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Der Bart des Abraham Weinkäfer

Im südrussischen Gouvernement Podolien, an dem Schienenstrang, der Kiew mit dem Schwarzen Meer verbindet, liegt das Städtchen Winniza. Dort lebte ein jüdischer Mann, Abraham Weinkäfer mit Namen, seines Zeichens ein Glasermeister. Still und friedlich lebte er dahin; ein guter Gatte und Vater, ein fleißiger Handwerker. Die öffentliche Aufmerksamkeit zog er durch nichts auf sich. Wohl hatte er vor seinen Mitbürgern einen Vorzug, doch kam dieser in Winniza, wo das Schönheitsgefühl wenig ausgebildet ist, nicht zur Geltung: Er hatte den stattlichsten Bart im Städtchen, einen Riesenbart, der besonders schön und ehrfurchtgebietend aussah, nachdem er ergraut war.

Es war im Jahre 1871, und Abraham stand damals in der Mitte der Fünfzig, als eines Tages der Generalgouverneur von Podolien nach Winniza kam. Eine neue Schule, für deren Begründung er sich lebhaft interessiert hatte, sollte eröffnet werden, und er wollte bei der Feier nicht fehlen. Der Mann war von altem Adel, hatte nicht nur eine vornehme Erziehung genossen, sondern auch wirklich etwas gelernt, schwärmte für alles Schöne und dilettierte in den Künsten; er machte niedliche Verse und malte recht nette Aquarelle. Aber er war nicht nur ein vollendeter Kavalier, sondern auch eine wahrhaft liebenswürdige, wohlwollende Natur und strebte auch als Beamter stets nur das Gute an. Nur, daß er etwas zerstreut war und überaus vergeßlich; man erzählte sich die lustigsten Anekdoten darüber, u. a. wie er einmal an der Hoftafel zu Petersburg – er gehörte zu den bevorzugten Lieblingen Alexanders II. und des ganzen kaiserlichen Hauses – seinen Teller zurückgeschoben, den Bleistift hervorgezogen und zum Entsetzen seiner Nachbarn auf der weißen Damastdecke zu zeichnen begonnen habe. Er selbst war sich dieser Schwäche bewußt und wählte, um sie auszugleichen, einen Adjutanten von ausgezeichnetem Gedächtnis.

Alle Bewohner des Städtchens hatten sich zu Ehren des hohen Besuchs im Festgewand vor der neuen Schule versammelt, auch unser Held war darunter. Er nahm sich in seinem schwarzen Seidenkaftan, im Schmuck des Riesenbartes, ganz prächtig aus und mußte ein Malerauge sofort fesseln. Daher blieb denn auch der Gouverneur, als er nach beendeter Feier, von dem Adjutanten und dem Polizeimeister der Stadt gefolgt, durch die Reihen schritt, vor ihm stehen, musterte ihn mit wohlgefälligem Lächeln und fragte freundlich nach seinem Stand und Namen. Der schlichte Mann war über diese unverhoffte Ehre so fassungslos, daß er die Antwort nur stammelnd zu geben vermochte.

»Das ist brav«, sagte der Gouverneur und klopfte ihm herablassend auf die Schulter. »Glasermeister – das höre ich gerne; Handwerk hat einen goldenen Boden ... Aber sage doch«, er sagte »Du« zu dem alten Manne, weil es nur eben ein Jude war, aber er meinte es gewiß nicht böse, »wie bist du zu diesem Bart gekommen?«

Darüber ward der gute Abraham noch viel verblüffter. »Wie soll ich zu meinem Bart gekommen sein?« fragte er endlich demütig. »Er ist mir eben gewachsen! ...«

»Ein herrlicher Bart!« rief die Exzellenz enthusiastisch. »Und was die Hauptsache ist, er stimmt zu deinem Gesicht, deiner ganzen Erscheinung. Du scheinst gar nicht zu wissen, guter Abraham, welche Merkwürdigkeit du bist ... Möchtest du mir Modell sitzen? Ich möchte dich zeichnen. Nur eine Bleistiftskizze, eine Stunde genügt.«

»Zeichnen?« rief Abraham und hob abwehrend die Hand. »Was ist an einem alten Juden zu zeichnen?«

»Also ebenso bescheiden wie schön!« lachte der Gouverneur. Aber der Polizeimeister verstand den weinerlichen Ton Abrahams besser. »Damit hat es seine besondere Bewandtnis!« erklärte er seinem Vorgesetzten. »Der Mann gehört wohl nicht selbst zu den streng Orthodoxen, fürchtet aber ihren Zorn. Diese nämlich halten es für sündhaft, wenn sich ein Jude porträtieren läßt ... Du wirst tun, was Seine Exzellenz befiehlt«, schloß er barsch, zu Abraham gewendet.

