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Es war drei Wochen später, eine Nacht im Oktober, eine kalte, aber klare, helle Herbstnacht. Zwanzig Tage und Nächte hatte der Regen vom Himmel herabgeströmt, dicht, endlos, in betäubender Wucht, wie ein Strafgericht des Himmels, als sollte alles Leben in den armseligen Flecken und Dörfern der Ebene ausgetilgt werden. Die Straßen waren unwegsam geworden, die Äcker um Halicz und die Gäßchen des Marktfleckens ein schlammiges Meer, durch das Mensch und Tier trübselig watete. Der Dnestr war ausgetreten, die Schiffbrücke, die Halicz mit dem jenseitigen Ufer und der Dampfsäge verband, stand seit einer Woche unter Wasser; Kähne vermittelten den Verkehr. Graue, kalte Flut, wohin das Auge blickte; sie stürzte vom Himmel nieder, schwoll dräuend aus der Erde empor. In dumpfem Bangen hatten die Menschen vor sich hin gebrütet, bis sich endlich an einem Freitagmorgen die Nebel geklärt und die Sonne wieder hervorgebrochen. Sie beschien ein trostloses Bild, aber heitere Mienen.
Nur zwei Menschen in Halicz blieben trotz der Sonne noch immer in derselben dumpfen Betäubung wie bisher: Leib Weihnachtskuchen und sein Kind. Wie eine einzige sternenlose Nacht waren ihnen diese drei Wochen vergangen, nicht allein die erste, wo sie in der armseligen Kammer der Schwester der Verstorbenen bei geschlossenen Laden, mit zerrissenem Gewand, auf der Erde hockend, die Totenwacht gehalten und mit trüben Augen, die schließlich kaum noch Tränen fanden, in das Totenlicht gestarrt. Acht Tage und Nächte muß diese Leuchte brennen; zur Erinnerung an die Toten, sagen die einen, und die anderen meinen, damit die Seele, die ihre Wohnstätte hienieden verlassen und jene im Himmel noch nicht gefunden, ihre Ruhestätte auf Erden habe, wenn sie ängstlich die verlassenen Lieben umflattert und hilflos zusehen muß, wie sie ohne sie das Leben auf dieser harten Erde fortfristen müssen. Leib Weihnachtskuchen war ein frommer Mann, dem jeder Aberglauben fern war; er wußte wohl, daß er, der Allgütige, die Seele der Toten in seinen Himmel aufgenommen und daß nun alle Leiden und Sorgen der armen Chane zu Ende seien. Dennoch krampfte sich sein Herz zusammen, sooft das Lichtlein im Windzug flackerte, und Miriam vollends begann zu zittern und schlug sich an die Brust. Dann legte der Vater den Arm um sie und drückte sie fest an sich. Er fragte nicht, was in der Seele des geängstigten Kindes vorging, auch sie sprach es nicht aus.
Aber zu einer solchen Aussprache kam es auch nicht, als die Trauerwoche vorüber war. Für Leib und seine Tochter war sie noch nicht vorüber, und es war ihnen beiden zumute, als sollte sie nie wieder zu Ende gehen. Aber die Leute, bei denen sie Aufnahme gefunden, Schwester und Schwager der Verstorbenen, traten in derselben Stunde, wo die von der frommen Satzung vorgeschriebene Zeit abgelaufen war, vor sie hin und fragten, was es nun werden solle. Not macht hart. Die blutarmen Leute hatten die beiden bei sich aufgenommen, weil dies heilige Pflicht war, und sie hatten dies nicht einmal allzuschwer empfunden, weil die Trauernden selbst die kärgliche Speise, die sie ihnen vorsetzten, fast unberührt ließen, aber nun brauchten sie ihre Kammer und das wenige, was sie selbst zu verzehren hatten.
»Ich weiß nicht . . .«, murmelte Leib, als sie ihn fragten. »Ich . . . Laßt mir noch eine Weile Zeit zum Überlegen . . .«
Not macht hart. »Was ist da zu überlegen?« sagte der Schwager, Schmul Ledermann. »Ihr habt ja Euer Geschäft in Winkowce. Krumm-Schimmele wird nicht ewig für Euch draußen bleiben wollen. Und wenn auch?! Das ist doch Euer Brot und nicht seines; Ihr müßt hin!«
Die Miriam hatte bisher kaum zugehört; nun aber verstand sie und zuckte angstvoll zusammen. »Nicht heim . . .«, stieß sie bebend hervor und schloß die Augen.
»Was soll das heißen?!« rief ihre Tante Rachel und stemmte die Arme in die Hüften. »Wer bezahlt denn für Euch, wenn Ihr hierbleibt? Der Alte drüben? Es soll mir recht sein, nur müßt er's uns sagen!«
»Der Alte?« fragte das Mädchen erstaunt und strich sich das Haar aus dem blassen Antlitz. »Welcher Alte?«
Die Frau wurde verlegen. Es fiel ihr nun bei, daß Miriam ja noch immer nichts von ihrer Verlobung wisse. Auf diese Weise, in dieser Stunde durfte sie es nicht erfahren. »Ich dachte . . .«, stotterte sie, »Reb Froim, der uns gegenüber wohnt . . . Er war zwar beim Begräbnis voll Mitleid, aber bezahlen kann er für Euch nicht . . .«
»Später . . .«, bat Leib nochmals.
Schmul Ledermann zuckte die Achseln. »Wie Ihr wollt«, sagte er. »Aber was soll da beim Warten Vernünftiges herauskommen?«
Als die beiden wieder allein waren, faßte Leib die Hand der Tochter mit der Linken, mit der Rechten strich er ihr leise das Haar aus der Stirn. Er fragte nicht, warum sie nicht an die Stätte zurückkehren wolle, wo ihr ein so furchtbares Bild vor der Seele gestanden, warum sie dem Janko nicht mehr begegnen wolle; er verstand es ohnehin. Alles verstand er, und in seinem weichen, schmerzdurchwühlten, mitleidsvollen Gemüt hallte es wider. Sie aber wußte, daß sie ihm nichts zu sagen brauche, sie lehnte den Kopf an seine Brust und weinte sich wieder einmal aus, wie so oft an diesen Tagen.
Während die beiden noch so beisammensaßen, hörte Leib eine helle, quiekende Stimme draußen nach ihm fragen. Er erkannte sie sofort, es war Meyerl Spazierstock. Sanft machte er sich aus den Armen der Tochter los und trat vor die Tür.
