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Eine goldene Maisonne breitete sich über die heiter belebte Landschaft, in welcher die ehrwürdige Anstalt ihr Dank- und Freudenfest für ein neues Jahrhundert ihres Bestehens feierte, des dritten seit ihrer Entpuppung aus der grauen Cisterzienserabtei. Der Fluß wand sich wie ein silbernes Band durch die saftig blühende Aue, Schneeballen, Goldregen, Geisblatt und Flieder prangten und dufteten in den weitläufigen Gärten, der buchenbewaldete Berg, an welchen das ehemalige Kloster, sich lehnt, stand im vollen, frischen Grün, und auf den röthlichen Sandsteinfelsen der gegenüberliegenden Höhen sproßte das erste, zarte Rebenlaub. Aber den heitersten Anblick gewährten die Tausende von Gästen aus Nah und Fern, welche unser Thal durchzogen, und in liebevoller Erinnerung gespendeten Segens, in dankbarer Theilnahme und froher Erwartung dieser reichen Pflegstätte der Wissenschaft zuströmten. Tagelang hatte man nun schon in der kleinen, gothischen Kirche feierlich mit Gebet begonnen, in den Hörsälen in alten und neuen Zungen geredet und gesungen, in der bekränzten und beflaggten Festhalle mitten unter den Blüthenbäumen des Schulgartens getafelt und getoastet, gespielt und getanzt; in der Freude des Wiedersehens manchen herzlichen Händedruck, manche warme Umarmung gewechselt, wehmüthig in der Erinnerung aber manchem Fehlenden ein stilles »Ecce« nachgefeiert. Es wehte ein eigenthümlich gemüthvoller, ächt deutsch gehobener Geist der Feierlichkeit und der Lust unter der wogenden Bevölkerung, der alle Schranken des Alters, des Standes, wie der Entfremdung löste und die Commilitonen vom Greise zum Jüngling brüderlich untereinander verband.
Heute, am dritten Tage, war der Berg der eigentliche Tummelplatz der Freude. Die Alumnen zogen mit wehenden Fahnen, mit Musik und Gesang hinauf zu dem schattigen Platze auf der Höhe und entfalteten daselbst, unter des sinnigen Tanzkünstlers Leitung, ihre choreographischen Fertigkeiten, während die Gäste sich ringsum in Lauben und Zelten heiter gruppierten.
Aber so sehr der Einzelne sich in dem dichten Gewoge verlor, so sehr eine Begegnung die andere verdrängte, so machte eine besondere Erscheinung sich doch immer von Neuem unter der Menge geltend und die Augen richteten sich, Auskunft fordernd und gebend auf einen Mann, der an der Seite einer jungen, anmuthigen Dame langsam und ernst die Menge auf- und niederschritt, die Vorübergehenden aufmerksam musterte, aber kein bekanntes Gesicht zu finden schien und nirgends bewillkommend verweilte.
Der Unbekannte mochte den Sechzigen nahe sein, eine hohe Gestalt mit militairischem Anstand und einer Physiognomie, die ein bewegtes Innen-Leben und jenes cholerisch-phlegmatische Temperament bekundete, das dem Feldherrn angeboren sein soll. Aber eine breite Schmarre über der hohen, zurückgebogenen Stirn, wie der künstliche Arm unter dem langen, blauen Civiloberrocke gaben Zeugniß, daß es diesem Innern auch nicht an äußeren Gefahren und Kämpfen gefehlt haben mochte. Von allen Seiten flüsterte man sich die Vermuthung, ja die Behauptung zu, daß man einen hohen, vielgenannten, fremdländischen Kriegsführer vor sich habe, der vor Kurzem den vaterländischen Dienst quittierend in hiesiger Gegend eine stattliche Einrichtung und Haushaltung beabsichtigt habe.
So fehlte es denn dem Feste zwischen den heimischen, mehr oder minder mit einander vertrauten Elementen auch nicht an einem gewissermaßen fabelhaften Gegenstande, an dem sich die Phantasie erhitzte, so oft das interessante Paar bei einer Gruppe vorüberging. Jetzt bog es von dem allgemeinen Gesellschaftsplatze in einen stilleren Seitenpfad ein, und schritt an einem angenehmen Ruhepunkte vorüber, an welchem eine Familie auf Rasenbänken unter einer herrlichen Buche Platz zum Ausruhen und Erfrischen genommen hatte.
Da saß denn ein dünnes, graues, ältliches Herrlein, gebeugt augenscheinlich vom fleißigen Ausharren hinter dem Aktentische, einer von den treuen, kleinen, zufriedenen Beamten, welche lange Zeit den Kern unseres bürgerlichen Gemeinwesens bildeten, die aber in der industriellen Richtung der Zeit, dem sich verbreitenden Luxus und der überwältigenden Erhöhung aller Preise von ihrer gesellschaftlichen Staffel zu sinken drohen und, wenn der Staat einmal zu dem unvermeidlichen Auskunftsmittel schreiten wird, den Detailbetrieb seiner Ordnung aus der Hand zu geben, die ihn bis dahin so straff gehalten, gründlich unter uns verschwinden werden.
Nun zu der Zeit unseres Jubelfestes lag diese Crisis noch verhüllt; dem alten Herrn mit den freundlichen, blauen Augen flatterte eine Viertelelle lang am weißorangenen Bande das officielle Emaillezeichen seiner Amtstreue auf dem blauen, festlichen Leibrocke, dessen Schnitt, mit den spitzen, langen Schößen, den blanken Metallknöpfen und dem hohen, steifen Kragen, wohl um ein Mandel Jahre zurück datirte, während das saubere Tuch, so glänzend als ob es erst aus dem Laden geholt wäre, zur Genüge bekundete, daß unserem Ritter die festlichen Tage nicht häufig gekommen sein mochten, an welchen er dieses Staatsgewand anzulegen hatte.
An seiner Seite saß eine Frau wohl gleichen Alters, und wie er, nach ihrem Dafürhalten, stattlich nach der Mode angethan im neu zugestutzten, schwarzen Grosdenaples-Kleide, das möglicher Weise schon ihr Hochzeitkleid gewesen sein konnte. Sie war eifrig bemüht, aus einer weitschichtigen, gehäkelten Tasche an ihrem Arm das selbstgebackene und sorgfältig verpackte Kuchenwerk auszuwickeln und den Strickstrumpf in Ordnung zu bringen, dessen ihre fleißigen Hände sich auch bei den festlichsten Gelegenheiten nicht entschlagen konnten, wenn sie sich wohlbefinden sollte. Aber es war kein alltäglicher, häuslicher Strumpf, sondern ein Paradewerk mit handhohem, kunstvollem Rande, das zierlich gewundene Knäuel an einem silbernen Armreif befestigt und die Nadeln sorgfältig in entsprechenden »Höschen« geborgen. Die gute Dame hatte an diesem festlichen Tage offenbar keines ihrer Kleinodien zu Hause gelassen! Ein blonder, schlanker, junger Mann im officiellen schwarzen Anzug, mußte wohl der Sohn des würdigen Paares sein, denn die Augen desselben ruhten mit wohlgefälliger Genugthuung auf allen seinen Bewegungen, als er sich so viele Mühe gab, eine von den Schülern durchschossene Scheibe auf Pfählen als Tisch vor den Eltern aufzurichten und den ersehnten Kaffee herbeizuschaffen, bei welcher Unternehmung einige kleine Tertianer ihm freundlich zu Hülfe kamen, die mit strahlenden Gesichtern bald eine erbeutete Tasse, bald einen Löffel herbeibrachten, und dann fröhlich zu ihren Spielplätzen zurücksprangen.
Endlich war alles in Ordnung. Die Mutter nachdem sie eingeschenkt, betrachtete, den Kannendeckel hebend, mit Wohlgefallen den reichlichen Vorrath; sie hatte den Kuchen zierlich auf grünen Blättern ausgebreitet, freundlich zum Zulangen nöthigend, und eben war der Sohn im Begriffe, der Einladung zu folgen, als das vornehme Paar an ihrem Platze vorüberschritt. Er fuhr wie ein Pfeil in die Höhe, indem er dunkelerröthend sich tief vor den Fremden verneigte. Die junge Dame dankte mit freundlichem, fast vertraulichem Gruß, so daß ihr Begleiter, während er militärisch an seine Mütze faßte, fragte: »Kanntest Du den jungen Mann, Irene?«
– Ja, lieber Vater – lautete die Antwort – er war der Geschichtslehrer unserer Pension, von dem ich Dir, glaube ich, geschrieben habe. –
»Ich erinnere mich. Den Namen aber hattest Du vergessen. Wie heißt er?«
– Karl Gerold, – Herr Gerold, – verbesserte sie mit leichter Verlegenheit. –
»Gerold?« fragte der Herr, sich umwendend und die Gruppe scharf in's Auge fassend; »sind die alten Leute seine Eltern?«
– Ich weiß es nicht, lieber Vater. Ich kenne Herrn Gerold's Familie nicht und habe auch ihn heute zum ersten Male seit meiner Abreise von Berlin wiedergesehen. –
Damit setzte das fremde Paar seinen Weg fort und die Eltern des Herrn Karl Gerold, welche sich bei dem Gruße der vornehmen Herrschaften ehrerbietig erhoben und verneigt hatten, nahmen dann allmählig auch wieder ihren Platz auf der Rasenbank ein, auf welche die gute Mutter fürsorglich ihren Reiseshawl gebreitet hatte. Wie der Fremde seine Tochter, fragten sie jetzt den Sohn Beide aus einem Munde:
– Kanntest Du die Herrschaften, lieber Karl? –
»Die junge Dame befand sich unter den Zöglingen der M'schen Anstalt in Berlin, in welcher ich einigen Unterricht zu geben hatte,« antwortete er.
