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Es war im Jahre 1871, im vollen Frühling. Auf der Promenade von Odessa blühten die Akazienbäume und draußen, im weißblinkenden Villenviertel, die seltsamen Blumen des Südens. Selbst über die arme Heide ging ein Dufthauch, und auf der gelblichen Düne hob der Strandhafer schüchtern sein zartbefiedert Haupt. Und dazu Tag für Tag lenzfröhlicher Sonnenschein über der jungen, schönen Stadt und dem Hafen und der tiefblauen Meerflut; es schien, als gäbe es keine Wolke mehr in jenem Mai.
Alles war schön, alles. Aber es nützte mir nichts; ich mußte fort und heim.
So schied ich denn mindestens des Abends, wo all die Herrlichkeit verschleiert war. Am nächsten Morgen war ich in Balta, einer ansehnlichen Stadt, was, aus dem Südrussischen übersetzt, bedeutet, daß dort sehr viele Holz- und Lehmhütten beisammen standen. Hier verließ ich die Bahn, oder vielmehr sie mich. Eine Endstation; wer damals von Odessa nach der Bukowina wollte, mußte von Balta ab durch das podolische oder bessarabische Gouvernement die kaiserliche Post benutzen, sofern er nicht wohlweislich einen Lohnwagen vorzog. Denn mit der Post fährt in Neu-Rußland nur der Unkundige, und kundig wird, wer sie einmal verkostet. Diese Post ist nicht so schrecklich wie ihr Ruf; sie ist noch viel schrecklicher. In Alt-Rußland steht es damit besser, in mancher Gegend ganz gut. Aber im Süden kann man den kaiserlichen Marterkarren nicht einmal angehenden Selbstmördern empfehlen. Denn wer den Willen zum Leben noch so energisch verneint, findet doch angenehmere Gelegenheit dazu als das Totgebeuteltwerden.
Ich mietete mir also die »Britschka« des Nüssan Goldkäfer aus Hussiatyn. Man darf dabei kaum an das gleichnamige Fuhrwerk denken, welches auch im westlichen Österreich, besonders in Mähren, gebräuchlich ist. Das ist eine so idealisierte und zivilisierte Kutsche, daß sie mit jener meiner Heimat in der Tat kaum mehr gemein hat als den Namen. Es ist schwer, dieses anmutige Gefährt zu schildern, dessen Hauptzweck es zu sein scheint, den Magen des Reisenden fortwährend in gelinder Erschütterung zu erhalten – oft auch in ungelinder, es kommt eben auf den Weg an. Am leichtesten gewinnt der Leser ein Bild davon, wenn er sich auf einem plumpen Gestell mit vier gleich großen Rädern einen offenen Sarg befestigt denkt, an dessen vorderem Ende ein Brettchen angenagelt ist – der Kutschbock – und über dessen hinterem Ende eine Plache in Form einer umgestürzten Mulde gespannt ist, unter welcher der Reisende ruht.
So viel zur Erklärung der »Britschka«. Zur Erklärung des Nüssan Goldkäfer aber die Bemerkung, daß, wer im Osten daheim ist, immer den jüdischen Lohnkutscher dem christlichen vorziehen wird. Der Christ ist billiger und williger, das ist wahr. Aber der Jude hat, wenige Ausnahmen abgerechnet, zwei gute Eigenschaften: Er hinterläßt keinem Vetter am Wege als Souvenir ein Gepäckstück des Reisenden, und er betrinkt sich nicht bis zur Bewußtlosigkeit. Ach, was ein Rausch ist, weiß man doch eigentlich nur in Halb-Asien! In diesem zahmen Europa ist man ja geneigt, auch schon eine kleine Erheiterung so zu nennen, welche in einer einzigen Nacht ausgeschlafen ist! Aber wer, wie ich, einmal volle dreißig Stunden in einer elenden Waldschenke hat halten müssen, weil der Kutscher, ein rumänischer Schlingel aus Bessarabien, nicht aus seiner Betäubung aufzurütteln war, der weiß, bis zu welcher Größe ein Rausch gedeihen kann, und hütet sich künftig vor diesen willigen, billigen Burschen. Auch die Juden haben im Osten ein wenig von dieser allgemeinen Feuchtigkeit angezogen, aber sie sind doch die mäßigste Nation in jenem Völkergewirr. Nur in der dunklen, wüsten Sekte der »Chassidim« finden sich Trunkenbolde; der Aberglaube, der Fanatismus, der Müßiggang haben dort zu diesem Laster geführt, wie leider zu manchem anderen auch.
Aber mein Nüssan war kein »Chassid«; er gehörte zu den »Misnagdim«, den Oppositionellen, den Bibelgläubigen. Während die Chassidim die Kabbala über den Talmud stellen, achten die Misnagdim nur Bibel und Bibelkommentare und verwerfen die Kabbala. Sie verachten die Wunderrabbis, werden gern Handwerker, Fuhrleute, Gastwirte, Krämer, sind strenggläubig, jedoch nicht fanatisch. So werden sie es zum Beispiel als eine Todsünde meiden, eine Fleisch- und eine Milchspeise hintereinander zu genießen, aber sie hassen niemanden um des Glaubens willen, und die Aneignung fremder Bildung scheinen ihnen lobenswert. Sie sind ( mutatis mutandis!) die – Altkatholiken des Judentums; trotz aller dogmatischen Strenggläubigkeit sehen sie sich von einer Majorität überflügelt, welche immer neue Dogmen als Staffeln emportürmt – zum Himmel, wie sie glaubt, zum Gipfel des Blödsinns, wie andere glauben ...
»Gottlob, ich bin kein Chassid!« sagte mir also mein Herr Goldkäfer grimmig, schon als wir an den letzten Hütten von Balta vorbeifuhren. Eine dieser Hütten war nämlich ein chassidisches »Beth-ha-mid-rasch«, was man, natürlich überaus frei, mit »Volksbibliothek« übersetzen könnte. Ein großer, verwahrloster Raum, in welchem auf den Tischen schmutzige Folianten liegen und auf den Bänken Knaben, Männer und Greise sitzen, denen gleichfalls größere Sauberkeit nicht schaden könnte. Die verehrliche Versammlung schaukelt sich entweder, halblaut in den Folianten lesend, mit der Regelmäßigkeit eines Perpendikels hin und her, oder sie erörtert in gellender Diskussion die Dinge von jener Welt, oder sie widmet sich, wozu die Gelegenheit sich oft genug bietet, einem Ding von dieser Welt, dem Branntwein. Brutstätten des Müßiggangs, in welchen ein wirklich gelehrter Mann sich so häufig findet, wie ein weißer Rabe, wie denn überhaupt die jüdischen Gelehrten nicht unter den Chassidim zu finden sind.
»Kein solcher!« rief also Nüssan grimmig und schwang seine Peitsche in unzweideutigster Weise gegen das fromme Haus. »Sondern ein echter Jude, ein Misnagid, ein Mann, ein ehrlicher Mann, ein Fuhrmann!« Und dann begann er, mir seinen Standpunkt des näheren zu erläutern.
Ich weiß nicht, warum er es tat; auch im Osten führen die Kutscher in der Regel keine religiös-philosophischen Gespräche. Vielleicht weil er mich durch lebhafte Unterhaltung dafür schadlos halten wollte, daß er einen blinden Passagier, einen feisten Landmann aus der Ukraine, aufgenommen, der nun breit neben ihm auf dem Bock saß. Oder weil er mir beweisen wollte, daß man ein Fuhrmann sein und doch in uraltem Wissen bewandert sein könne. Jeder Mensch, die Zeit der Flegeljahre ausgenommen, die freilich bei manchem bis ins Siebzigste reicht, sucht sich eben gerne seinem Nächsten von der günstigsten Seite zu präsentieren. Und sein Talmudwissen hielt dieser rechtgläubige Jude natürlich für seinen schönsten Schmuck.
Ich mußte, während er eifrigst sprach, daß die Zitate nur so niederhagelten, auf ihn blicken und dann auf seinen Nachbar, und sonderbare Gedanken kamen über mich. Die beiden Leute waren einander ungefähr gleich in Vermögen und Lebensweise, in ihrem Verhältnis zur europäischen Kultur, von der sie wohl beide gleich wenig wußten. Auch ihre Kleidung war dieselbe – Zwillichröcke und darüber Schafpelze, der Hitze wegen nach außen gekehrt. Nur daß der eine am Leibe ein Amulett trug, ein Säckchen mit Knoblauchknollen, welches ihm sein Pope zu Ostern um fünfzig Kopeken geweiht; der andere aber eine Art Westchen, an dem die Schaufäden hingen. Und doch – welche ungeheure Kluft trennte den Gedankenkreis dieser beiden Landsleute, bloß deshalb, weil der eine das Knoblauchamulett trug und der andere das Westchen! Der Russine haftete mit slawischer Zähigkeit an der Scholle, und von der Vergangenheit seines Volkes wußte er wahrscheinlich nur, daß bereits sehr viele Russinen gestorben. Der Jude aber – wohl fuhr er auf der podolischen Landstraße hin und her, aber dieses Land war nicht seine Heimat. Seine Heimat war ein fernes, fernes Land, welches er nie gesehen, welches so, wie er es sah, nicht mehr auf Erden bestand: Heute fließen Milch und Honig nicht mehr im Jordantale ... Und all sein Wissen, all sein Denken, alles, was ihn zum Menschen erhob, wurzelte in jenem Lande und seinen Geschichten. Der Staub der Jahrtausende hat sich darüber gelegt; ihm war es die ewig junge, die einzige Welt. Jeder talmudisch erzogene Jude ist eigentlich – sit venia verbo! – ein gelehrter Mensch, aber diese Gelehrsamkeit ist tot und starr; sie beweist nichts als die große Bildungsfähigkeit dieser Rasse; sie nützt nicht ihm noch den Völkern, unter denen er wohnt ...
Der Zitatenhagel kam strichweise; bald lichtete er sich, bald ward er wieder stärker. Und nun kam schließlich ein zitatloses Argument. »Aber was kommt dabei heraus? Abfall! Gottlosigkeit! Zuerst zu fromm und dann ganz gottlos! Wenn ein Chassid aufhört, es zu sein, was wird er? Ein ›Meschumed‹ (Abtrünniger)! Ißt Schweinefleisch! Oder Braten und Milchreis von derselben Schüssel. Aber Gott wird wissen, was er mit den Hunden zu tun hat, welche von dem Glauben abfallen, in dem sie geboren sind. Mit allen! ... das heißt« – er stockte und fuhr dann zögernd fort – »hm, mit allen? ... Ich weiß nicht, da fallen mir diese Leute ein ...«
Er verstummte und starrte nachdenklich vor sich hin.