»Reb Leib«, empfing ihn Meyerl herablassend, »ich bring Euch was. Zehn Gulden bring ich Euch.« Er holte seine Brieftasche hervor und hielt ihm die Papiernote ausgebreitet entgegen. »Welches Glück Ihr habt! – Reb David denkt doch an alles! ›In Trauer sein‹, sagte er, ›ist bitter, und in Not sein ist bitter – aber beides zusammen ist zuviel für einen Menschen. Bring ihm das Geld‹, sagt er, ›und wenn er mehr will, so kann er's auch haben. Und das Begräbnis‹, sagt er, ›ist schon bezahlt, und will sein Schwager Schmul für die acht Tage Kost und Wohnung eine Entschädigung, so will ich sie ihm auch geben . . .‹ Ja, so sagt er«, schloß Meyerl gönnerhaft, »Ihr seid zu beneiden, Reb Leib!«
Der unglückliche Mann stand mit gesenkten Augen da; seine Lippen bebten. »Ich danke . . .«, murmelte er, »aber das Geld . . . Es ist ja . . . noch alles ungewiß . . . Ich muß doch erst mein Miriamchen . . .«
Meyerl tat, als traute er seinen Ohren nicht, vielleicht war es wirklich so. »Was?« schrie er gellend auf, »was ist ungewiß?! . . . Und worüber müßt Ihr erst Eure Tochter fragen?! . . . Wollt Ihr die Partie« – die Stimme schien ihm zu versagen – »zurückgehen lassen?!« ergänzte er dann schreiend.
Leib hob beschwörend die Hände. »Still«, bat er. »Sie hört sonst jedes Wort. Und wenn Ihr wüßtet, wie ihr jetzt zumut ist, wenn Ihr sie sehen würdet – es kann einen Stein erbarmen . . . Jetzt kann und soll sie es nicht erfahren«, fuhr er mit festerer Stimme fort. »Und was das Geld betrifft – ich laß mich bei Reb David herzlich bedanken, aber ich hoff, es geht auch ohne dieses . . . Es war zum ersten Mal in meinem Leben . . . Krumm-Schimmele ist ein ehrlicher Mann, er ist aus Mizwe (um ein frommes Werk zu tun) hinausgezogen, ich hoff, er hat Geld für mich und bleibt auch länger draußen, wenn ich ihn darum bitte . . .«
Meyerl hatte sich gefaßt; desto verblüffter stellte er sich. »Verzeiht«, sagte er und legte die Hand auf die Stirne, »aber mir scheint, Euch hat der Trauerfall Euer bißchen Verstand – – verzeiht, aber was soll man davon denken?! Ihr weiset Geld zurück, Ihr habt auch ohnehin genug, sagt Ihr! Und woher kommt Euer plötzlicher Reichtum? Weil Krumm-Schimmele inzwischen Euer Verwalter war und auch noch länger dort bleiben will! Bisher habt Ihr allein nicht von der Schenke leben können, und jetzt soll's plötzlich für zwei Familien reichen, Euch und Euren Verwalter?! Das ist verrückt, Reb Leib, verzeiht, aber da paßt kein anderes Wort . . .«
Der Ärmste schwieg und blickte dann den Zwerg hilflos an. »Ihr mögt recht haben«, murmelte er. »Ich will's ja auch ordnen . . . Aber jetzt . . . jetzt weiß ich nur zweierlei: ich kann kein Almosen annehmen und kann nicht in die Schenke zurück.«
»Warum?!« fragte Meyerl und sah den anderen lauernd an.
»Weil mein Miriamchen sich davor fürchtet«, war die Antwort. »Ihr müßt bedenken, welche furchtbare Erinnerung der Tod der Mutter für sie ist . . .«
»Und ist das der einzige Grund?« fragte der Zwerg, und die quiekende Stimme klang scharf, wie ein Messer.
Leib schlug den Blick zu Boden und errötete. Lügen konnte er nicht und diesem Menschen die volle Wahrheit sagen auch nicht. Er durfte niemand gestehen, daß Miriam auch deshalb nicht nach Winkowce zurück wollte, um dem Janko nie wieder zu begegnen. Der junge Bauer war an dem Tod ihrer Mutter mitschuldig und doch derselbe Mensch, mit dem sie von Kindheit auf vertraut gewesen, und sie wollte ein ehrlich jüdisch Kind bleiben – oh, er verstand alles! . . . Aber die anderen?!
»Warum schweigt Ihr?« fragte Meyerl womöglich noch schärfer. »Sollte es wahr sein – um Himmels willen« – er faßte Leibs Arm, und der Schrecken, der sich nun auf seinem Gesicht ausprägte, war nicht geheuchelt –, »sollte es wirklich wahr sein, was die Kasia . . .«
»Die Kasia?! . . . Was erzählt sie? Sie ist eine Lügnerin!«
»Möge es Gott so fügen, daß sie auch da gelogen hat«, erwiderte der Zwerg erregt, und der Wunsch war ehrlich gemeint. »Sie sagt, der Janko wäre . . .«
»Nun?!« rief Leib außer sich und faßte den Zwerg an der Schulter.
»Der Janko – verzeiht – man soll so was nicht über die Lippen bringen, und ich hab auch geschwiegen, aber da Ihr mir nicht sagen wollt, warum sie nicht heim will, und so verlegen seid – also: der Janko, sagt die Kasia, ist der Liebhaber Eurer Tochter!«
»Lüge!« stieß der Kleine hervor, und sein Antlitz färbte sich dunkelrot vor Schmerz und Entrüstung. »Elende Verleumdung!«
Der Zwerg atmete auf. Dieser Mensch war ja so dumm, niemals zu lügen, und zudem war dieser Ton sicherlich echt. Eine schwere Last fiel ihm von der Brust: hätte die Kasia die Wahrheit gesprochen, dann wären die wenigen Heller, die von dem Vermittlerlohn Mendeles für ihn abfielen, verloren gewesen. Ein Schadchen gebraucht mancherlei Mittel, um ein schwieriges Geschäft zustande zu bringen oder ein bedrohtes zu retten, aber einem ehrbaren Manne listig eine Entehrte als Braut zuzuführen, mit solcher Schuld belastet kein Mann dieser Zunft sein Gewissen.
