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Die Sandel.

Eine Erzählung.

I.

Die Truppen zogen mit klingendem Spiel durch die große Straße von Stadt X., wie Bewohner und Land das Oertchen tituliren. Es heißt nicht schlechthin X., wie etwa Wien, Berlin oder Buxtehude, sondern nach Würden Stadt X., damit es Keiner für ein Dorf halten möge. – Buben und Mädchen umringten jauchzend die ungewohnte Scene; der Regimentstambour mit dem goldgeknöpften Commandierstock hatte Mühe, sich durch die großen und kleinen Flachsköpfe Bahn zu brechen. Hinter allen Fenstern lauschten, an allen Thüren harrten die Bewohner der ungewohnten Gäste, die Häuser waren sonntäglich schmuck und blank geputzt: seit zehn Jahren war kein Manöver in der Gegend gewesen und heute gab es stundenweit in der Runde Einquartierung in jedem Hof und Haus.

»Welche Prachtdirnen in diesem Nest!« rief der Hauptmann So und So, in den Kreis der Cameraden tretend, nachdem der Zug auf dem Kamp Halt gemacht und dessen harmlose vier- und zweibeinige Gäste zum Abzug genöthigt hatte. »Auf Ehre, wirkliche Kernfiguren! Wie wär's mit einem Tanz, meine Herren?« Einstimmiger Beifall von allen Seiten. Der Hauptmann fuhr fort:

»Fähnrich v. Kalb, arrangiren Sie uns einen Ball. Trommeln Sie die Grazien von Stadt X. zusammen, seien Sie heute Abend Maître de plaisir.«

– Zu Befehl, Herr Hauptmann, – antwortete Hand am Helm, diensteifrig der Fähnrich, der eben aus dem Cadettencorps zu dem Regimente gestoßen war, und dem das blitzende Portepée noch mit jedem Schritte frische Kräfte in die des Marschierens ungewohnten Hüften schlug. – Befehlen der Herr Hauptmann hier unter den Linden? –

»Zu kühl und feucht im Freien, junger Freund. In der Schenke, in der Schule, in einer Tenne, wo Sie Platz finden. Wir überlassen uns Ihrem Genie und erfahren beim Appell Ihre Dispositionen. Jetzt einige Stunden Rast in unseren Quartieren. Der Fähnrich v. Kalb legt heute sein Tentamen zum Lieutenant ab, meine Herren. Ein Qualificationsattest wird ihm nicht fehlen. Auf Wiedersehen im Kreise der Schönen!«

Der Fähnrich hatte seine Schuldigkeit gethan; nicht etwa in der Schenke, – o, wie würden die Bürger von Stadt X. diesen Anachronismus übel empfunden haben! – im Gasthause zum König Wittekind war mit Sonnenuntergang der gesammte Mädchenflor harrend versammelt; und in der That eine gar stattliche Versammlung, diese großen kräftigen Gestalten, mit den reinen, treuherzigen Zügen, die unserer Provinz erbeigenthümlich sind. Als der Hauptmann durch die Tenne in den sogenannten Saal mit den festgenagelten Eichenbänken rings an den Wänden trat, nahte sich ihm der dienstthuende Fähnrich mit der Meldung:

– Sie sind Alle beisammen, Herr Hauptmann; nicht eine Einzige fehlt; sogar eine junge Dame aus Berlin zum Besuche in der Apotheke ist auf mein dringendes Ersuchen erschienen. –

»Hätte fortbleiben können«, meinte der Hauptmann, das kleine Stumpfnäschen musternd, das mit wallenden Locken, mit Echarpe und Falbalas sich zwischen den halb dörflich, halb städtisch gekleideten, sie um Kopfeslänge überragenden Schönen blähte. »Die Sorte ist uns nichts Neues, lieber Freund.«

Der Ball begann und entwickelte sich zum unaussprechlichen Vergnügen mindestens der weiblichen Hälfte der Versammlung, in deren Gedächtniß die volle, lustige Regimentsmusik, die raschen Tänze und schmucken Cavaliere noch nach Jahren unauslöschlich fortlebten. Unsere manövrirenden Helden jedoch fingen bald genug an, müde und lässig zu werden. Man verhehlte sich nicht, daß diese Schönen zu drehen ein ziemlich anstrengendes Geschäft abgebe, welches der türkische Gesandte in der Residenz nicht mit Unrecht seinem Gesinde überlassen haben würde. Ein kritischer Chor musterte die derben Gliedmaßen dieser blonden Töchter Thusneldens, und gestand, daß sie hinter Spindel und Butterfaß mehr Grazie als bei der Polka entfaltet hätten. Eben forderte der Hauptmann das Stumpfnäschen aus der Residenz zum Tanz. Er war schon so weit gekommen, sich vom ländlichen Pumpernickel ab-, und dem gewohnten residenzlichen Milchbrödchen zuzuwenden. Aber die Dame war nicht umsonst eine Berlinerin, sie besaß Ton. Schnippisch drehte sie dem Bewerber den Rücken mit den Worten: Ich tanze mit keinem Herrn, der mir nicht vorgestellt ist. –

Der Hauptmann wendete sich ernsthaft zu einem jüngeren Cameraden, der, ohne am Tanze Theil zu nehmen, neben ihm in der Thür lehnt?, und sagte:

»Stellen Sie mich, bitte, der Dame vor, lieber Heinrich.«

– Mein Fräulein, – mein Vetter! – sagte sich lächelnd verbeugend der junge Camerad und trat wieder zurück.

Dem Anstandsgefühle der Dame war genug geschehen.

»Mit vielem Vergnügen« hüpfte sie im Arme des Hauptmanns, von dem sie nun wußte, daß er der Vetter eines Lieutenants war, durch den Saal.

Nun entstand eine Pause, in welcher nach dem Programm des sich selbst übertreffenden Fähnrichs Erfrischungen gereicht werden sollten. Der Hauptmann nahm eine Tasse und biß arglos in das beigelegte Backwerk.

»Schw…!« rief er aber plötzlich, es weit von sich schleudernd, » Honigkuchen! – und morgen ist Bivouac

Beruhigen Sie sich, sagte der in der Nähe stehende alte Stabsarzt. Sie trinken Kamillenthee dazu; die Wirkung neutralisiert sich.

Die Pause schien sich verewigen zu wollen, die Tanzlust der Herren völlig auf die Neige gegangen; sie hatten mit ihren zinnbeschlagenen, irdnen Bierkrügen auf den Bänken Platz genommen, während die im Saale umhertrippelnden Schönen sehnsüchtig dem Wiederbeginn der Musik entgegenharrten. In diesem zweifelhaften Interregnum erklang plötzlich durch die geöffnete, nach der Straße führende Thür der Ton einer Drehorgel und eine weibliche Stimme begann die erste Strophe des Preußenlieds.

»Die Sandel! die Sandel!« erschallte es wie aus einer Kehle im Saal und sämmtliche Mädchen drängten nach der Thür. Die Sängerin schmetterte draußen ihr Lied ruhig weiter inmitten eines Schwarmes von neugierigen Soldaten und Kindern, von Vätern und Müttern der Stadt, welche im Saale keinen Platz gefunden und von Außen dem Feste beiwohnten. Alles horchte mäuschenstill und auch im Saale wurden die Krüge leise auf die Bänke gestellt, von welchen die jungen Helden sich erhoben und Thüre und Fenstern näherten.

»Welch' eine Stimme!« rief ganz belebt der junge Camerad, der vorhin seinen Vetter vorgestellt hatte, zu diesem gewendet, und die Berlinerin, die sich stetig an ihres letzten Tänzers Seite gehalten hatte, erklärte:

– Die Sandel hat allerdings gute Mittel, aber durchaus keine Schule. –

– »Und wer ist denn diese Sandel?« fragte der Hauptmann.

– Ein ordinaires Leiermädchen, so lautete der Bescheid, das mit seinem Vater Jahr aus Jahr ein im Lande umherzieht und der Abgott dieser bäurischen Bevölkerung ist, die niemals einen andern Kunstgenuß gehabt hat. Bei keinem Jahrmarkt und Schützenfest, bei keiner Kirmeß darf die Sandel fehlen; es ist lächerlich, was diese einfältigen Menschen für ein Wesen mit dem Mädchen machen. –

»Sie muß hereinkommen und hier im Saale singen«, rief der Hauptmann, »alle Wetter, das nenne ich Töne!«

Er drängte sich mit dem Vetter durch die Thür und trat bald darauf wieder herein, gefolgt von dem Leiermann und seiner Tochter. Der Leiermann war ein alter, einarmiger Invalide mit dichtem, schneeweißem Haar und militairisch zugestutztem Bart; zwei tiefe Schmarren liefen quer über seine hageren, wetterbraunen Wangen. Er trug das schwarzweiße Band und Ehrenkreuz im Knopfloch seines altväterisch geschnittenen Soldatenrockes und grüßte, ehe er die Mütze vom Kopfe nahm, militairisch im Kreise. Dann begann er seine Orgel zu stimmen. Die Sandel nahm beim Hereintreten den großen runden Strohhut vom Kopfe, um welchen sich einfach, aber sorgfältig gewunden, zwei dichte, dunkle Flechten legten. Sie konnte höchstens achtzehn Jahre alt sein. Neben den racereinen Nachkömmlinginnen Wittekinds erschien sie klein und zierlich mit den feinen Gelenken ihrer Hände und Füße; neben der Schönheit aus der Residenz kräftig mit der ungeschnürten Taille und der schön gerundeten Linie des Nackens, die selbst unter der großen Pelerine ihres grauen Staubmantels zu erkennen war. Das runde Gesichtchen prangte im Jugendschmucke jener südlich dunklen, mit leisem Roth durchschimmerten Färbung und sammetartigen Weiche, welche den deutschen Stämmen wenig eigen ist; zwischen den großen Augen und den etwas breiten, vollen Lippen war jene an Reiz durch keine Formenschönheit zu ersetzende Correspondenz, durch welche das Auge gleichsam das Lächeln der Lippen ergänzt und der Mund um die Thränen des Auges zu wissen scheint. Man fühlte beim ersten Blick, daß die braune Sandel die Herzen des Volkes gewinnen müsse, selbst wenn ihre Stimme schwieg. Aber diese Stimme war wirklich ein liebliches, natürliches Wunder, voll und rein wie die der Nachtigall drang sie in die Seelen.

Mit freundlichem Lächeln um sich blickend stand die Sandel neben dem Alten, während dieser seine Orgel stimmte, dann sang sie noch einige Soldatenlieder, auf welche sich ihre Kunst zu beschränken schien. Ihre Züge nahmen während des Gesangs einen Ernst, ja eine Feierlichkeit an, die sich augenblicklich verlor, sobald sie schwieg oder sprach, um alsdann in eine heitere, kindliche Laune überzugehen. Die Stimmung der Gesellschaft war auf einmal neu belebt; der Hauptmann stellte unter dem Klange des »Heil Dir im Siegerkranz«, in dessen letzte Strophe der ganze militairische Chor hingerissen einfiel, eine Sammlung an, um das wandernde Paar angemessen zu belohnen; als sie aber dem Veteranen angeboten wurde, wies derselbe sie bescheiden, aber entschieden mit den Worten zurück:

»Ich danke Ihnen, meine Herren; wir thun's nicht für Geld, nur zum Plaisir«, und die Berlinerin commentirte dem militairischen Vetternpaar von Neuem, daß der alte Lorenz wohlhabend und in der Provinz ansässig sei, ja wirklich nur aus alter Gewohnheit, ohne irgendwo Bezahlung zu nehmen, das Land orgelnd durchziehe. So wurde denn die aufgebrachte Summe zu einer Collation verwendet, die man dem Alten anbot. Wein gab es in der Apotheke und bald saß der Invalide mit dem Doctor und dem Regimentskapellmeister in der anstoßenden Schenkstube, erzählte von seinen Zügen und Abenteuern in Nord und Süd und stieß an auf die Erinnerung an seinen alten König und seine alte Heldenzeit.

Die Sandel war während dessen im Saale zurückgeblieben, ein neuaufgegangener Stern, der alle übrigen verdunkelte. Der dienstthuende Fähnrich nahte sich ihr mit den Worten:

– Auf Ehre – hm hm! auf Ehre, mein Fräu –

»Ich heiße Susanne«, sie. sie lächelnd ein.

– Auf Ehre, Fräulein Susanne, Sie besitzen eine Stimme wie die Lind, Sie sollten Sängerin werden. –

»Ich singe ja schon«, entgegnete sie.

– Allerdings, mein Fräulein, Sie singen, – bestätigte der junge Enthusiast, – aber ich meine es anders, ich meine, Sie sollten auf das Theater gehen. –

»Das haben schon Mehrere gesagt«, versetzte die Sandel unschuldig, »aber warum sollte ich es? mein Vater hat zu leben.«

– Ich gebe Ihnen mein Wort, Sie würden Furore machen, – versicherte Herr v. Kalb.

Der stille Lieutenant, der Vetter des Hauptmanns, – es war der Baron Heinrich v. Kerferink, – der dieses Gespräch mit angehört hatte, mischte sich jetzt in dasselbe mit den Worten:

– »Wenn Sie Ihre schönen Anlagen durch die Kunst veredeln wollten, Fräulein Lorenz, vielleicht daß Sie ein neues, großes Glück kennen lernen würden.« –

Susanne richtete ihre Augen nachdenklich auf den jungen Mann, der sich mit bescheiden sicherer Haltung und mit einem tiefen, ernsten Klang der Stimme zu ihr gewendet hatte.

»Viel Vergnügen, ja – aber Glück, wie es die Kunst gewähren soll? so wie mir's in's Herz zieht wenn ich in Minden im großen Dom die Orgel spielen höre zu Ehren des lieben Gotts? – o nein! Und dann, wie Vieles müßte ich lernen für die Kunst, ich singe ja nur, was ich höre und kenne keine Note.«

– Der Beifall eines entzückten Publikums würde Ihnen die Mühe des Lernens lohnen, mein Fräulein – sie. hier der Fähnrich ein.

»Das glaube ich nicht«, entgegnete sie lachend und kopfschüttelnd, »daß die vornehmen, klugen Leute sich so über mein Singen freuen würden, wie die in unseren Dörfern und Städten. Und das ist ja eben die rechte Lust, daß die uns Alle so gern haben. Hätte ich die Kunst, wer weiß, ob nicht die Großen über mich lachten, und die Kleinen ärgerten. Und dann, wo sollte ich sie denn lernen? ich habe ja gar keine Zeit für die Kunst.«

– »Keine Zeit?« – fragte Herr v. Kerferink lächelnd, – »da Sie doch Jahr aus Jahr ein im Lande umherwandern, wie ich höre.« –

»Nicht Jahr aus Jahr ein«, berichtigte die Sandel eifrig, »wir machen nur zwei Mal die Runde; im Frühling und im Herbst, und das ist meines Vaters Leben. Es leidet ihn nicht die ganze Zeit still und ruhig zu Hause; er ist es so gewohnt worden, da er noch arm war, und jetzt, wo er es nicht mehr nöthig hätte, kann er nicht davon lassen. Aber wenn wir zurück kommen, da ist denn auch immer doppelt zu schaffen in Garten und Haus und Keiner, der mir hilft. Nein, nein, ich habe keine Zeit.«

Der Gesellschaft währte dieses Kunstgespräch zu lange, die Musik begann einen neuen Tanz und die Lieutenants drängten sich um die Sandel, sie zum Tanze auffordernd.

»Ich kann nicht tanzen«, sagte sie, freundlich ablehnend.

– Du kannst's, Sandel, du kannst's! – riefen die Mädchen im Chor.

»Ich kann nur tanzen auf meine Weise.«

– So tanzen wir auf Ihre Weise! – rief entschlossen der unermüdliche Hauptmann.