»Welche Leute, Nüssan?«
»Hm – es ist mir nur so eingefallen, weil wir heute an einem solchen Hause vorbeifahren müssen ... Ich meine die ›Gezwungenen‹ ...«
»Die Gezwungenen?!« ... Ich dachte an eine neue Sekte. Es ist sonst im Osten just keine große Bewegung der Geister, aber in Glaubenssachen ist dort sehr häufig eine sonderbarliche Neugeburt zu verzeichnen. »Sind es Christen oder Juden?«
»Nicht Christen noch Juden, sondern eben ›Gezwungene‹. O Herr, das ist ein großes Elend! Und ein großer Frevel! Unsere Kinder wenigstens werden nichts mehr davon wissen, denn neue Opfer kommen nicht hinzu, und auf den Ehen dieser Menschen lastet ein Fluch: Sie bleiben unfruchtbar. Aber was rede ich nur! – Es ist kein Fluch, sondern ein Segen, eine Barmherzigkeit Gottes! – Soll sich das gräßliche Elend auch noch vererben? ... Die ›Gezwungenen‹ haben keine Kinder; Gott weiß, was er will! ... Aber man soll nicht davon reden; ich Tor, ich Sünder, was schwatze ich da! ...«
Und er hieb grimmig auf die Pferde ein, daß der Wagen ruckweise weiterflog. Ich tat keine Frage mehr, ich kenne diese Leute; was sie für eine Sünde halten, tun sie doch nicht; um keinen Preis.
Aber ich sollte doch noch am selben Tage von den Leuten hören, denen Gott seine Barmherzigkeit erweist, wenn er sie einsam dahinsterben läßt ...
Wir fuhren weiter gegen Westen, immer der Sonne entgegen, durch das waldreiche, sanft gewellte Wiesenland, welches zwischen den grauen, abenteuerlich geformten Kalkfelsen des Dniestertales und dem schwarzen fetten Ackerland der Ukraine liegt. Die Landschaft ist spärlich bewohnt und schlecht bebaut; man kann stundenlang fahren, ohne ein Haus zu gewahren, einen Acker oder sonst eine Spur der Menschenhand, außer der Straße da, welche auch nicht danach aussieht, als ob sich der Menschen Hand viel mit ihr beschäftigte. Kamen wir an eine besonders schlechte Stelle, so stiegen wir aus und gingen neben den Pferden her, und Nüssan fluchte jüdisch, der Landmann russinisch und ich deutsch. Dann setzten wir uns in den Wagen und fuhren schweigend weiter.
Als uns die Sonne zu Häupten stand, machten wir in einer Schenke Rast, welche am Rande eines meilenweiten Forstes lag. Diese Wälder gehören einem Potocki, ich glaube dem Grafen Adam, dem ehemaligen österreichischen Minister. Das ist ein guter Wirt. Auch dieser Forst zeigte Spuren von Kultur, und die Schenke war in gutem Bestand.
Freilich sah es drinnen ebenso wüst aus wie in allen diesen »Karczmas«. Aber daran war nicht der Graf Adam schuld, sondern die Wirtsleute, die da hausten. Und vielleicht auch nicht diese Leute, sondern die sonderbaren Reinlichkeitsbegriffe des Ostens. Tout comprendre, c'est tout pardonner; es hat mich sehr betrübt, daß die Wirtin, ein schönes, üppiges, junges Weib, sich offenbar nicht alle Tage das Gesicht wusch, aber grollen konnte ich ihr deshalb nicht.
Außer dieser Frau waren noch vier lebendige Wesen in der großen Schenkstube mit den graugrünen Wänden: ein Paar Besitzer unsterblicher Seelen und ein Paar ohne solche. Zwei Viehhändler, ein Moskowiter und ein Kleinrusse, und ihre Köter. Die Köter würgten einander, und die Herren taten dasselbe. »Du Russe!« rief der eine. »Du Russine!« rief der andere, und das in einem Ton, als wären dies die größten Schimpfwörter.
Das junge Weib saß schläfrig hinter der Schenkbarre und schaute dem Streit zu. Ihm war die Sache jedenfalls nicht so interessant, als sie sicherlich einem slawischen Bruder aus Österreich gewesen wäre. Ich glaube, Hunde und Katzen haben einander lieber als die einzelnen slawischen Stämme in Rußland.
Durch unseren Eintritt nahm der Kampf eine neue Wendung. Der russinische Landmann, der mit uns gekommen, fragte nicht erst, wer im Rechte war, sondern warf sich auf den Großrussen und begann dessen hintere Partien kräftig zu gerben. Der Moskowiter, so zwischen zwei Feuer geraten, zog sich schleunigst in eine Ecke zurück und bombardierte seine Gegner nur noch mit den ehrenrührigsten Ansichten über ihre Nationalität und über ihre – Mütter. »Du Sohn einer Hündin!« Das war noch das relativ Sanfteste, was er hinüberrief. Auch die Russinen sprachen mit großer Sicherheit ihre Ansichten über die ihnen doch gewiß persönlich unbekannte Gebärerin ihres Gegners aus. Aber schließlich knurrten beide Teile nur noch leise und ihre Köter desgleichen.
Ich verständigte mich mit der Frau über mein Mittagessen, oder vielmehr: ich versuchte dies, denn sie verstand mich nicht und ich sie nur sehr schwer. Die Juden Südrußlands sprechen freilich auch noch Deutsch, aber das ist nicht bloß von der Sprache Luthers und Lessings, sondern auch von dem Jargon verschieden, welchen die Juden Galiziens und Rumäniens sprechen. Eine Menge slawischer Wörter ist eingewoben, und eine fremdartige Aussprache macht das Ganze fast unverständlich. Ich setze als Sprachprobe die Antwort der Wirtin möglichst getreu hierher. » Rajd pomale; Kardunisch her jech swair. Jech ob nor jajzis w dome in maith. Efscher zan impes jajisnice in potem brutne zjwilis.« Das heißt zu Deutsch: »Redet langsam (slawisches Wort); Deutsch (›Kardunisch‹, d. h. die Sprache, die hinter dem Kordon Grenze gesprochen wird: in Österreich also die deutsche Sprache) verstehe (»höre«) ich schwer. Ich habe nur Eier im Hause (Slawisch) und Met. Vielleicht zum Imbiß Eierspeise und später gebratene Zwiebel.« Ein Satz, der sich dem Hochdeutschen mehr nähert als der vorstehende, dürfte sich aus diesem maßlos korrumpierten Jargon kaum zusammenstellen lassen.
Auf »brutne ziwilis« glaubte ich verzichten zu sollen und begnügte mich mit »jajisnice in maith«. Die schöne Frau setzte sich zu mir und suchte den Gast zu unterhalten. Da auch sie »pomale« sprach, so erriet ich, was sie mir mitteilte. Ihr Gatte sei sechzehnjährig und derzeit noch in der Talmundschule, beim Rabbi von Belz. Die Hochzeit habe vor vier Jahren stattgefunden, sie sei damals siebzehn Jahre alt gewesen. Hier, bei den Schwiegereltern, habe sie es sehr gut und bedaure nur ihren armen Mann, der sich noch immer, fern von ihr, in der Schule so sehr anstrengen müsse. Vielleicht klingt dies dem Leser unglaublich ins Ohr. Aber es gibt unter den Juden des Ostens manche ähnliche Ehe ...
In diesem Hause war es, wo ich dem ersten »Gezwungenen« begegnen sollte.
Wir hatten im Plaudern das Rollen eines Wägelchens überhört, welches langsam vor die Schenke gefahren kam. Erst als es hielt, blickten wir auf. Es war ein ärmlicher Bauernkarren, auf dem ein Fäßchen und ein Korb standen. Ein magerer Klepper zog mühsam das leichte Fuhrwerk. Ein Bauer lenkte es, vor dem Tor sprang er ab.
Die junge Wirtin erhob sich hastig. »Was will er?« flüsterte sie. Eine leichte Blässe jagte ihr über die Wangen. Noch auffallender benahm sich mein Kutscher. »Herr, Herr!« rief er mich laut, fast ängstlich an. Und dabei streckte er die Hand gegen die Tür vor, als wollte er sich eine nahende Gefahr vom Leib halten.
»Was habt Ihr?« fragte ich erstaunt. Aber er schüttelte nur heftig den Kopf und starrte dem Eintretenden entgegen.
Es war dies ein ältlicher Bauer, gekleidet wie alle russinischen Landleute. Von dem Gesicht konnte ich nicht viel sehen, der Strohhut beschattete es.
»Wirtin«, wendete er sich an die junge Frau, »möchtet Ihr mir etwas abkaufen? Ich habe alten Weichselschnaps und Holzlöffel, Holzschüsseln, Pfefferbüchsen, Nadelbüchsen, Salzschalen, Holzbecher – eine große Auswahl, gedrechselt oder geschnitten, gutes hartes Holz, alles sehr billig ...«
Fast flehend sagte er dies, aber langsam und ohne den Blick zu erheben. An seiner Aussprache war leicht zu merken, daß er kein Russine war, sondern ein Pole. Denn er sprach immer statt des »h« ein »g« und verschluckte die Endvokale.
Die Frau blickte ihn scheu an. »Ihr wißt, mein Schwäher hat es verboten«, sagte sie zögernd. »Wegen Eurer Frau ... Aber er ist nicht zu Hause –«
Sie stockte und wendete sich zum Kutscher: »Reb Nüssan, werdet Ihr mich nicht verraten? Ihr kommt häufig des Weges ...«
Der »Misnagid« zuckte die Achseln und wendete sich ab. »Tut, was Ihr wollt«, brummte er grimmig.
»Dann«, sagte die Frau hastig zu dem Bauer, »dann bringt mir nur eine Schüssel und zwölf Löffel. Ich will dem Schwäher schon was aufbinden ...« Und als der Mann gegangen war, seinen Korb zu holen, fuhr sie fort: »Ihr dürft es mir nicht übelnehmen, Reb Nüssan. Es sind gar so arme Leute.«
»Freilich! Sehr arme Leute!« erwiderte dieser milder. »Im Leben Hunger und Elend! Und im Tode die Hölle! Und alles unverdient!«
Aber da stand schon der Mann mit seinem Korb wieder in der Stube. Die Frau wählte, feilschte und bezahlte endlich die wenigen Kopeken.
