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Um die Mittagsstunde kehrten Leib und Chane heim, auf getrennten Wegen, wie sie gegangen waren. Vor dem Dorfe ließ die kluge Frau den Wagen halten und schleppte sich heim, so schwer es ihr auch fiel. Leib aber mußte den Weg ums Dorf nehmen, als käme er von Jezupol.
Als sich die Kasia von ihnen verabschiedete, stritt sie einen harten Kampf mit sich, ob sie ihnen den Besuch des Janko mitteilen oder verschweigen sollte. Für die Zukunft versprach es ja entschieden mehr Spaß, wenn sie schwieg; dann wurde das Mädchen sicherlich minder scharf beaufsichtigt. Aber etwas für sich zu behalten, war dieser mitteilsamen Natur unmöglich; sie gab sogar schließlich auch diesmal bedeutend mehr, als sie eigentlich zu geben hatte. Und so erfuhr Chane, daß Janko ihrer Tochter den Tod angedroht, wenn sie den Alten nehme; Miriam aber habe geschworen, daß sie lieber in den Dnestr gehen wolle, als Reb David Münzers Weib zu werden.
Die Frau erschrak ins tiefste Herz hinein, faßte sich dann aber rasch wieder. »Du lügst wie immer!« sagte sie kalt. »Geh – ich bin froh, daß ich dich nun fünf Tage lang nicht anzuhören brauche.« Als aber die Goje gegangen war, rief sie die Tochter aus der Schenkstube ab und fragte, was denn daran Wahres sei.
»Nicht viel«, erwiderte Miriam und versuchte zu lächeln. »Der Janko war hier und hat gefragt, ob ich verlobt bin. Bedroht hat er mich nicht. Und als ich sagte, daß alles Lüge sei, war er wieder ruhig und hat von seinem schwarzen Kalb erzählt.«
Die Worte klangen unverfänglich, aber der Ton war befangen, und die Wangen flammten in dunkler Glut. Frau Chane mußte die Hand aufs Herz pressen, so sehr pochte es in bangem Schrecken. Es währte lange, bis sie sich so weit gesammelt hatte, um etwas zu erwidern. Es schien ihr richtig, das Mädchen scharf auszuschelten.
»Von seinem schwarzen Kalb hat er erzählt?« fragte sie. »Du aber bist ein rotes Kalb! Was hast du mit ihm zu reden, da du doch weißt, daß es uns beim Gnädigen schaden kann? Und was geht's ihn an, ob du verlobt bist oder nicht!«
»Aber wenn er fragt . . .«
»So brauchst du nicht zu antworten. Und hast du, ein ehrlich jüdisch Kind, wirklich etwas gegen einen Mann wie Reb David gesagt, der so hoch über uns steht und über allen Juden auf fünfzig Meilen im Umkreis?«
»Nichts!« beteuerte Miriam. »Ich hab nur gemeint, daß die Leut da etwas Unsinniges erfunden haben. Wir passen ja im Alter nicht zusammen.«
»Das gerade ist ebenso dumm als frech«, sagte die Frau. »Was willst du grünes Ding entscheiden, wer für dich paßt! Ein jüdisch Kind überläßt das seinen Eltern und macht sich keine Gedanken darüber . . . Das kommt von dem Umgang mit Bauern und Bäuerinnen und von den schamlosen Liedern! Weh dir, wenn ich noch einmal solche Reden von dir höre! . . . Geh!«
Heftig schluchzend ging Miriam aus der Stube; Chane aber starrte lange im stummen Brüten vor sich hin. Vielleicht bin ich zu scharf gewesen, dachte sie. Aber nein – da darf man nicht mild sein! Um Himmels willen, wenn sie wirklich nein sagt? Oder wenn der Tölpel schließlich doch in seiner Raserei ein Unglück anrichtet? Sie rang verzweifelt die Hände. Wie konnte man ihn unschädlich machen?! Aber es war ja nun nicht mehr die größte Gefahr, das herbste Unglück, das sie treffen konnte. Noch viel furchtbarer wär's, wenn etwa Miriam . . . »Nein! nein!« schrie die gequälte Frau auf, »das kann Gott der Gerechte nicht zulassen. Was hätte ich verschuldet, daß über mich größere Schmach und Trübsal kommen sollte als je über eine Mutter in Israel?!« Aber die fromme Zuversicht wurzelte doch nicht so tief in ihr, um ihr das Bangen zu scheuchen. »Sei klug und hilf dir selbst, dann hilft dir auch Gott« – der Spruch ihres Vaters stieg wieder in ihr auf. Sie dachte nach. Sie muß von hier fort, dachte sie, ich muß sie sofort, schon morgen, zu meiner Schwester nach Halicz bringen. Dort ist sie wenigstens vor dem Tölpel sicher. Freilich erfährt sie dort gleich die Wahrheit, aber das muß sie ja nun jedenfalls. Sie wird weinen, vielleicht sogar sich zu sträuben versuchen, aber dort find ich Hilfe, sie zur Vernunft zu bringen. Auf Leib ist ja kein Verlaß, er ist wie ein Rohr im Winde, und wenn sie weint, so weint er eben mit . . .
