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Den dritten Tag danach war von Mittag ab ein stilles, aber rühriges Treiben auf dem Bahnhofe von Klein-Haldern. Eine dicht neben dem Stationshause befindliche Pforte wurde mit Tannenzweigen umwunden, Oleander und Lorbeerbäume standen, eine Hecke bildend, in Front, und an dem Querbalken der Pforte hing ein großer Immortellenkranz, dessen Öffnung das Haldernsche Wappen zeigte. Hinter dem Stationshause hielten mehrere herrschaftliche Wagen, die Kutscher mit einem Trauerflor um den Hut, in einem als Ausläufer des Perrons sich hinziehenden Gartenstreifen aber schritten ein Dutzend schwarzgekleidete Personen auf und ab, Dorfleute von mittleren Jahren, und sprachen ernst und leise miteinander.
Drei Uhr dreißig kam der Zug. »Haldern«, »Klein-Haldern«, riefen die Schaffner und öffneten ein paar Coupés, aus denen verschiedene Personen ausstiegen: zunächst ein alter Geistlicher von besonderer Würde, dem man seines Amtes und seiner Jahre halber den Vorrang gönnte, dann ein Oberst mit seinem Adjutanten und endlich mehrere reichbordierte Herren, die selbst der Klein-Halderner Stationsbeamte nicht kannte. Die Hüte mit Federbüschen aber und mehr noch der ausgesuchte Respekt, mit dem ihnen selbst von seiten des Obersten begegnet wurde, ließen keinen Zweifel darüber, daß es, wenn nicht Prinzlichkeiten, so doch Personen vom Hof oder vielleicht auch hohe Ministerialbeamte sein mußten. Alle gingen auf den Ausgang zu, vor dem die Wagen im selben Augenblicke vorfuhren, und eine Minute später sah man nichts mehr als eine Staubwolke, die sich, immer dichter werdend, auf dem halbchaussierten Fahrwege dem nächsten Dorfe zu bewegte.
Während diese Szene sich in Front des Stationsgebäudes abspielte, wurde weiter abwärts im Zuge die große Schiebetür des letzten Wagens geöffnet und von innen her ein Sarg herausgehoben, den jetzt sechs Träger aus der Zahl derer, die bis dahin im Garten auf und ab marschiert waren, in Empfang nahmen und auf ihre Schultern hoben; andere sechs gingen zur Ablösung nebenher, und was sonst noch auf dem Bahnhof war, folgte. Solange dieser Zug den auf eine kurze Strecke zur Seite des Bahnkörpers hinlaufenden Fahrweg innehielt, war alles still; im selben Augenblicke aber, wo Sarg und Träger von ebendiesem Fahrweg her in eine Kirschallee einbogen, die von hier aus geradlinig auf das nur fünfhundert Schritt entfernte Klein-Haldern zuführte, begann die Klein-Haldernsche Schulglocke zu läuten, eine kleine Bimmelglocke, die wenig feierlich klang und doch mit ihren kurzen, scharfen Schlägen wie eine Wohltat empfunden wurde, weil sie das bedrückende Schweigen unterbrach, das bis dahin geherrscht hatte. So ging es nach Klein-Haldern hinein, ohne daß man etwas anderes als die Schulglocke gehört hätte; kaum aber, daß man nach Passierung der Schmiede – mit der das Dorf nach der anderen Seite hin abschloß – in die von Klein-Haldern nach Groß-Haldern hinüberführende, beinah laubenartig zusammengewachsene Rüsterallee einmündete, so nahm auch schon ein allgemeines Läuten, daran sich die ganze Gegend beteiligte, seinen Anfang. Die Groß-Halderner Glocke, die sie die Türkenglocke nannten, weil sie von Geschützen gegossen war, die Matthias von Haldern aus dem Türkenkriege mit heimgebracht hatte, leitete das Läuten ein; aber ehe sie noch ihre ersten fünf Schläge tun konnte, fielen auch schon die Glocken von Crampnitz und Wittenhagen ein und die von Orthwig und Nassenheide folgten. Es war, als läuteten Himmel und Erde.
Halben Wegs zwischen den Dörfern lief ein Grenzgraben, über den eine steinerne Brücke führte. Jenseits dieser Brücke betrat man die Groß-Halderner Feldmark, und hier begann denn auch das Spalier, das alt und jung auf dieser letzten Wegstrecke gebildet hatte. Den Anfang machten die Schulen. Danach kamen die Kriegervereine mit einem Trompeterkorps aus der nächsten kleinen Garnison, und immer, wenn die Träger an einer Sektion vorüber waren, schwenkte diese dreigliedrig ein und folgte mit »Jesus, meine Zuversicht«. Am Schluß aber marschierten ein paar Dreizehner Veteranen mit der alten Kriegsdenkmünze, lauter Achtziger, die den Kopf schüttelten, niemand wußte zu sagen, ob vor Alter oder über den Lauf der Welt. Und so ging es nach Groß-Haldern hinein, an dem alten Giebelschlosse vorüber und unmittelbar auf die Feldsteinkirche zu, die, höher gelegen als das sie umgebende Dorf, von terrassenförmig ansteigenden und um diese Jahreszeit dicht in Blumen stehenden Gräberreihen eingefaßt wurde. Vor dem kleinen Rundbogenportale stand der Dorfgeistliche, neben ihm zwei Amtsbrüder, und empfing den Toten an geweihter Stätte. Zugleich setzten die Träger den Sarg nieder, auf den jetzt zunächst Palmenzweige gelegt wurden, und trugen ihn, als dies geschehen, den Mittelgang hinauf bis vor den Altar. Hier stand der alte Generalsuperintendent, der von Berlin aus mitgekommen war, um die Parentation zu halten; die großen Lichter brannten, und ihr dünner Rauch wirbelte neben dem großen, halbverblakten Altarbilde auf. Es stellte den verlorenen Sohn dar. Aber nicht bei seiner Heimkehr, sondern in seinem Elend und seiner Verlassenheit.