Ich trat heran und besah mir die Ware; es waren sehr sauber geschnitzte Sächelchen darunter.
»Ich habe auch Zigarrendosen«, sagte der Mann und zog demütig den Hut.
Aber sein Antlitz war mir vorläufig interessanter als seine Ware. Man sieht selten solche Züge; so viel Leid auch auf Erden wühlen mag, man sieht sie selten. Auf diesem blassen, verhärmten Gesichte lag düsterer Trotz wie eingemeißelt, und die Augen hatten einen Blick, der unwillkürlich ans Herz ging; müd, fast starr, und doch voll leidenschaftlichster Trauer ...
»Sie sind ein Pole?« fragte ich.
»Ja – aus Litauen.«
»Aber Sie wohnen hier in der Gegend?«
»In der Dettimer Schenke; acht Werst von hier. Ich bin dort Wirt.«
»Und daneben Drechsler?«
»Man muß sich helfen, wie man kann. Wir haben selten Gäste im Hause.«
»Ihre Schenke liegt abseits?«
»Dicht an der Hauptstraße, Herr! Er war einst das beste Wirtsgeschäft zwischen Bug und Dniester. Aber bei uns kehren die Fuhrleute nicht gern ein ...«
»Warum nicht?«
»Weil – weil sie es für eine Sünde halten. Besonders die Juden.« Und hastig fügte er hinzu: »Wenn Sie etwas kaufen wollen – diese Dose hier ...« Das hübsche Büchschen, welches er mir anbot, liegt vor mir, während ich dieses schreibe. Auf dem Deckel ist die Ansicht eines stattlichen ländlichen Hauses eingeschnitten. Auch heute freut mich die schöne Arbeit, damals aber überraschte mich diese Feinheit der Ausführung so, daß ich ungläubig ausrief: »Und das haben Sie selbst gemacht?«
»Ja – alles, mit Drechselbank und Messer.«
»Dann sind Sie ja ein Künstler!« rief ich. »Wo haben Sie das Holzschneiden gelernt?«
»In Kamieniec-Podolski.«
»Auf der Festung?«
»Ja. Von einem Mitgefangenen, während des Aufstandes von achtzehnhundertdreiundsechzig.«
»Sie waren unter den Insurgenten?«
»Nein. Aber man fürchtete, ich könnte zu ihnen gehen. Darum schleppte man mich und die anderen ›Gezwungenen‹ auf die Festung, als der Aufstand losbrach, und ließ uns erst frei, als alles vorbei war.«
»Ohne Veranlassung?«
»Ohne die geringste. Ich bin nicht bloß heute ein gebrochener Mann, ich war es schon damals. Mir hat, noch als ich ein Jüngling war, die Arbeit in den sibirischen Bergwerken das Mark in den Knochen vergiftet. Auch hatte ich während der fünf Jahre meiner Ansiedlung – ich bin seit achtzehnhundertachtundfünfzig Wirt in jener Schenke – nie den geringsten Grund zum Verdachte gegeben. Aber ich war ein ›Gezwungener‹, und das genügt ...«
»Ein ›Gezwungener‹ – was heißt das?«
»Nun, ein Mensch, der eben zu allem gezwungen wird, was andere frei wählen dürfen: Wohnort, Gewerbe, Gattin und Glauben!«
»Entsetzlich!« rief ich. »Und Sie haben sich gefügt?«
Ein bitteres Lächeln zuckte um seinen Mund. »Geht Ihnen das so nahe?« fragte er. »Wir ertragen sonst sehr leicht die schwersten Leiden, welche andere erdulden.«
»Das sagt Larochefoucauld«, meinte ich erstaunt. »Haben Sie ihn gelesen?«
»Ja, ich habe die französische Literatur einst sehr geliebt. Aber verzeihen Sie meine Bitterkeit. Ich bin an Teilnahme so wenig gewöhnt – und was könnte sie mir auch jetzt noch nützen?« Er starrte schmerzlich vor sich hin und ich schwieg gleichfalls; ich fühlte wohl, daß diesem Menschen gegenüber irgendein Wort leichten Bedauerns eine Roheit wäre. Es war eine peinliche Pause.
»Haben Sie nach einer Vorlage gearbeitet?« fragte ich endlich und deutete auf den Schnitt des Deckels.
»Nein – aus der Erinnerung.«
»Ein sonderbarer Baustil!«
»So sind alle Herrenhäuser in Litauen. Nur der alte Wartturm ist auffällig. Es war eben ein sehr altes Haus.«
»War? Steht es heute nicht mehr?«
»Es ist niedergebrannt, schon vor sieben Jahren. Die Russen haben es ausgeplündert und angezündet. Sie ahnten nicht, daß sie da selbst gegen ihr Eigentum wüteten. Das Haus war seit langen Jahren konfisziert und Krongut seit achtzehnhundertachtundvierzig.«
»Und Sie haben die Umrisse noch so fest im Gedächtnisse?«
»Natürlich! Denn es ist mein Geburtshaus, ich bin da aufgewachsen und habe es bis zum achtzehnten Jahre selten verlassen. Dergleichen vergißt man nicht. Es sind über zwanzig Jahre her, aber in all diesen Jahren kein Tag, wo ich nicht an das Haus gedacht hätte. Ich wußte wohl, daß meine Mutter tot sei und meine Cousine schlimmer als tot. Ich wußte: das alte Haus steht öde, nur der russische Verwalter haust darin, und wenn er Packleinwand braucht, so nimmt er eines der Familienbilder von den Wänden. Aber ich habe mich doch nach dem alten Hause gesehnt – weiß Gott, wie sehr! Und als es niederbrannte – ich hätte mich ja eigentlich freuen sollen, daß es nun auch der Feind nicht mehr hatte – und dennoch, mir kamen Tränen, als ich es erfuhr. Die ersten Tränen seit langer Zeit und wohl auch meine letzten. Mich kann nichts mehr treffen ...«
Ich schreibe, was er sagte. Aber wie er's sagte, kann ich nicht schreiben. Ich glaube, dem härtesten Menschen mußte es ans Herz gehen.
Mein Nüssan war kein weicher Mann. Aber dennoch war er leise herbeigeschlichen und nickte nun ernst und wehmütig mit dem bärtigen Haupte.
»Erlauben Sie, Pani Walerian«, sagte er, »auf Ehre, es ist eine traurige Geschichte. Gewiß, sehr traurig. Will ich Ihnen aber doch etwas sagen. Nämlich, sehen Sie mich an. Ich – das heißt: nicht ich, Gott behüte, aber sagen wir: ich – fahre allein durch einen großen Wald. Da kommt ein Mann. Schimpft mich. Will mich prügeln. Sagt: ›Du Judenhund!‹ Macht sich daran, mir den Bart auszureißen. Werde ich es mir gefallen lassen? Nein! Sondern? Ich werde mich wehren! Gut! Wenn aber hundert solche Leute kommen? Werde ich mich mit ihnen stellen? Verrückt möcht' ich sein! Sondern ich werde sie im stillen verfluchen bis in ihres Ururgroßvaters Knochen, aber laut werde ich sagen: ›Meine Herren Wohltäter! ›Herr Wohltäter‹ ist eine Höflichkeitsfloskel des Ostens, etwa so, wie man in Wien jedermann adelt. Ein schäbiger Judenbart ist wirklich gar nicht wert, von Ihnen ausgerissen zu werden!‹ Und werde schauen, im Frieden mit den Hunden auszukommen. Also das ist die ganze Geschichte von Polen. Die ganze Geschichte, das ganze Unglück. Nämlich: der Pole ist nicht so klug wie ich. Nämlich: wäre er so stark wie der Russe – prügle dich in Gottes Namen! Aber der Russe ist hundertmal stärker – also, Pani Walerian, was reizen Sie ihn, was stellen Sie sich mit ihm?«
Ich mußte lächeln. Aber der arme »Gezwungene« lächelte nicht und würdigte diese Abhandlung über praktische Politik überhaupt keiner Antwort. Nur zu mir gewendet sagte er nach einer Pause: »Aber ich habe mich nicht einmal ›mit dem Russen gestellt‹! Ich habe nur die Strafe des Verbrechers, ohne das schöne Bewußtsein, wirklich ein ›Verbrecher‹ gewesen zu sein und alles für mein Volk gewagt zu haben. Ich war so jung, als sie mich nach Sibirien schleppten, wenig über neunzehn! Mein Vater war früh gestorben, ich hatte die Aufsicht über das kleine Gut. Dann war eine Cousine im Hause, ein schönes, sechzehnjähriges Mädchen – wahrhaftig, ich dachte nicht an Politik! Höchstens, daß ich polnische Tracht trug, unsere Dichter las, besonders Mickiewicz und Slowacki, und in meinem Zimmer ein Bild des Kosciuszko hatte. Und um solcher Hochverrätereien willen hätten mich selbst die Russen in normalen Zeitläuften nicht zertreten. Aber es war im Jahre achtzehnhundertachtundvierzig, und Nikolai Pawlowitsch hatte nicht umsonst geschworen: ›Und wenn ganz Europa brennt, ich halte mein Land feucht, daß kein Funke aufkommt!‹ Und er hielt es feucht – durch Ströme von Blut und Tränen! Wo ein junger polnischer Edelmann lebte, der allenfalls unter Umständen Revolutionär hätte werden können, da ward Haussuchung gehalten, und fand man zum Beispiel nur ein einziges verbotenes Buch, so hieß es: ›Pascholl, nach Sibirien!‹ Auch mit mir kam es so, blitzschnell, sinnverwirrend – ich war schon in Sibirien und glaubte noch immer nicht an mein Elend! Ach, mir war's auf der ganzen Reise, als rotierte ein Kreisel in meinem Gehirn! Dann hoffte ich, sie müßten mich freilassen, denn ich war ja unschuldig, und damals« – er lächelte; es war ein entsetzliches Lächeln –, »damals glaubte ich noch an Gott! Als ich zu hoffen aufgehört, begann ich zu rasen, und schließlich ward ich stumpf. Es war ein entsetzlicher Zustand, oft war wochenlang alle Erinnerung in mir getilgt, höchstens wußte ich noch, wie ich hieß! Das ist buchstäblich wahr, Herr – dieses Sibirien ist eine ganz besondere Gegend! ...«
Der Mann war auf eine Bank gesunken, und seine Arme lagen ihm laß im Schoße – so furchtbar müde hab' ich all meine Tage kein Menschenantlitz gesehen. Endlich fuhr er fort: »Zehn Jahre waren so verflossen, wenigstens sagten es mir die Leute; ich hatte es längst aufgegeben, die Tage meines Jammers zu zählen. Wozu auch? Ich war schon so weit herabgekommen, daß ich nicht einmal mehr Mitleid mit mir selbst hatte. Da ward ich eines Tages mit einigen Gefährten zum Inspektor beschieden: Wir seien begnadigt und dürften Kolonisten in Südrußland werden. Des Zars Gnade werde jedem einen Wohnort zuweisen, ein Gewerbe und ein Eheweib, gleichfalls eine Begnadigte. Nur müßten wir uns natürlich zur griechisch-orthodoxen Kirche bekehren. Daran lag uns wenig, Herr, schrecklich wenig! Wir willigten ein, trunken vor Glück – aus Sibirien geht man gerne fort, gleichviel wohin, selbst in den Tod geht man gerne. Und wir hatten ja eine Gnade erfahren! Alexander Nikolajewitsch ist ein gütiger Herr: In Sibirien sind die Bergwerke überfüllt und in Südrußland die Steppen leer! Oh, ein Menschenfreund, ein Beglücker – decus et deliciae generis humani! Übrigens, vielleicht tue ich ihm unrecht! ...
