Theodor Fontane
Unwiederbringlich
Theodor Fontane

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Zehntes Kapitel

Die Dampfschiffahrt ging gut, und es war noch nicht neun Uhr abends heran, als der »König Christian« zwischen Nyholm und Tolboden in den Kopenhagener Hafen einbog. Holk stand auf Deck und genoß eines herrlichen Anblickes; über ihm funkelten die Sterne in fast schon winterlicher Klarheit, und mit ihnen zugleich spiegelten sich die Uferlichter in der schimmernden Wasserfläche. Schiffsvolk und Kommissionäre drängten sich heran, die Kutscher hoben ihre Peitschen und warteten eines zustimmenden Winkes, Holk aber, der es vorzog, die wenigen hundert Schritte bis zur Dronningens-Tvergade zu Fuß zu machen, lehnte alle Dienste ab und gab dem Schiffssteward nur Weisung, ihm sein Gepäck so bald wie möglich bis in die Wohnung der Witwe Hansen zu schicken. Dann ging er, nach einem freundlichen Abschiede vom Kapitän, das Bollwerk entlang, erst auf den Sankt-Annen-Platz und von hier aus in kurzer Biegung auf die Dronningens-Tvergade zu, wo gleich links das zweistöckige Haus der Witwe Hansen gelegen war. Als er hier, nach wenigen Minuten, von der anderen Seite der Straße her seiner Wohnung ansichtig wurde, sah er musternd hinüber und freute sich des sauberen und anheimelnden Eindrucks, den das Ganze machte. Der erste Stock, in dem sich seine zwei Zimmer befanden, war schon erleuchtet, und die Schiebefenster, um frische Luft einzulassen, waren ein wenig geöffnet. »Ich wette, es brennt auch ein Feuer im Kamin. Ein Ideal von einer Wirtin.« Unter diesen Betrachtungen schritt er über den Damm auf das Haus zu und tat mit dem Klopfer einen guten Schlag, nicht zu laut und nicht zu leise. Gleich danach wurde denn auch geöffnet, und Witwe Hansen in Person, eine noch hübsche Frau von beinah fünfzig, begrüßte den Grafen mit einer Art Herzlichkeit und sprach ihm ihre Freude aus, ihn noch in diesem Jahre wiederzusehen, während sie doch frühestens von Neujahr an darauf gerechnet habe. »Daß Baron Bille, der doch kein Kind mehr, auch gerade die Masern kriegen mußte! Aber so ist es im Leben, dem einen sein Schad ist dem anderen sein Nutz.«

Unter diesen Worten war die Wirtin in den Flur zurückgetreten, um, vorangehend, dem Grafen hinaufzuleuchten. Dieser folgte denn auch. Unten an der Treppe aber blieb er einen Augenblick stehen, was, nach dem Anblick, der sich ihm bot, kaum ausbleiben konnte. Die zweite Hälfte des nur schmalen Hausflures lag nach hinten zu wie in Nacht, ganz zuletzt aber, da, wo mutmaßlich eine zur Küche führende Tür aufstand, fiel ein Lichtschein in den dunklen Flur hinein, und in diesem Lichtscheine stand eine junge Frau, vielleicht, um zu sehen, noch wahrscheinlicher, um gesehen zu werden. Holk war betroffen und sagte: »Wohl Ihre Frau Tochter? Ich habe schon davon gehört, und daß sie diesmal ihren Ehemann nicht begleitet hat.« Die Witwe Hansen bestätigte Holks Frage nur ganz kurz, mutmaßlich, weil sie durch eine längere Mitteilung ihrerseits die Wirkung des Bildes nicht abschwächen wollte.