Schnell war sie bei der Hand, mit den Mädchen einen Kreis zu schließen, in welchen die Offiziere sich einreihten. Die Musik machte erwartungsvoll eine Pause. Und nun stimmte die Sandel mit ihrer glockenhellen Stimme an: »Es fuhr ein Bauer in's Heu, es fuhr ein Bauer in's Heu, es fuhr ein Bauer in's Kirmeßheu, heisa Kirmeßheu! es fuhr ein Bauer in's Heu!«

Die Musik, der ganze Chor stimmten ein, und dabei drehten sie sich im Kreise vorwärts und rückwärts wie die Kinder. Die Sandel brachte noch mehrere solche singende Spiele in den Gang mit einer so jauchzenden, kindlichen Lust, daß unsere jungen Helden, inclusive des vorgerückten Hauptmanns, unwillkürlich davon mitgerissen wurden, und sich in ihre Knabenjahre versetzt glaubten. Auch Herr v. Kerferink, der während des Balls so theilnahmlos in der Thüre gelehnt, war in die Reihe gekommen, er wußte nicht wie und ließ sich durch keine List und Chikane von der braunen Sandel verdrängen. Sie hatte die im Saale unnützen und beschwerlichen Wanderhandschuhe ausgezogen und ihre kleine, weiche Hand ruhte in der seinen. Bei jeder der harmlosen Pointen ihrer Spiele sah sie ihm treuherzig lachend ins Gesicht, als wollte sie fragen: »gefällt es Ihnen?«

Er hatte eigentlich schon früher aufbrechen und in der mondhellen Nacht bis zur nächsten Station wandern wollen, um von da am morgenden Ruhetage der Truppen mit dem ersten Zuge nach M., seiner Vaterstadt, zu reisen, von welcher er durch ein mehrjähriges Commando in die Residenz getrennt gewesen war. Aber er schien dieses Vorhaben ganz vergessen zu haben, und erst als der alte Lorenz in den Saal trat und mit einem Wink seine Tochter aus der Reihe lockte, erinnerte er sich desselben wieder und entfernte sich halb widerstrebend, um in seinem Quartiere die Kleider zu wechseln und dann seine nächtliche Wanderung anzutreten.

»Allons, Sandel! mach fort!« rief der Invalide, wir können hier zur Nacht nicht bleiben; die Stadt hat Gäste genug ohne uns. Wir müssen weiter!«

So gut sich die Sandel zu amüsiren schien, so setzte sie doch ohne Zögern ihren großen Strohhut auf und stand im Nu an der Seite ihres Vaters, der allen Einladungen des Wirthes, allem Drängen der Mädchen und der militairischen Gäste widerstehend, sich alsobald mit ihr entfernte. Ein Jeder fühlte, daß das Fest zu Ende sei; in wenigen Minuten war der Saal geleert, und suchten die Offiziere ihre Quartiere. Der Fähnrich von Kalb kletterte mit Hülfe eines Stuhls in das breite Bett, das sein gefälliges Wirthspaar ihm für die Nacht überlassen hatte, und entschlummerte unter seiner dicken Federdecke im Vollgefühle einer würdig begonnenen Carrière.

Heinrich von Kerferink ging indessen auf dem Wege zur Stadt, von welcher ein Frühzug ihn in wenigen Stunden seiner Heimath zuführen sollte. Noch ist die Gegend hier flach und reizlos; weite Felder, ausgedehnte Kirchspiele mit einzeln stehenden Gehöften bilden aus den Haide- und Moorstrecken der Provinz den Uebergang zu einem anmuthig belebten Thalgebiete, dessen hohe eichenbepflanzte Uferränder die Grenzen eines altehrwürdigen Waldgebirges sind. War es dieses Nahen der Heimath, die mondhelle Stille der Octobernacht, oder welches mächtige Naturbild war es, das den jungen Mann so tief und seltsam bewegte? Alles, was in seiner Erziehung, in den Einrichtungen seines Standes, in dem jahrelang gewohnten Treiben der Residenz sich Fremdartiges ihm angelegt, löste sich vor einer rein menschlichen Empfindung, die mit sehnsüchtigem Behagen sein ganzes Wesen durchdrang.

Noch war er indessen nicht weit auf seiner Wanderung gekommen, als er in einiger Entfernung die Stimme wieder hörte, welche ihn diesen Abend so tief ergriffen hatte. Er stand lauschend still. Die Sandel sang das Lied, das sich in Deutschland so schnell zur Volksweise verbreitet hat: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.« Wie viel ergreifender noch waren ihre Töne in dieser einfachen Melodie und in der stillen Nacht, als in den Soldatenliedern, in der gefüllten Schenke, mit der einförmigen Begleitung der Orgel. Seine Augen folgten der Richtung des Klanges und bald sah er im Lichte des Vollmondes das wandernde Paar aus dem Schatten einer Baumgruppe hervortreten und rüstigen Schrittes durch die Stoppelfelder gehen. Er folgte ihnen einbiegend und stand bald mit freundlichem Gruße an ihrer Seite. Das junge Mädchen schrak lebhaft zusammen, denn ihre Stimme hatte seine Schritte gedeckt.

»Das ist närrisch,« sagte sie jetzt, »wie ich an Sie dachte, sie. das Lied mir ein, und nun stehen Sie auf einmal da, als hätte ich Sie gerufen.«

– »Ihre Stimme hat mich auch auf Ihre Spur geführt, –« antwortete er und erzählte dann den Zweck seiner Reise, dabei zufällig den Namen seines Vaters, des Obersten von Kerferink, nennend.

– Wie? was? Oberst v. Kerferink vom 15. Regiment? fragte der alte Lorenz freudig erstaunt.

– »Mein Vater hat allerdings das 15. Regiment geführt, aber vor langer Zeit in den letzten Jahren des Krieges.« –

– Mein Chef! mein alter Commandeur! jubelte der Invalide auf. – Und der lebt also noch, ich glaubte ihn lange unter der Erde. –

– »Nein, er lebt, Gottlob, und es wird ihn freuen, von einem alten Cameraden zu hören, lieber Lorenz. Sie werden knapp zu seiner Zeit« – antwortete Heinrich.

– Ein stolzer, strenger Herr, – sagte der Veteran, in seine Erinnerungen verloren, – in der Garnison hielt er uns knapp genug, aber wie's los ging, hat er für uns gesorgt wie ein Vater; und wir folgten ihm blindlings. Zum Commandiren geboren! Der lebt also noch, aber hoch bei Jahren, nicht wahr, mein Herr Lieutenant?

– »Er ist fünf und siebenzig, aber bis auf die Augen rüstig und gesund.« –

– Zehn Jahre mehr als ich, das will was sagen! Aber das Augenlicht, der arme Herr! er laborirte schon damals daran, die Gicht ist ihm drein geschlagen, und er quittirte drum den Dienst. –

– »Jetzt ist es erloschen, ach schon lange. Ich glaube nicht, daß er mich ein einziges Mal deutlich gesehen.« –

»Armer Herr!« sagte die Sandel mit leisem Ton.

– Armer, braver Herr! – wiederholte der Leiermann. – Welch ein Loos bei so raschem Blut und völliger Manneskraft. Ich sehe ihn noch. Zuletzt bei Ligny; dann lag ich im Spital. Das Elend folgte und ich habe nichts wieder von ihm gehört und gesehen. –

Eine Reihe kriegerischer Erinnerungen war in ihm rege geworden; Er sprang von der einen zur andern und schien völlig in eine alte Zeit versetzt. Heinrich und Susanne gingen schweigend an einer Seite. Das junge Mädchen zog auf einem kleinen Karren die Orgel, welche dem Vater auf seinen Wanderungen zu schwer zu tragen wurde. Heinrich wollte ihr die Deichsel aus der Hand nehmen; sie ließ sie aber nicht los und so ruhte denn ihre Hand vertraulich in der seinen, indem sie beide das kleine Fuhrwerk lenkten.

Auf diese Weise kamen sie in die Nähe eines Dorfes und begegneten plötzlich einigen jungen Militairs, die dorthin einquartiert und auf einem andern Wege vom Balle zurück gegangen waren. Sie grüßten und gingen lachend weiter. Heinrich fühlte sich vor Unwillen erröthen; er hörte im Geiste alle die leichtfertigen Scherze und Voraussetzungen, die diese Begegnung anregen würde. Ein Heiligthum schien in seinem Herzen angegriffen.

– Halt nun! – rief plötzlich der Invalide, vor dem ersten Hause stille stehend. – Ihr Weg geht hier ab, mein Herr Lieutenant; wir müssen weiter, da hier noch Einquartierung liegt. Vorwärts, Sandel! –

Heinrich spürte Lust zu einem Umwege mit dem wandernden Paare, aber des Alten Weisung hatte etwas Dictatorisches und die Tochter in Folge derselben auch schon leise ihre Hand aus der seinen gezogen.

– Des Sergeanten Lorenz Respect an seinen alten Herrn Obersten, mein Herr Lieutenant, rief der Leiermann, Heinrichs dargebotene Hand herzlich schüttelnd, – zum Frühling kommt er mit der Sandel nach M. und spielt ihm ein Lied aus seiner Zeit, das ihm das alte Soldatenherz wieder jung machen soll. –

Damit schritt er rüstig voran. Heinrich aber blieb stehen und sah, wie die Sandel noch einmal den Kopf nach ihm wendete und langsam neigte. Er lauschte lange vergeblich, daß sie ihre Stimme noch einmal erheben werde, aber Alles blieb still. Endlich wanderte er träumerisch in die Nacht hinein.

*

2.

Am andern Morgen betrat er das väterliche Haus. Es war dies eine alte Curie, die nach der Säcularisation des ehemaligen Domstiftes vor zwei Jahrhunderten die Familie v. Kerferink käuflich an sich gebracht und seit fünf Generationen ununterbrochen bewohnt hatte. Eine hohe Steinmauer trennte sie von dem umgebenden Platze, dunkle Nußbäume beschatteten einen schmalen Vorhof, gegenüber lag der altersgraue Dom und hinter dem Hause, nach einer engen Gasse sich absenkend, ein kleiner Garten. Die mittelalterlichen Wohnplätze der Domcapitularen gleichen sich in dieser Anordnung im nördlichen Deutschland fast auf ein Haar.

In diesem Hause lebte seit fast vierzig Jahren der blinde Oberst v. Kerferink mit seinen Schwestern in niemals unterbrochener, regelmäßiger Weise. Er war der älteste unter ihnen, die Schwestern differirten je um ein Jahr, so daß die jüngste das neun und sechzigste Jahr schon angetreten hatte. Von Haus aus waren es sechs Fräulein v. Kerferink gewesen, deren Namen der alte Freiherr, ihr Vater, zum bessern Gedächtniß in einen Reim gebracht, auf dessen Erfindung er sich etwas zu Gute that. – »Nette, Thale, Tine, Jette, Male, Phine« v. Kerferink, sie alle hatten keinen Mann bekommen, oder genommen. Ich glaube das letztere; denn einige der Damen waren ihrer Zeit schön gewesen, und in jenen glückseligen Tagen, wo die Männer es noch mehr denn heute für eine Schuldigkeit hielten, beweibt zu sein, wo sogar die prothestantischen Domstifte dies als eine conditio sine qua non für ihre Pfründner aufzustellen für nöthig erachteten, hätte auch ein weniger zierliches Pflänzchen seinen Liebhaber gefunden. Aber die Freifräulein von Kerferink hatten sich in ihres Vaters Hause gewöhnt, zusammenzuklingen wie gut gestellte Uhren; sie gingen jede ihren Weg, der dem der anderen parallel lief und an gewissen Punkten in eine gemeinsame Fahrstraße mündete, ohne daß eine von ihnen auszuweichen oder einzubiegen genöthigt war, und ihr Schritt blieb im gewohnten Tempo. In die launenhaften Sprünge eines Eheherrn würden die Fräulein sich nicht haben finden können, dessen waren sie sich bewußt und schauten darum nicht aus nach den Herren der Schöpfung, die sich so schwer an häusliche Zucht und Ordnung gewöhnen lassen. Mehrere der Damen waren von der Wiege an Kapitularinnen von verschiedenen adligen Damenstiftern, die sie aber nicht bewohnten, um sich nicht trennen und den häuslichen Zusammenhang stören zu müssen; sie begnügten sich mit einer mäßigen Pfründe, die sie außer dem Stifte verzehren durften. Nach dem Tode des Vaters entsagte der einzige Bruder großmüthig seinem Antheil an dem nicht sehr beträchtlichen väterlichen Erbe und wurde dafür, nachdem er seinen Abschied genommen, in die schwesterliche Hausgenossenschaft aufgenommen. Die Revenuen des Gesammtvermögens inclusive der Pfründen der Stiftsdamen und einem Beitrage von des Obersten Pension, in einen Topf geworfen, dienten zur Bestreitung des Haushalts und zu einem gleichmäßigen Taschengelde der Damen für ihre menus plaisirs.

Fräulein Henriette war schon gestorben, ehe sie ihr vierzigstes Jahr vollendet hatte. Da die väterliche Gruft voraussichtlich für die sechs Schwestern zu enge war, so kauften sie nahe derselben einen Platz, der sie alle bequem einst beherbergen konnte; jede von ihnen ließ an der Stelle, wo sie dem Alter nach an der Reihe war, eine Bank errichten, auf welcher sie allsonntäglich nach dem Morgengottesdienst sich einer stummen Betrachtung der jenseitigen Dinge überließ. Eine Laube von Geisblatt wölbte sich über dem Platze und eine Granitplatte in der Mauer zeigte die Inschrift: »Hier ruhen einig in Gott die sechs Schwestern, Freifräulein von Kerferink;« während aus jedem einzelnen Hügel nur der Vorname der Hingeschiedenen nebst Geburts- und Sterbetag angebracht werden sollte. Fräulein Natalie folgte der vorangegangenen Schwester schon nach wenigen Jahren und so hatten seit Heinrichs Gedenken nur vier Tanten sich in die Zucht des väterlichen Hauses zu theilen gehabt.

Es war eine gewaltige Störung in das regelmäßige Getriebe dieses Hauses gekommen, als vor jetzt 25 Jahren der Oberst, schon ein Fünfziger, urplötzlich und den Schwestern unbegreiflich in Jünglingsleidenschaft für eine blutjunge und blutarme Anverwandte der Familie entbrannte und dieselbe, den erstarrten Damen zum Trotz, in das alte Haus als seine Gattin führte. Die Störung war aber nicht von langer Dauer gewesen und die schöne blasse Frau nach kaum einem Jahre, als sie kurz vorher unserem Freunde Heinrich das Leben gegeben, schon wieder in ein noch stilleres, festeres Haus hinabgestiegen, in welchem, so Gott es gewollt, sie leichter als in ihrem Erdenhause einen geeigneten Platz gefunden haben wird.

So kam denn der kleine Heinrich unter die Obhut der ältesten Tante Antoinette, der beweglichen Chanoinesse und theilte diese Obhut nach kurzer Zeit mit einer gleichfalls früh verwaisten Schwestertochter seiner seligen Mutter, deren Erziehung die Familie aus Verwandtenpflicht sich nicht entziehen zu können glaubte. Heinrich und Franziska, fast gleichen Alters, wuchsen auf diese Weise geschwisterlich nebeneinander auf, während sie von der Wiege ab als ein künftiges Ehepaar betrachtet wurden. Franziska besaß ein kleines Erbtheil, das sich unter der gewissenhaften Verwaltung des Oheim-Vormunds ansehnlich vermehrte; ihre Ahnenprobe war makellos; wäre sie nicht Heinrichs Frau geworden, sie hätte jederzeit die Nachfolgerin einer der Capitularinnen der Familie werden können. Auf diese Weise festgewurzelt durch Geburt und Erziehung in der Regel des Hauses v. Kerferink, trat durch eine Verbindung voraussichtlich kein störendes Element in dasselbe; die künftige Heirath der Kinder stand demnach seit ihrem ersten Lebensjahre fest und war nur jetzt in ihrem vier und zwanzigsten noch nicht vollzogen worden, weil diese selbst noch kein Verlangen danach ausgesprochen, und weil die ehrwürdigen Familienhäupter nicht auf den Einfall gekommen waren, Unmündige zu drängen.

