Es tut mir leid,« fügte er hinzu, während er sich erhob, um fortzugehen, »daß ich Ew. Lordschaft in der Angelegenheit leider keinen besseren Dienst erweisen kann.«
»Im Gegenteil,« versicherte der Marquis, »Ihr Ratschlag ist mir außerordentlich wertvoll gewesen.« Und er bedankte sich, klingelte nach dem Diener und führte unter höflichen Verbeugungen Pringle hinaus.
*
Ungefähr um halb elf Uhr am nächsten Morgen saß Lord Lundy in seinem Arbeitszimmer. Eine Anzahl von Briefen lag ungeöffnet auf dem Schreibtische, und er hielt eine Zeitung in der Hand; aber er vermochte nicht zu lesen, denn seine Augen konnten sich nicht von dem Bilde seiner Braut losreißen. Seine Augen wurden feucht, und er warf die Zeitung beiseite, als sich von weitem das Klingeln einer elektrischen Glocke hören ließ; er sprang nervös auf und eilte in dem Zimmer auf und ab.
»Herr Schillinghammer, mein Lord,« meldete der Diener, während er den genannten Herrn eintreten ließ.
Der Marquis stützte den Ellbogen auf den Kaminsims, während Schillinghammer ihn mit einer tiefen Verbeugung begrüßte.
»Ich habe die Ehre – –« begann er, aber der Lord unterbrach ihn schroff:
»Haben Sie die Freundlichkeit, Herr, alle überflüssigen Förmlichkeiten zu unterlassen! Ich habe den Brief gelesen, den Sie gestern hierließen. Welches sind die Kenntnisse, die Sie zu verkaufen beabsichtigen?« Er blieb stehen, so daß auch Schillinghammer notgedrungen stehen bleiben mußte.
»Es sind einige Mitteilungen, die Herrn Peterson sehr nützlich wären.«
»Ja, weshalb gehen Sie denn nicht zu Herrn Peterson?«
»Es ist eine Geschäftsangelegenheit. Ich komme zu Ihnen. Ich habe etwas sehr Wertvolles zu verkaufen. Sie kaufen es nicht? Gut, ich gehe zu Herrn Peterson. Ich werde ihm alles umsonst sagen. Vielleicht zahlt er mir etwas, wenn ich ihm erzählt habe; vielleicht nicht. Aber er wird dankbar sein. Ich habe in Amerika gelebt. Ich bin ein Angestellter gewesen in Herrn Petersons großer Schweineschlächterei. Ich kenne die amerikanischen Väter. Sie sind viel vorsichtiger als die englischen. Ich werde Herrn Peterson erzählen, daß Ihr Vater sich tötete, ebenso, daß Ihre beiden Brüder sich töteten. Er wird seine Tochter nicht lassen heiraten einen Mann aus solcher Familie. Das ist alles. Ich komme zu Ihnen zuerst. Dann, wenn Sie nicht kaufen, ich gehe zu Herrn Peterson und sage, was ich weiß. Und dann, mein Lord, und dann und dann – – – Sie verlieren Fräulein Peterson, die große, große Erbin!«
»Wie haben Sie denn eigentlich Ihre wertvollen Kenntnisse erlangt?« fragte Lord Lundy, der nur mit Mühe seine Wut bemeisterte und am liebsten Herrn Schillinghammer die Treppe hinuntergeworfen hätte.
»Ich bin Inhaber eines Privat-Auskunfts-Bureaus, es ist mein Beruf, zu wissen alles über jedermann,« und er lachte schlau.
»Aber haben Sie denn gar keine Dokumente oder irgend welche Papiere, die Sie mir aushändigen würden, falls ich mich dazu entschließe, etwas an Sie zu zahlen? Welche Beweise haben Sie denn überhaupt für Ihre Behauptungen?«
Der Deutsche holte sein Taschenbuch hervor und zog aus ihm das Bündel mit Papieren und Zeitungsausschnitten, das Pringle bereits in der Bibliothek in seinem Besitz gesehen hatte, hervor.