– Wer ist sie? –
»Keine Deutsche. Die Tochter des Generals T.«
– Des berühmten T.? –
»Ja, lieber Vater.«
– War es der alte Herr, der neben ihr ging? –
»Ich weiß es nicht.«
– Gewiß, gewiß! Er hatte mir gleich so etwas Bekanntes, so etwas Imponirendes. Man wird ihn wohl schon einmal im Bilde gesehen haben, vielleicht auf der Leipziger Messe. Aber wie kommt der Herr in diese Gegend? was mag er hier machen? –
»Man sprach davon, daß er sich, des milderen Klima's wegen in dieser Gegend niedergelassen habe. Auch soll er von Geburt ein Deutscher sein.«
– Ein Deutscher von Geburt – aber dieser fremdländische Name? –
»Das kann ich freilich nicht erklären; vielleicht durch Adoption, oder im Kriege erworben.«
– Kann sein, kann sein. So etwas kommt vor. Aber seine Familie? Hat er noch mehr Kinder außer dieser Tochter? –
»Ich weiß es nicht, lieber Vater.«
– Und seine Gemahlin? –
»Ich erinnere mich, von dem Fräulein gehört zu haben, daß ihre Mutter todt sei, und daß sie daher in Deutschland erzogen werde, während der Vater wechselnde bedeutende Stellungen im Norden einnahm.«
– Was war die Frau Generalin für eine geborene? –
»Ich weiß es nicht, liebe Mutter.«
Der Wissensdrang der guten Eltern in Betreff dieser und noch anderer wichtigen Fragen mußte sich schließlich abkühlen, da er so wenig gründliche Befriedigung fand. Eben fing man an, den unterbrochenen Kaffee in einiger Ruhe zu genießen, als das außerordentliche Paar den Gang zurückkam und auf einer Rasenbank dicht neben unseren Freunden Platz nahm. Mit der Ruhe hatte es plötzlich wieder ein Ende, die Blicke flogen verstohlen hinüber und wieder zurück in die Kaffeetassen; auch der Sohn hatte Mühe, seine frühere Unbefangenheit wieder zu gewinnen, und als nach einer Weile der Vater mit der Mahnung hervortrat:
– »Die Herrschaften scheinen hier fremd und unbewandert. Wäre es nicht der Artigkeit angemessen, lieber Karl, wenn Du ihnen Deine Dienste anbötest in Betracht, daß Du des gnädigen Fräuleins Lehrer gewesen bist und jetzt doch förmlich zur Anstalt gehörst?« – – da schien es, als ob der junge Mann nur dieser Ermunterung bedurft hätte, um dem eigenen lebhaften Verlangen nachzugeben, und er erhob sich rasch, dem väterlichen Rathe Folge zu leisten.
– Und höre, Karlchen, – flüsterte die Mutter ihm noch zu, auf ihre wohlconditionirte Kaffeekanne weisend, – wenn die Herrschaften etwa in dem Gedränge keine Erfrischungen hätten erlangen können, – ich weiß nicht, ob wir es uns unterstehen dürfen, – aber hier ist noch Vorrath. – –
Der junge Mann lächelte freundlich und ging unter den gespannten Blicken der Eltern zu dem Nachbarplatze. Er verbeugte sich tief und stumm, während das Fräulein ihn in französischer Sprache ihrem Vater vorstellte, der ihn mit einer freundlichen Handbewegung einlud, an seiner Seite Platz zu nehmen. Unser Freund fand denn auch schnell den Muth, seine Führerdienste zu den verschiedentlichen Spiel- und Tummelplätzen der Jugend, wie zu den Sehenswürdigkeiten der Anstalt anzubieten, welche Dienste der alte Herr aber nur im Interesse seiner Tochter anzunehmen beliebte, während er für seine Person, weil durch das Bergsteigen ermüdet, ein ruhiges Verweilen vorzog.
»Sie sind ein Zögling dieser Anstalt, Herr Gerold?« fragte er darauf.
– Ich war ihr Zögling, Excellenz, – antwortete der junge Mann, – und bin seit Kurzem an derselben angestellt. –
»Sagt Ihnen diese Stellung zu?«
– Ich muß sie als einen glücklichen Ausgangspunkt für meine Laufbahn betrachten. –
»Ich las kürzlich einige werthvolle Monographieen über deutsche Rechts- und Bildungsverhältnisse im sechzehnten Jahrhundert von einem Herrn Gerold, sind Sie vielleicht« – –
– Es sind die Erstlingsfrüchte meiner Studien, Excellenz. –
»Sehr interessant, sehr richtig, wie mich dünkt, Herr Gerold, werden Sie in Ihrem gegenwärtigen Berufe Muße finden, Ihre literarische Thätigkeit fortzusetzen? Die Einrichtungen der Anstalt sollen für Lehrer wie Schüler gleich absorbirend sein, wäre es Ihnen nicht angemessener gewesen, sich ungetheilt historischen Forschungen und Darstellungen zu widmen?«
– Wenn dieselben auch vielleicht meiner Neigung entsprochen hätten, Excellenz, – antwortete unser Freund, mehr noch erfreut als überrascht über diese examinatorische Theilnahme eines völlig Unbekannten, – zumal unserer Literatur voraussichtlich eben in diesem Gebiete eine bedeutende Neuerung bevorzustehen scheint, so glaube ich doch, daß bei ungeprüften Kräften in demselben eine positive Pflicht und praktische Thätigkeit Anderen und mir selbst ersprießlicher sein möchten als die Unsicherheit eines schriftstellerischen Berufes. –
»Diese Bescheidenheit macht Ihrer Gewissenhaftigkeit Ehre, junger Mann,« versetzte der General. »Wir besprechen diesen Gegenstand wohl einmal weiter. Ich bin ein Nachbar Ihrer Anstalt geworden und rechne auf einen freundlichen Verkehr. Aber meine Tochter wird ungeduldig. Ich vertraue sie ihrem einstigen Führer in dem Gewühle des Völkerlebens, und werde an diesem Platze ruhig Ihre Rückkunft erwarten.«
Herr Karl Gerold verbeugte sich von Neuem und fühlte mit einem Gemisch von Entzücken und Verlegenheit, wie das schöne Mädchen den Arm in den seinigen legte, und durch dieses in der Provinz als Vertraulichkeit geltende Zeichen unbefangener Sitte in größeren Verhältnissen die staunenden Blicke aller Begegnenden auf sich zog. Die Eltern sahen ihnen mit offenem Munde nach.
»Der Blitzjunge parlirt wie ein Franzose!« machte endlich der Vater seinem Herzen Luft. »Ich hätte ihn wohl verstanden haben mögen, Linchen. Das macht das große Leben in Berlin; da lernt sich Alles. Hier in der Anstalt, oder in Halle wäre er über Hebräer und Gothen nicht hinausgekommen. Und wie er mit Excellenzen umspringt, Linchen! Mir nichts, dir nichts, just wie mit seines Gleichen!«
– Aber doch in aller Bescheidenheit, lieber Gerold, – wendete sanft das gute Linchen ein.
»Freilich, freilich in aller Bescheidenheit, Linchen, aber dennoch, dennoch, – mir wäre es nicht gegeben.«
– Er hat es von seiner Mutter, – lieber Gerold. –
Der alte Herr nickte zustimmend mit dem Kopfe, und fuhr nach einer kleinen Pause fort:
»Habe ich es aber nicht immer gesagt, an dem Jungen werden wir was erleben! Es steckt etwas in ihm, und wer ihn sieht, hat ein Herz zu ihm.«
– Wie zu seiner Mutter, – sagte Frau Gerold von Neuem mit weicher Stimme und einer Thräne im Auge.