Oben in den Zimmern, die mit schweren Teppichen ausgelegt und mit Vasen und anderen chinesisch-japanischen Porzellansachen reich, aber nicht überladen geschmückt waren, zeigte sich alles so, wie's Holk vermutet hatte: die Lichter brannten, das Feuer im Kamin war da, und auf dem Sofatische standen Früchte, mehr wohl, um den anheimelnden Eindruck eines Stillebens zu steigern, als um gegessen zu werden. Neben der Fruchtschale lagen die Karten von Baron Pentz und Baron Erichsen, die beide vor einer Stunde bereits dagewesen waren und nach dem Grafen gefragt hatten. »Sie würden wiederkommen.«

In diesem Augenblick hörte man unten auf dem Hausflur sprechen. »Es werden meine Sachen sein«, sagte Holk und erwartete, die junge Frau, deren Bild ihn noch beschäftigte, samt ein paar koffertragenden Schiffsleuten eintreten zu sehen. Aber die junge Frau kam nicht, auch nicht das Gepäck, wohl aber erschienen beide Freiherren, mit denen sich nun Holk begrüßte, mit Pentz herzlich und jovial, mit Erichsen artig und etwas zurückhaltend. Frau Hansen machte Miene, sich zurückzuziehen, und fragte nur noch, was der Herr Graf für den Abend befehle. Holk wollte auch darauf antworten, Pentz aber ließ es nicht dazu kommen und sagte: »Liebe Frau Hansen, Graf Holk hat für heute gar keine Wünsche mehr, ausgenommen den, uns zu Vincents zu begleiten. Sie müssen sich's gefallen lassen, daß wir ihn Ihnen gleich im ersten Moment wieder entführen, Ihnen und der Frau Tochter. Wobei mir einfällt, sind denn Nachrichten von Kapitän Hansen da, diesem glücklichsten und beneidenswertesten und zugleich leichtsinnigsten aller Ehemänner? Wenn ich solche Frau hätte, hätt ich mich für ein Metier entschieden, das mich jeden Tag runde vierundzwanzig Stunden ans Haus fesselte; Schiffskapitän wäre jedenfalls das letzte gewesen.«

Witwe Hansen war sichtlich erheitert, rückte sich aber doch einigermaßen ernsthaft zurecht und sagte mit einer gewissen Matronenwürde: »Ach, Herr Baron, wer immer auf seinen Mann wartet, der denkt nicht an andere. Mein Seliger war ja auch Kapitän. Und ich habe immer bloß an ihn gedacht...«

Pentz lachte. »Nun, Frau Hansen, was einem die Frauen sagen, das muß man glauben, das geht nicht anders. Und ich will's auch versuchen.«

Und dabei nahm er Holk am Arm, um ihn zu gemeinschaftlichem Abendessen und obligater Plauderei zu Vincents Restaurant zu führen. Baron Erichsen folgte mit einem Gesichtsausdruck, der die voraufgegangenen Kordialitäten mit der Wirtin zu mißbilligen schien, trotzdem er sie als Pentzsche Verkehrsform genugsam kannte.

Die Witwe Hansen ihrerseits aber hatte bereits die Glocke von einer der beiden Lampen genommen und leuchtete hinab, bis die drei Herren das Haus verlassen hatten.