»Hier!« sagte er, »Sie geben mir tausend Pfund, und die Papiere sind Ihre.«
Er hielt das Bündel Lord Lundy hin, der es mit dem Ausdruck des Ekels, den er sich keine Mühe zu verbergen gab, annahm. Lundy setzte sich nun an seinen Schreibtisch, zog die Schleife des Bindfadens, der das Paket zusammenhielt, auf, und begann, während er das oberste Papier auseinanderfaltete, zu lesen. Er warf es verächtlich beiseite, als er es gelesen hatte, dann durchflog er den nächsten Zeitungsausschnitt und so fort, bis er mit dem ganzen Bündel durch war.
»Sind Sie sich über den Wert diese Papiersammlung klar?« fragte er, während er sich zu Schillinghammer umwandte und seine Hand auf den Haufen durcheinander geworfener Papiere legte.
»Ich habe Ihnen gesagt den Preis, den ich fordere,« antwortete der Erpresser mürrisch.
»Sie sind unverschämt, Herr! Diese Papiere sind allerhöchstens zwei, drei Schillinge wert, und Sie haben die Frechheit, von mir tausend Pfund für dieselben zu verlangen!«
»Es ist mein Schweigen, das ich Ihnen verkaufen will, nicht die Papiere. Sie mögen sein wert nur zwei, drei Schillinge; aber die Zeitungen sind vergriffen, und die anderen Papiere haben gekostet viel Geld, um sie zu sammeln. Ich wünsche nicht zu verkaufen die Papiere. Ich will sie Ihnen schenken, wenn Sie mein Schweigen erkaufen!«
»Sie sind sehr freigebig« bemerkte der Lord trocken.
»Sie sagen, wo sind meine Beweise,« fuhr Schillinghammer fort. »Sie haben sie vor sich liegen schwarz auf weiß. Jeder, der etwas von der Geschichte wußte, hat die Sache vergessen, und Herr Peterson wird mir nicht glauben, wenn ich ihm nicht kann zeigen diese Papiere. Da liegen die Berichte über die polizeilichen Vernehmungen beim Tode Ihrer Brüder und Ihres Vaters. Alle starben durch eigene Hand. Der Doktor sagte, Ihr Bruder konnte nicht abfeuern das Gewehr zufällig. Der Diener Ihres andern Bruders sagte, er kaufte das Gift, für ihn einzunehmen. Da liegt die Kopie des Briefwechsels mit der Versicherungsgesellschaft, welche sich weigerte, Ihres Vaters Lebensversicherung auszuzahlen, weil er tötete sich selbst. Alle diese Papiere haben gekostet viel Geld und viel Zeit zu sammeln, und ich denke, Herr Peterson wird das schon verstehen.«
»Ich wundere mich nur, daß Sie sich nicht fürchten, derartig wertvolle Dokumente auch nur einen Augenblick aus der Hand zu geben!«
» Noblesse oblige« erwiderte Schillinghammer mit erneuter Verbeugung, indem er lächelnd hinzufügte, »außerdem ist auch gar kein Feuer in dem Kamin.«
Auch dieses Mal entging Schillinghammer nur knapp dem Schicksal, aus dem Zimmer hinaus und die Treppe hinuntergeworfen zu werden, aber Lord Lundy beherrschte sich und fragte nur einfach:
»Nehmen wir mal an, ich würde Ihren Wünschen entsprechen. Was würden Sie dann tun?«
»Ich werde zurückkehren nach Deutschland. Ich wünsche zu eröffnen ein Geschäft in Hamburg.«
»Aber was für eine Sicherheit habe ich, daß Sie auch wirklich England verlassen?«
»Das Wort eines Ehrenmannes zum andern!«
»Ich ziehe es vor, eine greifbare Sicherheit zu haben, und will Ihnen das Geld senden, sobald ich sicher bin, daß Sie auch wirklich in Deutschland angekommen sind.«
»Aber ich kann nicht erreichen Deutschland ohne das Geld« warf Schillinghammer ein. »Ich habe nicht das Geld für die Überfahrt. Ich schulde auch noch Geld für meine Wohnung und für Speisen und andere Rechnungen. Ich bin ein armer, sehr armer Mann, aber ich will nicht berauben meine Gläubiger. Ich bin ein ehrlicher Mann!«
»Ich werde Ihnen 500 Pfund jetzt zahlen und den Rest nach Deutschland schicken, sobald ich weiß, daß Sie dort angekommen sind.«
»Nein! das paßt mir nicht,« sagte der Deutsche entschlossen. »Herr Peterson soll helfen mir zurückkehren nach Deutschland« und er ging der Türe zu.