»Nicht diesen Ton!« wehrte der Gouverneur ab. »Der Mann ist ja nicht dazu verpflichtet, mir zu sitzen ... Aber wenn ich dich nochmals darum bitte«, sagte er zu dem Juden, »so tust du es vielleicht doch? Wie gesagt, nur eine Stunde, etwa morgen früh, da ich schon um die Mittagsstunde abreise ...«

Natürlich weigerte sich der Jude nun nicht länger, und am nächsten Morgen fand die »Sitzung« statt. Der Gouverneur unterhielt sich auf das leutseligste mit dem Juden und schenkte ihm beim Abschied eine wertvolle Bernsteinspitze. Diese Spitze und der Bericht Abrahams über seine Gespräche mit dem Gouverneur beschäftigten die Leute von Winniza noch durch Wochen. Der Glasermeister konnte die Herablassung seines hohen Gönners nicht genug rühmen; nur über die Skizze äußerte er sich ziemlich geringschätzig; er selbst, obwohl er doch sein eigenes Gesicht gut genug kenne, habe sich in diesem Krixkrax von Bleistiftstrichen nicht auszukennen vermocht. Doch tat er durch dies Urteil dem Talent des Gouverneurs schweres Unrecht; es war eine recht hübsche und charakteristisch durchgeführte Skizze.

Dieser Ansicht war denn auch einige Monate später eine sehr hohe Dame am Petersburger Hof, als ihr der Gouverneur das Blatt vorwies. Es war die dem Kaiserhause verwandte, durch feinen Kunstsinn ausgezeichnete Herzogin von L., die sich auch nicht ohne Glück als Malerin im historischen Genre versuchte. »Vortrefflich!« rief sie, und ihre Augen leuchteten auf. »Welch schöner Patriarchenkopf! Was wäre dies für ein Modell zum Erzvater Abraham in der biblischen Szene, die ich seit langem malen will! Immer wieder habe ich die Ausführung verzögert, weil sich eben kein ganz passendes Modell finden wollte ... Bitte, lassen Sie mir das Blatt hier!«

»Mit Vergnügen, Hoheit!« versicherte der General. »Aber ich könnte Ihnen ja auch den Mann selbst schaffen ...«

»Oh«, rief die Herzogin, »glauben Sie, daß dies möglich wäre ... Das wäre ja entzückend!«

»Es ist nichts unmöglich, wenn Hoheit befehlen!« erwiderte der Kavalier galant. »Übrigens dürfte es nicht einmal so schwierig sein; der Mann wird es gegen Geld und gute Worte sehr gerne tun. Er wohnt in Winniza; sein Name ist mir freilich entfallen, doch wird mein Adjutant ihn sicherlich noch wissen. Ich will ihm noch heute Auftrag geben; er wird die Sache gewiß rasch und bestens ordnen. In spätestens einer Woche haben Sie Ihr Modell hier.«

Der Adjutant wußte wirklich noch den Namen, ja alle sonstigen Einzelheiten, sogar daß Abraham einen Augenblick aus Furcht vor dem Fanatismus seiner Glaubensgenossen gezögert. Aber auch sonst wäre ihm die amtliche Requirierung als die einzig sichere erschienen. Die Herzogin von L. durfte man jedenfalls nicht warten lassen. Und so telegraphierte er denn an die Gouvernementskanzlei in Kaminnetz-Podolsk, daß der Jude Abraham Weinkäfer in Winniza sofort zur Reise nach Petersburg zu verhalten sei, wo er sich nach seinem Eintreffen ungesäumt bei dem Gouverneur zu melden habe, der auch die Kosten der Reise trage. Ein verläßlicher Mann sei dem Juden als Begleiter beizugeben.

Das Telegramm gelangte in die Hände des Vizegouverneurs, und dieser Beamte hätte sich vielleicht darüber gewundert, wenn er gerade mehr Zeit gehabt hätte. So aber trug er nur einem seiner Kanzleiräte rasch auf, den Juden nach Petersburg zu schaffen, auf kürzestem Wege und unter Bedeckung. Und der Kanzleirat hatte just auch keine Zeit und gab daher den Auftrag an seinen Sekretär weiter, nur daß er bereits das Wort »verhaften« gebrauchte. »Was kann denn dieser Winnizer Glasermeister angestellt haben«, fragte der junge Beamte neugierig, »daß man ihn direkt nach Petersburg schicken muß?« – »Offenbar ein politisches Verbrechen!« sagte der Kanzleirat. Das leuchtete dem Sekretär ein, und es mußte wohl ein schweres Verbrechen sein, da sonst nicht solche Raschheit befohlen worden wäre. Und so telegraphierte er denn an den Polizeimeister von Winniza, der Glasermeister Abraham Weinkäfer sei sofort, als schweren politischen Verbrechens angeklagt, unter Eskorte mit möglichster Beschleunigung nach Petersburg zu schaffen.

