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. . . Heute nachmittag besuchte der Herr Abbè Jèrôme Coignard nach seiner Gewohnheit den Buchhändler Blaizot in der Rue Saint-Jacques, dessen Firmenschild das Bild der heiligen Katharina zierte. Er erblickte auf dem Tische die Werke von Jean Racine und begann nachlässig darin zu blättern.
»Dieser Dichter«, sagte er zu uns, »war nicht ohne Genie, und wenn er seinen Geist soweit erhoben hätte, seine Tragödien in lateinischen Versen zu schreiben, so wäre er lobenswert, namentlich in betreff seiner ›Athalie‹, worin er gezeigt hat, daß er in der Politik ziemlich Bescheid wußte. Corneille ist im Vergleich zu ihm nur ein hohler Schönredner. Diese Tragödie, die den Aufstieg des Joas zur Macht schildert, enthüllt einige der Triebfedern, deren Spiel die Reiche erhebt und stürzt. Und man muß glauben, daß Racine eine Geistesfeinheit besaß, die wir mehr bewundern müssen, als alle Feinheiten der Poesie und Beredsamkeit, die ja in Wahrheit nur rhetorische Kunststücke zur Unterhaltung der Maulaffen sind. Den Menschen Erhabenheit anzudichten, ist die Eigenschaft eines schwachen Geistes, der sich über die wahre Natur der Söhne Adams täuscht, welche ausnahmslos elend und erbarmungswürdig ist. Wenn ich nicht sage, der Mensch sei ein lächerliches Tier, so geschieht es lediglich in Ansehung dessen, daß Jesus Christus ihn mit seinem kostbaren Blute erlöst hat. Der Adel der Menschheit beruht lediglich auf diesem unbegreiflichen Mysterium, und die Menschen, große wie kleine, sind an sich nichts als wilde und widerwärtige Bestien.«
Als mein teurer Lehrer diese letzten Worte sprach, betrat Herr Roman den Laden.
»Holla! Herr Abbé!« rief dieser geschickte Mann aus. »Sie vergessen, daß diese wilden und widerwärtigen Bestien wenigstens in Europa einem bewundernswerten Staatswesen angehören, und daß Staaten wie das Königreich Frankreich oder die Republik Holland von dieser Barbarei und Roheit, die Sie verletzt, weit entfernt sind.«
Mein teurer Lehrer schob den Band Racine in das Regal zurück und antwortete Herrn Roman mit seiner gewohnten Anmut:
»Ich gebe Ihnen zu, mein Herr, daß die Handlungen der Staatsmänner in den Schriften der Philosophen, die darüber handeln, einige Ordnung und Klarheit gewinnen; so bewundre ich in Ihrem Werke über die ›Monarchie‹ die Folgerichtigkeit und die Gedankenverkettung. Doch gestatten Sie mir, mein Herr, daß ich Ihnen allein die schönen Vernunftschlüsse zuschreibe, die Sie den großen Politikern des Altertums und der Gegenwart unterschieben. Sie besaßen den Geist, den Sie ihnen zulegen, nicht; und diese Hochmögenden, die anscheinend die Welt lenkten, waren selbst nur Spielbälle der Natur und des Glückes. Sie erhoben sich nicht über die menschliche Dummheit, und im Grunde waren sie nichts als glänzende Nullen.«
Während Herr Roman dieser Rede ungeduldig zuhörte, ergriff er einen alten Atlas und begann ihn mit einem Lärm zu hantieren, der mit dem Schall seiner Stimme verschmolz.
»Welche Verblendung!« rief er aus. »Wie kann man die Taten der großen Minister, der großen Staatsbürger so verkennen! Wissen Sie so wenig von der Geschichte, daß es Ihnen nicht in die Augen springt, wie ein Cäsar, ein Richelieu, ein Cromwell die Völker geformt haben wie ein Tongefäß? Sehen Sie nicht, daß der Staat wie ein Uhrwerk in den Händen des Uhrmachers läuft?«
»Ich sehe es nicht,« entgegnete mein teurer Lehrer, »und in den fünfzig Jahren meines Daseins habe ich beobachtet, daß dieses Land mehrfach die Regierung gewechselt hat, ohne daß die Lage des Volkes sich verändert hätte, abgesehen von einem unmerklichen Fortschritt, der vom menschlichen Willen nicht abhängt. Woraus ich schließe, daß es fast einerlei ist, ob man so oder so regiert wird, und daß die Minister nur durch ihren Rock und ihre Equipage hervorragen.«
»Wie können Sie so reden,« antwortete Herr Roman, »und dies einen Tag nach dem Tode eines Staatsministers, der solchen Anteil an den Staatsgeschäften hatte und der nun nach langer Ungnade in dem Augenblick stirbt, wo er die Macht mit Ehren wiedererlangt? An dem Rufe, der seinem Sarge folgt, können Sie die Wirkung seines Handelns ermessen. Diese Wirkung überdauert ihn.«