Pentz und Erichsen waren Gegensätze, was nicht ausschloß, daß sie sich ziemlich gut standen. Mit Pentz stand sich übrigens jeder gut, weil er nicht bloß zu dem holländischen Sprichworte: »Wundere dich allenfalls, aber ärgere dich nicht«, von ganzem Herzen hielt, sondern diesen Weisheitssatz auch noch überbot. Er hatte nämlich auch das »sich wundern« schon hinter sich; auch das war ihm schon um einen Grad zuviel. Er bekannte sich vielmehr zu »ride si sapis« und nahm alles von der heiteren Seite. Dem alten Pilatusworte »Was ist Wahrheit?« gab er in Leben, Politik und Kirche die weiteste Ausdehnung, und sich über Moralfragen zu erhitzen – bei deren Erörterung er regelmäßig die Griechen, Ägypter, Inder und Tscherkessen als Vertreter jeder Richtung in Leben und Liebe zitierte – war ihm einfach ein Beweis tiefer Nichtbildung und äußerster Unvertrautheit mit den »wechselnden Formen menschlicher Vergesellschaftung«, wie er sich, unter Lüftung seiner kleinen Goldbrille, gern ausdrückte. Man sah dann jedesmal, wie die kleinen Augen pfiffig und überlegen lächelten. Er war ein sechziger, unverheiratet und natürlich Gourmand: die Prinzessin hielt auf ihn, weil er sie nie gelangweilt und sein nicht leichtes Amt anscheinend spielend und doch immer mit großer Akkuratesse verwaltet hatte. Das ließ manches andere vergessen, vor allem auch das, daß er, all seiner Meriten unerachtet, doch eigentlich in allem, was Erscheinung anging, eine komische Figur war. Solange er bei Tische saß, ging es; wenn er dann aber aufstand, zeigte sich's, was die Natur einerseits zuviel und andererseits zuwenig für ihn getan hatte. Seine Sockelpartie nämlich ließ viel zu wünschen übrig, was die Prinzessin dahin ausdrückte, »sie habe nie einen Menschen gesehen, der sowenig auf Stelzen ginge wie Baron Pentz«. Da sie dies Wort immer nur zitierte, wenn in seinem Sprechen etwas moralisch sehr »Ungestelztes« vorausgegangen war, so genoß sie dabei die Doppelfreude, ihn mit ein und demselben Worte ridikülisiert und beglückt zu haben. Er war von großer Beweglichkeit und hätte danach ein ewiges Leben versprochen, wenn nicht sein Embonpoint, sein kurzer Hals und sein geröteter Teint gewesen wären, drei Dinge, die den Apoplektikus verrieten.

Als Pentz‘ Gegenstück konnte Erichsen gelten; wie jener ein Apoplektikus, so war dieser ein geborener Hektikus. Er stammte aus einer Schwindsuchtsfamilie, die, weil sie sehr reich war, die Kirchhöfe sämtlicher klimatischer Kurorte mit Denkmälern aus Marmor, Syenit und Bronze versorgt hatte. Die Zeichen der Unsterblichkeit auf eben diesen Denkmälern waren aber überall dieselben, und in Nizza, San Remo, Funchal und Kairo, ja prosaischerweise auch in Görbersdorf, schwebte der Schmetterling, als wenn er das Wappen der Erichsen gewesen wäre, himmelan. Auch unser gegenwärtiger Kammerherr Erichsen, seit etwa zehn Jahren im Dienste der Prinzessin, hatte den ganzen Kursus »durchschmarotzt«, ihn aber glücklicher absolviert als andere seines Namens. Von seinem vierzigsten Jahre an war er seßhaft geworden und konnte sich die ruhigen Tage gönnen, was er so weit trieb, daß er kaum noch Kopenhagen verließ. Er hatte das Reisen satt bekommen, zugleich aber aus seinen ärztlich verordneten Entsagungstagen auch eine Abneigung gegen alle Extravaganzen in sein derzeitiges Hofleben mit herübergenommen. Daran gewöhnt, von Milch, Hühnerbrust und Emser Krähnchen zu leben, fiel ihm, wie Pentz sagte, bei Festmahlen und Freudenfeiern immer nur die Aufgabe zu, durch seine lange, einem Ausrufungszeichen gleichende Gestalt, vor allem, was an Bacchuskultus erinnern konnte, zu warnen. »Erichsen das Gewissen« war einer der vielen Beinamen, die Pentz ihm gegeben hatte.

Von dem Hause der Witwe Hansen in der Dronningens-Tvergade bis zu Vincents Restaurant am Kongens Nytorv war nur ein Weg von fünf Minuten. Erichsen mußte, nach Pentz' Weisung, rekognoszierend vorangehen, »weil ihm seine sechs Fuß einen besseren Überblick über die Vincentschen Platzzustände gestatten würden«. Und zu dieser vorsichtigen Weisung, so scherzhaft sie gegeben war, war nur zu guter Grund vorhanden; denn als eine Minute nach Erichsen auch Pentz und Holk in das Lokal eintraten, schien es unmöglich, einen noch unbesetzten Tisch zu finden. Aber schließlich entdeckte man doch eine gute Ecke, die nicht nur ein paar bequeme Plätze, sondern auch ein behagliches Beobachten versprach.