Beide saßen eine Weile stumm in ihre Gedanken versunken. Endlich aber rief der Vater sich ermunternd:
»Das nenne ich ein Fest, Linchen, das nenne ich ein Fest! In meiner Sterbestunde wird mir die Erinnerung daran noch Freude machen.«
– Ja es ist schön, lieber Gerold, und besonders unseren Karl hier so zufrieden und angesehen zu erblicken, wie muß es uns glücklich machen! Aber dennoch, dennoch kann ich Dir nicht sagen, wie eigen, beklemmt und wehmüthig mir um's Herze ist. Nach acht und zwanzig Jahren alle diese Räume wieder zu sehen, so viele Menschen in ganz veränderter Lage und so viele, viele – nicht! Wie ich da unten in das alte Thor trat, Gerold, ach mein guter Vater – ach unsere Lotte! –
Thränen flossen über die rundlichen Wangen der guten Frau, und auch ihr Gatte hatte Mühe, eine Anwandlung von Rührung niederzukämpfen. Er faßte sich aber und sagte nach einer kleinen Stille: »Laß uns das schöne Fest nicht durch traurige Erinnerungen vergällen, liebes Linchen. Gott hat uns viel Segen bescheert nach diesem bitteren Anfang: Fast dreißig friedliche Jahre, mir – Dich und uns – unseren Karl. Daran wollen wir uns halten.«
– Du hast recht, Lieber, – entgegnete sie, indem sie ihm dankbar die Hand drückte. Dessenungeachtet fuhr sie nach einer Pause fort:
– Ich kann heute die alten Erinnerungen nicht los werden, Gerold, es wimmelt um mich von lauter fernen, lieben Gestalten. Was wohl aus dem unglücklichen Strauch geworden sein mag? –
Aber Herr Gerold gab keine Antwort. Aufgeregt wie er einmal war durch den bunten Wechsel und durch die Wirkungen des Fläschchens Tokayer, das er bei seiner Ankunft vor ein paar Stunden mit dem Sohne ausgestochen, hatte er einen stattlichen Herrn auf's Korn genommen, der in diesem Augenblicke an ihrem Platze vorüberging, in der sommerlichen Temperatur mit auffällig zugeknöpftem Rocke und Wesen.
»Kronberg! Kronberg!« rief er auf einmal hocherfreut.
Der Herr blickte sehr erstaunt auf den Rufenden.
»Kennst Du mich denn nicht wieder, altes Haus?« fuhr dieser fort, ihm beide Hände entgegenstreckend; »ich hätte Dich unter Tausenden herausgefunden. Ich bin ja Gerold, Dein alter Stubengesell. Besinne Dich doch, Kronberg!«
Der Herr besann sich in der That.
– Wahrhaftig, Gerold! – sagte er lächelnd; – wie konnte ich nur einen Augenblick zweifelhaft sein? Du hast Dich ja gar nicht verändert. Ganz der Alte. Aber man wird von allen Begegnungen ganz wirr und verdreht. In Wahrheit, ein äußerst gelungenes Fest! Was sagst Du zu der Rede des Ministers, Gerold? Vortrefflich, ganz vortrefflich! –
»Ich habe sie leider nicht gehört, ich bin erst Nachmittags angekommen, aber mein Karl wollte finden« – –
– Vortrefflich, sage ich Dir, Gerold, mir – wie aus der Seele gesprochen. Autorität thut uns noth! Aber dies bei Seite jetzt. Ich habe Dich seit mehr als dreißig Jahren völlig aus den Augen verloren, wie ist es Dir in der langen Zeit ergangen, alter Freund? –
»Nun gut genug, Alterchen. Ich bin Rendant bei der Gerichtscommission in P., habe sechshundert Thaler Gehalt, und daß man höchsten Orts mit meinen geringen Diensten nicht unzufrieden ist, nun davon hat man mir bei der letzten Anwesenheit Sr. Majestät dieses ehrenvolle Zeugniß zukommen lassen.«
Herr Kronberg blickte beifällig lächelnd und den Kopf neigend auf das emaillirte Kreuz am weißorangenen Bande, und der Rendant Gerold fuhr fort:
»Mein einziger Sohn ist seit Kurzem Adjunctus an hiesiger Anstalt. Ein prächtiger Junge, Du wirst Deine Freude an ihm haben. Er führt alleweile nur ein Bischen seine Schülerin umher, das schöne Fräulein von T., das Du vielleicht bemerkt haben wirst. Hier neben an, das ist ihr Vater«, setzte er flüsternd hinzu, – »der berühmte General T. Excellenz.«
– Mir bekannt, – sagte Herr Kronberg.
»Und dies hier ist meine Frau.«
– Sehr erfreut! –
Die Frau Rendantin Gerold, die seit dieser neuen alten Begegnung ihres Mannes ihren Platz noch nicht wieder eingenommen hatte, verneigte sich noch einmal, und erlaubte sich, dem Herrn eine Tasse Kaffee anzubieten, welche dieser lächelnd annahm und sich neben dem treuherzigen Paare niederließ, jedoch so, daß er den vornehmen Nachbar, den er aufmerksam fixirte, nicht aus den Augen verlor.
– Rendant also, – sagte er ein wenig zerstreut, mit dem Löffel in seiner Tasse rührend, – freut mich, freut mich herzlich, lieber Gerold. –
»Je nun, man kann damit wohl zufrieden sein,« entgegnete dieser, sich vergnügt die Hände reibend, und in sichtlich sich steigernder Laune. »Aber nun Du, Kronberg, welchen Weg hast Du denn eingeschlagen? Studirt wohl schwerlich.«
– Doch studirt! – antwortete der Commilitone.
»Aber wie weit, Alterchen?« fragte unser Rendant aufgeräumt und mit einer verdächtigen Miene.
– Nun, auch ich habe Ursache mit meiner Carrière bis jetzt zufrieden zu sein; ich bin Oberpräsident von S. –
»Spaßvogel!« rief Herr Gerold aus vollem Halse lachend, »Du und Oberpräsident. Nimm mir's nicht übel, alter Junge, aber Du warst im Grunde damals doch ein ziemlich schwaches Licht.«
Herr Kronberg war so gefällig, mitzulächeln.
– Ich mag allerdings nicht so viel Verdienste gehabt haben als unser Mustergeselle Gerold, – sagte er, – aber das Glück ist zu Zeiten blind, alter Freund, und mit dem Oberpräsidenten hat es daher seine Richtigkeit. –
Die Frau Rendantin, welche schon beim ersten Ausbruch der jovialen Laune ihres Gatten, diesen einige Male bedenklich am Aermel gezupft und auf den Fuß getreten hatte, blickte jetzt in verzweiflungsvoller Verlegenheit und krampfhaft strickend auf ihren Strumpf. Aber auch unseres alten Freundes bemächtigte sich eine ängstliche Stimmung; die Tokayerrosen erlöschten auf seinen Wangen, er war plötzlich nüchtern geworden.
»Der Herr Oberpräsident, Freiherr von Kronberg,« – stammelte er, sich erhebend und in größter Verlegenheit an den Rand des Tisches anklammernd.
– Der Freiherr von Kronberg und ich sind eine Person, – ergänzte der alte Schulkamerad, – die Gnade Sr. Majestät – –
»Ach – der Herr Oberpräsident wollen vergeben,« – unterbrach ihn der Rendant, – »meine unverzeihliche Albernheit, – der Wein, – die Freude, – Hochdero Herablassung – wie konnte ich ahnen?« –
– Beruhige Dich, alter Freund! – sagte Herr von Kronberg, – und laß es bei dem traulichen Du unserer Alumnenzeit. Ein Tag wie der heutige macht die Jahre schwinden und löscht Unterschiede aus. –
Er reichte bei diesen Worten dem alten Kameraden mit würdevoller Herablassung die Hand, ohne daß es ihm jedoch gelingen konnte, denselben in eine behaglichere Stimmung zu versetzen. Der Rendant saß mit einem Armensündergesicht dem hochgestiegenen Stubengesellen gegenüber, ängstlich beflissen, in dem Dilemma zwischen Du und Sie jedwede directe Anrede zu vermeiden, wahrend Jener, gewandt und gefällig, durch Reminiscenzen kleiner gemeinsamer Erlebnisse, wie durch Erkundigungen nach dem Schicksale dieses oder jenes Commilitonen seine Verlegenheit zu decken und seine Beklommenheit auszugleichen sich bemühte, und so gelangte er denn schließlich zu derselben Frage, in welcher sein Erscheinen vorhin die Frau Rendantin unterbrochen hatte:
– Was wohl aus dem unglücklichen Strauch geworden sein mag, lieber Gerold? –
»Ich muthmaße, daß er in den leidigen Kriegszeiten seinen Untergang gefunden hat, Herr Oberpräsident,« antwortete der Rendant.