In einer auswärtigen Erziehungsanstalt hatte Heinrich sich später für den von Hause aus so gut wie seine Ehe über ihn verhängten Militairstand vorbereitet, und wenn er auch vielleicht aus freier Neigung einen andern Beruf gewählt haben würde, so dachte er doch nicht an einen ernsthaften Widerspruch gegen das Hausgesetz, froh genug, einen Platz im Ingenieurcorps statt in irgend einem Gardereiterregimente durchzusetzen. Freilich war bei letzterer Angelegenheit die Kühnheit und der Einfluß der sich gelegentlich zu einer Parteistellung im Familiencorps erhebenden Tante Chanoinesse nöthig gewesen, um den Widerstand des stolzen Obersten gegen eine an das bürgerliche streifende und meist bürgerliche Elemente bergende Waffenart zu brechen. Seit Jahren war der junge Mann nur noch als Gast in die alte Curie eingekehrt und hatten während der Zeit zwei der Tanten ihren Platz unter der grünberankten, letzten Ruhelaube der Schwestern von Kerferink gefunden.

Als Heinrich sich jetzt dem »grauen Hause« – so hieß es in der Stadt – näherte, überfiel ihn eine seltsame Beklommenheit, als fliege er aus freier Luft in einen Kerker oder in eine Gruft. Das schwere Gewicht zog die Thür in der Mauer des Vorhofs leise wieder in die Angel, die umgebende Stille schien ihm tiefer und düsterer als je zuvor. Die Fenster in Tante Rudolphinens Zimmer im Erdgeschosse waren geöffnet, die schneeweißen Rollen dahinter niedergelassen, – welche Bedeutung konnte diese um die Mittagsstunde im Hause unerhörte Einrichtung haben? Eine bange Ahnung beschlich unseren Freund, als er die Schelle an der Hausthür zog, welche der alte Jochmus mit einer noch feierlicheren Miene als gewöhnlich öffnete. In der Küchenthür stand Jungfer Kathe, die Köchin, mit von Weinen verschwollenen Augen.

– »Was macht mein Vater, lieber Jochmus?« – fragte Heinrich schnell.

– Der gnädige Herr befinden sich zur Zufriedenheit, Herr Baron, – hub der Alte an, doch ehe Heinrich eine weitere Frage hervorbringen konnte, trat seine Cousine Franziska aus dem Zimmer der Tante Wirthschafterin. Auch in ihren Augen standen Thränen, indem sie ihrem Verwandten die Hand reichte.

»Hast Du unseren Brief erhalten, lieber Heinrich; weißt Du schon« –

– Nein, nein – um Gotteswillen, was? – drängte er.

»Die gute Tante Rudolphine ist nicht mehr; vorgestern Abend ging sie hinüber,« antwortete Franziska und öffnete leise die Stubenthür. Da lag auf ihrem Bett, im gewohnten häuslichen Anzug, mit den Zügen einer Schlafenden und die im Leben nimmermüden Hände fromm über ihrer Bibel gefaltet, das alte Fräulein, die gute kleine Tante, wie sie in der Familie hieß, denn sie war nicht nur die jüngste, sondern auch die einzige nicht in die Höhe gegangene der Kerferinks und hatte an der Tafel jederzeit ihren Platz unten an, neben den beiden Kindern Franziska und Heinrich, eingenommen.

Das war nun die dritte der alten, befreundeten Gestalten, welche der junge Mann im Vaterhause nicht wiederfand; die Bangigkeit, welche seine Seele umfangen gehalten, löste sich in eine tiefe Wemuth, er küßte mit liebevoller Rührung die Hand der Todten und ging dann stumm an Franziska's Arm in das obere Geschoß, wo die übrigen Familienzimmer lagen.

Das Herkommen des Hauses erheischte, daß jeder der spärlichen Gäste zuvörderst in das große Empfangszimmer geführt und dann der Chanoinesse gemeldet wurde, welche darauf bewillkommnend aus ihrem Privatcabinette trat. Die übrigen Damen folgten alsdann, je nachdem Laune und Beschäftigung es zuließen.

Heute aber ging Heinrich nicht erst in das große Empfangszimmer, sondern allsobald in das des Vaters, welchem Jochmus ihn schon gemeldet hatte. Schweigend umarmte er den Greis und begrüßte er die Tante: die Geschwister um diese Stunde bei einander zu finden, auch das war gegen alle hergebrachte Regel, man sah, wie tief die Verwirrung und Bestürzung des Hauses sein mußte, dessen erste Schaffnerin es verlassen hatte. Der Oberst und seine älteste, nun noch einzige Schwester Antoinette hatten sich von Kindesbeinen an geglichen wie ein Zwillingspaar und auch heute war diese Aehnlichkeit noch in die Augen fallend: beide groß, mager, steif in die Höhe gerichtet, mit scharf gebogenen Nasen, großen hellblauen Augen, schlichtem, schneeweißem Haar, das sich um hoch und kühn gewölbte Schläfen legte. Nur der starrblinde Blick und eine tiefe, finstere Furche in der Stirn des Obersten, sowie ein Zug von mittheilsamer Heiterkeit, ja fast von Jovialität um den Mund der Dame gaben ihrem Gesichtsausdrucke seinen verschiedenen Charakter. –

»Ja, mein Sohn«, unterbrach endlich der Greis das allseitige Schweigen, »ja, mein Sohn, das ist das harte Loos des Alters, die Jugend vor sich hinscheiden zu sehen. Unsere gute, kleine Rudolphine, – wer hätte es ahnen sollen?«

Um die Lippen der Chanoinesse spielte trotz des Kummers ein leises Lächeln – oder war es der kleine weibliche Kobold des Widerspruchs?

– Sie war fast siebenzig, Bruder, – und starb an Entkräftung, entgegnete sie, – das macht uns ihren Verlust nicht weniger schmerzlich, aber die Natur war in ihrem Recht; dich und mich hat sie nur geschont. –

Dem alten Herrn schien diese Belehrung nicht besonders zu gefallen, er runzelte die Stirn und blickte unmuthig nach der Richtung der Sprecherin, aber er schwieg. Die letzten, schmerzreichen Tage, das ergebungsvolle Scheiden der lieben Verwandtin wurden nun in Pausen mit knappen Worten berichtet. Aber auch in diesen Mittheilungen walteten verschiedenartige Auffassungen zwischen dem Geschwisterpaar, welche zu Mißstimmungen Anlaß gaben und von Franziska ausgeglichen werden mußten. Die Ordnung des Hauses schien vollständig aufgelöst. Ob wirklich zu Mittag gegessen worden war, blieb für den Sohn unaufgeklärt; jetzt verging unberücksichtigt die Zeit von des Obersten regelmäßiger Siesta, in welcher die Selige gewohnt gewesen, ihn durch das Vorlesen einer Zeitung einzuschläfern; die Stunden schlichen im wortkargen Beieinander und in jener äußeren Ungemächlichkeit, welche, den Kummer ungerechnet, in jedem Trauerhause unvermeidlich ist, und sich in dem gegenwärtigen doppelt fühlbar machte. Man trennte sich noch vor dem gewohnten neunten Glockenschlage, um sich am nächsten Morgen bei der Bestattung der Entschlafenen wiederzufinden.

Als unser Freund seiner Cousine im Vorzimmer gute Nacht sagen wollte, nöthigte ihn dieselbe mit einem Anfluge von Verlegenheit, noch für eine kleine Weile zu einem ungestörten Gespräche bei ihr einzutreten. Er folgte ihr mit unerklärlicher Bangigkeit.

Franziska von Gersau, obgleich nicht mehr in der allerersten Jugendfrische, war noch immer ein schönes Mädchen von reinen Zügen und ebenmäßiger Gestalt, dabei war sie verständig, klar, wohlwollend und wohlgebildet; ihr junger Freund hatte sich niemals durch irgend eine der mancherlei kleinlichen Jugendmädchenlaunen und Schwächen verletzt oder abgestoßen, freilich aber auch niemals angezogen gefühlt durch jenen Zauber elastischer Heiterkeit und Naivetät, jene reizende Beweglichkeit der Seele, welche auch äußerlich in der Wärme des Colorits, in dem Kommen und Gehen der Farben auf Wangen und Lippen und dem Glanze der Augen, ihren Ausdruck findet. Die strenge Regel des Hauses, das Gefühl der Verwaisung, die Gewohnheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeherrschung hatten diese Jugendblüthe abgestreift, noch ehe sie zur Entfaltung gekommen. Franziska war niemals ein Kind gewesen. Dennoch hatte sich Heinrich an den Gedanken gewöhnt, sein Leben an ihrer Seite hinzubringen, und als er sich vor einigen Tagen zu der kleinen Reise entschloß, geschah es mit der Absicht, eine Verwirklichung des alten Familienprojectes anzubahnen.

Nur vierundzwanzig Stunden lagen zwischen diesem Vorsatze und dem gegenwärtigen Augenblicke und doch empfand er unwillkürlich eine ihm neue, fremde Scheu in ihrer Nähe, als er gesenkten Auges und zögernd an ihrer Seite Platz nahm. Wie aus weiter Ferne summte eine lockende Melodie in seinem Ohr, eine liebe, kindliche Gestalt drängte sich zwischen ihn und die Freundin, scheuchte das einleitende Wort von seinen Lippen und machte sein Herz beängstigt schlagen. Auch Franziska saß ihm eine Weile schweigend gegenüber, ihre ernsten Augen forschend auf die seinen geheftet, endlich aber faßte sie sich und begann:

»Da du uns schon so bald wieder verlassen willst, lieber Heinrich, kann ich dieses Gespräch nicht vermeiden, wenngleich sein Gegenstand in dieser Stunde und in einem Trauerhause dir ungeziemend erscheinen mag.«

– Sprich, unbesorgt, liebe Franziska, – entgegnete der junge Mann mit ungewisser Stimme, indem er ihre Hand ergriff, – und sei überzeugt, daß ich meine Schwester nicht mißverstehen werde. –

»Vielleicht wäre das Reden an dir gewesen«, sagte Franziska nach einer neuen Pause, »auch hast du unbewußt mit einem einzigen Worte deine Empfindungen ausgesprochen. Du bist mein Bruder, Heinrich, du betrachtest mich als deine Schwester.« –

– Franziska! – rief Heinrich erröthend.

»Laß das, mein Freund«, unterbrach sie ihn, »ich wußte es längst, und es ist gut, daß es so ist, denn ich bedarf eines Bruders, eines Freundes; ich bedarf aber auch mehr: ich bedarf einer wärmeren, einer ganzen Liebe. Nach einer einsamen, freudlosen Jugend unter Menschen der Vergangenheit sehne ich mich nach einem vollen Anschluß, wenn meine Seele nicht verdorren soll. Du liebst mich nicht, Heinrich, du wirst mich nicht lieben.« –

Wieder versuchte er sie zu unterbrechen, sie legte aber ihre Hand vertraulich auf die seine und sie. ihm in's Wort:

»Wolle dich und mich nicht täuschen, lieber Freund, ich weiß es. Jede Frau weiß es, was ein Mann für sie empfindet, und eine Frau braucht mehr zu ihrem Glück, als du mir gewähren kannst. Und ich will, ich muß glücklich werden, ich kann es und darf es. Ich habe einen Mann kennen gelernt, der mir von Herzen zugethan ist, und dem ich mit Neigung und ernstem Willen angehöre. Dir wie mir ist diese Begegnung eine Erlösung. Stehe mir bei, die Kränkung abzuwehren, welche für deinen alten Vater aus meinem Entschlüsse hervorgeht, und du wirst statt eines kühlen, unbefriedigenden Ehebundes das Recht einer späteren, freien Wahl und lebenslang ein treues Freundespaar gewonnen haben.«

Ein lange vorbereitetes Schicksal wurde mit diesen Worten unserem Freunde vernichtet, ein Schicksal, dem er bis vor einigen Tagen mit ruhiger Heiterkeit entgegengesehen hatte, und doch fühlte er in diesem Augenblicke eine schwere Last von seinem Herzen fallen; er athmete freier auf und sein Auge erglänzte. Franziska bemerkte es lächelnd und ohne gekränkte Eitelkeit, – wie lieb mußte ihr der Auserkorene sein! Sie erwiderte herzlich den Druck seiner Hand und antwortete auf seine Frage nach dem Namen ihres Freundes:

»Es ist ein junger Arzt dieser Stadt und, seit dem Tode des alten Sanitätsraths, auch der Arzt unseres Hauses: Albrecht Helmold, ohne Vermögen und von kleinem, bürgerlichen Herkommen. Nach den Eindrücken meines bisherigen Lebens ein Reiz mehr in meinen Augen, denn ich sehne mich nach einer freieren gesellschaftlichen Stellung fast eben so sehr wie nach einem Anschluß des Herzens, und schon lange, ehe ich ihn kannte, fühlte ich, daß ich keinen Aristokraten würde lieben können. Mich dünkt, der Sclave jedweden Standes, jedweder Einrichtung verlangt nach Befreiung, gleichwie der Ungebundene eine Schranke suchen wird. Verletzt dich das, Heinrich? Wundert es dich, daß deine einsame Verwandte von ihrer Zelle aus die Welt beurtheilen und neu erbauen will? Ach, der Gefangene kämpft mit wunderlichen Gedanken, wie sie das Leben in der Welt nicht aufkommen läßt.«

– Ich glaube dich zu verstehen, liebe Franziska, – erwiderte Heinrich nachdenklich, – bin ich doch auch ein Sclave von Verhältnissen und Vorurtheilen, von nothwendigen und falschen Einrichtungen. – Du verrückst mir in dieser Stunde das Bild einer freundlichen Zukunft, – fügte er nach einer Pause hinzu, – ich bin zu ehrlich, um einen leidenschaftlichen Schmerz zu heucheln, und ich bin zu sehr dein Freund, als daß dein Gewinn meinen Verlust nicht mindern sollte. Gott segne dich, meine liebe Schwester. Rechne auf mich in den peinlichen Kämpfen, die dir bevorstehen werden, und denen wir jetzt all unsere Besonnenheit, all unseren Muth zuwenden müssen, um sie uns und Anderen nicht allzu schmerzlich werden zu lassen.« –

Mit diesen Worten verließ er sie, um in seinem Zimmer vergeblich Ruhe zu suchen. Eine wunderbare Freiheitsfreude erfüllte ihn, der niemals früher seine Gebundenheit ängstigend empfunden hatte; um ihn webten sich Träume lockenden Glücks, dazwischen trat beklemmend die Vorstellung der unvermeidlichen Erörterungen, die wehmüthige Erinnerung an das Zusammenschmelzen seiner Familie. Erst spät am Morgen fand er in unruhigem Halbschlummer eine kurze Rast.

Mit Sonnenaufgang ordnete sich der stille Zug, welcher die Todte zur letzten Ruhestätte geleitete; dem blinden Obersten, von der greisen Chanoinesse geführt, folgten außer Heinrich, Franziska und den beiden alten Domestiken nur der Prediger und Doctor Helmold. Als Franziska mit dem alten Geschwisterpaar in das vereinsamte Haus zurückfuhr, nahm unser Heinrich die Gelegenheit wahr, sich dem Erwählten seiner Cousine zu nähern; er lud ihn zu einem Gange in's Freie, erklärte sich ihm offen als den Vertrauten und Verbündeten seiner Wünsche und schied nach einer mehrstündigen Unterredung von ihm mit aufrichtiger Freundschaft und der Ueberzeugung des glücklichen Lebenslooses seiner Verwandtin an der Seite eines gebildeten, jugendwarmen, edeldenkenden Mannes.