Der Entschluß gab ihr wieder etwas Zuversicht; zudem hatte sie keine Zeit zu grübeln. Seit dem frühen Nachmittag war der lang erwartete Herbstregen eingetreten und goß nun in Strömen nieder; die Schenkstube war noch besuchter als sonst, weil das Wetter die Leute von vornehmerem Geschmack, die es sonst vorzogen, sich in Halicz ihren Sonntagsrausch zu holen, in die Dorfschenke trieb; sie und Leib hatten alle Hände voll zu tun; auch Miriam mußte mithelfen. Es weckte unter diesen Umständen nicht bloß die Entrüstung der Frau, sondern auch die ungestüme Heiterkeit der Gäste, als gegen Abend der rote Saverko, der Knecht des Janko, eintrat und die Botschaft seines Herrn ausrichtete: Leib möge doch sofort zu ihm kommen, er habe etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen.
»Ganz wie unser Pan Paterski!« lachte Onufrij. »Wir aber lassen unseren gnädigen Herrn Janko von Wygoda bitten, sich hierher zu bemühen. Bei dem trüben Wetter ist ohnehin etwas Spaß nötig.«
Leib erfuhr erst am nächsten Morgen von Jankos Unterredung mit Miriam und dem Entschluß, den Chane gefaßt. Zunächst erschrak auch er tödlich, aber jener Gedanke, an dem sie sich vergeblich emporzuranken versucht, gab dann ihm bessere Kraft: »So hart straft er nicht!« sagte er. »Du täuschest dich! Unseres Kindes Herz ist auf rechten Wegen!«
Gleichwohl erhob er keinen Einspruch dagegen, daß Miriam sofort nach Halicz übersiedle. »Mir ist bang ums Herz«, klagte er, »wer weiß, was der Janko gestern von mir gewollt hat.« Nur für den heutigen Tag verbot sich die Reise durch Chanes Zustand; noch immer strömte der Regen in so dichtem Guß hernieder, daß sie nicht einmal die Fahrt, geschweige denn den Gang nach dem Marktflecken wagen konnte.
Was Janko gewollt, sollte Leib bald erfahren: als er noch mit Chane in eifriger Beratung beisammensaß – Miriam war eben in der Küche beschäftigt –, trat der Bauer in die Schenkstube. Die Frau erhob sich und wies ihn heftig hinaus, er aber trat näher und sprach finster und drohend: »Es könnte Euch vielleicht später leid tun, daß Ihr mich nicht angehört habt. Wir sind bald fertig.« Er sagte es in einem Ton, daß sie ihre Weisung nicht wiederholte. »Also kurz«, fuhr er fort. »Warum habt Ihr mir Euer Haus verboten – aus Furcht für Eure Tochter oder aus Furcht vor dem Polen?«
»Wir sind dir darüber keine Rechenschaft schuldig«, erwiderte Chane. »Aber warum sollten wir's verschweigen? – es paßt uns aus beiden Gründen nicht.«
»Ich aber kann beide beseitigen«, sagte der Bauer; er sprach rascher und bestimmter als sonst; offenbar hatte er sich die Worte wohl zurechtgelegt. »Wenn ich will, so verlängert der Pole Eure Pacht auf so viel Jahre, wie Ihr nur wollt.«
»So mächtig bist du?« höhnte Chane.