Der Polizeimeister las den Auftrag mit grenzenlosem Erstaunen; was immer er hinter dem schönen Bart gesucht hätte, politische Umtriebe sicherlich nicht. Auch kam ihm der Gedanke, daß hier ein Mißverständnis obwalte, aber das half ja nichts; der Auftrag lautete klar genug und mußte erfüllt werden. Er ließ den Juden vorladen, der in einiger Aufregung erschien; die Polizei hatte sich sein Leben lang nicht um ihn gekümmert. Von Entsetzen gelähmt, vernahm er den Befehl und konnte lange keinen Laut hervorbringen. »Erbarmen!« flehte er endlich und warf sich dem Polizeimeister zu Füßen. »Es kann nicht wahr sein, was habe ich mit ›Politik‹ zu tun. Wenn Sie es mir nicht eben erklärt hätten, ich verstünde das Wort nicht!«

Der Beamte war Menschenkenner genug, um zu wissen, daß dieser Ton echt sei. Von Mitleid für den Unglücklichen ergriffen, beschloß er, das einzige für ihn zu tun, was in seiner Macht stand: Er fragte telegraphisch beim Gouvernement an, ob hier nicht eine Namensverwechselung vorliege; inzwischen mußte er ihn freilich als Gefangenen verwahren. Weib und Kinder durften ihn natürlich besuchen. Nachdem der erste furchtbare Schrecken verwunden war, begannen auch sie, gleich ihm selbst, wieder zu hoffen: Die Sache mußte sich ja aufklären. Auch alle Bewohner von Winniza waren der festen Überzeugung, daß ihr braver, friedlicher Mitbürger, der sich bisher nie um die trüben Händel der Welt, sondern nur um seine klaren Fensterscheiben gekümmert, unmöglich ein gefährlicher Verschwörer sein könne.

Erst drei Tage später traf die Antwort des Gouvernements ein, von jenem Sekretär gezeichnet; sie enthielt einen Verweis für den Polizeimeister, weil er durch überflüssige Fragen den Gang der Justiz aufhalte; ein Mißverständnis liege nicht vor. Vielleicht hätte sich ein Beamter des Westens vorher nochmals genau instruiert, jeder hätte es wohl auch nicht getan, da ja der Befehl ganz bestimmt lautete. Jedenfalls handelte auch jener Sekretär nicht böswillig – und dieses ist eben das bezeichnende Moment dieser Geschichte.

Am nächsten Morgen wurde Abraham auf einem Wägelchen schwer gefesselt zur Bahnstation geführt. Ihm gegenüber saßen zwei Soldaten mit geladenem Gewehr; sein Weib und seine Kinder liefen jammernd neben dem Gefährt einher, und viele der Gemeinde folgten hinterdrein, aus Neugier oder aus Mitleid. Den unglücklichen Mann verließ die Fassung nicht; wohl rannen ihm die Tränen unablässig über das bleiche Antlitz, aber er fuhr fort, Weib und Kinder zu trösten. »Vertrauet auf den Allmächtigen, wie ich auf ihn vertraue«, rief er ihnen zu, »er wird mich Unschuldigen nicht zugrunde gehen lassen. Mir sagt's mein Herz: Ich sehe euch bald und in Freuden wieder.«

Drei Wochen währte es, bis Abraham nach Petersburg eingeliefert wurde, an das Festungsgefängnis, die Abteilung für politische Verbrecher. In der Aufnahmekanzlei wurde ein kurzes Verhör mit ihm aufgenommen; er beteuerte natürlich seine Unschuld, und ebenso natürlich wurde ihm nicht geglaubt. Wohl lag nur ein einziges Dokument über ihn vor: der Begleitbericht des Polizeimeisters von Winniza, worin dieser meldete, daß er den Abraham Weinkäfer, als politischen Verbrechens bezichtigt, dem Befehl eines hohen Gouvernements gemäß, anbei abliefere – aber dies genügte ja, um den Mann in Haft zu behalten. Die Akten, dachten die Herren, würden wohl bald nachfolgen. Der Gefangene wurde in Inquisitenkleider gesteckt, und da der lange Bart gegen die Gefängnisordnung ging, so wurde er ihm abrasiert. Der herrliche, der Patriarchenbart! Dem unglücklichen Mann tat dies weiter nicht weh; er hatte schwereren Kummer. Aber wie hätten die beiden kunstliebenden Seelen, der Generalgouverneur und die Herzogin, geklagt, wenn sie diesen unersetzlichen Verlust für die Kunst erfahren hätten. Das trefflichste Modell für einen Erzvater, das sich im Reiche fand, war freventlich verstümmelt worden.