Wir traten die ungeheure Reise an und fuhren langsam gegen Südwest – nach acht Monaten waren wir in Mohilew. Da hielten sie uns nur noch in gelinder Haft und ließen vor allem den Popen auf uns wirken. Das war sehr schnell überstanden. Eines Morgens trieben sie uns in einen Saal zusammen, wohl an die hundert Männer und Frauen. Dann kam der Pope, ein baumstarker, schmutziger Mensch, der sich offenbar zu dem heiligen Werke sehr gestärkt hatte, denn er roch auf zwanzig Schritte nach Schnaps und hielt sich mühsam auf den Beinen. ›Ihr Lumpenhunde!‹ grölzte er. ›Ihr Läuse der Menschheit, ihr sollt jetzt rechtgläubige Christen werden, aber viele Mühe werde ich mir mit euch wahrhaftig nicht geben. Denn was meint ihr, was ich per Kopf kriege? Zehn Kopeken! Da soll ein Hund Missionär sein – ich tue es heute wirklich zum letztenmal! Zwar hat unser Väterchen Alexander Nikolajewitsch einen Rubel für den Kopf in den Tarif einstellen lassen, aber der Direktor, der Schuft, stiehlt neunzig Kopeken, und mir läßt er einen Zehner! Für heute habe ich es aber noch übernommen, weil man mir gesagt hat, daß ihr viele seid! Also hört! Ihr seid bis jetzt Katholiken, Protestanten, Juden! Das ist sehr gefehlt! Denn jeder Jude ist eine Wanze, jeder Protestant ein Hund und jeder Katholik ein Schwein! Das sind sie im Leben. Was aber sind sie im Tode? Aas, ihr lieben Leute, Aas! Und wird sich Christus ihrer am Jüngsten Tage erbarmen? Wahrhaftig nein! Wird ihm nicht im Traume einfallen! – Und bis dahin? Die Hölle! – Also, liebe Leute, wozu habt ihr das nötig? Bekehrt euch! Wer also zustimmt, ein rechtgläubiger Christ zu werden, der soll jetzt das Maul halten! Wer sich muckst, kriegt die Knute und muß nach Sibirien zurück! Also, liebe Brüder und Schwestern, wollt ihr rechtgläubige Christen werden?‹ Wir schwiegen. ›Gut!‹ fuhr der Pope fort. ›Nun paßt auf! Wer ohnehin schon Christ ist, braucht bloß die Schwurfinger aufzuheben und mir das Glaubensbekenntnis nachzubeten. Das wird schnell gehen. Aber mit den verdammten Juden hat man immer einen besonderen Verdruß, so auch hier; die Juden muß ich also vorher noch taufen. Juden, treten vor – das andere Lumpenpack kann stehenbleiben, wo es eben steht!‹ Und in dieser erhebenden Weise vollzog sich die Zeremonie!«
Der Erzähler hatte dies alles vorgebracht, ohne eine Miene zu verziehen, und auch mir kam kein Lächeln auf die Lippen, so drastisch auch der Bericht war.
»Am nächsten Tage«, fuhr Walerian fort, »folgte der zweite Akt: die Wahl des Berufes. Sie war ebenso spontan wie jene des Glaubens, nur daß man hier notgedrungen doch etwas mehr individualisieren mußte. Drei junge Gouvernementsbeamte hatten die Aufgabe, unsere Wünsche zu Protokoll zu nehmen und sie soweit zu berücksichtigen, als dies ›im öffentlichen Interesse ratsam und möglich‹. Der Mann, vor den ich gerufen wurde, war besonders jung, überdies von jener Sorte, die noch mit grauen Haaren bübisch bleibt. Ein äußerlich sehr feines, innerlich entsetzlich rohes Bürschlein, borniert und grausam, ohne eine Spur menschlichen Empfindens. Er machte sich einen Spaß mit uns, einen köstlichen Spaß, der gewiß auch seine Kameraden und seine Mätresse sehr erheitert hat, wenn er es ihnen am Abend erzählt. Der Bube erkundete auf das sorglichste unsere Wünsche und ordnete dann just das Entgegengesetzte an! Da war eine vornehme Frau unter uns, eine Polin von uraltem Geblüt, eine edle, blasse, unglückliche Frau, die in ihrer hilflosen Gebrochenheit dem Rohesten Respekt und Mitleid einflößen mußte. Die Frau war zu alt, um an einen ›Gezwungenen‹ verheiratet zu werden, sie mußte selbst einen Erwerb wählen und bat, als Lehrerin in einem Institut für Offizierstöchter verwendet zu werden; es war auch dringender Bedarf nach solchen Kräften. Aber der junge Herr beorderte sie als Wäscherin in die Garnisonskaserne von Mohilew. Da war ein alter Jude, der nach Sibirien geschickt worden, weil er bei Eydtkuhnen verbotene Bücher über die Grenze geschmuggelt. Er hatte einst eine Buchdruckerei besessen und war auch des Handwerks völlig mächtig. Vielleicht könne er in einer kaiserlichen Druckerei verwendet werden, bat der Greis und hatte daneben nur den flehentlichen Wunsch, in einer Ortschaft leben zu dürfen, wo es wenige oder gar keine Juden gebe. Denn er hatte ja nur gezwungen seinem Glauben entsagt, an dem er mit allen Fasern seiner Seele hing, und zitterte vor dem Gedanken, daß ihn seine ehemaligen Glaubensgenossen nun doch als einen Sünder betrachten und verabscheuen würden. Der junge Beamte nahm dies gewissenhaft zu Protokoll und machte den Mann zum Polizeiagenten in Miaskowka, einem kleinen Städtchen im Gouvernement Podolien, welches ausschließlich von Juden bewohnt wird. Da war ein Schulmeister aus Litauen, ein hektischer, todkranker Mensch, welcher auf den Knien eine letzte Gnade erflehte: irgendwo auf einem Dorfe ruhig sterben zu dürfen; die Landluft tue seiner wunden Brust wohl. ›Natürlich, das ist ein bescheidener Wunsch‹ sagte der nichtswürdige Bube und schickte ihn als Aufwärter in ein Inquisitenspital. Brauche ich ihnen da erst noch zu erzählen, wie es mir erging? Auch ich ließ mich von der heuchlerischen Miene des Schuftes täuschen und offenbarte ihm meine Bitte, irgendwo als Meier auf ein ganz abgelegenes Krongut zu kommen, wo ich mit möglichst wenig Menschen zu verkehren brauchte. Und darum wurde ich Schnapswirt an einer vielbefahrenen Heerstraße ...«
Der Unglückliche sprang auf und ging erregt in der Stube auf und ab.
»Aber nun kommt das beste!« rief er verzweiflungsvoll. »Der dritte Akt: die Wahl der Gattin!«
Doch als er nun wieder ansetzte, um zu sprechen, da konnte er nicht, die wildschmerzliche Entrüstung schnürte ihm die Kehle zu. Er schwieg, aber eine jähe, schwere Träne jagte über seine Wange herab und kündete, wie bitter er noch in der Erinnerung jenen schmachvollen Moment durchlitt.
»Es war entsetzlich!« stöhnte er.
Endlich faßte er sich.
»Herr! Herr!« rief er. »Seit die Sonne aufgeht, hat sie manches entsetzliche Spiel beschienen, welches der Mächtige mit dem Ohnmächtigen getrieben, aber eine wüstere Farce als die Art, wie wir zusammengekoppelt wurden, hat sie wohl noch nie gesehen. In meiner Jugend habe ich einmal in einer Geschichte der Französischen Revolution gelesen, wie Carrier in Nantes die Royalisten mordete. Er ließ den erstbesten Mann an irgendein Weib binden und auf Kähnen die Loire hinabführen. Mitten im Fluß ward die Falltür am Boden aufgezogen, und die Geknebelten verschwanden in den Wellen. Aber dieser Wüterich war ein Engel im Vergleich zu den Beamten des Zars und die ›republikanischen Hochzeiten‹ eine Wohltat im Vergleich zu jenen, die man uns schließen ließ! Denn in Nantes fesselte man die Opfer doch nur zu gemeinsamem Tode, uns aber zu gemeinsamem Leben! ...