– Und Du hast niemals etwas über sein Schicksal gehört? –
»Niemals, Herr Oberpräsident, direct mindestens niemals. Ich müßte denn diese kostbare Uhr als ein Lebenszeichen von ihm betrachten, die ich einige Jahre nach seiner Entfernung unter dem Poststempel ›Paris‹, aber ohne ein Wort, ohne eine Andeutung von seiner Hand erhalten habe, nur daß auf ihr inneres Gehäuse das Wort; ›Reparation‹ gegraben ist. Sie hat seit dreißig Jahren mir noch nicht einmal den Dienst versagt und mahnt mich jede Stunde an den unglücklichen, jungen Freund, den Liebling der ganzen Anstalt, wie der Herr Oberpräsident sich vielleicht noch erinnern werden, ja: ihren Liebling trotz seiner Verirrungen.«
Er zog bei diesen Worten eine Uhr hervor, die an einer kurzen, mit einem faustdicken Büschel von Berloques schließenden Kette aus seiner Tasche hing und an deren schwerem, goldenen Gehäuse man ihr dreißigjähriges Alter wohl erkennen konnte, ließ einen wehmüthigen Blick auf dieselbe fallen und sie vor den Ohren des Herrn Oberpräsidenten repetiren. Der Herr Oberpräsident war aber augenscheinlich weniger mit diesem Präciosum als mit seinem fremdländischen Nachbar beschäftigt, der während der letzten Minuten aufgestanden war, einige Schritte auf und nieder ging, da das Sitzen auf der niedrigen Rasenbank ihm lästig zu werden schien, und sich schließlich eine Cigarre anzündete. Bei dieser Bewegung traf sein Blick den des Oberpräsidenten. Derselbe erhob sich, sie verbeugten sich gegen einander und Herr von Kronberg schien einen Moment zu schwanken, ob er sich dem Fremden nähern solle. Da dieser ihm aber keinen Schritt entgegen that, und sich wieder ruhig, dicht in der Nähe des Geroldschen Etablissements, aber diesem halb den Rücken wendend, niederließ, nahm auch er seinen früheren Platz wieder ein, und die Uhr, die er gedankenlos dem Rendanten aus der Hand genommen, zurückgebend, sagte er:
– Die Familie von Strauch hat einen nicht unbedeutenden Zusammenhang mit mehreren angesehenen Häusern unseres Landes, das Schicksal eines ihr Angehörigen ist daher immerhin interessant. Zudem hat mir dasselbe seiner Zeit einen tiefen Eindruck gemacht, welchen das heutige Erinnerungsfest lebhaft erneuerte, nur daß ich damals zu jung und zu unaufmerksam war, um den Zusammenhang klar aufzufassen und daß die gewaltigen Ereignisse, welche sich gleichzeitig in unserer unmittelbaren Nähe entwickelten, die Erinnerung daran bald genug verdrängten. Nur die Scene mit dem schönen Lottchen ist mir noch lebhaft im Gedächtniß. Wie hing die Sache eigentlich zusammen, alter Freund? –
Die Frau Rendantin warf einen ängstlichen Blick auf ihren Gatten; auch dieser schien betreten und einigermaßen schwankend, er sah eine Weile sinnend vor sich nieder. Indessen die Bitte des Herrn Oberpräsidenten, der seine absichtslose Beleidigung so großmüthig durch das Heraufbeschwören gemeinschaftlicher Jugenderinnerungen zu decken suchte, konnte doch nicht gut zurückgewiesen werden, und so sammelte sich der gute Mann, warf seinem Linchen einen ermuthigenden Blick zu, räusperte sich und begann:
»Ueber den Familienzusammenhang des Alumnus von Strauch vermag ich dem Herrn Oberpräsidenten die gewünschte Auskunft nicht zu geben. Alles, was ich weiß, ist, daß er der einzige Sohn einer Beamtenwittwe in Dresden war, die bald nach der Entfernung des erwähnten von Strauch von der Anstalt die Heimath verlassen, und bei Verwandten, wie verlautete in Rußland, ihr Domicil genommen haben soll. Unter allen Umständen aber war der Alumnus von Strauch nicht mit zeitlichen Gütern gesegnet, denn er befand sich nicht als Extraneus, sondern als einfacher Schüler unter uns und mußte sich nach den Gesetzen mit einem Taschengelde von wöchentlich höchstens zwei Groschen begnügen. Er war von einer Gemüthsart, die in diese klösterlichen Einrichtungen nicht paßte, er war heißblütig, kühn und leidenschaftlich; wie es denn von jeher einige Feuerköpfe gegeben hat, die sich nicht unter das Joch der alma mater beugen konnten, das auf der anderen Seite so manchem leichtsinnigen Knaben und verhätschelten Muttersöhnchen zu kräftigender, heilsamer Zucht und Ausbildung gedient hat. Eines schickt sich aber nicht für Alle, wie der große Dichter sagt, und, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, am wenigsten in der Erziehung. Auch werden der Herr Oberpräsident mir darin beipflichten, daß die damalige Disciplin der Schule im Vergleich zu der jezeitigen eine bedeutend straffere war, und daß mancherlei Observanzen und Einrichtungen beibehalten worden waren, die wir heut zu Tage fast barbarisch nennen würden.«
– Mag sein, – meinte Herr von Kronberg mit in die Höhe gezogener Unterlippe und ziemlich knappem Tone, – indessen muß anerkannt werden, daß im Punkte der Freiheit in keinem Stücke zu weit gegangen werden darf. –
»Beileibe nicht!« bestätigte der Rendant.
– Daß Regel und Disciplin die Säulen einer Anstalt sein müssen, in welcher der Staat ein bedeutendes Contingent seiner Beamten heranbilden läßt. –
»Unzweifelhaft!« sie. Herr Gerold ein.
– Daß man beginnt, mit dem sogenannten Rechte der Individualität einen gefährlichen Mißbrauch zu treiben und daß die Autorität, wie der Herr Minister heute so vortrefflich sagte, – aber ich habe Dich unterbrochen, fahre fort, alter Freund, die Geschichte des jungen Schurken interessirt mich ungemein. –
Die blassen Wangen des Rendanten färbten sich ein wenig höher.
»Herr Oberpräsident,« rief er mit großer Lebhaftigkeit, »Clemens von Strauch war keineswegs ein Schurke, ja ich erdreiste mich zu behaupten, er war ein Jüngling von den seltensten Anlagen des Geistes und Herzens! – Wennschon,« – fügte er darauf wieder schüchtern hinzu, – »wennschon der Herr Oberpräsident, die ihn als Jüngerer weniger gekannt haben, als meine Wenigkeit, leicht zu so strengem Urtheil gelangen konnten; denn ich darf nicht leugnen, daß der junge Mann seiner Zeit von dem gesammten Lehrerpersonale als eine Art von verlorenem Sohn angesehen worden ist. Keiner unserer Commilitonen erhielt so viele Strafen als er und es würde im Wintersemester des Jahres 1805 unzweifelhaft wegen unerlaubten, heimlichen Kaffeekochens schon mit ihm zur Relegation gekommen sein, wenn nicht gleichzeitig seine meisterhafte griechische Examenarbeit über die Schlacht von Marathon das Lehrercollegium zur Nachsicht gestimmt hätte, so daß er für dieses Mal noch mit der Strafe des knienden Carirens gnädig genug entschlüpfte, wie der Herr Oberpräsident« –
– Ich glaube mich zu erinnern, – unterbrach ihn dieser ein wenig ungeduldig. – Aber nun die Hauptgeschichte mit Waschmann's Lottchen, lieber Gerold. –
Des guten Linchens rothes Gesicht färbte sich weiß bei diesem Namen, während über ihres Gatten staubfarbene Wangen eine noch höhere Röthe lief als vorhin. Er entgegnete jedoch mit Ruhe:
»Eine eigentliche Geschichte mit Charlotte Brand ist mir unbekannt geblieben, Herr Oberpräsident. Die schöne Jungfrau mag das Wohlgefallen des in diesem Punkte sicherlich leicht entzündbaren Jünglings erregt haben, der zu jener Zeit schon in seinem zwanzigsten Jahre stand, ein Alter, in welchem das Gefühl der Liebe die männliche Brust am heftigsten zu bewegen pflegt. Weiter nichts. Die erschütternde Scene mit der erwähnten Charlotte Brand, deren Zeuge die ganze Anstalt gewesen ist, war sicherlich nur eine Eingebung ihres guten, ich darf wohl behaupten großmüthigen Herzens. Genug, alles, was ich berichten kann, ist, daß im Herbst des Jahres 1806, als jene große unheilvolle Katastrophe des Vaterlandes sich den Thoren der Anstalt zu nähern begann, des Primaners v. Strauch letztes Semester in derselben gekommen, daß er unser, das heißt des Herrn Oberpräsidenten, als eines damals blutjungen Untergesellen, und meiner Wenigkeit Stubenältester war, und daß wir Alumnen ohne Ausnahme uns dem heiteren, schönen, noblen Commilitonen von Herzen zugethan fühlten, vor Allen die Schwächeren und Schüchternen, die jederzeit einen Beschützer an ihm fanden. Ich gehörte zu den letzteren und ich schäme mich nicht zu bekennen, Herr Oberpräsident: Clemens v. Strauch war mein jugendliches Ideal und mein Idol; mit Ausnahme meiner guten Mutter liebte ich keinen Menschen in innigster Seele so wie ihn. Ich hatte von dieser, – meiner guten Mutter nämlich, – zu Weihnachten anno 1805 das einzige Kleinod aus dem Nachlasse meines seligen Vaters zum Präsent erhalten, eine Uhr, die ich gebührend in Ehren hielt, wenngleich sie mir häufig den Dienst versagte und ich mein sehr bescheidenes Wochengeld fast ausschließlich für Reparaturen beim Uhrmacher verwenden mußte, da dem kleinen Kunstwerke in meiner Westentasche die lebhaften Spiele und Balgereien im Schulgarten weniger zuträglich sein mochten, als der Person ihres Trägers. Und so hatte ich denn auch just wieder kurz vor dem Tage, als jene Katastrophe sich zutrug, deren Schilderung der Herr Oberpräsident mir aufgegeben, dem Waschmann Brand, der gleichzeitig den Botendienst nach der Stadt versah, dieses mein Preciosum zur Remedur daselbst anvertraut. Irre ich nicht, so war es im Laufe des dreizehnten Oktober, als die ersten preußischen und sächsischen Truppen an der Schule vorüberzogen, und daß das Schreiben eines hochgestellten Militärs an den Rector um die Freilassung des Primaners v. Strauch zum Zwecke eines verwandtschaftlichen Wiedersehens in der benachbarten Stadt nachsuchte. Von Strauch erhielt den erbetenen Dispens bis zum Abendgebet dreiviertel auf neun. Aber die Gebetglocke läutete, v. Strauch war nicht zurück. Der Hebdomadar fragte: ›Primaner Strauch noch nicht retour?