Aber sie erfuhren es nicht. Wohl erkundigte sich die Herzogin, als vierzehn Tage seit ihrer Unterredung mit dem Generalgouverneur verstrichen waren, gelegentlich bei diesem, wie es um ihr Modell stehe, und er fragte sofort seinen Adjutanten, der seinerseits telegraphisch beim Gouvernement anfragte. Aber die Antwort: die Angelegenheit habe sich durch die Saumseligkeit des Polizeimeisters von Winniza verzögert, sei aber jetzt in bester Ordnung, und der Jude würde jedenfalls in den nächsten Tagen in Petersburg sein, beruhigte alle Beteiligten wieder.

Bald darauf verließ der Gouverneur die Hauptstadt, um eine Erholungsreise ins Ausland anzutreten. Von seinem Adjutanten nahm er nun für immer Abschied; er selbst hatte den trefflichen Mann für einen höheren Posten in einem nördlichen Gouvernement empfohlen.

Als der Gouverneur einige Monate später nach seinem Amtssitz zurückkehrte, war von dem Juden nicht weiter die Rede. Er hatte ihn gänzlich vergessen, ebenso seine Beamten. Um so inniger gedachte die arme, verlassene Frau ihres unglücklichen Gatten. Als ein Jahr vergeblichen Harrens verstrichen war, entschloß sie sich zur Reise nach Kaminnetz-Podolsk. Sie wollte den Gouverneur um Erbarmen anflehen; das Beweisstück seines einstigen Wohlwollens, die Bernsteinspitze, nahm sie mit; sie hatte sie nicht veräußert, obwohl allmählich die Not in das Haus, das seines Ernährers beraubt war, ihren Einzug gehalten. Ein schlimmer Zufall wollte es, daß der Gouverneur damals eben wieder in Petersburg war. Aber sein Stellvertreter empfing sie, und auch er war kein gewissenloser Mann; er hörte ihre Klagen geduldig an und gab ihr dann jene Antwort, die er ihr geben mußte: daß für politische Verbrechen einzig das Gericht maßgebend sei; weder er noch sein Chef könnten in dieser Sache etwas anordnen. Wenn aber ihr Mann wirklich unschuldig sei, so werde er ohne Zweifel bald heimkehren. Mit diesem kargen Trost kehrte sie zurück und harrte wieder geduldig. Als aber auch ein zweites Jahr verstrichen war, wollte sie die Reise zum Gouverneur wiederholen, obwohl sie nun die Bernsteinspitze nicht mehr vorweisen konnte. Aber da sagten ihr die Leute, daß ihr Gönner seit einigen Monaten versetzt sei; er habe einen hohen Verwaltungsposten in Moskau erhalten.

Inzwischen saß Abraham im Gefängnis zu Petersburg. Man hatte ihm gesagt, daß er bald zum Verhör werde vorgeführt werden, aber Tag um Tag, Monat um Monat und ein Jahr verging, ohne daß sich jemand um ihn bekümmerte. Seine Bitten um ein Verhör blieben vergeblich, sie gelangten nicht einmal zu dem Untersuchungsrichter. »Du wirst vorgeführt, sobald die Reihe an dich kommt«, sagte ihm der Gefangenenwärter. Endlich, bei einer Inspektion der Gefängnisse, lenkte sich die Aufmerksamkeit auf ihn. Ein Jahr Haft ohne Verhör – das schien dem Inspektor doch auffallend, und er fragte beim Untersuchungsrichter an. Aber dieser konnte sich darauf berufen, daß die Schuld ja nicht an ihm liege – die Akten seien eben noch nicht da, und diesen Grund mußte auch der Inspektor gelten lassen.