Da führten sie uns eines Morgens wieder in jenen Saal, wo wir rechtgläubige Christen geworden. Etwa unser Dreißig waren wir; dann wurden ebenso viele Weiber hineingetrieben. Mit ihnen kam jener Nichtswürdige, der uns in so humaner Weise unseren Beruf angeordnet. ›Meine Damen und Herren‹, begann er näselnd, ›Seine Majestät haben Ihnen allen von Herzen vergeben und wünschen, Sie glücklich zu wissen. Der Einsame ist selten glücklich, und darum sollen Sie heiraten. Jeder Herr hat das Recht, eine Dame zu wählen, vorausgesetzt, daß sie damit einverstanden ist. In Berücksichtigung des Umstandes, daß keiner von Ihnen, meine Herren, in der Lage ist, eine Dame zu erkiesen, die seiner unwürdig wäre – denn auch die Damen kommen sämtlich teils aus den Strafkolonien, teils aus den Korrektionshäusern –, da Ihnen Seine Majestät ferner väterlich einen Nahrungszweig zugewiesen, so können und dürfen Sie bloß Ihr Herz sprechen lassen. Hier ist also das Ideal verwirklicht, welches unserem sehr berühmten Landsmann Alexander Herzen vorgeschwebt. Meine Damen und Herren! Sie sind in der Lage, den Traum der sozialistischen Normalehe zu verkörpern! Also ans Werk, verkörpern Sie! Und da ferner jede echte Liebe rasch entglimmt, »jäh wie der Blitz und sanft wie Frühlingssäuseln«, wie unser Lermontow singt, so halte ich eine Stunde Zeit für genügend, um Sie wählen zu lassen. Bedenken Sie auch, daß Ehen im Himmel geschlossen werden, und vertrauen Sie getrost Ihrer inneren Stimme. Meine Glückwünsche im voraus, meine Damen und Herren!‹
Dann legte der junge Schurke seine Uhr vor sich hin, setzte sich auf die Estrade und grinste uns schadenfroh mit seinen grünen Fischaugen an. Den vollen Hohn seiner Rede hatten übrigens die wenigsten verstanden, denn wir waren eine sehr bunte Gesellschaft. Unerhört bunt! Die verwegenste Phantasie hätte sich keine grelleren Gegensätze ersinnen können. Da stand neben dem vertierten bessarabischen Hirten, welcher im Rausch einst sein Weib und Kind massakriert, der hochgebildete Gelehrte aus Wilna, welchen der idealste Trieb der Menschenbrust, die Liebe zu seinem Volk, nach Sibirien gebracht. Da stand der abgefeimte Gewohnheitsdieb aus den Moskauer Kaufläden neben dem polnischen Adeligen, der im tiefsten Unglück noch seine Ehre als das Höchste schätzte, und der junge Exprofessor aus Charkow, welchen seine kommunistischen Träume hierhergeführt, neben dem Straßenräuber vom Don, dem Banknotenfälscher aus Odessa, dem betrügerischen Kridatar aus Cherson! Da stand ich und mir zur Rechten ein Deserteur aus Lipkany, zur Linken ein Baschkire, der schon am Fuß des Galgens begnadigt worden, obwohl er einmal eine Judenfamilie in einem Dorfwirtshaus bei lebendigem Leibe rösten geholfen. Eine Gesellschaft, so wahnsinnig wirr zusammengewürfelt, daß es mir noch in der Erinnerung im Hirn wirbelt! Neben dem schönsten Adel der Menschenbrust die niedrigste Verworfenheit, neben der höchsten Bildung die tiefste, die absolut tierische Verkommenheit!
Und die Frauen! Die schamlose Dirne, welche man gern aus der Korrektionsanstalt entlassen, weil sie ihre verworfenen Genossinnen noch verworfener gemacht, neben der unglücklichen Polenfrau, deren reine Seele nie ein Hauch der Gemeinheit vergiftet, deren stilles oder stolzes Glück keine Ahnung eines Kummers getrübt, bis ein Brief, eine Kokarde, eine milde Gabe an einen exilierten Landsmann sie ins Elend gebracht – hierher! Da lehnte die französische Gouvernante, welche mit ihrem jungen Freund, einem Seminaristen, von einer Moskauer Revolution und den ›Vereinigten Staaten von Europa‹ geträumt, neben der Kindesmörderin aus dem russinischen Heidedorf, neben der Diebin aus Mohilew, neben der Geliebten des Straßenräubers aus der Krim. Da drängte sich neben das zarte, jungfräuliche Mädchen, welches kein anderes Verbrechen begangen, als daß es von einer sündigen Mutter in einer Strafkolonie geboren worden, die Gattenmörderin, die Giftmischerin, die infame Kupplerin. Vielleicht waren hier die Gegensätze noch greller, denn nichts ist so gut wie ein edles Weib und nichts so schlecht wie ein verworfenes! ...
Und diese Menschen sollten nun einander heiraten – und eine Stunde Zeit war ihnen gegönnt, sich kennenzulernen und zusammenzufinden! O Herr! Vielleicht begreifen Sie nun, warum es mir die Kehle zusammenschnürte, als ich davon berichten sollte! O Herr, das war der scheußlichste und zugleich sonderbarste Frevel, der je auf Erden geschehen!«
Er verstummte und ging totenblaß, fast zitternd, in der Stube auf und ab. Auch die junge Wirtin starrte wie verloren vor sich hin, und Reb Nüssan hielt das Haupt gesenkt wie ein Mitfühlender.
Dann faßte sich der Unglückliche wieder und fuhr ruhiger fort: »Es wird gewiß ein interessantes Schauspiel gewesen sein, wie wir sechzig Menschen uns in jener Stunde betrugen. Selbst des blasierten Unholds auf der Estrade bemächtigte sich eine fieberhafte Spannung; bald sprang er auf, bald fiel er auf den Stuhl zurück und trommelte mit zitternden Fingern auf das Tischchen. Aber wie es zuging, kann ich Ihnen nicht genau beschreiben – ich bin nicht ganz unbefangen gewesen in jener fürchterlichen Stunde. Nur das weiß ich, daß wir zuerst in zwei Gruppen geballt zusammenstanden, hier die Männer, dort die Frauen, und daß in der ersten Minute kein Blick von einer Gruppe zur anderen flog; kein Blick, geschweige denn ein Wort. Wir starrten alle vor uns hin, als hätte uns der Blitz getroffen, selbst die dumpfsten und frechsten. Eine Stille war im Saal, eine Totenstille, nur zuweilen ein schwerer Seufzer oder ein krampfhaft hastiges Atmen ...
Die Minuten verrannen, gewiß nur wenige Minuten, mich dünkten sie eine Ewigkeit. Da sagte plötzlich eine laute, heisere Stimme: ›Auf, ihr Bursche – es sind ja ganz hübsche Weibsen da!‹ Wir blickten auf; es war jener Moskauer Dieb, ein hagerer, verdorrter Mensch mit dem häßlichsten Gesicht, welches ich je gesehen. Er ging auf die Frauen zu und prüfte in seiner Weise, welche die begehrenswerteste sei. Hier empfing ihn ein derber Stoß, dort ein frecher, einladender Blick, wieder andere, die Besseren, zogen sich zitternd vor ihm zurück. Ihm folgte der Baschkire; wie ein plumpes Raubtier tappste er auf die Weiber zu und grölzte: ,Ich will eine Dicke – die Dickste will ich!' Vor dem wichen aber selbst die Häßlichsten und Frechsten zurück; dieser Freier war gar zu scheußlich. Der dritte war der Kosak vom Don, ein hübscher, schlanker Junge – wie er auf die Weiber zugeschritten kam, tänzelte ihm eine freche Dirne entgegen und warf sich ihm an den Hals, aber er schob sie zurück und ging auf jenes üppige, hübsche Ruthenenmädchen zu, welches ihr Kind gemordet. Die Dirne, die er verschmäht, warf ihm ein Schimpfwort nach und hing im nächsten Augenblick an meinem Hals. Ich schüttelte sie ab, sie wiederholte die Prozedur bei meinem Nebenmann, dem ehemaligen Professor, ohne auch da glücklicher zu sein. Ihr Beispiel wirkte: die Frechen und Verderbten unter den Weibern drehten den Spieß um und suchten uns Männer heim.
Nach zehn Minuten bot der Saal einen ganz anderen Anblick als zuerst: In der Mitte stand ein Haufe Männer und Weiber in eifrigster Unterhandlung, kreischend und schäkernd; ein oder das andere Paar, welches sich bereits gefunden, zog sich in die Fensternischen zurück, und hier und da zerrte ein Mann an einer Unglücklichen, die sich verzweiflungsvoll seinen Armen zu entwinden suchte. In einen Winkel hatten sich jene Frauen geduckt, denen noch ein Hauch von Weiblichkeit geblieben, und in einem anderen Winkel lehnten wir drei, der Exprofessor, Graf S. und ich, die wir uns instinktiv zusammengefunden, und starrten in das wahnwitzige Treiben. Wir dachten nicht daran, auch selber zu wählen – mir mindestens kam dieser Gedanke keinen Augenblick ...
›Noch eine halbe Stunde, meine Damen und Herren‹, scholl die näselnde Stimme unseres Peinigers. ›Noch zwanzig Minuten!‹ – ›Noch fünfzehn Minuten!‹
Aber ich stand still, wie eingewurzelt, und starrte vor mich hin. Fast brachen unter mir die Knie; mein Herz schlug langsam in dumpfen, schweren Schlägen; aber ich rührte mich nicht. Wohl schlug mir, sooft jene Stimme vernehmbar ward, eine wilde, schwere Blutwelle gegen Kopf und Hirn; aber ich tat keinen Schritt, ich wollte nicht. In mir tobte es fürchterlich – der tiefste Ekel, die bitterste Verzweiflung, die wildeste Entrüstung, die vielleicht je ein armes, dunkles Herz durchschnitten! Nein, rief es in mir, noch bin ich ein Mensch, noch muß ich meine Menschenwürde wahren – ich darf nicht auf die Freite gehen, in diesem Saal, unter den Augen jenes Menschen! Das stand fest in mir; aber einen anderen wilden Wunsch und Willen konnte ich kaum zurückdämmen, denn er war fast stärker als ich. Ich wollte mich auf den Peiniger stürzen und ihn erdrosseln ...
Warum ich es schließlich doch nicht tat? Weil ich mein eigenes Leben liebte und nicht am Galgen sterben wollte. Es war die qualvollste Stunde meines Lebens, und doch hatte ich nicht die Kraft, diesen honetten Ausweg, den Selbstmord durch Rache, zu wählen. Ach, Herr, die Quelle des größten Jammers auf Erden ist doch dieser dunkle, heiße Trieb der Erhaltung! Ohne ihn wäre ich heute schmerzlos, seit manchem langen Jahr! ...
So stand ich in meiner Ecke und preßte die Hände auf die Brust und hielt die Bestie in mir gefangen, die Bestie oder – das edlere Teil! Es kam nicht zur Ausführung jenes Gedankens. Aber mein Blick mochte verraten, was in mir tobte. Einmal begegnete er sich mit dem des Unholds, und ich sah, wie das Herrchen zusammenfuhr und ergrünte. Dann, nach einer Weile, blinzelte es scheu und tückisch zu mir herüber. Ich wendete mich ab und drückte die Augen zu.