»Halt!« rief der Marquis aus, indem er einen Gegenstand aus der Schublade seines Schreibtisches hervorzog. »Sehen Sie her, hier sind 500 Goldstücke!« Er warf verächtlich einen Leinwandbeutel auf den Tisch.
Gerade an der Zimmerschwelle kehrte Schillinghammer um, und Lord Lundy beeilte sich, seinen Vorteil wahrzunehmen.
»Wenn Sie sofort nach Deutschland zurückkehren, werde ich einen Hamburger Bankier beauftragen, Ihnen weitere 500 Pfund auszuzahlen.«
Schillinghammers Lage war schwierig! Auf der einen Seite hegte er das größte Mißtrauen gegen alle seine Mitmenschen, auf der andern Seite reizte ihn der Anblick oder, um genauer zu sein, der Klang des Goldes, und er stand unentschlossen mit der Türklinke in der Hand da. Schließlich wurde der Wunsch, sofort in den Besitz von Geld zu gelangen, unwiderstehlich, wie der Marquis richtig beurteilt hatte, und die magnetische Anziehungskraft des Goldes zog ihn zu dem Tische hin. Schillinghammer schien schon jetzt nicht mehr an seine armen Gläubiger zu denken, sondern erklärte großherzig: »Ich will haben Vertrauen zu Ihnen. Hier sind die Papiere, mein Lord! Ich werde abfahren nach Hamburg heute abend.«
Er ergriff den Beutel und stopfte ihn in die Brusttasche seines Rockes. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
»Ich wünsche Ew. Lordschaft Gesundheit und viel Glück und Ihrer Lordschaft ebenso« – und er verschwand mit einer tiefen Verbeugung.
Trotz des Gewichtes des Geldbeutels verließ der Erpresser mit elastischen, schnellen Schritten das Haus. Die Straße war zufälligerweise fast völlig einsam mit Ausnahme einer Droschke, die ein paar Türen weiter wartete. Als Schillinghammer sich dem Wagen näherte, bemerkte er, daß ein Mann neben der offenen Türe der Droschke stand. Dieser war groß und glatt rasiert, trug einen hohen, runden Hut und einen langen Überrock, ebenso an den Füßen ein Paar dicke Polizeistiefel – kurz, es war unser Romney Pringle.
Schillinghammer ging arglos vorbei, aber Pringle hielt ihn am Arme fest.
»Herr Schillinghammer, nicht wahr?« fragte er, und bevor der Letztere genügende Geistesgegenwart erlangt hatte, um seinen Namen abzuleugnen, fuhr Pringle fort: »Ich bin Inspektor Fosterberry von der Geheimpolizei, und verhafte Sie auf Grund eines Haftbefehls, da Sie durch Drohungen und falsche Angaben von dem Marquis of Lundy Geld erpreßt haben. Ich muß Sie ersuchen, sofort mit mir mitzukommen.«
Ruhig, aber bestimmt nötigte er Schillinghammer in die Droschke und, immer noch seinen Arm haltend, setzte sich neben ihn und schloß die Tür. Der Kutscher, der bereits seine Anweisungen empfangen hatte, fuhr Clarges Street herunter, und sie hatten bereits mehrere Straßen durchfahren, bevor sich Schillinghammer von seinem Erstaunen, das ihn im ersten Augenblick sprachlos gemacht hatte, erholte.
»Warum verhaften Sie mich?« fragte er nach mehreren vergeblichen Versuchen, zu sprechen.