Die Zeit des Mittagsessens, das nach unerschütterlichem Herkommen mit dem Glockenschlage zwölf seinen Anfang nahm, war nahe, als er in das alte Haus zurück kehrte. Franziska begegnete ihm mit der Tante, aus deren Kabinette tretend. Beide waren in sichtlicher Aufregung; es mochte eine Erörterung zwischen ihnen Statt gefunden haben, für deren Wiederholung in seiner Gegenwart keine Zeit war, so sehr er auch gewünscht hätte, die feindlichen Parteien einzeln in Angriff zu nehmen. So gingen sie denn alle drei schweigend in des Obersten Zimmer, der an seinem Stocke auf- und niederschritt und sie mit den Worten empfing:

– Alles zu seiner Stunde und am gehörigen Orte, meine Freunde. Es war billig, daß wir in den letztvergangenen Tagen unsere eigenen Bedürfnisse hintenanstellten, um nur unserer lieben Hingeschiedenen zu gedenken. Mit dem heutigen Morgen aber hoffe ich, daß die alte Ordnung zurückgekehrt ist und wir mit unserer regelmäßigen Mahlzeit den Anfang machen werden. –

Da fand sich denn, daß in der mannigfachen Aufregung niemand an das Mittagbrod gedacht hatte. Die Nichte eilte zur Küche, um ihre Achtlosigkeit wieder gut zu machen und zu sehen, welche Anordnungen die alte Kathe in eigner Machtvollkommenheit getroffen haben mochte. Die alte Kathe aber war nur gewohnt, pünktlich nach Weisung und Vorschrift zu handeln und keinerlei selbstständige Einrichtungen zu treffen; der Tod ihrer nächsten Gebieterin hatte sie vollends unwirsch gemacht. Der Ofen stand kalt und die Töpfe waren leer. Das nachbarliche Gasthaus mußte eiligst und nothdürftig aushelfen, aber die Stunde konnte nicht pünktlich innegehalten werden. Der alte Oberst war verstimmt, Meister Jochmus ob der ungeheuerlichen Ordnungslosigkeit verwirrt, das alte Fräulein, wie das junge, in neue, große Gedanken versenkt, der Sohn vergeblich bemüht, zu vermitteln und anzubahnen: kurz, es war ein unerquickliches Mahl. Nach demselben entstand die Frage, wer von nun ab den alten Herrn an der Verewigten Stelle mit der Zeitung einschläfern werde. Die jungen Leute, die Chanoinesse selber, erboten sich wohl dazu, aber verstanden sie es auch wie jene Geübte, das Unwesentliche von dem Wichtigen auszuscheiden? hatten sie der Guten feierlich bedächtigen, schlummerlockenden Ton? Es wurde immer klarer, daß den Greis kein empfindlicherer Verlust hätte treffen können als der seiner kleinen Rudolphine, deren Obliegenheiten mit seinen persönlichen Bedürfnissen im engsten Zusammenhange standen. Unseren Freund bangte lebhaft vor der Unzulänglichkeit der repräsentirenden Tante Chanoinesse für ihre vielseitigen neuen Geschäfte. Und in diese ungeeignetste Stunde sollten nun die Eröffnungen fallen, zu welchen er sich verstanden hatte! Indessen sein Wort band ihn, die Zeit drängte; heute Abend mußte er ja das Haus schon wieder verlassen, um zu den manövrirenden Truppen zu stoßen. Er durfte keinen Augenblick zögern und gab daher nach dem Kaffee seiner Freundin einen bedeutsamen Wink, sich zu entfernen, indem er den ersten gewaltigen Choc von ihr abzulenken gedachte. Allein den beiden Alten gegenüber eröffnete er klopfenden Herzens seine bedenkliche Mission.

Er begann mit der Versicherung, daß keine tiefere Leidenschaft ihn persönlich für die langgehegten Pläne der Familie empfänglich mache, daß er kein näheres Verhältniß als ein geschwisterliches zu seiner Cousine wünsche, ging dann behutsam auf deren besondere Hoffnungen und Forderungen über, nannte, in ängstlicher Hast seine Worte beschleunigend, den Namen des erwählten jungen Mannes und stand im Begriffe, mit dessen Lobpreisung zu endigen. Aber die letztere verhallte in einem Sturm, in einem Aufruhr, dessen plötzliche Wucht seine bänglichsten Erwartungen überbot. Ein Blitz vom Himmel, die Tochter seiner Wahl, seines Hauses todt zu seinen Füßen niederstreckend, würde den Greis nicht so überwältigend getroffen haben als die Erfahrung ihrer Untreue, ihrer Entartung. Die zornige Ader seines Geschlechtes und seiner Jugend, welche in einem langen, widerstandslosen Leben geschlummert hatte, und erstorben schien, trieb das Blut in seine fahlen Wangen, eine unheimliche Gluth in die erloschenen Blicke, seine Glieder zitterten, die gewöhnlich so gelassene Stimme schallte wie die eines Wüthenden. Der Sohn stand erschüttert und fassungslos diesem jähen Paroxismus gegenüber, dessen Gewalt den eisernen Alten zu tödten drohte. Aber je größer seine eigne Rathlosigkeit, desto größer war seine Verwunderung, die Tante ihm gegenüber in unerschütterlicher Ruhe und Kälte sitzen zu sehen, ja in ihr plötzlich eine Partnerin und einen unerschrockenen Anwalt der von ihm vertheidigten Anspräche zu finden. Sei es, daß die Chanoinesse in ihrer freieren Familienstellung sich äußeren Zuflüssen mehr empfänglich gehalten, daß der Tod der letzten Schwester sie an das Vergängliche aller irdischen Einrichtungen gemahnt hatte, daß das mütterliche Verhältniß zu dem jungen Mädchen ihr ein Verständniß für dessen Wünsche eingehaucht, sei es ein gutes Theil weiblichen Oppositionsgelüstes und Kerferinkscher Selbstständigkeit der rücksichtslosen Leidenschaft des Bruders gegenüber, kurz, sie trat in diesem Augenblicke mit äußerster Kaltblütigkeit in die Schranken für die Forderungen der Freiheit, welche die Ordnung und das Ansehen ihres Hauses untergruben, machte geltend, daß Franziska selbstständig, mündig, Herrin ihres Schicksals sei, daß sie nicht den Namen der Familie trage, und diese weder ein Recht auf ihre Entschließungen, noch, nach Heinrichs kühlem Verhalten, ihr einen Ersatz für das Opfer derselben zu bieten habe, und, endlich auf das Aeußerste getrieben, ging sie so weit, den Doctor Helmold als einen liebenswürdigen jungen Mann zu preisen, dessen Wahl sie begreiflich finde.

Der Zorn des Greises hatte damit rasch einen andern Gegenstand gefunden und kehrte sich mit verstärktem Ausbruch gegen die alte, neue Gegnerin; er überhäufte sie mit Schmähungen über eine leichtfertige Erziehung in revolutionairen Gesinnungen und vergaß sich so weit, sie in des Sohnes Gegenwart eine unverständige alte Person, ja eine alberne Närrin zu schelten, bei welcher Beleidigung die alte Dame ihm ohne Erwiderung den Rücken kehrte und stolz das Zimmer verließ. Am Rande des Grabes waren die Geschwister Feinde geworden! Besänftigend, bittend versuchte der Sohn des Greises Hand zu fassen; er zog sie unwillig zurück; zornig, vielleicht zumeist über seinen eignen überwältigenden Zorn, winkte er mit dem Stocke nach der Thür, durch welche der Sohn sich zögernd entfernte, noch lange im Nebenzimmer den heftigen Schritten des aufgeregten Blinden lauschend. Endlich begab er sich in das Cabinet der Tante, und fand die beiden Frauen, welche Haß und Liebe unerwartet zu Verbündeten gemacht, einträchtig bei einander sitzend. Der bürgerliche Name, das kleine Loos, welches die Nichte erwählt, waren plötzlich vergessen, ein gemeinsamer Kampfplan wurde beschworen, das Bild einer beglückenden Zukunft ausgemalt. In der letzten Stunde fand die Chanoinesse die erste Gelegenheit, zu zeigen, daß sie ein Weib sei. – Nach Verlauf einer Stunde erschien der alte Jochmus, die versammelte Familie im Namen seines gnädigen Herrn zur Entgegennahme seiner Entschließungen in das große Empfangszimmer einzuladen. Nur um ihrem Schützling zur Seite zu stehen, entschloß sich die Schwester der Aufforderung zu folgen, und nicht ohne Beben sah die junge Verwandte den Greis von der entgegengesetzten Seite hereintreten, noch höher und steifer aufgerichtet, noch bleicher als gewöhnlich, mit scheinbarer Gelassenheit, aber leuchtenden, weitgeöffneten Augen, die ihren Blick wiedergefunden zu haben schienen. Franziska nahte sich ihm leise und kniete vor ihm nieder:

»Zürnen Sie mir nicht, mein theurer Oheim«, bat sie mit bewegter Stimme, indem sie seine Hand zu küssen suchte. Er entzog sie ihr abwehrend und sprach:

– »Stehen Sie auf, Fräulein von Gersau, ich bin nicht Ihr Vater, vor dem Sie sich beugen müßten. Sie haben sich heute der Sitte und der Pflicht der Familie von Kerferink entzogen und meine Schwester hat mir bewiesen, daß ich kein Recht besitze, Sie in dieselbe zu bannen. Sie sind Herrin Ihres Schicksals und von dieser Stunde an nicht mehr eine Angehörige dieses Hauses. Als Gast werden Sie der Chanoinesse ohne Zweifel willkommen sein, so lange es in Ihren Wünschen liegen sollte.« –

Ohne ein Wort des nacheilenden Sohnes anzuhören, verließ er mit einer Verbeugung das Zimmer; in dem seinigen angekommen, zog er den Riegel vor die Thür, um von niemand mehr überfallen zu werden. Heinrich hatte Albrecht Helmold in das Haus bescheiden lassen und bat vergeblich durch das Schlüsselloch um eine Unterredung für seinen jungen Freund. Der Alte blieb unerschütterlich. So wurde denn der Familienrath allein zwischen den Vieren in dem Zimmer der Tante fortgesetzt. Die Chanoinesse bestand darauf, daß ihre Pflegetochter bis zu ihrer Verbindung unter ihrer Autorität in dem Hause lebe, in welchem sie sich als Herrin fühlte; sie ging so weit, den Bruder nur als einen Gast dieses Hauses anzusehen, und die Kinder brachten sie mit Mühe davon ab, diese Auffassung auch gegen den Obersten laut werden zu lassen, da dieser voraussichtlich dann nicht eine Stunde länger in demselben geweilt haben würde. Nach langen Kämpfen siegte der Wunsch des Bräutigams, die Geliebte die möglichst kurze Zeit ihres Brautstandes in der Familie seiner an einen Landprediger verheiratheten Schwester zubringen zu lassen, aber nur unter der von der Tante gestellten Bedingung, daß Heinrich, als Repräsentant des Kerferinkschen Hauses, das junge Mädchen ihrem neuen Verhältnisse übergebe. Sein Urlaub drängte, es blieb keine Wahl, binnen einer Stunde mußte man sich zur Abreise entschließen. Er ging noch einmal zu seinem Vater, um dessen Zustimmung zu dem Uebereinkommen zu erbitten.

»Die künftige Madame Helmold hat nach Belieben über sich zu verfügen«, sagte dieser, indem er jede weitere Erörterung abschnitt und den Sohn mit einer kühlen Umarmung entließ. In Kurzem waren die beiden Verwandten, begleitet von Albrecht Helmold, auf dem Wege nach dem Pfarrdorfe, das nicht weit von der Richtung ablag, welche Heinrich zu nehmen hatte. Mit schwerem Herzen gedachte dieser des verödeten Vaterhauses, mit frohem Zutrauen aber überließ er die Freundin einer neuen Lebensaussicht, und unter den mannichfachsten Bewegungen setzte er mitten in der Nacht seinen Weg zu den Truppen fort.

*

3.

Das Manöver hatte sich in den beiden Tagen dem Flußgebiete genähert. Heinrich schlug nach einer nächtlichen Eisenbahnfahrt einen Fußweg ein und sah mit dämmerndem Morgen den Thurm des Städtchens vor sich liegen, in welchem er mit seinem Corps zusammentreffen sollte. Nur der Fluß mit seinen bewaldeten Uferhöhen trennte ihn noch von seinem Ziel. Die aufgehende Sonne zerriß die herbstlich weißen Morgenschleier und enthüllte eines der lieblichsten Landschaftsbilder des nördlichen Deutschland. Falsches und wahres Menschenbedürfniß haben diesem Lande noch wenig von seinem ursprünglichen Charakter entzogen; liegen seine weiten Haide- und Moorstrecken hinter uns, so treten wir in weite Waldungen von Eichen und Buchen, an deren Saume die langgedehnten Kirchspiele sich hinziehen und in welche die Rinder und Schweine noch heerdenweise zur Weide getrieben werden, ein Bild, das im strenger ökonomisirenden Mitteldeutschland fast verschwunden ist. Der Rauch des Wachholderkrautes steigt aus den Schornsteinen, oder dringt aus Fenstern und Thüren der ländlichen, nach Jahrtausende altem Zuschnitt errichteten Häuser mit der Tenne im Giebelbau, den Wohnstellen für Menschen und Vieh im harmlosen Neben- und Ineinander.

Diese Bilder der Heimath zogen den jungen Mann allmälig von seinen eigenen Gedanken ab und so stand er jetzt plötzlich, nahe der Brücke, welche zu dem Städtchen hinüberführt, überrascht vor einem kleinen Hause still, das, abweichend von allen seiner Umgebung, von Stein erbaut, weiß getüncht und mit Wein und Geisblatt umrankt, in anmuthigster Lage, den bewaldeten Berg im Hintergrunde, auf einer kleinen Anhöhe errichtet war. Ein breiter, sauber gehaltener Garten senkte sich nach der dicht am Flusse vorüberführenden Straße hinab. Das Ganze athmete eine Sauberkeit, welche im Allgemeinen nicht zu den Vorzügen dieses ursprünglichen Landes gehört, und Heinrich war sehr erstaunt, ein sächsisches Gartenhäuschen am Ende eines westphälischen Dorfes zu finden. In diesem Augenblicke erkannte er seine liebliche Sängerin von neulich, – die braune Sandel, die, mit dem Joch über die Schultern vom Wasserschöpfen kommend, die von dem Flusse zur Straße führenden Stufen hinaufstieg. Kaum, daß sie ihn gewahr ward, so setzte sie rasch ihre Last zur Erde, eilte auf ihn zu und rief freudig, ihm beide Hände zum Willkommen entgegenstreckend:

»Ich dachte wohl, daß Sie uns besuchen würden, lieber Herr, da Ihre Soldaten in der Nähe sind. Die ganze Nacht habe ich mich darauf gefreut. Vater, Vater!« rief sie nach dem Garten gewendet, »steig' schnell herunter, dein junger Oberst ist gekommen.«

Der alte Sergeant trat in die Thür und faßte an seine Mütze.

– Ich bringe Ihnen Grüße von meinem Vater, – log unser Lieutenant dreist heraus, denn er hatte keine Muße gehabt, den Vater an den alten Kriegskameraden zu erinnern. Er setzte sich mit dem Paare auf eine Bank am Flusse und erzählte, er wußte selbst nicht wie es kam, – sie wie alte Bekannte und Befreundete behandelnd, – von dem Tode der Tante und von der eigenthümlich engen, gleichförmigen Lebensweise im väterlichen Hause. Die Sandel hörte ihm mit ernster Aufmerksamkeit zu, sie gab sich sichtlich Mühe, diese fremdartigen Zustände in ihrem Geiste zu verarbeiten.