›Noch fünf Minuten, meine Damen und Herren! Wer es noch nicht getan, wird hiermit gebeten, innerhalb dieser Frist sein Herz zu entdecken. Sonst werde ich genötigt sein, die Herrschaften von Amts wegen zusammenzufügen. Ich werde dies zwar nach bestem Wissen und Gewissen tun, aber Sie sind dabei doch immer von der Gefahr bedroht, statt einer Ehe aus Neigung eine Vernunftheirat zu schließen. Also – vorwärts – verlieben Sie sich!‹
Wieder schlug mir alles Blut gegen das Hirn, aber ich regte mich nicht. Mir war's, als machte ich mich zum Mitschuldigen dieses entsetzlichen Frevels, wenn ich nun in der Tat binnen fünf Minuten ›mein Herz entdeckte‹. Aber da begann ein anderer Gedanke an mir zu rütteln – jäh und übergewaltig: ›Es liegt in deiner Hand, mindestens das Schlimmste von dir abzuwehren! Wer weiß, mit wem dich sonst der Schurke zusammenkoppelt! Wähle selbst, wähle!‹
Ich tat einen Schritt vor ... ich riß die Augen auf ... Aber ich konnte nichts sehen. Wie eine rote Wolke lag es mir vor den Augen – mein Blut war so wild empört! Ich taumelte vorwärts – ich suchte die Gestalten um mich zu unterscheiden ...
O Herr«, schrie der Erzähler plötzlich gellend auf, »welche Szenen habe ich da gesehen! ... Ich bin nicht feig, aber ich ... ich wage es nicht, davon zu sprechen ...
So irrte ich verzweifelnd umher – kaum zwei Minuten, aber ich könnte tagelang davon berichten, was mir während der Zeit durch Herz und Hirn gegangen, und erzählte es doch nicht aus ... Da sah ich in einer Ecke eine Ohnmächtige lehnen, ein junges, schmächtiges Geschöpf, mit blondem Haar – ich habe später erfahren, daß es jenes vaterlose Mädchen gewesen, welches eine verworfene Mutter in einer Strafkolonie geboren. Ein plumper Gesell mit listigen, verschmitzten Zügen, der Banknotenfälscher, beugte sich über die Hingesunkene, suchte sie in seinen Armen aufzurichten und bedeckte den bleichen Mund mit gierigen Küssen. Ich sah es, und mir war's, als führe mir ein Blitz durchs Hirn und erleuchtete es. Ich sprang auf den Menschen zu, riß ihn empor, gab ihm einen Faustschlag auf den Magen, daß er zehn Schritte weit flog, und nahm die Ohnmächtige auf meine Arme wie ein Kind. Ich war entschlossen, sie bis auf den letzten Blutstropfen zu verteidigen.
Aber es folgte kein weiterer Angriff. Wohl raffte sich der Fälscher auf und wies mir die Fäuste, aber er hatte nicht den Mut, näher zu kommen. Wie er so dastand, hängte sich ihm ein Ersatz an den Hals, ein ekler Fettklumpen, eine Mädchenhändlerin. Er schaute sie etwas verdutzt an, ließ sich aber ihre Freundlichkeiten gefallen ...
›Meine Damen und Herren! Die Uhr schlägt keinem Glücklichen – aber ich muß Sie doch bitten, die Erklärung entgegenzunehmen, daß die Stunde abgelaufen. Ich bitte die einzelnen Paare vorzutreten und mir ihre gegenseitige Neigung zu gestehen. Ich weiß, das tut tiefe, keusche Liebe nicht gern – ich bitte Sie um Entschuldigung, aber mein Amt legt mir diese Pflicht auf. Vor allem bitte ich jene Herren dort, mit ihren Damen vorzutreten.‹
Er deutete auf mich und den Fälscher. Wieder krampfte sich mir das Herz in der Brust zusammen. Aber ich trat vorwärts, meine Last auf den Armen.
›Haltet euren Kantschu bereit!‹ sagte der Schurke zu den Kosaken, die um ihn standen.
Dann wendete er sich zu mir: ›Mein Herr Wohltäter, ist es Ihre feste Absicht, die Dame hier nicht bloß in diesem Saal, sondern auch durchs ganze Leben auf Ihren Armen zu tragen?‹ Ich nickte. ›Und Sie, mein verehrtes Fräulein?‹ Aber die Unglückliche lag in tiefster Ohnmacht. ›Sie ist bewußtlos‹, stammelte ich. ›Dann tut es mir leid, mein Herr Wohltäter‹, fuhr der Beamte fort, ›aber ich muß Ihnen leider die Einwilligung verweigern. Im Interesse der Humanität und Menschenwürde muß ich darauf bestehen, daß der beiderseitige Wille durch ein lautes, vernehmliches »Ja!« deklariert werde. Da ich übrigens nicht aus Neugierde, sondern teils aus Pflicht, teils aus rein menschlicher Anteilnahme den Vorgängen in diesem Saal mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt bin, so kann ich Sie auf das bestimmteste versichern, daß nicht Sie es sind, dem die Neigung dieser jungen Dame gehört. Ich will damit Ihren persönlichen Vorzügen nicht nahetreten, aber es ist eben einem andern vor Ihnen gelungen, dies Herz sich zuzuwenden – jenem Herrn dort!‹
Er deutete auf den Fälscher. ›Nur im Übermaß des Glücks, von ihm erwählt zu sein, ist die junge Dame vorhin zusammengebrochen. Darum bitte ich Sie, mein Herr Wohltäter, nicht zwei Herzen zu trennen, die sich fest und innig fürs Leben gefunden! Ihnen winkt ein schönerer Ersatz: jene reife, begehrenswerte Schönheit, welche nur widerwillig am Arme Ihres Nebenbuhlers hängt. Also – changez, messieurs!‹
›Hund!‹ schrie ich und wollte mich auf ihn stürzen.
Aber da sauste ein furchtbarer Hieb auf mein Haupt herab. Blutend, bewußtlos stürzte ich nieder ...
Als ich erwachte, ordneten sie eben den Hochzeitszug zur Kapelle. Die Vettel, welche mir der Schurke zugewiesen, kniete neben mir, wusch mir das Blut vom Haupt und hielt mir Essig unter die Nase.
›Du gefällst mir‹, krächzte sie, ›du sollst es gut bei mir haben!‹ Sie richtete mich empor, legte meinen Arm in den ihrigen und zerrte mich vorwärts. Ich war noch immer halb betäubt und folgte willenlos. Sie schleppte mich in die Reihe, die sich eben langsam zur Kirche in Bewegung setzte. Ich litt nicht mehr, während ich so hingezerrt wurde – es war zuviel über mich gekommen –, ich hatte kaum mehr die dunkle Empfindung meiner selbst.
Aber während ich mich so mechanisch weiterschleppte, fühlte ich, wie mich eine schwere Hand am Kragen ergriff. ›Bruder‹, grunzte mir eine grobe Stimme ins Ohr, ›deine Dicke gefällt mir. Möchtest du nicht mit mir tauschen? Die meinige ist nicht so dick, aber dafür jünger.‹ Es war mein Hintermann, der Baschkire. Die er vorwärts zerrte, war ein mageres, häßliches, schwarzhaariges Weib, ohnmächtig oder einer Ohnmacht nahe. Der Ausdruck einer grenzenlosen Verzweiflung lag auf ihren Zügen und machte sie vielleicht noch häßlicher. Aber just dies zog mich an. Das Weib, welches so entsetzlich leiden konnte, hatte doch mindestens ein Herz, war doch mindestens nicht ganz verderbt, und darum – gleichviel, was sie hierhergebracht – meiner doch mehr würdig als die grinsende Vettel an meiner Seite.
Ich rüttelte mich zusammen. ›Abgemacht!‹ raunte ich dem Baschkiren zu ...
Wir überschritten eben die Schwelle der Kapelle, der Zug staute sich einen Augenblick. Wir nutzten den Moment. Wohl krächzte die Vettel auf, aber der Baschkire wußte sie zur Ruhe zu bringen, und als sie ihn näher anschaute, schien er ihr sogar zu gefallen. Das Weib aber, welches nun ich am Arme führte, hatte in seiner dumpfen Verzweiflung den Wechsel wohl kaum bemerkt. So gelang es. Wir wurden getraut. Erst als wir aus der Kapelle traten, wurde unser Peiniger der Änderung gewahr. Dann ließ er mich freilich dafür büßen« – der unglückliche Mann preßte die Zähne aufeinander und wurde noch blasser –, »er ließ mich furchtbar dafür büßen, aber er konnte es nun doch nicht mehr ändern. Der Pope hatte es ja unter Anrufung Gottes ausgesprochen, daß uns nur der Tod noch trennen könne!«
Der Erzähler verstummte.
»Und wer war das Weib, mit dem Sie getraut wurden?« fragte ich endlich.
»Gleichfalls eine Deportierte, welche begnadigt worden. Eine Jüdin, namens Gittel Reismann – sie hatten ihr in der Taufe den Namen Xenia gegeben.«
»Und warum« – eine neue Frage schwebte mir auf den Lippen, aber ich wagte es nicht, sie auszusprechen.
»Was das Verbrechen meiner Frau gewesen? Auch das kann ich Ihnen erzählen, und es ist in ihrer Art eine kaum minder lustige Geschichte als die meine!«
Reb Nüssan hatte bisher still und teilnahmsvoll zugehört. Aber nun, wo von seiner Glaubensgenossin die Rede war, richtete er sich auf und rückte unruhig hin und her. Die Gittel hieß nun Xenia, aber ein jüdisch Kind war sie doch. Es war ihm offenbar peinlich, daß nun ein Christ von ihr sprechen wollte, gleichviel, daß es der eigene Gatte war.
»Pani Walerian!« sagte er und kratzte sich hinter dem Ohr. »Die Geschichte von Polen und wie es Ihnen gegangen ist, das können Sie erzählen. Aber was wissen Sie von der Jüdischkeit? Jüdischkeit ist etwas ganz Besonderes. Verzeihen Sie, Pani Walerian – verstehen Sie denn, warum die Gittel ins Unglück gekommen ist? Mir scheint, das können Sie nicht verstehen!«
»Laßt nur!« wehrte ich ab. »Ich werde es mir schon zurechtlegen.«
Aber Reb Nüssan ließ sich nicht so abweisen.