‹ Alles schwieg. Die Unteren stiegen hinauf in den Schlafsaal, ich, der ich bei der neulichen Versetzung nach Prima gerückt war und bis um zehn aufbleiben durfte, schlich mich leise über den Hof, bat den Thorwart wach zu bleiben und den Waschmann Brand, der die nächtliche Aufsicht im Schulhause vor den Schlafsälen zu handhaben hatte, unten den Riegel nicht vorzuschieben; dann ging ich wieder hinauf. Ich war in lebhaftester Unruhe, das Schicksal meines Freundes stand mir jammervoll vor Augen; mein Herz klopfte, ich saß aufrecht in meinem Bette und konnte nicht schlafen. In der Ferne sah ich rings auf den Höhen die Wachtfeuer unserer Armeen lodern. Aber ich dachte nicht an die ungeheuere Entscheidung, welche uns die nächsten Stunden bringen konnten, ich dachte nur an meinen Strauch. Endlich nach Mitternacht höre ich ihn kommen; der Schein der Nachtlampe fällt auf ihn, er sieht blaß, verstört, aufgeregt und ich ahne gar wohl, daß er des Guten unter den militärischen Gästen zu viel gethan haben mag. Ich hole ihm daher einen Becher Wasser und nöthige ihn zur Ruhe. ›Hast Du das Thor noch offen gefunden, Strauch?‹ frage ich. – Ich bin vom Berge über die Mauer gesprungen, – antwortete er. ›Hast Du den Riegel unten vorgeschoben?‹ – Nein. – So schleiche ich mich denn noch einmal hinunter, um dem Brand keine Ungelegenheiten zu bereiten, riegele zu und gehe wieder hinauf und zu Bett. Ich merkte gar wohl, daß der Strauch etwas auf seinem Herzen hatte, ich konnte ihn schwer zum Niederlegen bringen. Er lief im Schlafsaale auf und nieder und wollte mehr als einmal mit mir reden. Aber ich sagte: ›Halte Ruhe, armer Junge, störe die Anderen nicht, Du machst das Unglück nur schlimmer. Morgen erzählst Du mir Alles.‹ – Ja morgen, morgen! – rief er, und warf sich endlich auf ein Bett. Trotz meiner Beängstigung schlief ich endlich ein, denn beim Schlafen thut die Gewohnheit viel und die gesunde Natur. Manchmal aber war mir's halb wie im Traum, als hörte ich ein Stöhnen und sähe des Unglücklichen Gestalt im Mondenschein den Saal auf und nieder schreiten. Ich hörte einen Ruf: ›Gerold!‹ an meinem Bettende und dann immer wieder: ›Nein, nein, morgen, morgen!‹ Endlich war alles still geworden. Die innerliche Unruhe weckte mich eine Stunde früher als gewöhnlich; ich höre die Glocke vier schlagen, höre Geräusch an der Thür und den Ruf meines Namens aus dem Munde des Waschmanns, der eben in die Thür tritt. Beim Scheine seiner Laterne werfe ich einen Blick auf den Strauch. Er schläft, von dem Eintretenden ungestört, – o, daß er doch aufgewacht wäre! – sein Gesicht ist weiß wie das einer Leiche und er bewegt im Traume die Arme mit heftigen Gesticulationen. Es war ein einziger Blick, denn die Botschaft des Brand drängte zur Eile. Ja, so unglücklich können Umstände zusammentreffen, Herr Oberpräsident! Der Prediger aus dem benachbarten Dorfe, in welchem meine gute Mutter als Predigerswitwe lebte, hat mitten in der Nacht den Schularzt zu ihrem Beistand herbeirufen müssen, da ein heftiger Schreck über das ungebührliche Betragen der Einquartierung der schwächlichen Frau einen Blutsturz zugezogen und sie an den Rand des Grabes gebracht. Der Herr Rector giebt mich auf ihr Ansuchen in Begleitung des Schularztes frei bis zum Mittag. Ich eile in meine Kleider und vor das Thor, wo der Doctor in seinem Wagen schon bereits meiner wartet. Als ich einsteigen will, denke ich daran, daß ich ohne Uhr meinen Urlaub verpassen könnte und ich frage den Waschmann: ›Ist meine Uhr noch nicht fertig, lieber Brand?‹ –Ja, – antwortete er – ich habe sie gestern früh mit aus der Stadt gebracht und will gleich gehen, sie zu holen. – Aber der Doctor ruft aus dem Wagen: ›Keinen Aufenthalt anjetzo, junger Freund; der Augenblick drängt, vorwärts!‹ Ich steige ein, wir fahren. Von allen Seiten ziehen die feindlichen Truppen dem verhängnisvollen Kampfplatze zu. In einem halben Stündchen sind wir bei meiner guten Mutter. Sie ist kreideweiß, lautlos und sterbensmatt; aber der Doctor tröstet mich. Er findet keine Gefahr, verordnet Kühlung und Ruhe, und fährt weiter, um noch ein wenig mehr in der Nähe die Zurüstungen auf dem großen Welttheater zu recognosciren. Denn der alte Doctor war ein Politicus und ›zum Klappen kommt es, heute oder morgen, aber dann Gnad' uns Gott!‹ sagte er beim Weggehn und verspricht auf der Rückfahrt wieder nachzusehen und mich zu rechter Zeit abzuholen. Und zur rechten Zeit halten wir denn auch richtig vor der Pforte. Aus der Ferne und aus der Nähe hören wir den Donner der unseligen Doppelschlacht, die unser Vaterland zertrümmern sollte. Der Thorwart öffnet mit verstörten Mienen, der Waschmann Brand geht händeringend auf und ab. ›Schrecklich, schrecklich!‹ höre ich ihn jammernd rufen. Ich denke natürlich, daß das Kriegsgetümmel ihn dermaßen beängstigt, aber, gerechter Gott! wie wird mir, als er mich jetzt bei Seite nimmt und sagt: ›Herr Gerold, Ihre Uhr ist fort!‹ – Meine Uhr? – fahre ich auf, – wohin, wohin? – ›Gestohlen, aus meiner Stube!‹ – antwortet er außer sich, – ›aber ich bin unschuldig, weiß es Gott im Himmel, ich bin unschuldig, Herr Gerold!‹ – Ich war meiner Sinne kaum mächtig. – Schnell hinüber in den großen Lectionssaal, – drängt jetzt der Thorwärter – Sie werden Unglückliches erleben, Herr Gerold; das ganze Collegium ist bei einander in hoher Synode. – Ich stürze über den Hof, halb verwirrt durch Alles, was in diesen wenigen Stunden auf mich eingestürmt: das Schicksal meines Freundes die Gefahr meiner Mutter, der Donner zweier Schlachten und nun gar noch der Diebstahl an meinem Heiligthume, meiner väterlichen Uhr! – – Im Schulsaale steht es Kopf bei Kopf: das ganze Lehrerpersonal, sämmtliche Schüler, Beamte und Diener der Anstalt, drängen sich zusammen. An der Thüre lehnt neugierig der kleine Schusterjunge, welchem der letzte entehrende Dienst bei derartigen Vorkommnissen oblag. Man schiebt mich nach der Mitte, wo die Herren Lehrer mit feierlichen Mienen Platz genommen haben. Mein Auge haftet entsetzt auf dem Rector, der hochaufgerichtet, eine Zornesader über der Stirn, mir in diesem Augenblicke erschien wie der leibhaftige Jupiter Tonans.«
– Das Gesicht macht Deiner jugendlichen Phantasie alle Ehre, alter Freund, – sie. Herr von Kronberg lächelnd ein, – denn eine Jovisgestalt war sie just nicht, unsere lange dürre gestrenge Magnificenz! –
»Jetzt wurde er meiner ansichtig, hielt mir meine Uhr entgegen und rief: – Erkennt Er diese Uhr als die Seine? – ›Ja, Herr Rector!‹ stammelte ich. – Weiß Er auf welche Weise sie Ihm abhanden gekommen? – ›Nein, Herr Rector. Der Waschmann Brand, dem ich sie zur Reparatur in der Stadt übergeben, sagte mir heute Morgen, daß sie in seiner Stube aufbewahrt sei.‹ – So höre Er, junger Mann, höre Er und entsetze Er sich: diese, seine selbige Uhr, das Erbstück Seines würdigen Vaters, dessen Name in das Gehäuse eingegraben ist, diese Uhr ist gestern Nachmittag aus der Wohnung des Wachmann Brand gestohlen worden. ›Gestohlen‹ sage ich. Gestohlen von einem Zögling dieser ehrwürdigen Anstalt, von einem Edelmann, von Seinem Senior, der Ihm als Ordner und Vorbild gesetzt worden ist, von Seinem Special, junger Mann, von – diesem Schuft! – Meine Augen, welche bis jetzt am Boden geruht hatten, folgten schüchtern der Richtung des aufgehobenen Armes des Rectors. Wie möchte ich aber mein Entsetzen beschreiben, als sie an der Gestalt meines lieben, unglücklichen Strauch haften blieben. Nein, Herr Oberpräsident, kein Verbrecher an dem Schandpfahl, kein Mörder auf dem Galgenplatz kann einen solchen Eindruck gewähren als dieser entehrte junge Mann. Aschfarbig, die Haare auf seinem Haupte in die Höhe strebend, die Augen starr aus ihren Höhlen tretend, mit Schweiß bedeckt, die Hände geballt und die Zähne convulsivisch an einander schlagend, so stand er mit dem Ausdrucke des Wahnsinns, die Andern fast um Kopfeslänge überragend, und ich habe in meinem Leben wohl schon einen tieferen und nachhaltigeren, aber niemals einen stechenderen Schmerz empfunden als in diesem Augenblicke.