»Gottlob!« murmelte er. Dann aber fiel ihm bei, wie weltfremd und leichtgläubig dieser Mann sei. »Euer Wort in Ehren«, sagte er, »aber könnt Ihr für Eure Tochter . . . verzeiht«, unterbrach er sich, »ich glaub ja nichts Böses, ich frag nur . . . Solche Fälle sind ja sehr selten, aber Mendele und ich haben erst vor zwei Wochen eine solche Sach gehabt. Die Tochter eines Sniatyner Holzhändlers – Ruben, der Schneiderssohn, hat sie vor einigen Tagen geheiratet, jetzt sind sie schon bei der Scheidung . . . Also – könnt Ihr dafür einstehen?«
»Ja!« rief Leib entrüstet.
»Ihr könnt es mir schwören?«
»Bei allem, was Ihr wollt! Mein Miriamchen . . .« Und er brach in Tränen aus.
Die Türe der Kammer hatte sich geöffnet; sie merkten es beide nicht.
»Bei dem Grabe Eures Weibes?« fragte der Zwerg.
»Ja!« rief Leib.
»Ich danke dir, Vater.« Da stand die Miriam, so blaß wie die Wand, an der sie lehnte, aber ihr Haupt war hoch aufgerichtet und ihre Augen blitzten. »Die Kasia hat gelogen! Stellet sie mir gegenüber, fraget den Janko selbst!«
Meyerl war betreten zurückgewichen, nun faßte er sich wieder. »Verzeiht«, sagte er, »für Eure Ohren war das Gespräch nicht bestimmt . . . Der Kasia will ich schon den Mund stopfen, Ihr braucht Euch damit nicht zu bemühen. Und den Janko würden wir auch nicht erst fragen, selbst wenn wir's könnten. Aber wir können ja nicht! Ihr wißt doch – er sitzt im Kerker!«
»Barmherziger Gott!« schrie Leib auf. »Der Janko? Er ist ja ein braver Mensch! Wie ist das zugegangen?!« Die Miriam aber schrie leise auf und wankte. Dann umklammerte sie die Türklinke und hörte bebend zu, wie Meyerl die Szene an der Gartenpforte erzählte. Nach seiner Darstellung hatte der Rasende ein halbes Dutzend Bauern und Gerichtsdiener schwer verwundet; eines der Opfer war nach seiner Versicherung bereits verschieden. »Man sagt«, schloß er, »er wird überhaupt nie mehr freigelassen werden; andere meinen, er bekommt zehn oder fünfzehn Jahre Zuchthaus. Aber weniger gewiß nicht!«
»Fünfzehn Jahre!« jammerte Leib. Miriam aber schwieg, nur ihr Atem ging hörbar aus und ein. Die Dämmerung war immer dichter hereingebrochen; es war nun im Flur fast finster; Meyerl konnte ihre Gesichtszüge nicht mehr unterscheiden. Das war vielleicht gut für ihn, sonst hätte er wohl wieder um seinen Vermittlerlohn zu bangen begonnen.
»Ihr bedauert ihn noch?« fragte er nun vorwurfsvoll, zu Leib gewendet. »Und um die Leut, die er erschlagen oder verwundet hat, tut es Euch nicht leid?«
»Gewiß«, beteuerte Leib, »aber die kenn ich nicht, und er war unser Freund. Nicht wahr, Miriam?«
Sie erwiderte nichts, sondern trat schweigend wieder in die Kammer zurück.
»Eure Tochter ist vernünftiger als Ihr!« sagte Meyerl. »Aber Euch werd ich nicht ändern. Seid wenigstens in der Hauptsach so wie andere Menschen! Überlegt Euch, ob Ihr die zehn Gulden nicht doch nehmen wollt. Ich frag morgen wieder an. Gut Nacht!«
Er ging. Als Leib in die Kammer zurücktrat, in der es nun, da auch das Totenlämpchen nicht mehr brannte, völlig Nacht war, und leise den Namen seiner Tochter rief, erhielt er keine Antwort. Sie hatte sich wohl schon in die anstoßende Kammer begeben, wo neben dem Bette der Tante ihr Lager aufgeschlagen war. In der Tat hörte er, als er an die Türe dieser Kammer trat, von drinnen ihr leises Schluchzen. Er suchte sie nicht zu trösten, er rief sie nicht an. Auch dieser Schmerz war ihm verständlich . . .
Er wollte ins Freie treten, das Unwetter scheuchte ihn zurück. So saß er denn auf dem Schemel nieder, auf dem er die Wache beim Totenlicht gehalten, und überließ sich den Gedanken, die auf ihn einstürmten. Aber sie betrafen nicht seine und seiner Tochter Zukunft. Er wußte nicht, wohin er in morgiger Nacht sein und ihr Haupt betten, welche Antwort er Meyerl geben sollte, wenn dieser fragte, ob er die Partie zurückgehen lassen wolle, aber an dies alles dachte er auch nicht. Nur an den Janko dachte er . . . Dies Furchtbare also hatte sein Traum vom Beil voraus verkündigt; der Hieb war nun niedergesaust, auf anderer Haupt und vor allem auf das Haupt des Unglücklichen selbst . . . Fünfzehn Jahre Zuchthaus – ein verlorenes Leben! – Daß dieser Mensch ihm sein Kind bedroht, daß er mit Recht vor ihm gezittert und nun befreit aufatmen durfte, dies alles huschte ihm nur zuweilen wie ein Blitz durchs Hirn, und dann schlug er sich an die Brust und murmelte: »Herr, rechne es mir nicht zum Bösen an, wenn ich auch daran denke!« Aber das waren nur Augenblicke; stundenlang hingegen und unablässig verfolgte ihn ein anderer Gedanke: Wäre ich doch dabeigewesen, dann hätte ihn dies Unglück nicht ereilt. Ich hätte vernünftig mit ihm gesprochen, hätte ihm erklärt, was man eigentlich von ihm will und daß es nur zu seinem Guten ist. Aber so – da schreien sie auf ihn ein, bis er den Verstand verliert und zu rasen anfängt – nur um seinen Schwur zu halten!
Um seinen Schwur zu halten! – hier setzte jener Gedanke wieder ein, den er als sündhaft empfand, und ließ sich nun nicht wieder verscheuchen. War der Janko zum Verbrecher geworden, um sein Gelöbnis bezüglich des Obstgartens zu halten, dann wäre sicherlich auch sein Schwur bezüglich der Miriam nicht unerfüllt geblieben. Vielleicht hatte er dies gefügt, der Allerbarmer, um nicht noch größeres Unheil geschehen zu lassen. Aber auch diesen Gedanken konnte der Kleine wieder verwinden; wollte er Unheil verhüten, dann bedurfte er eines solchen Mittels nicht!