»Sie?« fragte er. »Verzeihen Sie – aber was für einen Rock tragen Sie da? Einen deutschen Rock! Und haben Sie Schaufäden an der Weste? Verzeihen Sie – aber Sie haben keine. Also – was werden Sie viel von der Jüdischkeit verstehen?«
»Laßt nur!« wiederholte ich. »Ihr dürft ja dann auch sprechen.«
»Dann sprechen? Gut! Im Wagen! Aber kommen Sie in den Wagen! Pani Walerian, leben Sie hundertundzwanzig Jahre und seien Sie gesund und glücklich, aber wir müssen jetzt fort, mein Herr und ich. Denn heute ist Freitag, und in den Sabbat hinein fahre ich nicht, und bis Czapowka haben wir noch acht Werst.«
Und erst als dieser dritte Sturm siegreich abgeschlagen war, konnte Walerian erzählen.
»Vielleicht hat der Jude recht«, begann er, »vielleicht ist wirklich etwas in diesem Schicksal, was sich ein Mensch anderen Glaubens schwer zurechtlegen kann. Denn die Schwesterliebe allein kann es doch wohl nicht gewesen sein, welche dieses junge scheue Geschöpf dazu stählte, in Kampf und Gefahr zu gehen. Auch der Glaube wird da mitgespielt haben. Und dieser Glaube ist so dunkel, so geheimnisvoll! ...
Die Gittel war das Kind eines reichen Mannes in einer Stadt Podoliens, welche fast nur von Juden bewohnt wird, in Belz. Sie werden den Namen gewiß oft gehört haben, es ist eine Art Mekka der Juden in Podolien und Wolhynien, und sie pilgern im Herbst in Scharen dahin, um dort, in der uralten Synagoge, die großen Feiertage zuzubringen. Besonders soll das Gebet am Versöhnungstag, wenn man es in jenem Gotteshaus verrichtet, von aller und jeder Sünde reinigen.«
»Was reden Sie da?« fiel ihm der Kutscher ins Wort. »Verzeihen Sie, aber das verstehen Sie nicht! Die Betschul' in Beiz ist gewiß ein heiliges Haus, aber deshalb ist sie doch auch nur Stein und Mörtel. Nicht deshalb fährt man zu den Feiertagen dorthin, sondern weil in dieser Stadt ein heiliger Rabbi sitzt. Zwar auch nur so ein Chassid, aber doch wirklich ein hochheiliger Mann.«
»Auch die Juden in Belz«, fuhr Walerian fort, »stehen im Rufe besonderer Frömmigkeit, und nirgendwo werden die tausend Vorschriften des Talmuds so ängstlich befolgt und gewahrt. Auch der alte Naftali, der Vater der Gittel, war sehr fromm; er gehörte sogar zu den Frömmsten. Und da er, wie gesagt, auch sehr begütert war, so erfreute er sich großen Ansehens. Die Gittel, sein ältestes Kind, war kaum zehn Jahre alt, als sich schon Bewerber um sie einfanden, wenn nicht zur Heirat, so doch zur Verlobung. Aber Naftali übereilte sich nicht. Er war Witwer und hatte außer der Gittel noch ein Kind, einen Sohn, der um sechs Jahre jünger war. So konnte er seiner Tochter auch eine große Mitgift bestimmen, und darum war ihm kein Freier gut genug. Als die Gittel dreizehn Jahre alt war, traf ihn ein schweres Unglück: er erblindete. Aber dies erschütterte weder seinen Stolz noch sein Gottvertrauen. ›Ich kann doch zufrieden sein‹, pflegte er zu sagen. ›Naftali Reismann tauscht auch als Blinder mit keinem Menschen!‹«
»Verzeihen Sie, aber lachen muß ich!« rief Nüssan. »Hat er sich selbst bei dem Namen genannt, welchen ihm die Christen gegeben haben?! ›Naftali Reismann‹ – es ist ihm gewiß nicht eingefallen! An diesen Namen erinnert man sich wirklich nur, wenn man einen Paß braucht oder – Gott behüte! – zu Gericht gehen muß oder – Gott behüte! – zur Assentierung. Aber sonst? Nie! Sondern er wird gesagt haben: ›Naftali Feigeles‹, weil seine Mutter Feige geheißen hat – oder ›Naftali der Belzer Oscher‹ (Krösus von Belz), denn so hat man ihn genannt –«
»Nüssan«, gebot ich entschieden, »alles übrige im Wagen!«
»Verzeihen Sie, Naftali Reismann, hehe!«
Aber das Lachen klang sehr gezwungen, und grollend schob er sich zur Seite.
»Die Leute fühlten sich als Kinder des Glücks«, fuhr der Pole fort, »und wären es geblieben, läge nicht eben Belz in Rußland. Ihr Unglück kam in der Tat nur aus einer echt russischen Veranlassung. Es geschah dies im Jahre achtzehnhundertfünfzig; die Gittel war damals siebzehn, ihr Bruder Ruben elf Jahre alt. Elf Jahre – das gilt sonst in der ganzen Welt nicht als das militärpflichtige Alter. Im Reich der Knute war es sonst auch nicht der Fall, sondern just eben nur in jenen Jahren. Nikolai Pawlowitsch brauchte Soldaten; beim Löschen des ungarischen Brandes waren viele Ströme Blutes vergossen worden; nun sollte überdies der Türke dran. Man rekrutierte im ungeheuren Reich mit fieberhaftem Eifer. Damals waren Konskription und Dienstzeit noch nicht reguliert. Man ging also sehr einfach zu Werke: Man umstellte das Dorf oder die Stadt, trieb die Jünglinge zusammen, wählte die Tauglichen aus und steckte sie auf Lebenszeit in den Militärrock. Das heißt: den Alternden oder Invaliden ward dieser Rock doch wieder ausgezogen, und sie hatten die freie Wahl, hinter jeder ihnen beliebigen Hecke sich aufzuhängen oder Hungers zu sterben. Kurz: Soldat werden hieß und heißt noch heute in Rußland, bei lebendigem Leibe tot sein. Darum wurde und wird niemand gerne Soldat, wes Standes und Volkes er auch sei, nicht einmal der vertierte moskowitische Bauer, dem doch eine gewisse hündische Anhänglichkeit an den Zar durch dasselbe Mittel beigebracht wird, durch welches man den Jagdhund anhänglich macht: durch den Stock. Aber am bittersten traf jene Maßregel die Polen und die Juden, wenngleich beide aus sehr verschiedenen Gründen. Den Juden war dies Reich nicht aus nationalen Motiven verabscheuenswert, nicht darum der Dienst für den Zar bitterer als der Tod; aber die Juden nehmen überhaupt nicht gern tödliche Waffen zur Hand –«
Doch da war Nüssan wieder da.
»Hören Sie!« sagte er. »Das werde ich doch nicht erst im Wagen sagen, sondern gleich hier, Ihnen ins Gesicht. Was sind Sie? Pani Walerian, ein Pole sind Sie, und darum hassen Sie den Juden. In Sibirien waren Sie, und ein ›Gezwungener‹ sind Sie, aber Pole bleibt Pole. Sie sagen, die Juden sind feig. Kommen Sie her, ich werde Ihnen zeigen, ob ich feig bin! Aber im guten! – Ich werde Ihnen erklären, warum wir nicht gern Soldat werden, besonders bei dem Moskowiter nicht. Erstens, was geht uns der Zar an? Er ist gegen uns, als wären wir Hunde – sollen wir gegen ihn sein, als wäre er unser Vater?! Zweitens, ein Soldat ist kein Jude mehr, er muß christlich essen und selbst am Versöhnungstag exerzieren, so verliert er das Jenseits. Und was hat er in diesem Leben? Er hat es schlechter als ein Hund; er ist tot für seine Verwandten und seine Verwandten für ihn. Aber die Hauptsache, sage ich Ihnen, ist doch: er muß leben, als wäre er kein jüdisch Kind!«
Wieder würdigte Walerian die Rede keines Wortes, den Sprecher keines Blickes.
»Die Juden werden nicht gerne Soldaten«, sprach er weiter, »die Tatsache war auch dem Zar kein Geheimnis. Und er wußte wohl, daß hier jene Mittel nichts nützten, welche er dagegen bei anderen mit Erfolg angewendet. Wohl wurden auch die Judenstädtchen umzingelt, aber man fand die Vögel zum größten Teil ausgeflogen. Das Geld hatte den Schlauen den Weg zu den Regierungskanzleien geöffnet, und sie wußten schon mehrere Wochen vorher, welche Maßregeln man plante. Von den Gefangenen aber machte sich mancher durch Geld wieder los, und was zurückblieb, war armes, schlechtgenährtes, halbverkrüppeltes Gesindel.
Dagegen half, wie gesagt, kein gewöhnliches Mittel, und der Zar wählte ein außergewöhnliches. Es war furchtbar brutal, es sprach aller Menschlichkeit hohn, aber es verbürgte den gewünschten Erfolg. Man fuhr fort, auch auf die militärpflichtigen Juden Jagd zu machen, aber mit noch größerem Eifer griff man auf sieben- bis zwölfjährige Knaben und schickte sie nach der Assentierung in die neugegründeten Soldatenkolonien. Damit war ein Doppeltes erreicht: Man wurde der Knaben leichter habhaft, weil ein Kind schwer aus dem Elternhaus flüchten kann, und man konnte diese verkümmerten Sprößlinge einer weichlichen Rasse zweckmäßig erziehen und willige, robuste Kriegsmaschinen aus ihnen machen. Drakonische Maßregeln gegen die Bestechung förderten die Ausführung. Kurz – der Zar konnte zufrieden sein, obwohl die Sterblichkeit unter den kleinen, bejammernswerten Rekruten schrecklich groß war und nur jeder zweite, oft nur jeder dritte die Kolonie erreichte und heranwuchs. Aber dem beugte man dadurch vor, daß man gleich von vornherein die doppelte Anzahl der Pflichtigen aushob. Ein ganz schlichtes Mittel, und daß dadurch doppelt so viele Existenzen geknickt wurden, als just unbedingt notwendig – was lag daran?!
Kein Wort kann wohl die Verzweiflung schildern, welcher sich damals der polnisch-russischen Judenschaft bemächtigte. Aber es war keine stumpfe Verzweiflung, welche die Hände im Schoß ruhen ließ. Alle Sehnen dieser energischen Volksseele spannten sich; ging es doch um das, was ihnen das Heiligste war, um Gott und ihre Kinder!