Es kam über mich wie eine Eingebung; gewißlich nicht weniger zitternd als der Unglückliche selbst, stammelte ich: ›Er, er hat die Uhr nicht gestohlen, Herr Rector, ich – ich habe sie ihm geschenkt!‹«
– Ja ja! – sie. Herr von Kronberg ihm lebhaft ins Wort, – jetzt erinnere ich mich deutlich. – Du kamst übel genug an mit Deiner Großmuth, braver Gerold. ›Keine alberne Lüge, junger Mann!‹ – donnerte der unerbittliche Schulmonarch,– ›Inculpat ist geständig und überführt. Die hohe Synode hat ihren Spruch gefällt. Weiche Er von hinnen, Er Uebelthäter!‹ Und nunmehr folgte die fulminanteste der classischgroben Reden, welche jemals aus des Gestrengen Munde geflossen ist. Ich höre sie noch. Es ist etwas Eignes um das Gedächtniß; nach fast dreißig Jahren steht mir die längst vergessene Scene plötzlich so lebhaft vor der Seele, als hätte ich sie erst gestern erlebt, so hat Deine Schilderung mir die Erinnerung aufgefrischt.
Hat darum der große Churfürst Moritz diese Anstalt gegründet, – so donnerte er, – daß wir Schurken und Diebe in ihr erziehn? Sind Euch darum die hohen Alten exponirt, ist Euch darum des Herrn Gebot gepredigt worden, daß Ihr die Nächte in Spiel- und Saufgelagen verbringen sollt? Heißt das Humaniora studiren: seinen Freunden ihre Kleinodien zu stehlen? heißt das der alma mater ihre Sorge vergelten, wenn Ihr aus Euerem Sündenpfuhl das heilige Antlitz mit Koth bespritzt? O, Er Verruchter! Ein Fürstenschüler will Er sein? Ein Galgenvogel ist Er, ein Strauchdieb, ein verlorenes Subject! Man treibe das räudige Schaf aus unserer Hürde, ehe es die ganze Heerde verpestet hat! –
Herr von Kronberg schwieg lächelnd, sich seines prompten Gedächtnisses erfreuend, unser Rendant aber sie. ein:
»Ja, ja, Herr Oberpräsident, das waren seine Worte, genau seine eigenen Worte, aber nun denke man sich die allgemeine Erschütterung, als just in demselben Augenblicke das Feuer der Schlacht sich dermaßen verstärkte, daß die Fensterscheiben erklirrten, und das alte Kloster in seinem Grunde zu erbeben schien. Die ganze Versammlung stand lautlos und zitternd, doch sie. es keinem der Lehrer ein, in dieser allgemeinen Entscheidungsstunde das Strafgericht über den Einzelnen zu unterbrechen; im Gegentheil, es machte den Eindruck, als ob diese Donnerstimme der empörten Magnificenz zu ihrer Unterstützung vom Himmel gesendet worden sei. – ›Gottes Gerichte‹! schrie er mit einer Gewalt, daß das Rollen der Geschütze davon übertäubt wurde, – ›Gottes Gerichte! Eine Geißel kommt über die Welt, die verworfene Brut zu vernichten; eine Sündfluth wälzt sich heran, das Geschlecht der Schande zu ersäufen. Höret, höret! Gedenket dieser Stunde! Beugt Euch, auf daß Ihr Euch erheben lernt! Weiche Er von hinnen, Er Uebelthäter!‹ – Ich war auf meine Knie gesunken. ›Er ist nicht schuldig, nicht schuldig!‹ schluchzte ich. Meine Sinne schwanden für einige Augenblicke, und als sie wiederkehrten, hatte mein unglücklicher Freund den Saal verlassen. Alle Rücksicht vergessend, raffe ich mich empor, stürze ihm nach, und erreiche ihn am Fuße der Treppe, wo er halb ohnmächtig an einem Pfeiler lehnt. Nur der kleine Schusterjunge stand neben ihm, der dem Brauche gemäß, den Beschimpften bis zum Thore, an welchem der gedungene Führer nach der nächsten Station seiner harrte, das Geleit geben und gleich einem Büttel mit einem tüchtigen Fußtritt aus den Armen der alma mater entlassen mußte. Ich sie. meinem Freunde um den Hals, klammerte mich an ihn und weinte die bittersten Thränen. ›Ach, wie ist dies nur alles gekommen?‹ rief ich, ›warum hast Du mich nicht vorbereitet? ach mein armer, mein armer, lieber, einziger Strauch!‹ – Die Thür wurde oben geöffnet: ›Alumnus Gerold!‹ rief die Stimme des Hebdomadars. Bei diesem Rufe durchzuckte es den Strauch, wie ein electrischer Schlag; er rafft sich zusammen, preßt mich heftig an sich, reißt sich aus meinen Armen, und den Schusterjungen bei Seite stoßend, daß derselbe rücklings zu Boden taumelte, stürzte er über den Hof. In diesem Augenblicke drängen die ersten Wagen der in der Schlacht Verwundeten durch das Thor; wie ein Pfeil wendete der Fliehende sich zur Seite, erklettert mit der Gewandheit, die keinem Zögling der Anstalt wie ihm eigen war, eine Linde, schwingt sich von da auf die Ringmauer und hinunter in den Wald – ich habe ihn niemals wiedergesehen!«
– In der That, sagte Herr von Kronberg nach einer Pause, es war ein ergreifender Moment, als jetzt die ersten, dumpfen Gerüchte über den zweifelhaften Stand der Schlacht in die Versammlung drangen, als der Donner der Kanonen die Mauern erschütterte, als die ersten Verwundeten gemeldet wurden und der alte, brave Rentmeister den Saal verließ, um für ihr Unterkommen zu sorgen. Und als nun nach wenigen, lautlosen Minuten die Thür von Neuem aufgerissen wurde und das schöne Lottchen, außer sich, athemlos, staubbedeckt und schluchzend, die blonden Haare in wilder Unordnung an den glühenden Wangen niederhängend, zu den Füßen des Rectors niederstürzte, – wahrhaftig ich könnte die Scene malen. ›Gnade!‹ rief sie, die Hände ringend, ›Gnade, Hochwürden! Rufen Sie den Unglücklichen zurück! Er ist unschuldig! ich – ich habe ihm die Uhr gegeben!‹ – Aber weit entfernt, durch diese Aufopferung die Sache des jungen Galans zu verbessern, reizte sie den alten Herrn, der in diesem zarten Punkte am wenigsten Spaß verstand, nur auf das Empfindlichste. – Sie? Sie? – brüllte er wie ein Wüthender, indem er sie mit dem Fuße von sich stieß, – Sie hat sie ihm gegeben? Um desto schlimmer für den Elenden, – das gestohlene Geschenk einer Dirne! –
Bei diesen Worten sprang der Rendant Gerold in die Höhe, als hätte ihn eine Natter gestochen. Er setzte sich aber augenblicklich wieder nieder und sie. dem Erzähler mit einem eigenthümlich feierlichen Klange der Stimme und hochgerötheten Wangen in die Rede:
»Und so wird es denn auch wohl dem Herrn Oberpräsidenten noch erinnerlich sein, wie bei dieser empörenden Schmähung Charlotte Brand sich vom Boden erhob mit der Würde einer beleidigten Königin und, über den ganzen schönen Leib erschaudernd, Todtenblässe auf dem Angesichte, ausrief: – ›Einer Dirne? Einer Dirne? Nein, keiner Dirne, keiner, – ich habe, – ich bin, – aber gleichviel! Der Unglückliche ist nicht ohne Schuld, aber diese Schmach hat er nicht verdient. Rufen Sie ihn zurück, prüfen Sie noch einmal, strafen Sie menschlich, Hochwürden! Ersparen Sie dem Unglücklichen den Jammer einer Mutter, den Fluch einer Familie, das Brandmal eines ganzen Lebens!‹ – Sie stürzte nach diesen Worten besinnungslos zu Boden und mußte aus dem Saale getragen werden. Ein hitziges Fieber hielt sie wochenlang an der Marke des Lebens. Aber selbst der Rector erschien erschüttert und blickte einige Secunden ungewiß im Kreise der schweigenden Lehrer rund umher. Alles stand mit niederhängenden Köpfen. In dem Augenblicke kam die Meldung, daß ein neuer Transport Verwundeter in den Hof gefahren werde, und der schmähliche Verlust der Schlacht nicht zu bezweifeln sei. Die Lehrer entfernten sich, wir zerstreuten uns. Das Schicksal von Millionen, die Schmach des Vaterlandes verdrängten das Schicksal des Einzelnen – aber ich habe ihn niemals vergessen!«