»Mein Herr,« erwiderte mein teurer Lehrer, »dieser Minister war ein Ehrenmann, emsig und betriebsam, und man kann von ihm wie von Vauban sagen, daß er zu viel Höflichkeit besaß, um sie zur Schau zu tragen; denn er bemühte sich nie, einem Menschen zu gefallen. Ich lobe ihn vor allem, weil er sich in den Geschäften gebessert hat, im Gegensatz zu so vielen anderen, die darin herunterkommen. Er besaß eine starke Seele und ein lebhaftes Gefühl für die Größe seines Landes. Auch das ist lobenswert, daß er den Haß der Geschichtenträger und der kleinen Marquis ruhig auf seine breiten Schultern nahm. Selbst seine Feinde achten ihn insgeheim. Aber was tat er Bedeutendes, mein Herr; und wodurch erscheint er Ihnen als etwas andres denn als Spielball der Winde, die ihn umbliesen? Die Jesuiten, die er vertrieben hat, sind wiedergekehrt; der religiöse Kleinkrieg, den er entzündet hatte, um das Volk zu unterhalten, ist erloschen und hat nach dem Feste nichts hinterlassen als das stinkende Gerippe eines schlimmen Feuerwerks. Er besaß, das gebe ich Ihnen zu, den Sinn für Volksbelustigungen, oder besser für Zerstreuung und Ablenkung. Seine Partei, welche die des Zufalls und der Schachzüge war, hat seinen Tod nicht erst abgewartet, um Namen und Führer zu wechseln, ohne ihre Grundsätze zu ändern. Seine Kamarilla blieb ihrem Herrn und sich selbst treu, indem sie fortfuhr, den Umständen zu gehorchen. Ist das ein Werk, dessen Größe erstaunt?«
»Es ist allerdings bewundernswert,« erwiderte Herr Roman. »Und hätte dieser Minister nichts getan, als die Kunst des Regierens aus den Wolken der Metaphysik herabzuholen und sie zur Realität der Dinge zurückzuführen, so würde ich ihn dafür mit Lob überschütten. Seine Partei, sagen Sie, war die des Zufalles und der Schachzüge. Aber was ist nötig, um in den irdischen Geschäften Hervorragendes zu leisten, wenn nicht dies: die Gelegenheit am Schopfe zu fassen und nützliche Schachzüge zu machen? Und das tat er, oder wenigstens: er hätte es getan, wenn der kleinmütige Unbestand seiner Freunde und die perfide Keckheit seiner Gegner ihm etwas Ruhe gelassen hätten. Aber er erschöpfte sich in dem fruchtlosen Bemühen, die letzteren zu besänftigen und die ersteren zu ermutigen. Es fehlte ihm an Zeit und an Menschen, dem notwendigen Werkzeug zur Befestigung eines heilsamen Despotismus. Er zeigte wenigstens bewundernswerte Absichten in der inneren Politik. Und nach außen hat er, das dürfen Sie nicht vergessen, sein Vaterland um weite, fruchtbare Gebiete bereichert. Und wir sind ihm dafür um so mehr Dank schuldig, als er diese glücklichen Eroberungen allein und gegen das Parlament machte, von dem er abhing.«
»Ja mein Herr,« entgegnete mein teurer Lehrer, »in den Kolonialfragen zeigte er Energie und Gewandtheit, doch vielleicht nicht viel mehr als ein Bürgersmann, wenn er ein Landgut kauft. Und was mir alle diese überseeischen Unternehmungen verleidet, das ist die Aufführung der Europäer den Völkern Afrikas und Amerikas gegenüber. Wenn die Weißen mit den Schwarzen oder Gelben zusammenstoßen, so sehen sie sich gezwungen, sie auszurotten. Man bändigt die Wilden nur durch vollendete Wildheit. Dieses fatale Ende ist das aller kolonialen Unternehmungen. Ich leugne nicht, daß die Spanier, Holländer und Engländer einigen Nutzen daraus gezogen haben. Doch gewöhnlich stürzt man sich aufs Geratewohl in diese großen, grausamen Expeditionen. Was bedeutet die Weisheit und der Wille eines einzelnen in solchen Unternehmungen, an denen Handel, Ackerbau und Schiffahrt gleichzeitig beteiligt sind und die somit von einer Unzahl winziger Einzelwesen abhängen? Der Anteil eines Ministers an solchen Geschäften ist sehr klein, und wenn er uns bemerkenswert erscheint, so kommt das daher, daß unser Denken, das zur Mythenbildung neigt, allen geheimen Naturkräften Namen und Antlitz leihen will. Was hat Ihr Minister in kolonialen Dingen erfunden, was nicht schon den Phöniziern zu Zeiten des Kadmos bekannt war?«
Bei diesen Worten ließ Herr Roman den Atlas fallen, und der Buchhändler hob ihn behutsam auf.
»Herr Abbé,« sagte er, »ich entdecke mit Bedauern, daß Sie ein Sophist sind. Denn das muß man sein, um die kolonialen Unternehmungen des verstorbenen Ministers durch Kadmos und die Phönizier in Schatten zu stellen. Sie können nicht leugnen, daß diese Unternehmungen sein Werk waren, und Sie führen in kläglicher Weise den Kadmos ein, um uns irre zu machen.«
»Mein Herr,« schloß der Abbé, »lassen wir Kadmos aus dem Spiele, da er Sie ärgert. Ich will nur dies sagen, daß ein Minister an seinen eignen Unternehmungen wenig Anteil hat und daß er weder Ruhm noch Schande verdient; ich will sagen: wenn es in der kläglichen Komödie des Lebens so aussieht, als ob die Fürsten befehlen und die Völker gehorchen, so ist das nur ein Spiel, ein trügerischer Schein; in Wirklichkeit werden beide von einer unsichtbaren Macht gelenkt.«