»Seltsam«, sagte sie nach einer Pause gedankenvoll, »seltsam, wie verschieden der liebe Gott seine Menschen doch hat werden lassen! Du, Vater, hast nicht Ruhe und Rast im Hause, und wenn du nicht Luft und Sonnenschein über dir spürst und fröhliches Volk um dich her, so hängst du den Kopf und denkst zu ersticken. Und der Vater des jungen Obersten, der möchte eine Mauer um sich ziehen und bis auf ein Paar, die just so sind wie er selber, von der ganzen weiten Welt nichts hören und nichts sehen.«

– Viele alte Militairische werden so, wenn sie nichts mehr zu commandiren haben, – belehrte sie der Invalide, du verstehst das nicht, Sandel, du kennst nur kleine Leute, die im Gehorchen zusammenhalten und sich Einer den Andern bei ihrer Arbeit froh machen müssen. Und der Herr Oberst sind noch obendrein blind, und von jeher apart und gleich einem Einsiedler, auch da sie noch das Regiment führten und mitten im Kriegstrosse verkehrten. Jederzeit für sich im Zelte oder Quartier, niemals bei einem Gelag, immer auf eignem Weg und Steg. Aber du hast recht, Sandel, so ein Leben wäre mein Tod. Sehen Sie das hübsche Haus, das meine Selige vererbt gekriegt hat, mein Herr Lieutenant, und manchen blanken Thaler nebenbei; ich könnte leben wie ein Prinz. Aber leidet's mich wohl drin? Wär's nicht um meine Sandel, so hol' der Kukuk das Haus und Alles was drum und dran hängen thut. – Der unruhige Geist muß in mich gefahren sein, da ich schon als Bube in der Rheincampagne neben meinem Alten hertrabte. Nun hält er mich beim Wickel und läßt mich nicht wieder los. Ich wurde Stäbchen und Tambour und machte meine Carrière. Von vornherein war just wenig Plaisir dabei, aber nachher ging's bunt, und wo's am buntesten zuging, war Sergeant Lorenz Numero Eins. Der alte Herr Oberst werden sich's wohl noch zu erinnern wissen. Da auf einmal bei Ligny die blaue Bohne, und der zerschmetterte Arm, und das Lazareth und der Frieden und die Noth. Sergeant Lorenz, ja was nun? Ich stamme aus Halle an der Saale nämlich, mein Herr Lieutenant; da haben wir ein ganzes Corps. Ich meine nicht wir Soldaten, aber wir Orgelleute. Das durchzieht das Land die Kreuz und die Quer, manch schlecht Gesindel darunter; aber was thuts? Das Gewerbe macht nicht den Mann, aber der Mann das Gewerbe. »Es muß auch ehrliche Leiermänner geben,« sagte ich bei mir selbst; das letzte Stück versetzt, eine Orgel dafür eingehandelt und 'naus ins Land und die alten Soldatenlieder gesungen! –

Der Lorenz war schon ein grauer Bursche, als die alte Sandel ihr Auge auf ihn warf; das heißt: sie auf ihn und er auf sie. Sie war auch beileibe nicht alt dazumalen, ich tituliere sie nur so zum Unterschiede von der kleinen Sandel, die nachher kam. Sie stammte aus Magdeburg von der Kolonie und ein bischen Französisches lag ihr noch immer im Geblüt, in allen Ehren sei's gesagt, mein Herr Lieutenant. Die Franzenmänner sind meiner Zeit immer meine Feinde gewesen, und sind's auch noch, denn so was vergißt sich nicht, und wenn's wieder einmal losgehen sollte gegen die Rothhosen – alle Hagel! – Aber die Franzenweiber haben was Mundrechtes wie der Franzenwein. Die Sandel nähte ihre Handschuhe vom frühen Morgen bis in die späte Nacht und wenn sie nun gegen Abend in der engen Kameelgasse vor ihrer Hausthüre saß und stichelte und stach, da machte der alte Lorenz immer eine Schwenkung nach jener Thür und paradierte davor mit seinem Kreuz und mit seiner Musik. Und der stillsitzenden Jungfer behagte der graue, vagabondierende Krüppel und so ward sie ein General. Brod gab es für Zwei und für mehr, wenn Noth an den Mann gegangen wäre! Sie wanderte mit, sie lenkte den Kasten wie jetzt die Kleine, sie hielt den Alten in Ordnung und pflegte seine Wunden, wenn sie in der Herberge aufbrachen, – sie war eine Seele von einem Weib – Gott habe sie selig! –

Der Alte strich mit dem Rücken der Hand über seine feuchtschimmernden Augen und machte eine Pause, dann fuhr er fort: – Da eines Tages kommt wie vom Himmel herunter gefallen die Kundschaft von dem Erbe der wildfremden Muhme in dieser Provinz. »Hin,« sag ich, »Sandel, zugeschaut, ob dort der Schinken und Pumpernickel uns mundet wie der grasgrüne Gurkensalat hier zu Land.« – »Dort geblieben!« sagt die Sandel, »eine Wiege will einen ruhigen Platz.« Also stillgesessen, bis die kleine Sandel ihren Einzug gehalten; Ordnung geschafft im Garten und Haus; die blanken Thaler auf die Sparkasse gelegt, wenn's einmal heißen sollte: »Wittwe Lorenz, ins Quartier!« Seitdem die alte Sandel ein Haus und eine Wiege hatte, war sie auf einmal wie ausgetauscht. Den lieben langen Tag Eiapopeia, gescheuert, geputzt, geflickt und derlei Küchenangelegenheiten mehr. Aber der Kranich läßt das Wandern nicht, und den alten Soldaten zwickt es und zwackt es und trieb ihn hinaus trotz Weib und Kind und Haus und Hof. Nun's nicht mehr ums Brod ging, war's erst recht ein Plaisir. Und die alte Sandel war ein braves Gespons, sie ließ den unruhigen Krüppel nicht im Stich, sie machte einen Pakt mit ihm und den hielt sie wie ein Evangelium. Im harten Winter: Hahn in Ruh, das Haus versorgt, Geschichten gelesen, dann und wann hinüber auf die Klus und Kameradschaft gemacht mit dem braven Volk. Im Frühling, wenn der Garten bestellt, zugeschlossen, die kleine Sandel neben die Orgel ins Wägelchen gesetzt und einen Strich durchs Land gemacht auf Märkte und Schützenfeste, von Stadt zu Stadt, von Gehöft zu Gehöft und überall willkommen wie die Prinzen, die auch dem Volke zum Pläsier ihr Reich durchziehn. Wenn's gegen die Ernte ging, wieder retour, eingeheimst, getrocknet, gesammelt und neu bestellt fürs nächste Jahr. Dann noch einmal eine Tour zur Kirmeßzeit gedudelt und gesungen, denn auch die alte Sandel hatte ihre Kehle, wenn auch nicht so hell und golden wie die kleine. Und auf diese Weise lustig Jahr aus Jahr ein. Jetzt zieht der alte Lorenz allein mit einer kleinen Sandel, die große hat ihm Quartier gemacht zur Wanderschaft in einer entlegenen Provinz, am letzten Advent geht's ins vierte Jahr.

Des Alten Stimme stockte. Auch Susanne hatte Thränen im Auge, sie strich mit ihrer kleinen Hand über die braunen Wangen des Vaters und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

– Du bist ein braves Kind, Sandel, sagte er, wie deine Mutter, hältst treu an dem alten Wandervogel und bist sein Trost. Der droben wird dir's gesegnen hier und dort. – Da haben Sie die Geschichte des alten Sergeanten von der ersten Compagnie, mein Herr Lieutenant. Erzählen Sie's seinem alten Herrn Obersten und fragen ihn, ob er mit ihm tauschen möchte. Aber jetzt treten Sie in's Haus zu einer Stärkung. Sandel, tische auf! zeige, daß du keine Landstreicherin bist und dein Haus in Ordnung hältst für einen Gast. –

Heinrich mußte danken, es war Zeit für ihn, aufzubrechen, um beim Ausrücken der Truppen nicht zu fehlen.

»Nur ein Weilchen,« bat die Sandel, »nehmen Sie uns die Ruhe nicht mit, lieber Herr.«

Heinrich schwankte, aber der alte Sergeant entschied:

– Das verstehst du nicht, Sandel. Pünktlichkeit ist die Seele des Soldaten. Gehen Sie mit Gott, mein Herr Lieutenant, vorwärts, marsch! –

»– Ich gehe« – sprach der Officier, ihm lächelnd die Hand reichend, – aber wenn die Uebung vorüber ist, darf ich dann wiederkommen, lieber Lorenz? –«

Sandels braune Augen hingen erwartungsvoll an den Lippen des Vaters, der eine Weile unentschlossen mit sich zu Rathe ging. Es kostete ihm einen herzhaften Kampf, aber endlich sagte er:

– Nein, Herr Lieutenant, Sie dürfen nicht wiederkommen. Denn warum? Um den alten Sergeanten kämen Sie nicht, Sie kamen um seine Sandel. Aber die Sandel hat einen Ruf; sie ist eine Waise von Mutterseite, und der Alte schickt sich zum Ehrenhüter wie der Esel zum Lauteschlagen. Und die Ehre einer Dirne ist wie ein Glas so leicht geschwärzt, oder gar caput. Auf der Reise ist das Mädchen frei und macht allerlei Bekanntschaft, aber ich stehe neben ihr, und wenn Noth an Mann ginge, hätte der alte Krüppel noch eine Faust für sein Kind. Wer wandern will, muß seine Gliedmaßen regen können. Das Haus aber muß rein gehalten werden, und ein junger Officier unter einem Dache mit einer hübschen Dirne das giebt ein Geträtsch, und einen Officier aus dem Tempel jagen, das wäre gegen die Freundschaft und gegen den Respect. Darum von vornherein mit der Wahrheit rein heraus, die Sandel hat einen Ruf, mein Herr Lieutenant, und soll ihn behalten. Die Tochter eines Königlichen Sergeanten kann keine Officiersfrau werden, mein Herr Lieutenant, das ist in der Ordnung; aber die Tochter eines Königlichen Sergeanten kann auch nichts Anderes werden, Sie verstehen mich, das ist wieder in der Ordnung. Punktum. Vermelden Sie dem Herrn Obersten dem alten Lorenz seinen Respect. Zum Frühling kommt er mit seiner Sandel und spielt ihm ein Lied aus seiner Zeit, daß ihm das alte Soldatenherz wieder jung werden soll. Und damit Gott befohlen, mein Herr Lieutenant und frisch auf den Marsch! –

Heinrich und Susanne standen eine Weile schweigend, mit niedergeschlagenen Augen. Dann drückte er dem Veteranen herzlich die Hand und wendete sich zum Gehen. Sein Blick sie. noch einmal auf die Sandel.

»Darf ich ein Endchen mitgehen, Vater?« fragte diese schüchtern, »nur bis an die Brücke.«

Der Alte zögerte, sie war ein so gehorsames Kind, sie sah ihn so bittend an.

– Meinethalben! – sagte er endlich, – bis zur Brücke, aber dann kehrt! –

Sie gingen. Der Vater sah ihnen nach, bis sie hinter den Weiden verschwunden waren.

– Ich wollte, er wäre ein Sergeant! – brummte er in seinen grauen Bart, ging in das Haus und stimmte seine Orgel zu dem alten Liede: »Schöne Minka, ich muß scheiden.«

Susanne hatte ihre Hand kindlich in die des jungen Mannes gelegt, der nicht ohne Verlegenheit an ihrer Seite ging. Er sann auf ein schickliches Wort, aber er fand keines. Da blieb sie plötzlich vor ihm stehen, sah ihm treuherzig, aber traurig in's Gesicht und fragte:

»Sind Sie böse, lieber Herr?«

– Auf Sie, Susanne? – entgegnete er.

»Auf den Vater, meine ich, weil er« –

– Weil er seine Pflicht gethan, Susanne? –

»Er hat es aus Liebe gethan«, sie. sie eifrig ein, »er meint es brav mit allen Menschen und hat doch so viel Schlimmes gesehen und erlebt. Aber er ist Ihnen gut, und ich auch, das wollte ich Ihnen nur sagen, darum ging ich mit. Wie oft wird er von seinem jungen Obersten reden, wenn wir im Winter allein sind. Ach, es wird kein so fröhlicher Winter werden wie sonst.« –

Da standen sie schon an der Brücke und Susanne war eben im Begriffe umzukehren, als ein Trupp junger Officiere über dieselbe geschlendert kam. Einer befand sich darunter, der dem Paare schon neulich des Nachts nach dem Tanze begegnet war. Als er dasselbe am frühen Morgen wieder so traulich bei einander sah, fing er an zu lachen. Sandel lief ohne Lebewohl wie ein Reh ihrem Garten zu, Heinrich aber wurde von den Kameraden lachend und scherzend umringt. Sie neckten ihn mit dem schönen Leiermädchen und priesen sein gutes Glück. Was er zu anderer Zeit ruhig mit angehört, oder in gleicher Münze zurückgegeben haben würde, erbitterte ihn heute; er verbat sich den Scherz; der Lacher machte eine anzügliche Bemerkung, die er heftig erwiderte. Man fühlte sich beleidigt, man forderte Genugthuung. Die Kameraden suchten den Handel beizulegen. »Ein Kampf um eine Dirne!« sagten sie. Das Wort entflammte den jungen Mann noch mehr. Er wies jede Ausgleichung zurück, die Forderung wurde wiederholt, am nächsten Morgen sollte sie ihre Erledigung finden.

Heinrich von Kerferink war im Grunde eine ruhige, feste, sinnende Natur, ein ächter Sohn seiner heimathlichen Gegend. Aber heute tobte ein Aufruhr in seiner Brust. Die letzten Tage hatten die wechselndsten Eindrücke in ihm hervorgerufen, die widerstrebendsten Bilder des gesellschaftlichen Lebens vor ihm entrollt. Es war, als ob eine alte Welt ihm entschwinden, eine neue sich ihm aufschließen sollte, als ob plötzlich tausend Schranken gefallen wären, die ihm das Leben versperrt hielten, als ob die Hand eines Kindes den Vorhang gelüftet hätte, der ihm die wahre, die wirkliche Welt verhüllte. Tausend Fragen drängten sich zur Lösung in seinem Herzen. Wohl hatte er schon früher bei mancher Veranlassung die gesellschaftlichen Einrichtungen und ihre Rückwirkung auf das Einzelnleben in Betracht gezogen; aber eben als ein ideelles Betrachten, das selten zu einem Abschlusse führt; nur wo die Wirklichkeit uns drängt, fassen wir, ergreifend oder abstoßend, eine große Entscheidung. Heinrich verhehlte sich nicht, daß, wenn er vor diesem Tage einem jungen Manne in früher Morgenstunde am Arme eines schönen Mädchens von niederem Stande und zweifelhaftem Gewerbe aus ihrem Hause tretend begegnet wäre, er die anstößigen Voraussetzungen der Menge getheilt, schwerlich wenigstens sie zurückgewiesen haben würde. Heute stand er im Begriffe, ein Leben dafür zu fordern und einzusetzen. Aber trotzdem, er wußte es wohl, würde er mit seinem Blute das Vorurtheil nicht getilgt, die braune Sandel, das Leiermädchen, nicht als eine Frau anerkannt gesehen haben, welche an Reinheit und innerer Ehrenhaftigkeit keiner des höchsten Ranges nachstehen durfte. Ja seine Betrachtungen führten ihn noch weiter. Hätte er in inniger Liebe dieser Frau seine Hand geboten, würde sie, selbst wenn sie die formelle Bildung seines Kreises sich angeeignet hätte, jemals von demselben als eine seines Gleichen anerkannt und aufgenommen worden sein? Als Officier war solche Wahl eine Unmöglichkeit, als Edelmann eine Erniedrigung, Heinrich wußte es, er, der unter dem strengsten Banne seines Ranges und Standes aufgewachsen war. Aber die Natur mit ihren ewigen Rechten war plötzlich in ihm mit dem Gesetze der Gesellschaft in einen heißen Kampf getreten. Denn die Natur löst und bindet; ihr, unserer vielbetrogenen Mutter wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen, liebreich ihre Blößen zu decken, ihre Schäden zu heilen, ihre Macht zur Geltung und sie mit Gebot und Sitte in Einklang zu bringen, das ist ja nun einmal, allen Gegenanstrengungen zum Trotz, in der Körperwelt wie in der geistigen die Signatur unserer Zeit, die jedem ihrer Kinder, sei es zum Wohl oder Wehe, vor die Augen tritt.

So rüttelte denn auch unser junger Freund in diesen Stunden der Unruhe an den Banden des Herkommens und der Pflichten, die ihn umfangen hielten, um sich mit warmem Herzen unter den weiten, mütterlichen Mantel zu flüchten. Und dennoch – seltsamer Widerspruch! – eben in diesen Stunden stand er im Begriffe, freiwillig eine Handlung zu begehen, die kein natürliches Recht entschuldigen kann. Er wollte mit kaltem Blute nicht einem Feinde, nicht einem Schuldigen, nein, seinem Kameraden, dem Manne, der bis vor wenigen Tagen sein Gesinnungsgenosse gewesen war, entgegentreten, ein Mörder werden, oder ihn dazu machen, das Leben des Leibes, den Frieden der Seele vernichten – er wollte, er mußte es, denn noch ahnte er nur die Macht der Freiheit, noch umwallte sie ihn nicht mit ihrem Glanze zu einem neuen Dasein.