Ein zweites Jahr verstrich. Der alte Mann verfiel immer mehr; er hätte nun höchstens noch zu einem Hiob Modell sitzen können. Lange hatte ihn sein Gottvertrauen aufrechterhalten, endlich übermannte ihn die Wut der Verzweiflung. Er begann in seiner Zelle zu toben, so daß ihm eine schwere Disziplinarstrafe auferlegt wurde. Aber der Vorfall hatte doch das Gute, wieder an ihn zu erinnern. Das Untersuchungsgericht requirierte vom Gouvernement die Akten. Die Antwort lief erst nach Monaten ein; sie lautete natürlich, daß dort von der Sache nichts bekannt sei; die Verhaftung sei im Auftrage des einstigen Generalgouverneurs erfolgt, der jetzt in Moskau lebe. Nun richtete das Gericht eine Anfrage an diesen. Von seinem Stellvertreter kam die Antwort, Seine Exzellenz seien im Bade; die Sache werde ihm nach seiner Rückkunft vorgelegt werden.

Und wieder verstrich ein Jahr, da kam ein neuer Inspektor. Der Anblick des Greises erschütterte ihn, noch mehr dessen Erzählung. Er beschloß der Sache auf den Grund zu kommen und fing es ganz regelrecht an. Zunächst interpellierte er den Polizeimeister von Winniza. »Auftrag des Gouvernements«, war die Antwort, aber damit begnügte sich der brave Mann nicht; er wiederholte seine Vermutung, daß hier ein Mißverständnis vorliege. Wenn dem so sei, dann habe es bereits furchtbare Folgen gehabt: Das Weib des Gefangenen sei vor Gram gestorben, seine Kinder im größten Elend zurückgeblieben. Nun wandte sich der Inspektor an das Gouvernement: Es berief sich auf seine Antwort vom vorigen Jahre. Jetzt endlich wurde die Anfrage wieder an den einstigen Gouverneur gerichtet, und diesmal kam auch sofort die Antwort: Er habe niemals einen politischen Verbrecher direkt nach Petersburg schaffen lassen. In der Tat durfte der hohe Herr, so unverläßlich auch sonst sein Gedächtnis war, diesen Bescheid mit größter Sicherheit geben; er hatte politische Untersuchungen stets den Gerichten überlassen.

Jetzt wurde dem Inspektor die Sache vollends unheimlich: Er beantragte Freilassung des Gefangenen, denn ein Verbrecher sei wohl da, jedoch kein Verbrechen. Aber das Gericht verlangte zuerst völlige Klarstellung und stellte neue Recherchen an. Doch noch ehe diese zum Abschluß gelangten waren, kam Licht in die Sache. Der Gouverneur kam nach Petersburg, wohin inzwischen auch sein einstiger Adjutant versetzt worden war. Dieser suchte ihn auf und bat um seine Fürsprache zur Erlangung eines hohen Postens. Der Gouverneur versprach es gern; mit Hilfe der sehr einflußreichen Herzogin von L. werde es gewiß leicht gehen. Er begab sich zu der hohen Dame und empfahl ihr seinen Schützling. Sie versprach ihre Vermittlung in liebenswürdigster Weise, weil aber ihr Gedächtnis ebenso trefflich war als jenes des Gouverneurs schwach, so fragte sie mit etwas boshaftem Lächeln: »Es ist doch derselbe Herr, der mir das Modell so pünktlich besorgt hat?«

»Derselbe!« rief der Gouverneur eifrig. »Das hatte ich ganz vergessen. Haben Sie den Juden gemalt? Nicht wahr, ein prächtiger Kopf?«

»Gewiß – aber ich habe ihn nie gesehen!«

Der Gouverneur teilte es bestürzt seinem Schützling mit. Dieser leitete seine Recherchen kräftig ein; er wollte die hohe Gönnerin überzeugen, daß er das Seine getan. Schon am nächsten Tage konnte er dem Gouverneur entsetzt mitteilen, wo sich das arme Modell befinde. Beide Herren begaben sich sofort nach den Gefängnissen. Kein Zweifel, da stand ja der Name in der Liste. Der Kerkermeister wurde geholt. »Lassen Sie den Abraham Weinkäfer sofort herbeibringen!« ward ihm befohlen.

Der Beamte stand verlegen da. »Verzeihen, Exzellenz ... der Mann ist vor zwei Monaten gestorben. Es ist ein wahres Wunder, daß er es so lange ausgehalten hat. Aber er hoffte noch immer ...«

Die beiden Herren haben für die verwaisten Kinder gesorgt. Den Toten konnten auch sie nicht mehr lebendig machen.

Das ist die Geschichte vom Bart des Abraham Weinkäfer, und ich finde kein Wort, das ich ihr hinzufügen könnte.


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