»Ich denke, wir beginnen mit einem mittleren Rüdesheimer. Doktor Grämig, beiläufig der lustigste Mensch von der Welt, sagte mir neulich, es sei merkwürdig, daß ich noch ohne Podagra sei, worauf ich nicht bloß meiner Lebensweise, sondern ganz besonders auch meiner Lebensstellung nach einen sozusagen historisch verbrieften Anspruch hätte. Je mehr er aber damit recht haben mochte, je mehr gilt es für mich, die noch freie Spanne Zeit zu nutzen. Erichsen, was darf ich für Sie bestellen? Biliner oder Selters oder phosphorsaures Eisen...«

Ein Kellner kam, und eine kleine Weile danach, so stießen alle drei mit ihren prächtig geschliffenen Römern an, denn auch Erichsen hatte von dem Rüdesheimer genommen, nachdem er sich vorher einer Wasserkaraffe versichert hatte.

»Gamle Danmark«, sagte Pentz, worauf Holk, ein zweites Mal anstoßend, erwiderte: »Gewiß, Pentz, gamle Danmark. Und je ›gamler‹, desto mehr. Denn was uns je trennen könnte – gebe Gott, daß der Tag fern sei –, das ist das neue Dänemark. Das alte, da bin ich mit dabei, dem trink ich zu. Friedrich VII. und unsere Prinzessin... Aber sagen Sie, Pentz, was ist nur in meine guten Kopenhagener gefahren und vor allem in diese gemütliche Weinstube? Sehen Sie doch nur da drüben, wie das alles aufgeregt ist und sich die Blätter aus den Händen reißt. Und Oberstleutnant Faaborg, ja es ist Faaborg, den muß ich nachher begrüßen, sehen Sie doch nur, der glüht ja wie ein Puter und fuchtelt mit dem Zeitungsstock in der Luft umher, als ob es ein Dragonersäbel wäre. Auf wen redet er denn eigentlich ein?«

»Auf den armen Thott.«

»Arm? Warum?«

»Weil man, soviel ich weiß, Thott im Verdacht hat, daß er auch mit im Komplott sei.«

»In welchem Komplott?«

»Aber Holk, Sie sind ja wenigstens um ein Menschenalter zurück. Freilich, da Sie gestern gepackt haben und heute gereist sind, so sind Sie halb entschuldigt. Wir haben hier allerdings so was wie ein Komplott: Hall soll über die Klinge springen.«

»Und das nennen Sie Komplott. Ich entsinne mich übrigens, Sie schrieben mir schon davon... Ich bitte Sie, lassen Sie den guten Hall doch springen. Er wird sich selber nicht viel daraus machen, das aus den Fugen gehende Dänemark, woran ich übrigens noch lange nicht glaube, wieder einzurenken. Schon Hamlet wollte nicht. Und nun gar Hall.«

»Nun, der will auch nicht, darin haben Sie recht. Aber unsere Prinzessin will es, und das gibt den Ausschlag. Sowenig Vertrauen sie zu dem König hat, was mit ihrer Abneigung gegen die Danner zusammenhängt, soviel Vertrauen hat sie nun mal zu Hall; nur Hall kann retten, und deshalb muß er im Amte bleiben. Und wie die Prinzessin denkt – ich bitte Sie, sich mit Ihrer entgegengesetzten Meinung ihr gegenüber nicht etwa decouvrieren zu wollen –, so denken viele. Hall soll bleiben. Und deshalb sehen Sie auch Faaborg mit seinem Zeitungsstock wie einen Gladiator fechten.«

Erichsen war der erregten Szene drüben ebenfalls gefolgt. »Ein Glück, daß de Meza am Nachbartische sitzt«, sagte er, »der wird es wieder in Ordnung bringen.«

»Ach, gehen Sie mir, Erichsen, mit wieder in Ordnung bringen. Als ob Faaborg, dieser Stockdäne, der Mann wäre, sich beruhigen zu lassen, wenn er mal in Unruhe ist. Und nun gar von de Meza.«