Erst in später Stunde übermannte ihn die Müdigkeit, und er schlief auf seinem unbequemen Sitz ein. Als er am Sabbatmorgen erwachte, fühlte er sich so matt und zerschlagen, daß er sich kaum erheben konnte. Und nicht bloß in den Gliedern, auch im Gemüt haftete ihm diese schmerzhafte Schwäche. Grau und trostlos, wie draußen der Tag, war's auch in ihm. Er verrichtete sein Morgengebet so inbrünstig wie je, der Gedanke an Gott erhob seine Seele, aber als er sich nach beendetem Gebet fragte: Was nun? – da fühlte er sich wieder ratlos und hilflos wie zuvor.
So traf ihn die Miriam. Sie mußte in der Nacht viel geweint haben – er sah es ihr an den Augen an. Auch klang ihre Stimme leise und befangen, als sie ihm den Morgengruß bot. Und als er nach seiner Gewohnheit mit der Hand leise über ihren Scheitel fuhr, zuckte es schmerzhaft um ihre Mundwinkel, und die Augen füllten sich mit Tränen. Aber sie bezwang sich, faßte seine Hand und zog ihn auf den Sitz neben sich nieder. »Vater«, sagte sie und versuchte sogar zu lächeln, »du findest es allein nicht heraus, wie es nun mit uns werden soll, und ich auch nicht. Wollen wir es zusammen überlegen?«
»Ja, Kind«, erwiderte er seufzend.
»Nein«, sagte sie, »du mußt tapfer sein. Ich hab gestern gesagt, ich wollt nicht heim. Du weißt, warum?!« Eine dunkle Röte flammte über ihr Antlitz, aber sie sah ihm dabei festen Blicks ins Auge.
»Ich weiß . . .«, erwiderte er.
»Aber das war Unsinn«, fuhr sie fort. »Leicht fällt's mir ja auch heute nicht, um so mehr, da ich nun weiß, was die Kasia über mich ausgesprochen hat. Aber es muß eben sein. Dort haben wir unser Brot – wenigstens für die nächste Zeit«, flocht sie hastig ein, als er wieder hörbar aufseufzte –, »und dann hilft uns Gott weiter! Und was geschehen muß, wollen wir bald tun. Heut ist ja Sabbat, aber morgen wollen wir zum Grab der Mutter gehen und dann in unser Haus!«
»Du hast recht«, sagte er und versuchte die Tränen zurückzudrängen. Was ihm vorhin den Seufzer erpreßt, was ihn nun so tief ergriff, war neben dem Mitleid mit dem armen, jungen Geschöpf, dem das Schicksal und die Niedertracht der Menschen schon so früh tiefen Schmerz zugefügt, eine Erinnerung, die sich ihm unwillkürlich aufdrängte: so bestimmt und dabei doch wieder so gut und weich war auch Chanes Art gewesen, ehe sie Not und Kampf hart und bitter gemacht. »Du hast recht«, wiederholte er und wehrte den Tränen nicht, die ihm langsam über die Wangen rollten, »morgen wollen wir zum Grabe deiner Mutter gehen und dann heim!«
Am nächsten Morgen tobte das Unwetter schlimmer als je; das focht sie nicht an, und sie machten sich zum Gang bereit. Aber als sie eben das Haus verlassen wollten, trat ein unerwarteter Gast ins Zimmer, der Pope Hilarion.
»Lieber Leibko«, begann er freundlich, »ich habe dich um etwas zu bitten.« Er warf einen Blick auf das Mädchen. »Es wird nicht lange dauern, Miriam.« Sie trat in die Kammer zurück; die beiden Männer blieben auf dem Flur.
»Also, lieber Leibko«, sagte der Pope und schlug seinen regenschweren Mantel fester um die Glieder, denn es zog hier mächtig, »es betrifft den Janko. Was ihm begegnet ist, weißt du?!«
»Ich hab's gehört«, erwiderte der Jude mitleidsvoll. »Er hat einen Mann getötet und mehrere verwundet . . :«
»Was nicht noch?!« lachte der Pope. »Die Leute können doch das Übertreiben nicht lassen! Als ob das Unglück nicht ohnehin groß genug wäre! Er hat einen einzigen Menschen verwundet, einen Gerichtsdiener, den allerdings schwer. Einige Tage schien die Sache bedenklich, aber der Kerl hatte zum Glück eine Hirnschale von Eisen; in zwei Wochen ist er wieder frisch und wohlauf.«
»Gottlob!« rief der Kleine in aufrichtiger Freude. »Dann wird auch seine Strafe nicht gar so schwer sein?!«
»Doch!« erwiderte der Geistliche. »Schwere Verwundung, dazu noch obendrein bewaffneter Widerstand gegen die Staatsgewalt – wenn's die Herren sehr gnädig machen, so muß er doch immerhin ein halbes Jahr brummen. Aber das ist nicht zu ändern. Hingegen möcht ich bewirken, daß sie ihn bis zur Verhandlung auf freien Fuß setzen, sonst wird leicht aus dem halben ein ganzes Jahr und inzwischen geht seine Wirtschaft ganz zugrunde.«
»Gewiß, aber . . .«
»Was du dabei tun kannst? Sehr viel! Ich weiß, mein braver Leibko, du wirst mir meine Bitte nicht abschlagen . . . Also, kurz und gut, der Bezirksrichter verlangt zwei Bürgen aus Winkowce, um gegen Vorhaltungen seiner Oberen geschützt zu sein, wenn der Mann in der Zwischenzeit wieder irgendeine Gewalttat begehen sollte. Ich war ganz erfreut, als mir Willczuk nur diese Bedingung stellte, aber denke nur – es geht nicht! Der eine Bürge will natürlich ich sein, aber von den Bauern mag keiner dran. ›Dem trotzigen Tölpel ist alles zuzutrauen‹, sagen sie. Und so dachte ich denn: Du, mein Leibko, bist ein braver Mensch, sein guter Freund – du wirst es tun.«
»Ich?« rief Leib erblassend und trat zurück.