»Das habe ich Ihnen bereits gesagt. Der Haftbefehl ist auf beschworene Anzeige des Marquis of Lundy ausgestellt worden.«
»Er ist ein Lügner, ich bin ein anständiger Mann!«
»Sie werden Gelegenheit haben, auf dem Polizeibureau das alles auseinanderzusetzen. Inzwischen müssen Sie mit mir kommen.«
»Wo fahren wir denn hin? Ich will nicht gehen ins Gefängnis.«
»Ich bringe Sie zunächst nach dem Polizeibureau in Marlborough Street.«
»Ich will nicht gehen. Ich warne Sie. Das ist eine ernste Sache. Ich bin deutscher Untertan. Ich werde schreiben an den deutschen Botschafter! Sie werden streng bestraft werden!« Während er so mit Worten gegen seine Verhaftung Einspruch erhob, versuchte er, sich loszureißen, und es gelang ihm, den Drücker der Droschkentür zu erfassen. Aber er war von Natur nicht sehr kräftig und maßlos aufgeregt, und es war deshalb für Pringle ein leichtes, ihn zu überwältigen. Sie kreuzten soeben Bond Street, und Pringle hatte seine guten Gründe, gerade hier die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken.
»Wenn Sie nicht augenblicklich ruhig sind, bin ich gezwungen, Ihnen Handschellen anzulegen!« warnte ihn Pringle. »Was haben Sie da? Einen Revolver? Den muß ich Ihnen abnehmen.«
Er hatte nämlich etwas Hartes in der Brusttasche von Schillinghammers Überrock bemerkt, und indem er seine freie Hand in dessen Tasche steckte, zog er den Beutel mit den Goldstücken heraus und steckte ihn ohne weiteres in seine eigene Tasche.
Obgleich Schillinghammer die entsetzlichste Angst ausstand und mehr tot als lebendig war, hätte er sicher das Äußerste versucht, um diesem Verfahren Einhalt zu tun, hätte nicht der Wagen in diesem Augenblicke gehalten.
»Was ist los?« fragte Pringle, indem er seinen Kopf zum Fenster hinaussteckte.
»Wir sind angelangt, Herr!« sagte der Kutscher, während er mit der Peitsche geradeaus wies. Die Droschke hatte am Ende der Marlborough Street gehalten. Pringle sprang auf das Pflaster und blickte angestrengt nach der Richtung der Polizeiwache, die einige Häuser weiter entfernt lag, als ob er auf das Erscheinen jemandes wartete. Während dieser Zeit schlüpfte Schillinghammer mit einer Behendigkeit, die man ihm kaum zugetraut haben würde, durch das offene Fenster auf der anderen Seite der Droschke. Als er auf dem Pflaster anlangte, fiel er fast einem Schutzmann in die Arme, der gerade über die Straße kam.
»Hallo! Was bedeutet denn das?« rief der Schutzmann aus.
Aber Schillinghammer achtete nicht auf die Frage, rannte um die Droschke herum und stürzte in höchster Eile die Straße entlang.
Der Schutzmann sah nach Pringle hin, der immer noch mit ungemindertem Interesse nach der Polizeiwache hinblickte und scheinbar gar nichts von Schillinghammers Entweichen bemerkt hatte.
»Weshalb stieg denn der Mann aus dem Fenster?« forschte der Polizist weiter nach.
»Fenster!« rief Pringle, indem er sich scheinbar äußerst verwundert umdrehte und in die Droschke blickte. »Meinen Sie das Droschkenfenster? Zum Teufel, er ist weg! Rasch! Helfen Sie mir, ihn einzufangen, er ist mein Gefangener!«
Der Schutzmann, der sich über die augenscheinliche Dummheit Pringles belustigte, machte sich willig an die Verfolgung Schillinghammers, welcher inzwischen fast schon in der Oxfordstraße angelangt war. Pringle drückte dem Droschkenkutscher ein Zehn-Schillingstück in die Hand und folgte dann mit gemessenen Schritten dem Polizisten, als habe er gar kein besonderes Interesse daran, seinen Gefangenen wieder zu erlangen. Als er die halbe Straße hinuntergegangen war, wandte er sich plötzlich nach links, bog in die Regent Street ein und sprang in eine gerade vorbeifahrende Droschke.
Inzwischen hatte der Polizist Oxford Street erreicht und stand hier hilflos inmitten der vorbeiflutenden Menschenmassen, ohne von dem Erpresser auch nur noch ein Rockzipfelchen erspähen zu können.
Pringle fuhr inzwischen ruhig seiner Privatwohnung zu.
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