Kaum eine Viertelstunde von der Brücke und dem Garten des Invaliden, auf einer noch herbstlich grünen Waldwiese stand er am andern Morgen seinem Gegner gegenüber. Alle Einleitungen waren getroffen, die Pistolen gerichtet, die Schüsse sollten gleichzeitig fallen. Heinrich war ein geübter Schütze, das Leben des Beleidigers lag in seiner Hand. Eins, zwei, drei, – die Blitze zuckten aus den Rohren, – der Gegner stand unversehrt, kaum gestreift, unser Freund sank mit zerschmettertem Knie bewußtlos zu Boden.

Als er aus seiner Betäubung erwachte, lag er sorgfältig gebettet in einem unbekannten Raume. Ein schmerzhafter Verband wurde angelegt, ein wildes Fieber durchjagte sein Gehirn; nur wie durch einen Schleier gewahrte er auf Augenblicke drängende Gestalten, sah ein dunkles, thränendes Auge in das seine blicken, fühlte die Berührung einer sänftigenden Hand. Dann umhüllten ihn wieder die Schatten und die Bilder des Fiebers. Wochen vergingen, ehe er Besinnung und Erinnerung wieder fand. Als er nach einem langen, erquickenden Schlafe zum ersten Male wieder mit hellen, erstaunten Augen um sich blickte, rief eine freudige Stimme! »Er lebt!« und er erkannte die braune Sandel mit gefaltenen Händen, zu Füßen seines Bettes auf ihren Knien liegend. Noch vermochte er die fremdartige Wirklichkeit nicht von seinen Fieberträumen zu unterscheiden.

»– Wo bin ich denn«, – fragte er mit verwunderter, zitternder Stimme.

– Ueber den Berg mit dem bösen Fieber und in guter Pflege beim alten Lorenz und seiner Sandel – antwortete fröhlich seine Hände reibend der Veteran. Für einen Blessirten wird das erste beste Haus zum Lazareth, commandieren Sie, mein Herr Lieutenant, als ob Sie in dem Ihrigen lägen. –

So verbrachte denn Heinrich die Tage der Krankheit und ihrer Heilung in dem weißen Hause am Fluß, aus welchem der Leiermann ihn gewiesen, und in das man ihn, als das nächstliegende, am andern Morgen besinnungslos getragen hatte, und die Sandel pflegte ihn; sie verband seine Wunden unter Anleitung des städtischen Arztes, in dessen Hände, nach Abzug der Truppen, die Behandlung übergegangen war; ihre sanfte Berührung durchbebte den Kranken unter den Schmerzen des Verbandes mit heimlicher Wonne. Lautlos und wachsam hatte sie wochenlang an seinem Lager gesessen, seine Kissen gerückt, ihm Arznei und sparsame Nahrung dargereicht; mit thränenschimmernden Blicken ihn angelächelt, wenn ein sie.erstarres Auge auf dem ihren ruhte. Nun wurde sie seine Gesellschafterin in den Tagen der Erholung; sie plauderte so kindlich und doch so gedankenvoll, sie las ihm die Bücher, mit welchen der Arzt ihn versorgte, mit ihrer weichen, klangvollen Stimme, sie sang so liebliche Volksweisen, die sie auf dem alten Spinet in der Nebenstube kunstlos nach dem Gehör begleitete. Alles war so rein, so still und heimlich und dabei so geschickt und umsichtig geordnet, daß der junge Mann sich fühlte wie im eignen glücklichen Hause und die Zeit seiner Genesung in weite Ferne hatte hinausschieben mögen.

Aber diese Zeit rückte heran. Das Fieber, welches Verwundung und Aufregung in ihm angefacht, hatte sich beruhigt, das zerschmetterte Knie war so weit geheilt, daß der Arzt eine Reise nach M. gestatten konnte, in welcher Festung, also in der Nähe seines Vaterhauses, der Duellant die kurze Haft abbüßen sollte, welche das Kriegsgericht über ihn verhängt. Anfänglich hatte der Arzt und später der Sohn selbst durch Susannens Hand den Seinen häufige Nachricht über sein Ergehen gegeben und auch heute saß sie noch einmal als sein Secretair, meldete seine Ankunft für den nächsten Tag und fügte zum ersten Male die Andeutung hinzu, daß die erlittene Verwundung ihn voraussichtlich für den ferneren Militairdienst untauglich und die Wahl eines neuen Berufes nothwendig machen werde.

Der alte Lorenz war, wie jeden Nachmittag, nach der Klus gegangen, um da, sein Pfeischen schmauchend, vor dem gewohnten Zuhörerkreise seine alten Campagnenabenteuer kund zu geben. Der letzte Grund des in der Gegend vielbesprochenen Duells war ihm, wie der Welt, im Dunkel geblieben, da die Officiere ihn mit ihrem Ehrenworte deckten. Er empfand durchaus keine Neugier in einer Sache, die ihm vollkommen in der Ordnung schien; wußte er doch, wie leicht ein Blick, eine Geberde, ein übereiltes Wort einem Officier derartige Händel zuziehen konnten; hunderte von derartigen Erinnerungen waren in ihm lebendig. Unmittelbar vor dem Donner der Schlacht bei Leipzig hatte sein eigener Capitain sich rasch hintereinander mit drei seiner Kameraden gehauen, ihnen dann zur Versöhnung die Hand gereicht, mit verbundener Kopfwunde sich in Reih und Glied gestellt, und mit reingewaschener Ehre den Tod auf dem Schlachtfelde gefunden. Diese denkwürdige Affaire bildete den Text seiner heutigen Kannegießerei und die Moral derselben war, daß sie in der Ordnung gewesen sei, daß Officiere sich nicht mit Stöcken oder Fäusten hauen könnten wie gewöhnliche Leute, ja daß gewöhnliche Leute sich gar keine Vorstellung von der eigentlichen Officiersehre machen könnten, ohne welche die ganze Armee zu Grunde gehen müsse.

Heinrich und Susanne waren unterdessen, wie jeden Nachmittag, allein mit einander geblieben. »Ein Blessirter ist kein gefährlicher Mann und ich kann mich auf die Sandel verlassen«, hatte der Sergeant gedacht, als er zum ersten Male nach den Tagen der äußersten Gefahr seines Gastes, seine Scrupel überwand und den lockenden Weg nach dem Klus antrat. Susanne siegelte den Brief an den alten Obersten und Heinrichs Augen ruhten sinnend auf dem lieben Kinde; er sah die Thränen über ihre Wangen auf das Papier tropfen und sich mit dem heißen rothen Lack vermischen. Sie erhob sich rasch, um, das Zimmer verlassend, ihren Kummer zu verbergen.

»– Bleiben Sie noch einen Augenblick, liebe Susanne«, – bat er, ihre Hand ergreifend.

Sie stand vor ihm und versuchte zu lächeln.

»– Susanne«, – fuhr er fort mit dem innigsten Ton, »– Susanne, ich danke Deiner Treue mein Leben, aber ich schätze Dich mehr als mein Leben, – hast Du mich lieb, Susanne?«

»Sie wissen es ja längst«, antwortete sie sanft und ohne Scheu, »sehr lieb, Herr.«

»– Aber ganz lieb, Susanne, so lieb, um still und treu mit mir auszuharren, um das lustige Wanderleben aufzugeben, um meine Frau zu werden, Susanne?« –

»Ihre Frau kann ich nicht werden, und das Wanderleben darf ich nicht lassen, so lange mir Gott meinen Vater erhält«, antwortete sie traurig aber bestimmt.

»– Dein Vater wird Dich mir gern zum Weibe geben, liebe Susanne, ich bleibe nicht Soldat und darf frei nach meinem Herzen wählen.« –

»Das dürfen Sie nicht, lieber Herr.«

»– Nenne mich nicht Herr, nenne mich Heinrich, liebes Herz –«

»Ich darf nichts sagen, was mein Vater nicht erlauben würde, ich habe es ihm gelobt.«

»– Mißtraut mir dein Vater?« – fragte Heinrich, die Stirne runzelnd.

»O nein, nein, nicht um Ihretwillen, es ist schon lange her, als ich von Ihnen noch gar nichts wußte, als ich zum ersten Male das heilige Abendmahl genommen hatte, und zum ersten Male allein ohne meine selige Mutter mit ihm auf die Wanderung zog, da hat er gesagt: ich bin ein alter Mann, Sandel! Auge und Kopf werden mir schwach, aber ich will mich auf dich verlassen; versprich mir, so lange ich lebe, nichts zu sagen und zu thun, was ich nicht hören oder sehen und vor deiner Mutter im Himmel verantworten könnte. – Und ich habe ihm die Hand darauf gegeben und gesagt: ich will's.«

– »Aber warum dürftest du deinem Vater nicht sagen, daß du mich liebst, Susanne?«

»Das habe ich ihm gesagt, lieber Herr.«

– »Und daß du mir angehören willst als mein Weib?« –

»Weil ich's nicht werden dürfte, weil Sie ein Edelmann sind, dessen Gleichen meinen alten Vater verachten würden. Denn, wenn sie mich allein verachteten, das wollte ich schon tragen, wenn nur Sie mich werth und in Ehren hielten. Aber mein Vater würde sich schämen und kränken. Vor Allem aber, weil auch Sie einen Vater haben, den Sie zum Tode beleidigten. Könnten Sie die Sandel zum Segen unter seine Augen führen, lieber Herr?«

Heinrich schwieg, Susanne fuhr fort mit hochgerötheten Wangen:

»Seit ich Sie zum ersten Male gesehen habe beim Tanze und seit der Zeit, daß Sie so krank und allein bei uns im Hause liegen, habe ich über viele Dinge nachdenken lernen, die mir sonst niemals in den Kopf gekommen sind. Ich habe auch Manches gelernt aus Ihren Reden und aus den Büchern, die ich mit Ihnen gelesen habe. Das aber habe ich von Niemand gelernt, das habe ich gewußt von Natur, es steht in meinem Herzen, wie es in der Bibel geschrieben steht: daß uns Gott der Herr die Eltern nicht gegeben hat, um sie zu verlassen und zu kränken, sondern um sie zu ehren und ihnen zu folgen.«

– »Aber ich kann, ich will dich nicht lassen, Susanne, du bist so bedenklich, du liebst mich nicht, wie ich dich liebe.« –

»O, – Sie wissen es besser, Sie müssen es wissen, daß ich niemals von Ihnen lassen werde, im Herzen nämlich. Was weiter liegt, ist Gottes Sache. Ist es sein Wille, daß wir mit einander unser Glück finden sollen, wird er uns den Weg dazu zeigen. Wir können ja warten, lieber Herr.« –

– »Du bist ein Engel, Susanne«, – rief Heinrich tief bewegt und thränenden Auges, – »ja du hast recht, wir wollen treu sein und warten, dein Gott soll uns führen.« –

Er wollte sie an sich ziehen, aber sie wehrte ihn ab; er drückte ihre Hände an sein Herz und sagte noch einmal: »Du bist ein Engel, mein guter Engel, du hat mir ein neues Leben gezeigt, Gott wird mich segnen um deinetwillen, Susanne!« –

*

4.

Alle Gedanken und Empfindungen Heinrichs weilten noch in dem traulichen Häuschen am Flusse, als er sich der Heimathstadt näherte, in welcher er seine Strafzeit abbüßen sollte; jetzt aber wurde er mit Macht an den Contrast gemahnt, der ihm im Vaterhause bevorstand. Die Briefe seiner nun seit Wochen glücklich mit Albrecht Helmold verheiratheten Cousine hatten, wenn auch mit großer Vorsicht gegen den Leidenden, doch den Zustand des greisen Geschwisterpaares nicht ganz verhüllen können; er betrat ein Haus daher mit bangen Erwartungen, aber was er in demselben fand, übertraf jede Vorstellung. Die beiden Alten standen sich gegenüber wie zwei Kampfhähne, nun die Kette zerrissen, die sie mehr als ein Menschenalter hindurch friedlich zusammengehalten, und ein Anlaß gegeben war, der die eingeborene, zähe Widerstandskraft der Gleichartigen losgebunden hatte. Gereizt, gerüstet, jeden Augenblick zur Fehde geneigt, trieb die Leidenschaft des Widerspruchs sie nach den äußersten Polen; der starre Familiengeist der Ritter von Kerferink war plötzlich lebendig geworden und spukte im Hause nach zwei entgegenlaufenden Seiten, hier Freiheit, Selbstständigkeit, dort Ordnung und Unterordnung fordernd. Das Verhältniß zu den Helmolds bot reichlichen Zündstoff; täglich trug die vergoldete Sänfte sie in das bürgerliche Haus, und der Eindruck heiter lebender Menschen übte einen doppelten Reiz auf die Chanoinesse, je mehr das Zusammensein mit dem Bruder ihr verleidet ward. Der Wunsch, ihre Anverwandten auch in ihrem Hause, im Prachtzimmer der Kerferinks empfangen zu dürfen, nagte an dem Herzen der alten Dame; die Forderung dieses Rechtes schwebte stündlich auf ihren Lippen und wurde nur durch die Bitten der einsichtigen Kinder zurückgehalten. Natürlich steifte der Oberst sich um so hartnäckiger auf die Ordnung seines Hauses und auf sein Recht, der diese Ordnung kränkenden »Madame« den Eintritt in dasselbe zu verweigern. Alle Zucht, alle Gewohnheit waren zerstört, kein Glockenschlag wurde pünktlich mehr inne gehalten; selbst die beiden alten Diener hatten zwischen den feindlichen Mächten Partei ergriffen. Ehren Jochmus stand als treuer Schildknappe auf Seiten seines Herrn und des historischen Rechts; Jungfer Kathe war von dem Dämon der Neuerung beim Schopf gepackt wie ihre Dame; Keiner arbeitete dem Andern in die Hände wie ehedem, die Gesindestube stand leer, weil man sich gegenseitig daraus vertrieb; jeder verschanzte sich in sein eignes Kämmerlein und nur Küche und Flur waren bei unvermeidlichen Begegnungen die Plätze gegenseitiger Scharmützel. Am Tage von Heinrichs Heimkehr hatte die erbitterte Herrschaft zum ersten Male abgesondert auf eignem Zimmer zu Mittag gegessen; Jungfer Kathe brachte ihrer Dame die Schüsseln, sobald sie dieselben gar gemacht; mit Ingrimm servirte der alte Jochmus, mit Ingrimm verzehrte der alte Oberst die Bissen, welche das »Weibsvolk« übrig gelassen.

Es war gewiß nichts Kleines für unseren Freund, zwischen diesen Streitigkeiten eine Vermittelung anzubahnen. Zum Glück stand es ihm frei, innerhalb der Festung umherzugehen und den größten Theil seiner Zeit mit Friedensversuchen hinzubringen. Beide Parteien suchten natürlich ihn von dem Rechte ihrer Forderungen zu überzeugen und als Verbündeten auf ihre Seite zu ziehen. Indessen konnte er seinen Ohren kaum trauen, bis zu welchem Grade die Erbitterung Form und Ton, Anstand und Würde der Kerferinks untergraben hatte.

– »Das alte Frauenzimmer ist toll, außer Rand und Band, man muß sie behandeln wie ein eigensinniges Kind«, – sagte eines Tages der Oberst in einem Anfall souverainer Verachtung.

– »Der Dietrich ist kindisch albern geworden, man muß es dem Alter zu Gute halten«, – sprach achselzuckend die Chanoinesse, deren Zimmer Heinrich bald darauf betrat.

Er benutzte dieses letztere Argument und suchte sich darauf zu stützen, wechselseitig um Schonung und Geduld mit den Grillen und Schwächen des Alters bittend.

»Aber es ist unerträglich, mit alten Kindern Geduld haben zu müssen, wenn man sein Lebtage nur mit vernünftigen Menschen zu thun gehabt hat«, wendete man ihm verdrießlich von einer wie der anderen Seite ein.