»De Meza ist sein Vorgesetzter.«

»Ja, was heißt Vorgesetzter? Er ist sein Vorgesetzter, wenn er die Brigade inspiziert, aber nicht sein Vorgesetzter hier bei Vincent oder irgendsonstwo, geschweige wenn es sich um Politik handelt, um dänische Politik, von der de Meza nichts versteht, wenigstens nicht in Faaborgs Augen. De Meza ist ihm ein Fremder, und es hat auch was für sich. De Mezas Vater war ein portugiesischer Jude, alle Portugiesen sind eigentlich Juden, und kam, was Holk vielleicht nicht weiß, vor soundso viel Jahren als ein Schiffsdoktor hier nach Kopenhagen herüber. Und wenn es auch nicht sicher verbürgt wäre – Sie können es übrigens in jedem Buche nachschlagen, und de Meza selbst macht auch gar kein Hehl daraus –, so könnten Sie ihm die Abstammung von der Stirne lesen. Und dazu dieser Portugiesenteint.«

Erichsen hatte seine Freude daran und nickte zustimmend.

»Und wenn er bloß den südlichen Teint hätte«, fuhr Pentz fort, »er ist aber überhaupt auf den Süden, um nicht zu sagen auf den Orient eingerichtet, und Wetterglas und Windfahne sind so ziemlich die größten Unentbehrlichkeiten für ihn. Er friert immer, und was andere frische Luft nennen, das nennt er Zug oder Wind oder Orkan. Ich möchte wohl wissen, wie sich unser König Waldemar, der Sieger, der alle Jahre wenigstens dreiundfünfzig Wochen auf See war, zu de Meza gestellt hätte.«

Bis dahin war Erichsen unter Zustimmung gefolgt, aber all dies letzte war doch wieder sehr unvorsichtig gesprochen und traf den angekränkelten langen Kammerherrn viel, viel mehr noch, als es de Meza traf.

»Ich begreife Sie nicht, Pentz«, nahm er, der sonst nie sprach, jetzt empfindlich das Wort. »Sie werden schließlich noch beweisen wollen, daß man absolut ohne Wolle leben muß, um überhaupt als Soldat zu gelten. Ich weiß, de Meza steckt in Flanell, weil er immer friert, aber sein fröstelnder Zustand hat ihn nicht abgehalten, bei Fridericia Anno 49 sehr viel und bei Idstedt, das Jahr darauf, eigentlich alles zu tun. Ich für meine Person bezweifle nicht, daß Napoleon gerade so gut nach dem Thermometer gesehen hat wie andere Menschen; in Rußland war es freilich unnötig. Übrigens seh ich, daß man drüben in der Offiziersecke wieder beim Zeitungslesen ist und das Streiten uns überläßt. Ob wir hinübergehen und de Meza begrüßen?«

»Ich denke, wir lassen es«, sagte Holk. »Er könnte nach diesem und jenem fragen, worauf ich gerade heute nicht antworten möchte. Nicht de Mezas wegen bin ich ängstlich, der jede Meinung respektiert, aber der andern Herrn halber, unter denen, nach meiner freilich schwachen Personalkenntnis, einige Durchgänger sind. So, wenn ich recht sehe, Oberstleutnant Tersling, da links am Fenster. Und dann denk ich auch an unsre Prinzessin, der als einer politischen Dame alles gleich zugetragen wird. Ich bange ohnehin vor dem Kreuzverhör, dem ich morgen oder in den nächsten Tagen ausgesetzt sein werde.«

Pentz lachte. »Lieber Holk, Sie kennen doch hoffentlich die Frauen...«

Erichsen machte schelmische Augen, weil er wußte, daß Pentz, trotz seines Glaubens, er kenne sie, sie sicherlich nicht kannte.