– Welchen Zusammenhang hatte es denn nun aber eigentlich mit Deiner Uhr? – fragte Herr von Kronberg nach einer Pause. –
»Den einfachsten und unglückseligsten, Herr Oberpräsident. Schuld und Zufall hatten sich wie immer im Leben zu eines Menschen Untergang verbündet. Ehe der arme Strauch den Weg nach der Stadt angetreten, war er noch auf ein Weilchen bei dem Waschmann Brand vorgesprochen, dessen Tochter Charlotte allein zu Hause war. Da sie des jungen Mannes Sorglosigkeit aus Erfahrung kannte, mahnte sie ihn zu pünktlicher Heimkehr, und er gestand ihr, seine Uhr kürzlich verloren und die Absicht gehabt zu haben, ihren Vater für ein Paar Stunden um die seinige zu bitten. Sie wußte, wie gute Freunde Strauch und ich miteinander waren, wie gern ich, wäre ich zugegen gewesen, in die kleine Gefälligkeit gewilligt haben würde, sie bot ihm daher meine Uhr, die ihr Vater am Morgen aus der Stadt zurückgebracht hatte, zur Aushülfe an. Er nahm sie und ging. Aber kaum, daß ich am andern Morgen mit dem Doctor abgefahren bin, so trat der Strauch schon wieder in Brand's Wohnung, wo er wieder Charlotten allein zu Hause fand. Die Mutter war todt seit Jahren, der Vater fast Tag und Nacht in Geschäften, die zweite Schwester zum Unglück just bei der ältesten auf dem Lande. Des Jünglings verstörtes Wesen fällt dem Mädchen auf, sie hält ihn für krank, erforscht sein nächtliches Ausbleiben und bittet endlich um die geborgte Uhr. Ein Schauder überfällt den Unglücklichen; sie erkennt das Unheil fast ohne Worte: in der Erhitzung des Weines, der Leidenschaft in Gesellschaft junger, übermüthiger Officiere, hat er nicht nur seine kleine Baarschaft, hat er die geliehene Uhr gestern Abends – verspielt, und jetzt ist er gekommen, ihren Vater zu beschwören, daß er keine Anzeige macht, bis er mit seinem Freunde gesprochen und das erforderliche Geld aufgetrieben haben wird, um die Uhr einzulösen, oder durch eine andere zu ersetzen. Das junge, erschrockene Mädchen indessen sieht weiter, sie sieht alle jene unberechenbaren Zusammentreffen, welche weit öfter einen Frevel an den Tag bringen, als daß ein günstiger Zufall denselben deckt. Hier muß rasch geholfen werden. Ihr am Morgen vielbeschäftigter Vater wird den Verlust binnen wenigen Stunden nicht gewahr und nöthigenfalls durch des Jünglings Bitten an einer Anzeige gehindert werden. Sie steckt den mühsam durch ihrer Hände Arbeit erworbenen Sparpfennig zu sich und macht sich auf den Weg nach der Stadt, die Uhr einzulösen, oder mindestens der Entdeckung des Frevels vorzubeugen. Noch liegt die Gegend im Morgendunkel, aber schon ist die Fahrstraße belebt durch ein französisches Streifcorps, das, von den südlichen Höhen kommend, sich in entgegengesetzter Richtung von der Gegend bewegt, in welcher die verhängnißvolle Schlacht geschlagen werden sollte. Sie muß sich bald rechts, bald links wenden, Seitenpfade einschlagen, hinter Hecken und Dörfern verbergen; die Wegstunde bis zur Stadt wird dadurch verdreifacht. Ihre Angst steigert sich von Minute zu Minute. Endlich erreicht sie das Thor, endlich das Wirthshaus, in welchem das gestrige Gelag abgehalten worden ist. Wie sie richtig vorausgesehen, hat der Wirth die Uhr an Zahlungsstatt angenommen, aber auch schon am Morgen bei einem Uhrmacher, mit dem er just Geschäfte gehabt, eingewechselt. Sie kennt den Uhrmacher, es ist der der Anstalt, mit dem sie schon manches Mal in Berührung gekommen. Sie eilt in sein Haus, aber die Sinne drohen ihr zu schwinden, als sie erfährt, daß er es vor einer Stunde verlassen hat und erst gegen Mittag zurück erwartet wird. Er ist nach der Anstalt gegangen, sie fühlt es, sie weiß es. Kennt er nicht die Uhr? hat er sie nicht erst gestern unter seinen Händen gehabt? muß er nicht eine Veruntreuung voraussetzen? Ohne Zögern eilt sie ihm nach; die Angst giebt ihr Flügel, und doch darf sie nicht wagen die Fahrstraße einzuschlagen, sie muß den Weg über den Berg nehmen; ein unberechenbarer Aufenthalt, wo jede Minute kostbar ist. In der Ferne der Donner der Schlacht; in ihrem Herzen die Qual um das Schicksal des schuldigen Jünglings, die Qual der eigenen Mitschuld an demselben. Sie stürzt fort gleich einem gehetzten Reh, die Brust droht ihr zu bersten und die Sonne steigt immer höher! Die Mittagsstunde ist längst vorüber, als sie an der Ringmauer anlangt, welche das Kloster von dem Bergwalde scheidet, und die sie umschreiten muß, um nach der Pforte zu gelangen. Da liegt die Kirche mit dem umschließenden Friedhof. Sie lehnt sich, Athem schöpfend, einen Augenblick an die Mauer, faltet die Hände und blickt in frommer Fürbitte in die Höh'. Da, – in diesem Augenblicke hört sie ein Rauschen in den Aesten des Baumes, der die Mauer überschattet, eine Gestalt erscheint auf derselben, und der Unglückliche, für dessen Rettung sie eben gebetet, fällt pfeilgeschwind, einem Wahnsinnigen gleich, zu ihren Füßen auf den Boden. Was zwischen ihnen vorgegangen, welche Worte sie gewechselt in diesen höchsten Augenblicken, nur Gott weiß es. Es können nur wenige Minuten gewesen sein, denn wie bald stand die Unglückliche, mitschuldig und doch unschuldig vor dem strengen Richter, in der letzten Hoffnung, einen Spruch zurückzurufen, den der Angeklagte in der Angst, sie in sein Verhängniß zu ziehen, nicht durch ein offenes Geständniß zu mildern gesucht hatte. Sie kam zu spät zu einer Rettung, auch sie hatte ihn verloren für das Leben!«
– Ein beklagenswerthes Beispiel des Leichtsinns, – sagte Herr von Kronberg, – leider nicht vereinzelt stehend, selbst in unseren bestgeleiteten Anstalten. Aber sage mir, alter Freund, was ist denn schließlich aus dem schönlockigen Schülerliebchen geworden? –
Der Rendant Gerold zitterte, Todtenblässe wechselte mit einem raschen Roth auf seinem ehrlichen Gesicht, die Stimme versagte ihm mehr als einen Moment; endlich aber erhob er sich und unter einer tiefen Verbeugung vor dem Fragenden antwortete er mit feierlicher Stimme:
»Schließlich, Herr Oberpräsident, schließlich – meine Frau!«
– Deine Frau? – fragte Herr von Kronberg halb verlegen, halb ungläubig auf die schluchzende Matrone an seiner Seite blickend. –
»Ja, meine Frau,« bestätigte der Rendant, »die Mutter meines einzigen Kindes, meine edle, schöne, heißgeliebte Frau!«
– Verzeihung, Frau Rendantin, – sagte Herr von Kronberg, mit leichter Verneigung sich gegen diese wendend, – aber, aber – –
»Entschuldigen der Herr Oberpräsident,« versetzte der Rendant, »das ist ihre Nachfolgerin, ihre Schwester Karoline, deren der Herr Oberpräsident sich kaum mehr erinnern werden. Meine Charlotte ist mir früh schon wieder genommen worden. – Weine nicht, mein Linchen,« sagte er darauf, sich zu seiner Gattin niederbeugend, und sich bemühend, die Hände der guten Frau von ihren strömenden Augen und an sein Herz zu ziehen, »weine nicht! Selten hat ein Mann das Glück gehabt, eine so treue Gefährtin zu finden als Trost und Ersatz, selten ein Kind eine wahrhafte zweite Mutter, wie mein Karl in Dir. Selten lebt ein Abgeschiedener so geliebt und unvergessen fort in dem Herzen dessen, der an seine Stelle getreten, wie unsere Charlotte in Dir. Weißt Du noch, Linchen, wie Dein braver Vater zu sagen pflegte, wenn er so häufig um seiner klugen und schönen Töchter willen gepriesen ward? ›Ja,‹ pflegte er zu sagen, ›meine Lotte ist die schönste, und meine Sophie die klügste, aber meine Line ist die beste von allen Dreien;‹ und Dein seliger Vater hatte Recht.«