»Aber warum nicht?« fragte der Pope. »Weil er dir alles Mögliche gedroht hat, wenn du deine Tochter verlobst?! Gerade weil er deine Tochter so liebt, wird er ihr doch nichts antun!«
Der Jude schüttelte den Kopf. »O doch«, sagte er, »weil er sie keinem anderen gönnt . . .«
»Daß doch jeder Jude ein Hasenfuß ist!« rief der Pope unwillig. »Ist das deine Freundschaft für den Janko! Aber ich will dich mit deinen eigenen Waffen schlagen! Für welchen Fall hat er dir denn gedroht? Doch nur, wenn du deine Tochter verlobst! Und am frischen Grabe der Mutter werdet Ihr doch nicht die Tochter Hochzeit halten lassen?! Ihr werdet doch mindestens ein halbes Jahr warten! Nun denn, in sechs Monaten sitzt er ja jedenfalls schon seine Strafe ab!«
Der Jude schwieg und starrte brütend vor sich hin.
»Aber was ist da zu überlegen?!« rief der Pope ungeduldig. »Um Geld an ihm zu verdienen, dazu war dir der Janko gut genug, im Unglück willst auch du ihn verlassen!«
Leib hörte die Worte nicht, oder sie schlugen doch wie ein leerer Schall an sein Ohr. Er lauschte, wie in jedem Augenblick einer schweren Entscheidung, auf die Stimme in seiner Brust, und ob er darunter jene heraushören könne, durch die er zu ihm sprach. Aber er konnte sie diesmal nicht deutlich erkennen. War es seine Stimme, die in ihm rief: Befreie den armen Janko? – oder war sie es, die ihn mahnte: Schütze dein Kind vor dem Rasenden –?!
»Ich weiß nicht . . .«, murmelte er endlich und bat um Bedenkzeit. Und als der Pope in ihn drang, erwiderte er entschieden: »Ich kann nichts versprechen. Erst muß ich wissen, was . . .« Er hielt inne. Was er will, hatte er sagen wollen, aber das ging den Popen nichts an. »In einigen Tagen«, schloß er und war davon nicht mehr abzubringen.
Erzürnt ging der Pope von dannen. »Was hat er von dir gewollt?« fragte Miriam, als der Kleine wieder in die Kammer trat und sie ihm vom Antlitz ablas, wie sehr ihn das Gespräch erregt habe.
»Frag mich nicht«, bat er, »du weißt, ich kann nicht lügen, und die Wahrheit sagen kann ich dir auch nicht!«
Darauf schwieg sie und machte sich abermals zum Gang bereit. Aber das Geschick hatte es anders beschlossen: sie sollten beide ihre Heimstätte nie wieder betreten. Kaum daß sie ihr Tuch abermals festgeknotet hatte, trat Meyerl ein und winkte den Kleinen hastig auf den Flur.
»Kommt«, sagte er dort fliegenden Atems, »Reb David will mit Euch reden! Er wartet!«
»Mit mir?!« fragte Leib zaghaft. »Was will er . . .«
»Das mag er Euch selbst sagen«, erwiderte Meyerl ungeduldig. »Kommt! Ein Mann wie Reb David wartet ungern!«
So folgte ihm denn Leib. Zu wem er so plötzlich müsse, fragte Miriam nicht, und das war gut für ihn, die Antwort hätte ihn in arge Verlegenheit gesetzt.
Wahrscheinlich, war sein erster Gedanke, während er so in Sturm und Regen hinter Meyerl hereilte, wahrscheinlich will er mir die Verlobung aufkündigen. Ist das ein Unglück? Ist es ein Glück?! Dann aber besann er sich eines Besseren. Das würde er mir nicht mündlich sagen. Und selbst wenn er jener Schändlichen glauben sollte – das sagt kein Mann, der selbst Vater ist, einem Vater ins Gesicht! Aber was es ist, kann ich mir nicht denken.
Und doch war es nicht überraschend, sondern entsprach ganz und gar dem Wesen dieses Mannes.
»Reb Leib«, sagte der Greis, »ich will Klarheit haben: wollt Ihr mir Eure Tochter zum Weibe geben, oder wollt Ihr nicht? Ich meinerseits bleibe meinem Wort treu. Warum, wißt Ihr. Erstens und vor allem darum, weil mir Eure Tochter gefällt. Zweitens, weil sich in den zehn Tagen seit der Verlobung nichts ereignet hat, was meinen Sinn gewandelt hätte. Auf die Reden jener elenden Schwätzerin hab ich nie was gegeben. Ich habe Eure Chane gekannt – sie ruhe im Frieden –, ich kenne Euch – auf Euch ist Verlaß; so weit fällt kein Apfel vom Stamm. Um aber das Meine zu tun, damit das häßliche Gerücht aus der Welt kommt, habe ich Eure Goje noch gestern abend durch unseren Herrn Propst vernehmen lassen. Er hat nicht viel Mühe mit ihr gehabt, sie hat sofort gestanden, daß alles Lüge ist, es auch vor mehreren Zeugen beschworen. Das also ist in Ordnung.«
»Ich dank Euch!« sagte Leib gerührt.