»... Die Frauen, sag ich. Und wenn nicht die Frauen, so doch die Prinzessinnen, und wenn nicht die Prinzessinnen, so doch unsre Prinzessin. Sie haben ganz recht, es ist eine politische Dame, und mit einem schleswig-holsteinschen Programm dürfen Sie ihr nicht kommen. Darin ist nichts geändert, aber auch nichts verschlimmert, weil sie, trotz aller Politikmacherei, nach wie vor ganz ancien régime ist.«

»Zugegeben. Aber was soll ich für meine Person daraus gewinnen?«

»Alles. Und ich wundre mich, daß ich Sie darüber erst aufklären muß. Was heißt ancien régime? Die Leute des ancien régime waren auch politisch, aber sie machten alles aus dem Sentiment heraus, die Frauen gewiß, und vielleicht war es das Richtige. Jedenfalls war es das Amüsantere. Da haben Sie das Wort, auf das es ankommt. Denn das Amüsante, was in der Politik wenigstens immer gleichbedeutend ist mit Chronique scandaleuse, spielte damals die Hauptrolle, wie's bei unsrer Prinzessin noch heute der Fall, und wenn Sie sich vor einem politischen Kreuzverhör fürchten, so brauchen Sie nur von Berling oder der Danner oder von Blixen-Fineke zu sprechen und nur anzudeuten, was in Skodsborg oder in der Villa der guten Frau Rasmussen an Schäfer- und Satyrspielen gespielt worden ist, so fällt jedes politische Gespräch sofort zu Boden, und Sie sind aus der Zwickmühle heraus. Hab ich recht, Erichsen?«

Erichsen bestätigte.

»Ja, meine Herren«, lachte Holk, »ich will das alles gelten lassen, aber ich kann leider nicht zugeben, daß meine Situation dadurch sonderlich gebessert wird. Die Schwierigkeiten lösen sich bloß ab. Was mich vor dem politischen Gespräch bewahren soll, ist fast noch schwieriger als das politische Gespräch selber. Wenigstens für mich. Sie vergessen, daß ich kein Eingeweihter bin und daß ich Ihr Kopenhagener Leben, trotz gelegentlicher Aufenthalte, doch eigentlich nur ganz oberflächlich aus ›Dagbladet‹ oder ›Flyveposten‹ kennenlerne. Die Danner und Berling oder die Danner und Blixen-Fineke – davon soll ich mit einem Male sprechen; aber was weiß ich davon? Nichts, gar nichts; nichts, als was ich dem neusten Witzblatt entnommen, und das weiß die Prinzessin auch, denn sie liest ja Witzblätter und Zeitungen bis in die Nacht hinein. Ich habe nichts als die Witwe Hansen, die mir doch als Bezugsquelle nicht ausreicht.«

»Ganz mit Unrecht, Holk. Da haben Sie keine richtige Vorstellung von der Witwe Hansen und ihrer Tochter. Die sind ein Nachschlagebuch für alle Kopenhagner Geschichten. Wo sie's hernehmen, ist ein süßes Geheimnis. Einige sprechen von Dionysosohren, andere von einem unterirdischen Gange, noch andere von einem Hansenschen Teleskop, das alles, was sich gewöhnlichen Sterblichen verbirgt, aus seiner Verborgenheit herauszuholen weiß. Und endlich noch andere sprechen von einem Polizeichef. Mir die verständlichste der Annahmen. Aber ob es nun das eine sei oder das andere, soviel ist gewiß, beide Frauen, oder auch Damen, wenn Sie wollen, denn ihr Rang ist schwer festzustellen, wissen alles, und wenn Sie jeden Morgen mit einer Frau Hansenschen Ausrüstung zum Dienst erscheinen, so verbürg ich mich, daß Sie gefeit sind gegen intrikate politische Gespräche. Die Hansens, und speziell die junge, wissen mehr von der Gräfin Danner als die Danner selbst. Denn Polizeibeamte haben auf diesem interessanten Gebiete sozusagen etwas Divinatorisches oder Dichterisches, und wenn nichts vorliegt, so wird was erfunden.«

»Aber da lerne ich ja meine gute Frau Hansen von einer ganz neuen Seite kennen. Ich vermutete höchste Respektabilität...«

»Ist auch da in gewissem Sinne... Wo kein Kläger ist, ist kein Richter...«

»Und ich werde mich, unter diesen Umständen, zu besondrer Vorsicht bequemen müssen...«