Solange die Kinder in Rußland blieben, gab es kein Entrinnen. Denn es war damals in der Geschichte jenes Reiches wohl der einzige Fall, wo selbst der Rubel viel von seiner Allmächtigkeit einbüßte, der Rubel, welcher doch sonst in diesem tüchtigen, sittlichen Staatswesen ein noch absoluterer Herrscher ist als der Zar. Aber wohin mit den Kindern? Nach Österreich, nach Preußen? Beide Staaten lagen damals in den Banden des ›großen Nikolaus‹, des ›Pfeilers der Ordnung‹, und ließen darum an ihren Grenzen von ihren Soldaten und Beamten nicht bloß die eigenen, sondern auch die russischen Polizeigeschäfte verrichten.
So blieb denn Rumänien als die einzige Zuflucht, und bald entwickelte sich längs der Pruthgrenze ein geheimes, verwegenes Treiben. Durch das podolische und bessarabische Gouvernement wurden in den Zwischenräumen von vier bis fünf Meilen Stationen eingerichtet: in einsamen Dorfwirtshäusern oder in einer Kellerei vor der Stadt oder im Vorhof einer abgelegenen Betschule. Gelang es dem jugendlichen Flüchtling, unbehelligt eine dieser Stationen zu erreichen, so war er auch so gut wie gerettet. Denn zwischen diesen Zufluchtstätten bestand ein regelmäßig organisierter Verkehr. Die Knaben blieben den Tag über geborgen und wurden nachts immer um eine Station weiter geführt, gewöhnlich noch überdies mit Tuch umwickelt, als Warenballen. Bei Lipkany war die letzte Station, von da wurden sie auf Kähnen über den Fluß geführt, nach der Moldau, wo ihre Glaubensgenossen sie empfingen und für sie sorgten.«
»Obwohl es fremde Kinder waren«, schaltete Nüssan ein, »und obwohl es schon reichere Leute auf der Welt gibt als moldauische Juden. Wir müssen doch nicht gar so böse Hunde sein, wie die Polen sagen!«
»Auf die Dauer«, fuhr Walerian fort, »konnte es natürlich den Russen nicht entgehen, daß eine geheime Macht ihre Absichten durchkreuzte und ihnen just die besten Bissen entführte. Ein hoher Preis wurde auf die Enthüllung des Geheimnisses gesetzt, aber obwohl vielleicht hunderttausend Menschen darum wußten, so muß man doch der Wahrheit die Ehre geben und konstatieren, daß sich kein Verräter darunter fand. Die Entdeckung wurde zufällig herbeigeführt.«
»Ja, hier ganz in der Nähe«, fiel ihm Nüssan ins Wort. »Der Kutscher hat Roth-Moschele geheißen. Der fährt ganz gemächlich nachts auf der Straße am Dniester, und drinnen liegen zehn Knaben in Kotzen eingewickelt. Begegnen ihm auf einmal dreißig Kosaken. ›Was fährst du da?‹ – ›Pferdedecken‹, sagte Moschele ganz ruhig. – ›Lade sie ab.‹ – Moschele erschrickt nicht, wirft die zehn Ballen auf die Erde, und von den Kindern muckst sich keines, sie sind ohnehin halbtot vor Schreck. Aber da sticht ein Kosak mit seiner Pike in einen Ballen, und das arme angestochene Jüngel schreit. So ist das Ganze aufgekommen. Wie der Russe erst eine Station gewußt hat, hat er auch alle anderen erfahren, und das Retten hat aufgehört. Zwanzigtausend Menschen sind deshalb ins Unglück gekommen, die Jungen unter die Soldaten, die Alten nach Sibirien. Zwanzigtausend!«
»Die Zahl ist zu hoch gegriffen«, bemerkte Walerian, »aber nach Tausenden mögen die Opfer jener nächtlichen Enthüllung immerhin zählen. Und durch eine Tücke des Zufalls trat nun erst, nachdem jener Rettungsweg abgeschnitten war, nachdem sich selbst des Mutigsten und Schlauesten tiefste Hoffnungslosigkeit bemächtigt, die Gefahr an das Haus Naftalis heran. Bisher hatte er nur aus Mitleid an der Not seiner Glaubensgenossen regen Anteil genommen und sie durch Geldspenden unterstützt, aber er selbst hatte für seinen Rüben nichts zu fürchten, sowohl der Polizeimeister als der Militärkommandant von Belz waren durch pekuniäre Verpflichtungen völlig in seiner Hand. Da mußte der Offizier abmarschieren, und der Beamte kam in eine Untersuchung, welche ihn Amt und Freiheit kostete. Und bei ihren Nachfolgern war die Furcht größer als die Geldgier. Der alte reiche Mann geriet in tiefste Verzweiflung; er mußte tatlos zusehen, wie ihm die Gefahr immer näher kam, den einzigen Sohn zu verlieren. Er selbst war blind, und unter seinen Glaubensgenossen fand sich niemand, der es versuchen wollte, den Knaben nach der Moldau zu schmuggeln; um alles Geld der Welt wollte es niemand mehr tun. Da nahm die Gittel ihr Herz in beide Hände und erklärte dem Vater, sie werde es versuchen.
Es war dies ein ungeheurer Entschluß für ein zartes, scheues, siebzehnjähriges Mädchen, welches bisher, die Tochter eines reichen Hauses, zärtlich behütet, in weichem Wohlleben aufgewachsen war. Und, wie gesagt, all ihre Liebe zu Vater und Bruder reicht nicht aus, solchen Heroismus zu erklären; hier hat offenbar auch die Überzeugung mitgewirkt, daß das Werk um Gottes willen geschehe, geschehen müsse. Der alte Mann sträubte sich lange, aber in seiner hilflosen Verzweiflung willigte er endlich ein. Der Knabe wurde in Mädchenkleider vermummt, was freilich nach dem jüdischen Gesetz eine Sünde war. Aber diesmal schien der Zweck das Mittel genügend zu heiligen.
Die Kinder traten die Reise an. Die Details dieser verwegenen Fahrt hat mir die Unglückliche oft genug erzählt und sich dabei bitter angeklagt, sie sei nicht vorsichtig genug gewesen. Doch glaube ich, daß sie sich da schweres Unrecht tut. Ich glaube nach allem, was sie mir berichtet, daß sie damals eine Klugheit und einen Heldenmut bewiesen, wie sie bei einem so zarten, weltfremden Geschöpf geradezu bewundernswürdig genannt werden müssen.
Freilich – es nützte alles nichts! Bis Lipkany kam sie glücklich, also bis hart an die Grenze. Nur noch der Fluß trennte sie von ihrem Ziel, und er schien leicht passierbar. Denn der Pruth hat dort sumpfige, dicht mit Weiden bestandene Ufer.
Aber sie wurden noch in Lipkany abgefaßt. Durch einen sonderbaren Zufall. Sie kamen des Abends an und wollten nachts die Kahnfahrt antreten. Sie stiegen in einem Wirtshaus ab und beteten dort in ihrem Kämmerchen inbrünstig, daß ihnen auch das Letzte gelingen möge. Das Kämmerchen lag zu ebener Erde; ein Russe ging vorbei und besah sich neugierig die betenden Mädchen. Und dabei fiel es ihm auf, daß sich das kleinere genauso beim Beten bewege wie die Knaben der Chassidim; es beugte sich nach rechts und links und vorwärts, die drei Bewegungen folgten sich regelmäßig wie die Stöße einer Maschine. Das ältere Mädchen aber stand unbeweglich, wie dies der Jüdin beim Gebet vorgeschrieben. Dem Russen gingen die letzten Ukase durch den Kopf und die hohen Belohnungen, welche für Entdeckung eines Flüchtlings ausgesetzt waren. Er ging zum Polizeimeister. Eine Stunde darauf waren beide verhaftet. Am nächsten Morgen wurde Rüben in die Soldatenkolonie abgeschoben, Gittel nach Sibirien ...«
Der Erzähler verstummte.
»Kommen Sie«, bat Nüssan, »die Sonne sinkt, in drei Stunden ist Sabbat.«
Aber ich hatte noch eine Frage auf dem Herzen. »Es ist nicht müßige Neugier«, bat ich, »aber hat Sie Ihre Ehe zu trösten vermocht?«
»Zu trösten?« lächelte er schmerzlich. »Für Schmerzen, wie die meinen und die meines Weibes, gibt es keinen Trost. Aber wir sind zwei Menschen, welche man in denselben Kerker gesperrt, und wenn auch nicht in unserer Liebe, so verstehen wir uns doch in unserem Haß. Wir gehen still und dumpf nebeneinander her, wissen wenig von dem, was in des anders Brust lebt, und sind ängstlich bestrebt, einander sowenig wehe zu tun als möglich. Übrigens, ich bin sehr leidend, es wird wohl nicht lange mehr dauern.«
Wir schieden.
Nüssan trieb die Pferde heftig an, gab aber daneben gleichwohl einen ausführlichen Kommentar zur Erzählung des Polen. Aber ich achtete nicht darauf, mir tat das Herz weh vor ohnmächtigem Mitleid.
In der Dämmerung kamen wir an einem einsamen Haus vorbei, aus dem ein dürftiges Licht strahlte. »Das ist die Dettimer Schenke«, sagte Nüssan.
»Haltet!« befahl ich.
»Aber der Sabbat«, jammerte Nüssan.
Er mußte dennoch gehorchen. »Nur einige Minuten«, beruhigte ich ihn und ging auf das Haus zu.
Im Schenkzimmer brannte ein Licht, ich schaute hinein. Es war ein großer düsterer Raum, in einer Ecke brannte vor einem Heiligenbild eine Lampe. Hart daneben stand ein Tisch, auf dem zwei Kerzen standen, die man eben anzündete. Eine Frau beugte sich über sie.
Ich konnte ihr Antlitz sehen, es waren harte, gramdurchfurchte Züge. Selbst im Gebet verklärten sie sich nicht. Denn die Frau betete; ich sah es an der Bewegung der Lippen und der Hände. Und an den letzteren konnte ich auch erraten, welches Gebet es war: der Segensspruch, welchen das Judenweib am Freitagabend über die Sabbatkerzen spricht.
Ich starrte lange in dieses Antlitz und nach den drei Lichtern, bis mich endlich Nüssans jammerndes Bitten abrief ...
Das war im Jahre 1871. Aber ich habe nicht vergessen können, was ich an jenem Frühlingstag auf der podolischen Landstraße gehört und gesehen. Und dann hat es mir als Pflicht geschienen, davon zu berichten.