»Nein! Aber das kann ich versprechen. Der Pole will meinen Obstgarten. Ich habe nichts davon hören wollen. Denn Ihr wißt, daß ich zweierlei geschworen habe: mein Gut bleibt mein und Eure Tochter wird mein. Lebend oder tot – mein. Aber es würde mir schwerfallen, sie töten zu müssen, denn ich habe sie sehr lieb, und darum will ich, wenn es etwas dazu nützt, meinen Schwur wegen des Gutes brechen. So bin ich also gestern, nachdem ich erfahren habe, daß Ihr mich auch deshalb hier nicht dulden wollt, zum Polen gegangen und habe ihm gesagt: ›Für den Leibko die Pacht, so lang er will, und dir meinen Obstgarten zum Preis, den du willst.‹ Er stimmt zu. Das habe ich dir gestern sagen wollen und sage es dir heute. Entschließe dich, aber rasch, denn nur bis Mittag steht er mir im Worte.«
»Wir danken«, erwiderte Chane kurz. Leib aber meinte: »Das könnte ich schon deshalb nicht annehmen, weil du da mit dem Polen ein schlechtes Geschäft machen würdest. Weißt du, warum er deinen Obstgarten . . .«
»Das ist mir gleichgültig«, erwiderte Janko. »Schade, schade, denn die Furcht für Eure Tochter könnte ich Euch nun auch benehmen. Seit ich weiß, daß sie nicht verlobt ist, bin ich wieder ganz ruhig. Aber ich werde auch nie wieder unruhig sein, denn seit gestern weiß ich, daß Ihr vergeblich versuchen würdet, sie zu zwingen. Seit gestern weiß ich, daß sie mich auch liebhat. Gewiß nicht so, wie ich sie, denn erstens kann kein Mensch den andern so liebhaben wie ich die Miriam, und es hat auch noch nie einer ein Mädel so liebgehabt, seit die Welt steht, und zweitens ist sie ja noch ein Kind.«
Leib war erbleicht und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Chane aber beugte sich zitternd vor; sie war in diesem Augenblick unheimlich anzusehen, so wild verzerrt war das hagere Antlitz. »Und woher weißt du, daß sie dich liebhat?« keuchte sie. »Hat sie es dir etwa gesagt?«
»Nein«, erwiderte er. »Aber wie sie so . . .« Er begann zu stottern; auf diese Frage war er wohl nicht gefaßt gewesen. »Wie sie so . . . neben mir stand . . . und rot wurde . . . und . . . das weiß . . . ein Mann!« schloß er hastig.
Seltsam, der Mann, der da vor ihr stand, war für sie stets nur ein Tölpel gewesen, und was er nun hervorstotterte, klang wahrlich hilflos genug – und dennoch zweifelte die Frau keinen Augenblick, daß seine Empfindung die richtige gewesen. Immer keuchender ging ihr Atem aus und ein, daß Leib angstvoll den Arm um sie legte und dem Janko heftig zurief: »Nun geh!«
Aber der Bauer blieb trotzig stehen; er mißdeutete die Verzerrung in den Zügen der Kranken, glaubte, daß sie ihn verlache, weil er zuletzt Unsinn geredet, und so rief er höhnisch: »Außerdem hat es mir auch die Kasia gesagt. Daß du es nur weißt: wie verrückt ist die Miriam nach mir! Bei allen Heiligen hat es mir die Kasia geschworen. Und die Kasia ist eine Christin! Verstehst du, Jüdin? Eine Christin!«
»Die Kasia! . . .« Diesmal lachte Chane wirklich auf. Aber es war ein grauenvolles Lachen, das jählings in ein Röcheln umschlug.
»Lache nur!« schrie der Bauer in wilder Wut, »deshalb wird deine Tochter doch mein Weib! Und willst du sie nicht taufen lassen, so wird sie meine Metze! Das kann mir noch lieber sein; dagegen hat auch der Pope nichts! Meine Metze – hörst du's, du verdammte Jüdin, meine Metze, wenn ich will!«
Sie wollte erwidern, da brach ein Blutstrom von ihren Lippen. »Geh!« schrie Leib schrill auf, »du hast sie getötet!«
Entsetzt starrte der Bauer auf die Kranke, den Strom von Blut, der sich über Leib ergoß, der sie in den Armen hielt. Ohne die Augen von dem furchtbaren Bilde losreißen zu können, wich er langsam, rückwärts taumelnd, gegen die Türe zurück. Die Miriam hatte den Schrei des Vaters gehört und kam hereingestürzt. Ein Blick auf die Verblutende und den Mann an der Tür genügte, um sie erraten zu lassen, was da vorgegangen. »Mutter«, schrie sie verzweiflungsvoll auf – sie wußte selbst nicht, wie ihr die Worte auf die Lippen traten, ihr war's, als riefe sie eine Stimme in ihrem tiefsten Innern: »Mutter . . . ich will dir immer gehorsam sein!«
Die Augen der Sterbenden wurden noch einmal groß und weit; sie versuchte die Hand zu heben, als wollte sie sie drohend gegen den Mann strecken, der, vom Entsetzen gelähmt, noch immer an der Tür lehnte und sie mit starrem Blick ansah. Dann wandelte sich der Ausdruck der Züge und wurde mild und friedlich; mit dem letzten Aufgebot ihrer Kraft ließ sie die Hand auf das Haupt ihres Kindes sinken.
»Bleib« – es klang kaum hörbar und nur wie ein Hauch – »bleib ein ehrlich jüdisch Kind!«