– Es thut mir herzlich leid, – sagte Herr von Kronberg nach einer Pause, – es thut mir wirklich leid, lieber Gerold, unbewußt so traurige Erinnerungen in Dir aufgeweckt zu haben. –
»Ach, Herr Oberpräsident,« entgegnete der brave Mann, »die wehmüthigen Erinnerungen waren wach lange vor Ihrer Anregung. Wenn man nach fast dreißig Jahren zum ersten Male die Räume wiedersieht, in welchen man so Vieles erfahren hat, da lebt wie durch einen Zauber Alles auf, was sich im Geleise des täglichen Lebens allmälig verwischt. Ja, Herr Oberpräsident, es fügt sich eigen in einem Menschenherzen. Die schöne Charlotte Brand war mir bis zu jenem verhängnißvollen Tage völlig gleichgültig gewesen; ich hatte kaum bemerkt, daß sie schön sei und meine Kameraden oftmals gewarnt, wenn sie sich im Anstaunen ihrer Reize entzündeten. Denn ein junges, holdseliges Frauenzimmer in der Nähe einer Jünglingsschaar von zwei Hunderten, das wirkt wie ein Zunder, und ich möchte die gestrenge Zucht unserer Magnificenz in diesem Punkte beileibe nicht tadeln, wenn mir auch das Herz unter ihrem harten Ausbruche lange Zeit geblutet hat. Aber von jener Stunde an, wo ich das herrliche Mädchen auf ihren Knieen gesehen, weinend, flehend, händeringend für meinen unglücklichen Freund, geschmäht und mit Füßen gestoßen für ihn, von der Zeit an, wo sie bleich und schwach nach der langen, erschöpfenden Krankheit, ihre Blüthe abgestreift, Muth und Heiterkeit erloschen, bemitleidet von den Guten, verdächtigt und verhöhnt von den Bösen, neben uns lebte, war sie das Traumbild meiner Seele geworden. Tag und Nacht sah ich, hörte ich nur sie. Aber ich sagte kein Wort, wagte kaum die Augen aufzuschlagen, wenn sie mir im Hofe oder Garten begegnete. Als ich die Schule verließ, versuchte ich die erste schüchterne Andeutung und wurde nicht verstanden. Die Jahre, die nun kamen, die Jahre des Studiums, des Harrens und Vorbereitens waren schwer für den Sohn der armen Pfarrerswittwe, Herr Oberpräsident, recht schwer; aber sie wurden mir leicht, denn ich arbeitete und darbte im Gedanken an sie. Endlich war ich so weit, mich mit Ehren um sie zu bewerben. Ihr Vater war todt, die Zeit mit ihrem Drangsal doppelt hart für eine Waise, die ihr Brod mit ihren Händen verdienen mußte. Dennoch machte sie mir es nicht leicht, und ich mußte lange werben, ehe meine Liebe über ihr Bedenken gesiegt. Im Jahre 1813 am hohen Christfeste ward sie die Meine in der nämlichen Kirche, die ich heute zum ersten Male seit jener Stunde betreten habe – kaum ein Jahr später und sie war wieder von mir gegangen – für immer.«
Alle saßen eine Weile schweigend mit niedergeschlagenen Augen. Plötzlich aber richteten sie dieselben erschreckt in die Höhe, denn sie sahen Herrn von Kronberg sich rasch von seinem Platze erheben und ehrerbietig vor dem fremden Nachbar verbeugen, der unbemerkt in ihre Nähe getreten war und mit ausgebreiteten Armen, helle Thränen in den Augen, vor dem Erzähler stand.
»Gerold!« sagte er, »Gerold, treuer, herrlicher Freund, kennst Du mich denn nicht wieder? ich bin« –
– Herr Jesus, um Gotteswillen! – rief die Rendantin in die Höhe fahrend – das ist – das sind – –
»Das ist Clemens Strauch,« sie. der Fremde ein, indem er ihre Hand innig an sein Herz drückte, »Strauch, der Elende, der Ausgestoßene, den Ihre unvergeßliche Schwester vergeblich zu retten suchte – und dennoch gerettet hat. Ja, Herr von Kronberg,« fügte er darauf auch diesem bewillkommend die Hand reichend, hinzu, – »als ich vor Jahren die Ehre hatte, in Begleitung meines Souverains die Gastfreundschaft Ihres angenehmen Hauses zu genießen, da ahnten Sie nicht, wie freundlich Sie sich Einem erwiesen, den Sie als Dieb haben mißhandeln sehen.«
– Und wohl, mir, daß ich es nicht ahnte, Excellenz, – versetzte Herr von Kronberg mit nochmaliger tiefer Verbeugung, – während der gute Gerold halb betäubt und stumm die Hand des so wunderbar Wiedergefundenen an seine strömenden Augen drückte, – wohl mir, denn wie würde die Erinnerung an eine so unwürdige Behandlung, an eine so grausame Strafe in meinem Vaterlande mich gedemüthigt haben! –
»In jenem Augenblicke der Verzweiflung«, erzählte Clemens von Strauch, »als ich dem theueren, makellosen Mädchen zum letzten Male gegenüberstand, mußte, wollte, suchte ich nur Eines, mein Brandmal zu löschen – den Tod. Aufgegeben von Allen und von mir selbst, weckte sie in mir mit einem einzigen Blicke den Muth, mich zu erheben. Und ich erhob mich; langsam, mühsam, oftmals zurückbebend, oftmals zurückfallend, erhob ich mich zum Kampfe gegen die Schmach, welche in einer und derselben Stunde mich und mein Vaterland verdientermaßen vernichtet hatte. Die Hoffnung der allgemeinen, und meiner eigenen Wiederherstellung wurden Eins in mir, wurden die Idee, die Leidenschaft, die mich trug, so hoch trug, daß ich heute, als Greis, auf den Fall meiner Jugend zurückblicken, daß ich seine Geschichte hören kann ohne Erröthen, ja fast mit Stolz wie auf einen Segen, der meine Kräfte entfaltet hat. Aber mein Weg ging durch Blut, ich opferte ihm Namen, Heimath, Familie und jeden theueren Zusammenhang. Lassen Sie es Ihre Aufgabe sein, Herr von Kronberg, daß auch in friedlichen Zeiten und in seinem Vaterlande, wenn auch im Schweiße seines Angesichtes, der Verbrecher sich rein waschen von Schmach, und sein Haupt eines Tages wieder hoch tragen könne, wie ich das meine. Strafen Sie ohne zu schänden, ohne zu tödten, schaffen Sie eine Buße der That!«
– Eine erhabene Aufgabe, – versetzte Herr von Kronberg mit feinem Lächeln, – eine erhabene Aufgabe, handelt es sich um Helden, – unausführbar der rohen Menge gegenüber. Blicken Sie auf unsere überfüllten Gefängnisse und Zuchthäuser, Excellenz. Ist es schon schwer, das Gemeinwesen vor dem Verbrecher zu schützen, aber auch noch den Verbrecher –
»Ich bin allerdings kein Staatsmann,« unterbrach ihn der General ablenkend und leise die Achseln zuckend; dann umarmte er von Neuem den guten Rendanten, der noch immer an seiner Seite stand, den Kopf in seinen Händen vergraben, als ob er den neuen, großen Eindruck dieses Tages nicht bewältigen könne.
»Ja, mein Freund,« sagte er, »eine unbezwingliche Sehnsucht trieb mich zurück in die Gegend, in der ich das Schwerste erduldet. Hier will ich sterben. Aber so lange ich lebe, bleibe Du bei mir: der Nieverirrte bei dem Heimgekehrten. Siehe, da kommen unsere Kinder! Blicken sie nicht vertraut genug für Lehrer und Schülerin? Was meinst Du Alter, wenn wir eines Tages noch Brüder würden, Brüder durch Charlottens Sohn?«
– Das ist zu viel, zu viel! – schluchzte der Rendant, – Lottchen – Linchen, – mein Strauch – Herr Oberpräsident, – zu viel der Freude – ich möchte sterben! –
»Leben, alter Freund, leben!« sagte der General, »Gott segnet die Treue!«