»Wovon ich Ihnen durchaus abreden möchte. Die Nachteile davon liegen obenauf, und die Vorteile sind mehr als fraglich. Sie können in diesem Hause nichts verbergen, selbst wenn Ihr Charakter das zuließe; die Hansens lesen Ihnen doch alles aus der Seele heraus, und das Beste, was ich Ihnen raten kann, heißt Freiheit und Unbefangenheit und viel sprechen. Viel sprechen ist überhaupt ein Glück und unter Umständen die wahre diplomatische Klugheit; es ist dann das einzelne nicht mehr recht festzustellen, oder noch besser, das eine hebt das andere wieder auf.«

Erichsen lächelte.

»Sie lächeln, Erichsen, und es kleidet Ihnen. Außerdem aber mahnt es mich – denn ein Lächeln, weil es in seinen Zielen meist unbestimmt bleibt, kritisiert immer nach vielen Seiten hin –, daß es Zeit ist, unsren Holk freizugeben; es ist schon ein Viertel nach elf, und die Hansens sind reputierliche Leute, die die Mitternacht nicht gern heranwachen, wenigstens nicht nach vorn heraus und mit Flurlampe. Drüben am Tisch ist übrigens auch schon alles aufgebrochen. Ich werde inzwischen die Berechnung machen; erwarten Sie mich draußen an der Hauptwache.«

Holk und Erichsen schlenderten denn auch draußen auf und ab. Als sich ihnen Pentz wieder zugesellt hatte, gingen sie auf die Dronningens-Tvergade zu, wo man sich, gegenüber dem Hause der Frau Hansen, verabschiedete. Das Haus lag im Dunkel, und nur das Mondlicht blickte, wenn die Wolken es freigaben, in die Scheiben der oberen Etage. Holk hob den Klopfer, aber eh er ihn fallen lassen konnte, tat sich auch schon die Tür auf, und die junge Frau Hansen empfing ihn. Sie trug Rock und Jacke von ein und demselben einfachen und leichten Stoff, aber alles, auf Wirkung hin, klug berechnet. In der Hand hielt sie eine Lampe von ampelartiger Form, wie man ihnen auf Bildern der Antike begegnet. Alles in allem eine merkwürdige Mischung von Froufrou und Lady Macbeth. Holk, einigermaßen in Verwirrung, suchte nach einer Anrede, die junge Frau Hansen kam ihm aber zuvor und sagte, während ihr die Augen vor anscheinender Übermüdung halb zufielen, ihre Mutter lasse sich entschuldigen; so rüstig sie sei, so brauche sie doch den Schlaf vor Mitternacht. Holk gab nun seinem Bedauern Ausdruck, daß er sich verplaudert habe, zugleich die dringende Bitte hinzufügend, ihn, wenn es wieder vorkäme, nicht erwarten zu wollen. Aber die junge Frau, ohne direkt es auszusprechen, deutete wenigstens an, daß man sich ein jedesmaliges Erwarten ihres Hausgastes nicht nehmen lassen werde. Zugleich ging sie mit ihrer Ampel langsamen Schritts vorauf, blieb aber, als sie bis unten an die Treppe gekommen war, neben derselben stehen und leuchtete, die Linke auf das Geländer stützend, mit ihrer hocherhobenen Rechten dem Grafen hinauf. Dabei fiel der weite Ärmel zurück und zeigte den schönen Arm. Holk, als er oben war, grüßte noch einmal und sah, als sich gleich danach auch die junge Frau langsam und leise zurückzog, wie das Spiel der Lichter und Schatten auf Flur und Treppe geringer wurde. Horchend stand er noch ein paar Augenblicke bei halb geöffneter Tür, und erst als es unten dunkel geworden war, ließ er auch seinerseits die Tür ins Schloß fallen.

»Eine schöne Person. Aber unheimlich. Ich darf ihrer in meinem Brief an Christine gar nicht erwähnen, sonst schreibt sie mir einen Schreckbrief und läßt alle fraglichen Frauengestalten des Alten und Neuen Testaments an mir vorüberziehen.«


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