Der Sohn pflog häufig Berathung mit dem Arzte und seiner Frau. »So kann es nicht dauern«, war der tägliche Refrain.

»Denn, wenn du fort bist, Heinrich, was dann mit den beiden Alten?« fragte Franziska, »am besten wäre es, die Tante zöge zu uns.«

»– Aber dieser unversöhnliche Bruch am Rande des Grabes –« sagte Heinrich mit inniger Trauer, »aber alle Ordnung und Pflege in den leeren weiten Räumen für den armen, blinden Vater verloren!«

Sie kamen zu keinem Resultat.

Indessen beschäftigte den Obersten die Sorge für des Sohnes Zukunft, da dessen militairische Laufbahn durch den gelähmten Fuß gehindert worden war. Ein Dienst bei Hofe konnte einem seines Namens nicht fehlen, und so suchte er in Gedanken alle seine alten Verbindungen wieder auf und dictirte dem jungen. Manne Empfehlungsschreiben an seine einstigen Gönner und Freunde zum Zwecke eines Kammerherrnschlüssels oder einer ähnlichen ehrenvollen Auszeichnung, welche Schreiben der Sohn nach vollbrachter Strafzeit persönlich in der Residenz an geeigneter Stelle abgeben und seine Interessen betreiben sollte. Heinrich erlaubte sich keinerlei Widerspruch, um die Stimmung im Hause nicht noch unversöhnlicher zu machen. In der Stille aber reiften in ihm Pläne weit anderer Natur, wie sie in dem friedlichen Hause am Flusse unter Sandels lieben Augen ihm aufgegangen waren. Er dachte nicht im Entferntesten daran, die stolzen Bittworte an ihre Adresse gelangen zu lassen.

Oft erzählte er dem einsamen Blinden von dem Leben seines alten Kameraden, in dessen Hause er so liebreich Pflege und Hülfe gefunden; er machte ihn heimisch unter dem friedlichen Dache, und schrieb im Namen seines Vaters einen dankenden Gruß für die dem Sohne erwiesene Treue. Der alte Herr sann hin und her, wie er sich noch in anderer Weise gegen den Invaliden für die materiellen, dem Sohne gebrachten Opfer abfinden könne und machte verschiedentliche Vorschläge, deren Ausführung Heinrich nur mit Mühe abwenden konnte.

– »Aber wie lange willst du in der Menschen Schuld bleiben, Heinrich?« – rief der Vater entrüstet.

»– Sie haben es mit so viel Uneigennützigkeit gethan, lieber Vater, –« entgegnete dieser. »Solch ein Anerbieten müßte sie kränken. Mit der Zeit findet sich wohl eine Gelegenheit, uns dankbar zu beweisen, vielleicht zum Frühling, wenn der Alte kommt. –«

Der Frühling kam endlich, und mit lebhafter Unruhe dachte Heinrich daran, daß jeder Tag ihm die Geliebte zuführen könne. Schloß doch der Sergeant die Briefe, in denen er Heinrich antwortete, regelmäßig mit einem Respect an seinen alten Obersten und der Verheißung, er werde selbst kommen und ihm ein Lied aus seiner Zeit vorspielen. Wie sehnte sich Heinrich, Susanne wiederzusehen, und dennoch, wie beklemmte es ihn, die sich seinem Vater gegenüber vorzustellen, nicht in ihrem stillen, friedlichen Hause als Susanne Lorenz, sondern als Straßensängerin, als braune Sandel!

Unerwartet traf ein Gnadenerlaß des Königs ein, der dem Arrestanten den Rest seiner Strafzeit schenkte. Der Oberst hatte nun Eile, den Sohn nach der Residenz zur Betreibung seiner Angelegenheit zu senden, und auch Heinrich fühlte sich gedrängt, zur Ausführung seiner eigenen Pläne keine Zeit zu verlieren.

Er hatte es nicht vermeiden können, am Tage vor seiner Abreise mit seinen Kameraden zu Mittag zu essen, hatte einige Besuche gemacht, ein Stündchen bei Helmolds verplaudert und war auf diese Weise seit Morgens nicht in der alten Curie gewesen, jetzt betrat er sie, um den letzten Abend mit den Seinigen zu verbringen. Schon im Flur überraschte ihn eine selbst in diesen Zeiten der Fehde ungewöhnliche Unruhe. Er hörte Thüren schlagen, Schritte hin und wider laufen. An Stelle des alten Jochmus stand ein zweiter, fremder, gedungener Träger neben der vergoldeten Sänfte.

Jungfer Kathe stürzte halb unsichtbar hinter einem Berge von Schachteln und Kasten, respectswidrig, ohne inne zu halten, auf der Treppe an ihm vorüber, bei jeder Stufe über ihre alten Beine stolpernd.

– »Sachte, fachte, Kathe!« – sagte er – »wohin noch so eilig?«

»Fort, fort!« keuchte sie athemlos und verschwand.

Im Vorzimmer oben stand der alte Jochmus, bleich wie ein Schatten, mit zitternder Hand das Schloß des alten Gewehrschrankes verfehlend, den er zu öffnen suchte.

– »Was bedeutet das, Jochmus? was geht hier vor?« – fragte er von Neuem.

– Die Welt geht unter, Herr Baron, – jammerte der Alte, die Hände über dem Kopfe zusammenschlagend.

In diesem Augenblicke trat die Chanoinesse aus ihrer Thür in Kapuze und Regenmantel. Auf ihren blassen Wangen brannte ein hochrother Fleck, die blauen Augen funkelten, die Schritte flogen, sie schien um fünfzig Jahre verjüngt.

– »Wohin willst du noch so spät, liebe Tante?« – fragte Heinrich beängstigt.

»Fort, fort!« war die ungestüme Antwort.

– »Die Luft ist kalt, du wirst dir schaden.« –

»Gleichviel, nur fort! fort aus dem Narrenhause, für immer!«

Er folgte ihr die Treppe hinunter, sie vergeblich zur Umkehr beschwörend.

»Niemals!« rief sie aufgebracht, kein Wort weiter, Heinrich, ich erwarte dich bei Franziska.«

Damit bestieg sie ihr Vehikel, die Träger schritten zu; Jungfer Kathe folgte mit Haubenkopf und Nachtsack.

Bestürzt ging Heinrich wieder hinauf in seines Vaters Zimmer; auch hier Zerstörung und Auflösung. Jochmus kniete an der Erde vor einem antediluvianischen Koffer mit dicken Eisenbeschlägen und einem Bärenfellüberzug. Schubfächer und Schränke standen geöffnet, Kleider, Waffen, Ordensbänder, alte Pergamente lagen auf der Erde gehäuft, des Dieners Hände zitterten vor Hast, aber dennoch ging es seinem Herrn zu langsam; er commandirte und trieb mit großen Schritten auf- und niedergehend und mit seinem Stock auf den Boden stoßend.

– »Was ist geschehen, um Gotteswillen, was bedeuten diese Anstalten, Vater?« – rief Heinrich außer sich.

– Eine Reise, nichts weiter, – antwortete der Oberst mit erzwungener Gelassenheit, – Jochmus, die Kapsel mit meinen Diplomen. –

»Zu Befehl, gnädiger Herr!«

– »Eine Reise? so plötzlich, wohin?« –

– Wohin gleichviel! ans Ende der Welt, nur fort, fort! –

– »In dieser Aufregung, bei deinem Augenleiden, lieber Vater – –«

– Ich habe nichts mehr zu sehen, nur fort, fort! Jochmus, die Bilder aus meinem Kabinet! –

»– Aber warum, Vater? –«

– Weil mir die Chanoinesse die Thür ihres Hauses gewiesen hat; Jochmus, rasch! –

– »Welches Mißverständniß, bester Vater! Dieses Haus gehört dir so gut wie der Tante, die es überdies schon verlassen hat.« –

– Um so viel mehr habe ich Eile, nicht darin zu bleiben; soll ich um Mein und Dein mit einer Kerferink rechten wie Schuster und Schneider? Fort, fort noch in dieser Stunde. – Jochmus, bist du fertig? dann schnell zum Bahnhofe und uns Plätze gelöst für den nächsten Zug. –

Heinrich gab dem Diener einen Wink, sich nicht zu übereilen.

– »Die nächsten Züge kreuzen sich erst gegen Morgen« – sagte er – »es ist Zeit zu überlegen, Vater.« –

– Dann meine Sachen einstweilen hinüber in den Gasthof, ich folge sogleich. Jochmus, thu, was ich dir befehle. –

Heinrich trat in unaussprechlicher Verwirrung zum Fenster. Es war fast dunkel geworden; einem schwülen Maitage war Gewitter gefolgt, der Sturm rauschte in den alten Linden des Domplatzes; die Luft wehte feucht und kalt wie im Februar.

– »Du kannst in diesem Wetter nicht reisen, lieber Vater«, – wendete Heinrich von Neuem ein.

– Ich habe wohl anderes Wetter erlebt, – entgegnete zornig der Oberst, – kein Wort weiter, Heinrich, ich will's. –

Es entstand eine Pause; der Vater hatte sich gesetzt, der Sohn ging rathlos im Zimmer auf und nieder.

In diesem Augenblicke hörte man ein Gelaufe auf dem Platze vor der Thür, ein Menschenhaufe sammelte sich um einen Orgelmann, der seinen Kasten stimmte. Eine Frauenstimme begann die erste Strophe von Lützows wilder, verwegener Jagd.

– »Susanne!« – rief Heinrich nach dem Fenster stürzend.

»Die Sandel!« tönte es freudig von unten aus hundert Kehlen.

Aber kaum hatte der junge Mann das Fenster geöffnet, als der Gesang plötzlich inne hielt. Man hörte einen Fall, als ob die Orgel zu Boden stürzte, ein wirres Gekreisch und Gemurmel, der Sandel Stimme schrie in Todesangst: »Mein Vater!«

Im Fluge stand Heinrich vor der Thür. Schon im Vorhofe drängte sich die Menge; vier Männer trugen den alten Orgelspieler, dessen schlaff herabhängenden Kopf Susanne stützte. Unter Heinrichs Führung gelangte der traurige Zug, gefolgt von nachdrängendem Volke, in das große Empfangszimmer der Kerferinks, das wohl noch niemals eine ähnliche Versammlung umschlossen hatte. Man zündete die hohen Candelaber an, legte den leblosen Körper auf den Divan von Purpurdamast, löste die Kleider, rieb Schläfen und Herz, bis nach wenigen Minuten, eilig herbeigerufen, Doctor Helmold – zum ersten Male seit er eine glückliche Braut heimgeführt – in das Haus der Kerferinks trat.

Susanne lag auf ihren Knieen vor der unbeweglichen Gestalt, in athemloser Spannung, ohne Acht auf jede Umgebung, selbst auf die Nähe des schweigend anordnenden Freundes. Die Lanzette wurde angelegt. Vergebens.

»Er ist todt!« rief das unglückliche Kind und ließ bewußtlos das Haupt auf das kalte Herz des Vaters sinken.

Ja, Sergeant Lorenz war gestorben, wie es im Leben immer sein Wunsch gewesen: unter freiem Himmel und jauchzendem Volke, an der Seite seiner Sandel, inmitten kriegerischer Erinnerungen, eben als er seinem alten Herrn das Lied angestimmt hatte aus seiner Zeit, »das ihm das müde Herz wieder jung machen sollte.« Und nun lag er mit friedlichen Zügen, fast mit einem Lächeln unter dem grauen Schnurrbart, in seinem sauberen Soldatenrocke, das Ehrenkreuz auf der Brust und die geliebte Orgel zu seinen Häupten in dem Prachtzimmer der Kerferinks just in dem Augenblicke, als deren Haus in Haß und Zwietracht veröden sollte!

Heinrich hatte mit Mühe die überflüssigen Zuschauer entfernt, nur der Arzt hielt sich schweigend in einer Fensternische und Susanne lag regungslos über der todten Gestalt, als er jetzt den Vater in das Zimmer führte. Der Oberst beugte sich über den alten Kameraden und strengte die starren Augen an, um seine Züge noch einmal zu unterscheiden, er faßte seine Hand und hielt sie lange schweigend in der seinen.

– Wohl dir, du braver Mann! – sagte er endlich mit einem leisen Zittern der Stimme und ging an des Sohnes Arm aus dem Zimmer und aus dem Hause.

Das traurige Ereigniß hatte seine Pläne plötzlich gekreuzt. Er ließ sich hinüber in das Gasthaus führen, in welchem er weilen wollte, bis er den alten Kameraden zur Ruhe geleitet hatte. Er empfahl dem Sohne die Sorge für den Todten und sein Kind und hielt sich während der zwei nächsten Tage schweigend in seinem Zimmer.

Heinrich wachte die Nacht an Susannens Seite im Angesichte des Todten. Sie sprachen nicht mit einander, aber ihre Hand ruhte in der seinen und das Bewußtsein seiner Treue zog ohne Worte aus seinem Herzen in das ihre, ihr Kraft und Muth verleihend in diesen dunkelsten Stunden.

Gegen Morgen legte sie sich, seinem Dringen gehorchend, erschöpft von der Wanderung, von dem jähen Schlage und der nächtlichen Macht auf das Bett der Chanoinesse im Nebenzimmer und der junge Mann blieb allein bei dem Entschlafenen.

Die seltsamen Fügungen des letzten Tages zogen wieder und immer wieder an seinem Geiste vorüber und weckten einen Plan, eine Hoffnung in seiner Seele, anfänglich dämmernd, von Sorgen und Zweifeln zurückgedrängt, aber immer heller leuchtend und seine Brust mit freudigem Vertrauen erfüllend.

Als die Waise aus ihrem Morgenschlummer erwachte, saß Franziska Helmold an ihrem Bette, die sie mit liebevoller Theilnahme begrüßte und ihr, in dankbarer Erinnerung der dem Freunde bewiesenen Wohlthat, den Schutz ihres Hauses anbot bis zu der Zeit, wo sie fähig sein werde, über ihre Zukunft zu bestimmen. Noch ahnte Franziska nichts von der Neigung, welche die beiden jungen Menschen verband, die Möglichkeit eines derartigen Mißverhältnisses lag ihrem freien Sinne fern. Als sie nun aber, um das arme Kind von dem Gegenstande seiner Trauer abzulenken, die eigne wehmüthige Stimmung enthüllte, von ihrem ersten Wiederbetreten des Hauses sprach, aus welchem sie flüchtend Glück und Hoffnung der Zukunft gerettet, aber einem versinkenden Geschlecht den Frieden nahm, als sie bange und beklommen zu Heinrich gewendet fragte:

Wer soll hier Hülfe, Vermittlung bringen, armer Freund? –

Und als jetzt Susanne, die trotz ihres Kummers mit großem Antheil zugehört hatte, dem jungen Manne wie tröstend die Hand reichte und leise sagte: die Liebe! – da erkannte Franziska Helmold in dem Blicke, der dieses Wort begleitete, den Zustand dieses reinen kindlichen Herzens und seinen Einfluß auf den Freund; sie heftete ihre blauen Augen lange schweigend auf die Beiden und schied von ihnen, ohne einer Erklärung zu bedürfen, mit der ernsten, verstehenden Freundschaft einer Schwester.

Da indessen Susanne sich entschieden weigerte, das Haus zu verlassen, so lange die Hülle ihres Vaters in demselben ruhte, so kehrte die junge Frau im Laufe der nächsten Tage noch oftmals in dasselbe zurück, treulich mit ihrem Verwandten die schmerzlichen Pflichten um die Lebenden, wie um den Todten theilend; sie wurde die Vertraute seines heimlichen Planes, und als sie sich am Abend, der dem Begräbniß des Leiermanns vorausging, nach einem langen Zwiegespräch von ihm trennte, sagte sie:

– Du hast eine starke Zuversicht in die Macht der Liebe, Heinrich, Gott wolle sie dir in Erfüllung bringen. –

Mit aufsteigender Sonne senkte man den Sergeanten Lorenz zur Ruhe dicht neben der Geisblattlaube der sechs Schwestern von Kerferink. Sein einziges Kind, sein alter Herr und dessen Sohn bildeten das Geleit. Als der Prediger das letzte Amen gesprochen und der Oberst die ersten Schaufeln Erde auf den Sarg des alten Kameraden rollen hörte, entfernte er sich leise am Arme des Dieners, Heinrich und Susanne aber weilten mit gefaltenen Händen bis der graue Hügel sich gewölbt, und der Todtengräber sich entfernt hatte.