»Nichts zu danken. Ich hätt's für jedes andere Judenkind auch getan. Mir tut der Propst einen Gefallen, weil auch ich ihm gefällig sein kann, anderen wohl nicht. Und Eure Tochter ist meine Braut. Fragt sich nur, ob sie es auch nach Eurem Willen bleiben und mein Weib werden soll. Meyerl sagt, Ihr wäret plötzlich ›ungewiß‹ darüber. Also – wollt Ihr oder wollt Ihr nicht?«
Leib schwieg, aber nur wenige Atemzüge lang. Denn diesmal glaubte er seine Stimme deutlich zu vernehmen. »Ich will«, erwiderte er mit einer Bestimmtheit, die ihm selten zu eigen war; es schien, als hätte sich etwas von dem Wesen des Mannes, vor dem er stand, auf ihn übertragen. »Meine Chane – sie ruhe im Frieden – hat's gewollt, und ich war zu ihren Lebzeiten nicht dagegen; ich kann es auch jetzt nicht sein. Gewandelt hat sich nur eins: jetzt muß ich meine Miriam fragen, ob sie will oder nicht . . .«
Dem alten Mann stieg die Röte des Zorns ins Antlitz, aber er bezwang sich. »Wie soll ich das verstehen?« fragte er. »Bei Eures Weibes Lebzeiten habt Ihr eine solche Frage für überflüssig gehalten, jetzt haltet Ihr sie für nötig?! Ich will Euch sagen, wie die Dinge stehen: Ihr seid im Herzen ebenso dagegen, als Euer Weib dafür war; solang sie lebte, habt Ihr kein Nein gewagt, und wagt es auch jetzt nicht, wohl aber hofft Ihr auf ein Nein Eurer Tochter.«
»So ist's nicht«, erwiderte Leib. »So wahr mir Gott gnädig sei – nein! Die Wahrheit ist vielmehr: ich hab immer geglaubt, daß meine Tochter gefragt werden soll, nur hab ich's nicht genau gewußt, ob es Pflicht ist. Inzwischen hat sich etwas begeben, was mich erkennen läßt: ja, es ist Pflicht gegen Euch und gegen mein Kind. Und darum muß ich fragen.«
»Und was war dies ›Etwas‹?«
»Das kann ich Euch nicht sagen«, erwiderte Leib. »Aber ich schwöre Euch, mit der Ehrbarkeit meiner Tochter hat es nichts zu tun.«
Reb David sah ihn durchdringend an; er hielt den Blick ruhig aus. Es war ein langes Schweigen in der Stube. Der Greis stand auf und schritt einige Male auf und nieder, minder sicheren Schritts, als er gewohnt war; er rang offenbar einen schweren Kampf.
Endlich blieb er vor dem Schenkwirt stehen. »Fragt sie«, sagte er, »und bringt mir dann Bescheid. Ich täte sonst in solcher Sache keinem Menschen den Willen, Euch will ich ihn tun. Denn Ihr seid ein anderer als die meisten, denen ich bisher begegnet bin. Ein Schlemihl – ja, und Euer Verstand kann hundertmal irren, aber Euer Herz irrt nicht. Es ist unerhört, ein Mädchen zu fragen, aber glaubt Ihr, daß Ihr's in diesem Fall tun müßt, so darf ich nicht dagegen sein . . .«
Leibs Augen wurden feucht. »Wie soll ich Euch danken?« stammelte er.
»Das habt Ihr Euch selber zu danken«, erwiderte der alte Mann. »Hätt ich nicht dem Begräbnis Eures Weibes beigewohnt, ich hätt nicht nachgegeben. Aber da habt Ihr mir's angetan. Wie Euch zumut war, wußte ich, und darum hat es mich tief erschüttert, wie Ihr dastandet, als Euch die Leut ihr Beileid sagten. Euer Herz hat geblutet, und dennoch ist es Euch aus dem Herzen gekommen, als Ihr unter bitteren Tränen sagtet: ›Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gelobt!‹ Wer solches vermag, ohne zu heucheln, wer so fromm ist, so wahrhaft fromm, der mag ein noch schlechterer Geschäftsmann sein als Ihr, er ist doch nicht bloß besser, sondern auch klüger als wir alle. Sein Verstand ist blöde, sein Herz ist weise. Tut, was Euch Euer weises Herz gebietet, Reb Leib!«
Und er schob ihn sanft zur Türe hinaus.
Mit wirbelndem Hirn eilte der Kleine heim. Jetzt wird's mir leid tun, wenn sie nein sagt, dachte er. Ich kann ihm zurückgeben, was er mir gesagt hat: auch auf ihn ist Verlaß! Erst als er dicht vor der Hütte seines Schwagers stand, fiel ihm bei, daß er sich doch die Art, wie er es ihr sagen wolle, zurechtlegen müsse. Er beschloß, es erst auf dem Wege nach Winkowce und so vorsichtig als möglich zu tun.
Der Plan wurde zu Wasser. Als er eintrat, kam sie ihm entgegen. »Vater«, sagte sie, »es ist nicht gut, wenn wir beide Geheimnisse voreinander haben. Die Tante hat mir eben gesagt, warum Meyerl so oft zu dir kommt und zu wem er dich gerufen hat. Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich mein künftiges Schicksal von dir erfahren hätte.«
»Verzeih . . .«, stammelte er. »Aber es ist noch nichts entschieden. Ich hab Reb David eben gesagt, daß alles von deinem Willen abhängt!«
»Von meinem Willen?« fragte sie in größtem Erstaunen. »Ich hab gedacht: das haben die Mutter und du ausgemacht, und ich habe zu gehorchen.«
»Wenn du es nicht willst, so wird die Verlobung aufgehoben«, erwiderte er. »Höre mich an, Kind, und entscheide.« Und er setzte ihr auseinander, was dafür, was dagegen sprach, verschwieg nichts und beschönigte nichts. Er bekannte, wie sehr Chane die Verbindung gewünscht, aber daß auch sie sich ein anderes und besseres Glück für die Tochter ersehnt.
Das junge Mädchen hörte ihn still an, ohne eine Frage zu tun. Und als er zu Ende war, sagte sie nur: »Darf ich's mir überlegen? Nur einige Stunden . . .«
»Solang du willst!« rief er.
Aber schon am frühen Nachmittag trat sie mit stillem Antlitz vor ihn hin und sagte ruhigen Tons:
»Ich will's tun!«
»Übereile dich nicht«, bat er. »Hast du es wohl überlegt?«
»Ja«, erwiderte sie. »Es ist das beste für uns alle, für die Mutter, für dich, für mich . . .«
Es berührte ihn eigen, daß sie dabei vor allem die Tote nannte. »Deine Mutter«, sagte er, »sie ruhe in Frieden, weiß heute besser als du und ich, was dir wahrhaft zum Guten ist. Die ist im Licht, sie kennt deine Zukunft, wir kennen sie nicht. Vielleicht denkt sie nun anders über diese Heirat, als da sie, gleich uns, im Dunkel war . . .«
Sie schwieg lange, erwiderte dann aber: »Ich kann mich nur an das halten, was mir als ihr Wille bekannt ist. ›Bleib ein ehrlich jüdisch Kind!‹ hat sie mir mit ihrem letzten Hauch gesagt; ein jüdisch Kind tut, was seine Eltern wollen. Und ich hab nichts gegen Reb David; im Gegenteil, nach allem, was du mir von ihm erzählt hast, hab ich große Achtung für ihn!«
»Mit Recht«, sagte er. »Aber noch eine Frage mußt du mir beantworten: Du tust es doch nicht auch deshalb, um mich zu versorgen?«
»Nein!« erwiderte sie ruhig. »Denn ich kenne dich und weiß, daß du nichts von ihm annehmen wirst.«
»Nun denn«, sagte er, »so will ich in Gottes Namen zu ihm gehen und es ihm sagen!«
Auch seine Stimme klang fest. Aber als er nun zur Tür ging, geschah etwas Seltsames. Er hielt plötzlich inne und wankte. Sie eilte auf ihn zu und umschlang ihn. »Was ist dir?« fragte sie besorgt. Aber er konnte nichts erwidern vor jähem, ungestümem Weinen. Auch ihre Tränen flossen, bis sie sich endlich aus seinen Armen losriß.
»Nun geh«, sagte sie. »Es muß für einen Mann wie ihn demütigend sein, so lange auf den Bescheid zu harren . . . Und noch eins: wenn er für eine baldige Heirat ist, so sei du nicht dagegen!«
»Aber die Trauer?« wandte er ein.
»Die äußere?« erwiderte sie. »Was liegt daran? Und die Trauer, die ich im Herzen um sie trage, und die Erinnerung an ihre Sterbestunde – das vergeht nicht, und wenn ich hundert Jahr alt werde.«
So erhob denn Leib keine Einwendung, als Reb David wünschte, daß die Hochzeit schon nach vierzehn Tagen stattfinden solle. »Es ist das beste so«, sagte der Greis. »Soll meine Braut nach Winkowce heimkehren, unter die Bauern, von denen gewiß noch der und jener glaubt, was ihm die Kasia von ihr erzählt hat? Oder soll sie Leuten wie Schmul und Rachel länger als nötig zur Last fallen?! Bleibet auch Ihr ruhig hier. Die Sach zwischen Euch und Krumm-Schimmele laß ich schon ordnen; vielleicht übernimmt er Eure Pacht, das wäre das klügste. Denn allein werdet Ihr im verödeten Haus nicht wieder wirtschaften wollen. Es findet sich schon etwas anderes für Euch, ob mit oder ohne meine Hilfe, mögt Ihr selbst entscheiden!«
Die Ausrichtung der Hochzeit übernahm natürlich der Bräutigam. »Es soll alles aufs einfachste sein«, versprach er, »nur die notwendigsten Leute, weder Musik noch ein großes Mahl. Am liebsten ließe ich die Chuppe (den Trauhimmel) in meinem eigenen Hause aufstellen, aber das geht gegen den Brauch, und so mag es im Hause des Rabbi sein . . . Den Brauch«, fügte er lächelnd bei, »wollen wir überhaupt einhalten. Meine Braut ist gefragt worden, als ob sie eine Christin wäre, aber deshalb bin ich doch ein Jud, sogar ein alter, und darum werde ich sie in den vierzehn Tagen nicht besuchen, auch nicht anderswo sehen.«
So wurde es auch eingehalten, aber das Gegenteil wäre ihm auch schwer geworden. Denn schon nach einer Woche war die Verbindung zwischen beiden Ufern nur noch durch Kähne möglich und die Überfahrt nicht ungefährlich. Miriam hörte auch sonst von ihrem Bräutigam nichts; er war sogar feinfühlig genug, ihr kein Geschmeide zu senden. Auch die Aussteuer, die Rachel für sie besorgte, beschränkte sich auf das Notwendigste. So fehlte dieser Brautzeit aller Duft, alles Licht. Grau und düster, wie Himmel und Erde, war auch das Leben in der engen Hütte.
Wenn der Vater sie ansah, wie sie so mit stillem, ernstem Antlitz, von der Trauer und der ungewohnten Stubenluft noch immer bleich, am Fenster der Kammer saß und bei dem kärglichen Licht dieser häßlichen Herbsttage an ihrer Aussteuer nähte, schwebte ihm oft die Frage auf den Lippen, ob sie ihren Entschluß nicht bereue. Er kämpfte lange, bis ihm die Worte doch einmal – es war am Donnerstagabend, und am Sonntag sollte, wenn nur der Bräutigam aus seinem Hause nach dem Marktflecken gelangen konnte, die Hochzeit sein – laut auf die Lippen traten.
»Nein«, erwiderte sie und hielt seinen prüfenden Blick ruhig aus. »Was hätte sich auch geändert, daß ich es bereuen sollte?!«
Der folgende Tag war jener erste sonnige Tag nach dem langen Düster. Er zauberte überall eine andere, hellere Stimmung in den Gemütern hervor, bei diesen beiden Menschen versagte seine Kraft. Blieb es noch die beiden nächsten Tage andauernd schön, dann konnte die Hochzeit sicherlich am Sonntag stattfinden – Vater und Kind wurden dadurch weder schmerzlich noch freudig erregt.
Dem sonnigen Tage folgte eine klare, helle, kalte Nacht. Leib blieb bis Mitternacht auf dem Bänkchen vor der Hütte seines Schwagers sitzen; er empfand die Kälte nicht, auch kein Bedürfnis nach Schlaf. Es war nur wieder eine in der langen Reihe von Nächten, da er den Schlummer vergeblich ersehnte. Aber heute war noch minder daran zu denken als sonst. Der Pope war am Vormittag wieder bei ihm gewesen und hatte neuerdings in ihn gedrungen, die Bürgschaft für den Janko zu übernehmen, diesmal in beweglicheren Worten als das letzte Mal.
»Der Mensch geht im Kerker zugrunde«, sagte er ihm. »Wenn du ihn sehen könntest, du hättest Mitleid mit ihm, auch wenn dein Herz von Stein wäre. Und du hast ein weiches, gutes Herz, Leibko. Denk daran, wie viel Gutes du ihm schon im Leben erwiesen hast, und füge diese größte, letzte Wohltat hinzu. Du kannst es ruhig tun, er ist ein anderer Mensch geworden, so traurig und ergeben! Er weiß ja – ich habe es ihm gesagt –, daß deine Tochter am Sonntag heiratet; er hat nur leise aufgeseufzt, aber nichts gesagt, geschweige denn gedroht oder getobt. Du läufst also gar keine Gefahr dabei. Auch verlange ich deine Bürgschaft so, daß er erst am Montag frei wird. Da ist deine Tochter bereits Herrin in einem großen, wohlbehüteten Hause – was kann ihr da geschehen?!«
Leib hatte sich abermals Bedenkzeit erbeten, diesmal bis zum Sonntagmorgen. Und nun saß er in der stillen Nacht und lauschte und lauschte in sich hinein. Aber er konnte auch nun nicht erkunden, was er ihm befahl.