Und als sie nun beide einsam auf dem maienblühenden Friedhofe geblieben waren, da setzten sie sich auf die Ruhebank des letzten Fräuleins von Kerferink; Heinrich ergriff die Hand der Geliebten und sprach ihr von dem seligen Heimgegangenen und dem unglücklichen Heimathlosen, der nunmehr ihr Vater werden sollte.

– »Susanne«, – sagte er, – »wie du auch entscheiden magst, du bist die meine für alle Zeit. Gott solle uns den Weg zeigen, das war dein Wille, in deinem Herzen ist seine Spur. Prüfe dich, ob du den Muth hast, bis wir uns angehören dürfen, ein schweres Werk und ein freudloses Dasein auf dich zu nehmen.« –

Ihre großen Augen hatten ernst und unverwendet auf ihm geruht, bis er schwieg; jetzt sagte sie ruhig und sanft:

»Ich habe den Muth, und mein Vater im Himmel wird mir die Kraft dazu geben.«

Während das junge Mädchen nun im Hause Helmolds sich auf ihre neue Aufgabe vorbereitete, ging Heinrich zum Vater, der entschieden erklärt hatte, am nächsten Tage seine Reise antreten zu wollen. Er bat ihn um ruhiges Gehör, und setzte ihm, zwischen Bangen und Hoffen, aber mit großer Ueberzeugung seinen Plan auseinander. Nachdem er wiederholentlich die Gefahren und Unmöglichkeiten einer unsteten Reise, die Nothwendigkeit einer festen Wohnstätte und der Pflege umsichtiger Menschen für den blinden Greis dargethan hatte, lenkte er dessen Aufmerksamkeit auf das freundliche Haus am Flusse, in welchem er selber Genesung gefunden und welches durch des Sergeanten Tod vereinsamt, einen geeigneten Zufluchtsort bot. Er deutete an, daß, indem er sich bei der Waise einmiethete, sich die erwünschteste Gelegenheit biete, ihren Verpflichtungen gegen den alten Sergeanten gerecht zu werden und stellte in ihrem Namen die aufmerksamste Dienstwilligkeit und Berücksichtigung aller Gewohnheiten und Wünsche in Aussicht.

Der Sohn fand weniger Widerspruch als er vorausgesetzt. Der Greis wollte nur fort, fort! Fort aus widerlich gewordenen Umgebungen, aus der Nähe feindseliger Menschen. Der Boden brannte ihm unter den Füßen, jeder Winkel war recht zur letzten Erdenstätte; er hätte schon in der nächsten Minute in das geöffnete Asyl flüchten mögen, und nur mit Mühe konnte er zum Ausharren bis zum anderen Tage und zu einem für die erste Einrichtung unerläßlichen Umwege bestimmt werden.

Und als er an einem stillen Maiabend mit dem Sohne in dem kleinen Landhause ankam, fand er es zu seinem Empfange bereitet und geschmückt. Das alte Geräth der heimischen Curie, in aller Eile verpackt und geordnet, stand in gewohnter Ordnung in einem Zimmer fast von gleicher Größe und in gleicher Lage wie dort, so daß die Frühsonne zur selbigen Stunde in seine Scheiben sie.. Aber nur ein Schritt führte hinaus in den duftenden Garten, unter die schmetternden Vögel, keine Treppen und Mauern trennten den blinden Greis von dem erquickenden Hauche des Frühlings und an der Schwelle dieses neuen Hauses stand die Sandel und sagte mit ihrer sanften, ergreifenden Stimme, indem sie seine Hand an ihre Lippen drückte und eine warme Thräne darauf fallen ließ:

»Ich will Ihnen gehorchen und dienen, lieber Herr, als ob Sie mein Vater wären.«

*

5.

Wenn der Erzähler dieser kleinen, wahren Geschichte ein Dichter wäre, und sich darauf verstände, mit seiner Kunst die verschlungenen Fäden des Seelenlebens zu entwirren, so würde er seine Aufgabe da begonnen haben, wo sie jetzt nun fast enden soll; er würde in weiten Bildern das Wirken der Jugend auf ein Greisenherz entschleiert, er würde gezeigt haben, wie das Wehen des Frühlings in das Mark eines entlaubten Stammes dringt und die alten, knorrigen Wurzeln zu neuen Trieben belebt. Da er aber nur ein kunstloser Erzähler ist, muß er sich mit der Versicherung begnügen: Also geschah's.

Der Freiherr Dietrich von Kerferink hatte in einem langen Leben viele der Mächte kennen lernen, welche die Menschen an einander binden: Pflicht und Gehorsam, Sitte und Regel, Noth und Gefahr; aber die stärkste von allen, sie die allein jede Fessel übergoldet, die Liebe, sie erschloß ihm erst am Rande des Grabes eine neue Welt. Schon fast ein Greis hatte er in plötzlicher Leidenschaft sich ein junges, schönes Weib angeeignet, aber unverstanden, unverstehend es vor sich fliehen sehen in ein frühes Grab; Gott gab ihm einen Sohn, aber Zucht und Regel hielten seine Hingebung zurück. Er erzog eine Waise und erntete statt Dankbarkeit die Pein des Widerstrebens; er hatte im geschwisterlichen Kreise ein ungestörtes Leben geführt, das er für Frieden hielt, ohne daß das Herz ihm warm geworden und ohne daß es in der letzten Stunde Entfremdung und Zwietracht bannen konnte. Jetzt, schon unter den wehenden Schatten des Todes, stellte ihn das Schicksal noch für einen Augenblick in den Sonnenschein eines kindlichen Herzens. Denn die Sandel liebte ihn; anfänglich um Gotteswillen und um eines Anderen willen, dann aber um seiner selber willen, weil sie nicht anders konnte als lieben. Das fühlte der alte Mann. Er trat in das Haus der Waise als in das einer besoldeten Dienerin, sie schaffte für ihn wie eine Magd, sie wachte an seinem Bette, sie lauschte auf seinen Wink, sie führte den Blinden und pflegte den Kranken, sie lieh ihm Auge und Hand. Aber nicht das, was sie für ihn that, sondern wie sie es that, wirkte das Wunder der Verjüngung, denn sie enthüllte ihm den Zauber der Jugend, ließ ihn Theil nehmen an ihren Freuden und Thränen, hatte in ihrem warmen, empfänglichen Herzen ein Echo für jede seiner Stimmungen. Die Tochter des Sergeanten war heimisch in des alten Obersten kriegerischen Erinnerungen, lockte sie hervor und ergänzte sie mit dem treuen Gedächtniß der Jugend, sie kannte jeden Namen, jede Zahl, jede Begegnung aus seiner großen Zeit und so durchwandelte er an ihrer Hand noch einmal die Vergangenheit: die Geliebte seines Sohnes hatte einen theilnehmenden Sinn für die Geschichte seines Hauses und Stammes. Unmerklich erweiterte sie dem Vater den Blick in das Wesen seines Kindes, las ihm seine Briefe und beantwortete sie in bräutlicher Hoffnung, wenn auch mit väterlichen Worten; die Bücher, durch die sie den Greis unterhielt, führten ihn aus seiner verschwindenden Welt in das Treiben der Gegenwart und in die Stimmungen des Tages, sie enthüllten ihm die Natur und ihre Macht; die Lieder der Sandel sänftigten seine Launen, die Liebesbeweise des Volkes gegen seine ehemalige Sängerin gaben ihm das Verständniß einer fremden Menschenwelt. Und in dieses bildende Wirken zweier Menschen auf einander, der Jugend auf das Alter und des Alters auf die Jugend webte eine neue Umgebung ihre Reize, mischte der Frühling seine Düfte, zwitscherten die Vögel des Gartens, rauschte unten der Fluß eine erweckende Melodie, hauchte endlich selbst der Winter in der heimlichen Stille des Hauses ein beglückendes Behagen.

Mit unaussprechlicher Freude beobachtete der Sohn, der Geliebte, aus der Ferne diesen vermittelnden Segen, auf welchen er das Glück seiner Zukunft gegründet hatte. Nach den ersten schüchternen Andeutungen über die Aussichtslosigkeit, und dann über das Scheitern der stolzen, väterlichen Bestrebungen wagte er es allmälig, mit dem offenen Bekenntniß des von ihm mit Neigung und Erfolg gewählten bürgerlichen Berufes hervorzutreten und die wohlgegründeten Aussichten darzulegen, durch welche er das als Militair zu Zwecken des Kampfes und der Vertheidigung Angeeignete in friedlicher Sphäre zu Werken des Gemeinwohls zu verwerthen gedachte. Die Antworten des alten Freiherrn durch die Hand Susannens enthielten seit längerer Zeit keinen Widerspruch mehr gegen die Pläne des jungen, strebsamen Architecten!

So kam denn wieder einmal der Mai, kehrten die Wandervögel heim, sproßte der Wald, dufteten Lavendel und Goldlack, rauschte unten der Fluß, geschwellt von den Winterwassern der Berge. Der alte Oberst sonnte sich auf der Terrasse vor dem Hause und die Fruchtbäume des Gartens streuten weiße Blüthen in das Haar der ihm gegenüber sitzenden Sandel. Sie sammelte die Blüthen in ihrer Hand und kühlte damit ihre thränenden Augen. Aber es waren Freudenthränen, die sie weinte und die alle wehmüthigen Erinnerungen dieser Tage verscheuchten. Heinrich hatte geschrieben. Der Neubau der Brücke, an deren Schwelle er in ein neues Leben eingetreten, war ihm als selbstständiges Erstlingswerk anvertraut worden; jeder Tag, jede Stunde konnte den Freund ihr zuführen, und mit welchen Hoffnungen durfte sie seiner harren! –

In dem alten Herrn waren Erinnerungen früherer Zeit wach geworden, deren er sich kaum mehr bewußt war; er erzählte kleine Züge aus des Sohnes Kinderjahren, von seiner frühen Neigung und seinen kindlichen Versuchen zum Bauen und Bilden. Denn der schweigsame Oberst war mittheilsam geworden, seitdem er eine so gefällige aufmerksame Zuhörerin hatte wie die Sandel. Selbst ein Blinder mußte die warmen Blicke empfinden, mit welchem des Mädchens Auge an seinen Lippen hing.

– Darum bestand er auch darauf, zum Geniewesen zu gehen, das mir von Anfang so zuwider war, – sagte er jetzt, – und meine Schwester Antoinette – Hier hielt er plötzlich inne und ein Schimmer von Röthe überflog sein Gesicht; es war das erste Mal, daß er der Chanoinesse erwähnte. Nach einer langen Pause fragte er auf einmal:

– Kennst du die Chanoinesse, Sandel? –

»Nein, – ja, gnädiger Herr,« antwortete sie, »ich habe sie ein einziges Mal gesehen an einem Tage« –

– An einem thränenvollen Tage für dich, armes Kind, – sie. der Alte ein, – an einem bitterbösen Tage für uns Alle. Aber sage mir, Sandel, wer hatte Recht an dem Tage, die Chanoinesse oder ich? – »Wie könnte ich das entscheiden, gnädiger Herr? Ich bin kein Richter.«

– Du sollst es sein, Mädchen, sage ehrlich: wer hatte Recht? –

»Keiner, gnädiger Herr, wie mir scheint.«

– Keiner? Wenn Zwei uneins sind, muß Einer doch Recht haben, warum Keiner? –

»Weil Beide den eignen Willen gewähren ließen und nicht Gottes Willen.«

– Und was ist Gottes Wille? –

»Die Liebe, Herr.«

Wieder entstand eine Pause, dann sagte der Oberst:

– Das war ein gutes Wort, welches du eben gesprochen, Sandel, und es soll wahr werden. Wenn der Heinrich kommt, mag er die Chanoinesse herholen und ihre Sippschaft, ich meine die Helmolds. Die Chanoinesse ist jünger als ich, sie kann die Reise wohl machen – Wir wollen Versöhnung feiern und du sollst Mittlerin sein, Sandel. –

– Susanne zog des Greises Hand an ihr Herz. In diesem Augenblicke ging die Gartenthür und kaum daß sie ihre tropfenden Augen nach der Gegend gewendet hatte, als sie mit dem lauten Rufe »Heinrich!« den Abhang herniederflog und überwältigt von der Freude dieses neuen Sieges und von der Wonne des Wiedersehens an der Brust des Freundes lag. Aber nur einen Augenblick, noch war ihre Aufgabe nicht gelöst, noch hatte sie ja kein Recht an dem theuersten Herzen zu ruhen. Sie wand sich mit lieblichem Erröthen aus seinen Armen und zeigte schweigend nach der Terrasse auf den harrenden Vater. Aber eine staunende Verwunderung ergriff die Kinder bei seinem Anblick. Der Greis stand hoch aufgerichtet über ihnen, mit ausgebreiteten Armen, den Blick mit einem strahlenden Ausdruck der Seligkeit fest auf sie gerichtet. Es war nur ein Augenblick, denn gleich darauf sahen sie ihn schwanken und mit der Hand nach der Lehne seines Stuhles tasten. Sie sprangen hinzu, als er eben halb bewußtlos niedersank. Sein Kopf ruhte an Susannens Brust, der Sohn kniete zu seinen Füßen und stützte den gebeugten Leib. Nach einigen Minuten erholte er sich.

–»Habe ich dich überrascht, erschreckt, mein lieber Vater?« – fragte Heinrich bekümmert.

»Ist Ihnen wieder wohl, gnädiger Herr?« fragte Susanne.

– Wohl, sehr wohl! – stammelte der alte Mann.

Susanne ging in das Haus und kehrte schnell mit einem Glase Wein zurück, das der Greis in langsamen Zügen leerte. Er hielt die Hände der Kinder fest in der seinen und sagte nach einer Weile mit feierlicher Stimme:

Heinrich, ich sah, ich hatte mein Gesicht!

– Hast du's noch, lieber Vater? siehst du noch?– fragte der junge Mann betroffen

– Nein, mein Sohn, nur eine Minute, – aber welche! – Und nun mag es Nacht bleiben, ich habe genug gesehen für dieses Leben. –

Heinrichs Bestürzung wuchs, er meinte des Greises Vorstellungen hätten sich verwirrt, eine düstere Ahnung durchzog sein Herz. Aber der Vater erholte sich sichtlich und fuhr nach einer Pause fort:

– Als sie deinen Namen rief mit diesem Ton, nach dem was eben vorhergegangen, da durchzuckte mich der Wunsch, das Gebet: daß ich sie sehen könnte, nur ein einziges Mal sehen, sie und ihn. Und in dem Augenblicke war es, als ob ein Strahl vom Himmel mich erleuchtete, ich sah sie, sah Euch an der Stelle, welche Gott Euch bereitet hat.

Die Kinder waren vor ihm niedergesunken mit dem stummen Flehen um Erfüllung, um Segen. Sie küßten seine Hände und drückten sie an ihr Herz. Der alte Mann fühlte ihre Verwirrung und in einen heiteren Ton übergehend, fuhr er fort:

– Selber das staarblinde Auge des Greises kann einen Lichtmoment haben, und das Herz sollte im Dunkel bleiben, wenn die Liebe einer Sandel hineinflammt? O, ihr klugen Schelme! ihr dachtet, der Blinde sei ein Egoist und merke nicht, wer dahinter stehe und die Flamme schüre? ihr dachtet, der Alte sei ein Narr und wisse nicht, daß wenn das dürre Holz sich regt, das grüne wohl treiben müsse. Aber der Alte ist jung geworden, der Blinde hat sein Gesicht gehabt, er hat die Wahrheit erkannt: Gott segne Euch, meine Kinder!

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Druck von Franz Duncker's Buchdruckerei in Berlin.

 

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