Am nächsten Morgen fragte ihn Miriam, warum er so lange schlaflos geblieben. »Woher weißt du das?« war seine besorgte Gegenfrage.
»So kurz vor der Hochzeit schlafen wohl die wenigsten Bräute«, erwiderte sie gepreßt. Dann aber drang sie in ihn, ihr zu sagen, was der Pope von ihm gewollt.
Da gestand er es ihr endlich. Sie wurde um einen Schatten bleicher und sagte dann:
»Ich bin nur ein dummes Mädchen, aber weißt du, was ich an deiner Stelle täte? Ich würde Reb David fragen, ob er sich vor dem Janko fürchtet. Sagt er nein, so darfst du das gute Werk tun.«
»Du hast recht«, sagte er erfreut, »so will ich's machen.«
Am Sonntag – es war abermals ein klarer, schöner Tag – ließ er sich schon in aller Frühe über den Fluß setzen; die Schiffbrücke war noch immer nicht passierbar. Reb David war erstaunt, als ihm Leib sein Anliegen vortrug; von der Leidenschaft des Janko für Miriam wußte er ja längst, nicht aber, daß er je so furchtbare Drohungen ausgestoßen.
»Ihr tätet es wohl gern?« fragte er dann lächelnd. »Es sieht Euch ähnlich, Reb Leib! Gutes für Böses, Trost für ein Unglück, das er sich selbst bereitet hat. Aber ob ich Euch den Gefallen tun kann, weiß ich nicht. Ich geb Euch hier einen Brief an den Bezirksrichter mit, er soll Euch sagen, ob der wilde Mensch wirklich so zahm geworden ist, wie der Pope sagt. Natürlich soll er aber erst morgen freikommen.«
Die Antwort des Richters lautete beruhigend: »Zahm wie ein Pudel. Du kannst ruhig unterschreiben, Leibko. Unter uns gesagt, du tust damit nicht bloß ein gutes Werk, sondern auch mir einen Gefallen. Ich fürchte wirklich, er geht mir hier sonst zugrunde.«
So setzte Leib in hebräischen Buchstaben seinen Namen unter die Bürgschaft neben den des Popen. »Aber er wird wirklich erst morgen frei?« fragte er besorgt.
»Morgen!« beruhigte ihn der Richter.
Am Nachmittag kamen Reb David und seine Schwester im Kahn über den Dnestr gefahren, und die Trauung fand im Hause des Rabbi statt, wie es bestimmt war. Nur währte das Hochzeitsmahl doch etwas länger, als der Bräutigam es gewünscht. Er trank und aß wenig, die Braut, die mit stillen, ernsten Mienen im Kreise der Frauen dasaß, fast nichts, aber die anderen Gäste desto mehr. Er ließ Miriam aus dem Weiberzimmer holen, sobald es irgend ging, aber es war doch bereits tiefe Dunkelheit, als er mit seiner Neuvermählten den Kahn bestieg, der sie in sein Haus tragen sollte, das jenseits der breiten, dunklen Flut hellschimmernd herübergrüßte.
»Du mußt vorsichtig rudern, Michalko«, sagte er dem Knecht, der im Boot, auf der Ruderbank zusammengekauert, ihrer harrte. »Du weißt doch? Auf die Pappeln zu! Sonst trägt uns die Strömung zu weit ab!«
Der Mann murmelte etwas Unverständliches und stieß ab.
»So leid es mir tut, du mußt dich recht weit von mir setzen«, sagte Reb David scherzend zu seinem jungen Weibe, »in die Mitte hin, sonst schaukelt der Kahn zu stark.«
Sie tat es, aber das Schaukeln ward immer stärker, und nun zog der Knecht die Ruder ein und erhob sich.
»Was treibst du, Michalko?!« rief Reb David erschreckt. »Bist du betrunken?!«
»Miriam!« Im nächsten Augenblick hatte Janko Wygoda die Entsetzte umfaßt. »Ein Grab . . .«
Eine Sekunde später schlug der Kahn um, und die drei Gestalten versanken in der dunklen, kalten Flut.
Das Hochzeitsmahl ging ungestört weiter; erst als nach zwei Stunden die Schwester Reb Davids heimkam und die Neuvermählten nicht im Hause fand, erkannte sie, daß ein Unglück geschehen, fuhr wieder zurück und störte die Fröhlichen auf.
»Der Janko!« stöhnte Leib und brach ohnmächtig zusammen.
Am nächsten Morgen konnte der Bezirksrichter in seinem Protokoll alles aufs beste aufklären; der Kerkermeister hatte seinen Gefangenen eigenmächtig schon am Nachmittag des Sonntag entlassen, und der Michalko war, statt auf der Ruderbank zu harren, in die Schenke am Ufer gegangen. Aber davon wurden Reb David und sein junges Weib nicht wieder lebendig.
Leib Weihnachtskuchen hatte nach dem Tode seines Weibes viel geweint; diesmal fand sein Auge keine Tränen. Stumm, mit starren, blassen Mienen saß er auf demselben Schemel, wo er die Totenwacht um Chane gehalten, und blickte in die zuckende Flamme des Seelenlichts. »Sucht! sucht!« – stieß er dann immer angstvoll hervor. Die Hände hingen schlaff herab, nur manchmal griff er sich ans Herz, als empfinde er da einen ungeheuren Schmerz.
Zwei Tage später war sein brennender Wunsch erfüllt, da wurden die Leichen aus dem Strom gehoben. Zuerst die Reb Davids allein, dann jene Miriams und des Janko. Er hatte ihre Hand im Todeskampf erfaßt, und seine starre Rechte umkrallte die ihre noch immer. Mit Mühe lösten sie die Umschlingung.
Als man Leib meldete, daß das letzte, was er noch auf Erden wünschen konnte, erfüllt sei, nickte er still vor sich hin; er erhob die Augen zum Himmel, und sein Antlitz ward wieder friedlich. Auch hatte er die Kraft, der Leiche bis ans Grab zu folgen. Als die ersten Schollen niederfielen, zuckte er zusammen, die Tränen flossen über das Antlitz, und er rief mit markerschütternder Stimme: »Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn . . .«
Das letzte konnte Leib Weihnachtskuchen nicht mehr sagen. Er preßte die Hand aufs Herz und brach tot zusammen.