Die Kirche hatte sich, als der Sarg unmittelbar über der Gruftsenkung niedergelassen war, auf all ihren Plätzen gefüllt, und auch die seit dem Tode Friedrich Wilhelms IV. sonntäglich meist leerstehende herrschaftliche Loge, heute war sie besetzt. In Front erblickte man den alten Grafen, Waldemars Vater, in grauem Toupet und Johanniterkreuz, neben ihm in tiefer und soignierter Trauer die Stiefmutter des Toten, eine noch schöne Frau, die, was geschehen war, lediglich vom Standpunkte des »Affronts« aus ansah und mit Hilfe dieser Anschauung über die vorschriftsmäßige Trauer mit beinahe mehr als standesgemäßer Würde hinwegkam. Hinter ihr der jüngere Sohn (ihr eigener), Graf Konstantin, dem der ältere Bruder, um das mindeste zu sagen, in nicht unerwünschter Weise Platz gemacht hatte. Seine Haltung war untadelig und gleichfalls von bemerkenswerter Gefaßtheit, ohne die der Mutter ganz erreichen zu können. Ein langes Lied, das teilweise in allerkräftigsten Wendungen allem Erdendunkel einen Riegel vorzuschieben trachtete, wurde gesungen; dann sprach der alte Generalsuperintendent schöne, tiefempfundene Worte – tiefempfundene, weil ihn im eigenen Hause schwerste Schicksalsschläge getroffen hatten –, und als er nun vortrat und den Segen sprach und nach dem Singen des letzten Verses der Ton der Orgel nur noch leise nachzitterte, senkte sich der Sarg mit all den Kränzen, die ganz zuletzt noch auf ihn gehäuft worden waren, in die Gruft hernieder.
Eine tiefe Stille trat ein, und die fremden Gäste steckten eben die Köpfe zum Schlußgebet in den Hut, als man hinter einem der Pfeiler ein heftiges und beinahe krampfhaftes Schluchzen hörte. Die Gräfin sah empört nach der Stelle hin, von der es kam; aber der deckunggebende Pfeiler ließ glücklicherweise nicht erkennen, wer die Anmaßung gehabt hatte, ergriffener sein zu wollen als sie.
Stine, die die Fahrt nach Klein-Haldern schon mit dem Vormittagszuge gemacht und sich, um die Zwischenzeit hinzubringen, eine Stunde lang und länger am Außenrande des Groß-Halderner Parkes und dann wieder auf dem angrenzenden Wiesengrunde, wo sie dem Vieh, das hier weidete, zusah, verweilt hatte, war unter den letzten, die die Kirche verließen. Sie hielt sich abseits, ging noch eine Weile zwischen den Gräbern auf und ab und trat dann langsam ihren Rückweg nach dem Klein-Halderner Bahnhof hin an. Alles war still, es klangen keine Glocken mehr, und sie hörte nichts als die Lerchen, die mit ihrem Tirili aus der ringsumher in Garben stehenden Mahd in die Luft emporstiegen. Eine stieg höher als die andere, und sie sah ihr nach, bis sie hoch oben im Blau verschwunden war. »In den Himmel... Ach, wer ihr folgen könnte... Leben; leben müssen...« Und im Übermaß schmerzlicher Erregung und einer Ohnmacht nahe, setzte sie sich auf einen Stein am Weg und barg ihre Stirn in der Hand.
Als sie sich nach einer Weile wieder erhob und ihren Weg inmitten der Fahrstraße fortsetzen wollte, hörte sie, daß in ihrem Rücken, von Groß-Haldern her, ein Wagen in raschem Trabe herankam. Und sich umwendend, sah sie, daß es dieselben Personen waren, die während der Trauerfeier mit in dem herrschaftlichen Kirchenstuhle gesessen hatten. In dem letzten Wagen aber saß Waldemars Oheim, den Sommerüberzieher zurückgeschlagen, so daß man das große blaue Ordensband, das des schwedischen Seraphinenordens, in aller Deutlichkeit erkennen konnte. Stine wollte nicht gesehen sein und trat mit halber Wendung zur Seite; der alte Graf aber hatte sie schon von fernher erkannt, und einer flüchtig in ihm aufsteigenden Verlegenheit rasch Herr werdend, erhob er sich im Wagen und lud sie durch eine freundlich-verbindliche Handbewegung zum Einsteigen ein. Über Stines Züge ging ein Leuchten, das der schönste Dank für des alten Grafen bei Gelegenheiten wie diese nie versagende Ritterlichkeit war; aber zugleich schüttelte sie den Kopf und ging, unter gelegentlichem Verweilen und sich dadurch absichtlich verspätend, auf Klein-Haldern zu, von dessen Kirschallee aus sie bald danach die weiße Dampfwolke des auf die Hauptstadt zueilenden Zuges sah. Eine Stunde später, soviel wußte sie, kam ein zweiter Zug, und bis dahin allein zu sein war ihr keinenfalls unwillkommen, ja recht eigentlich das, wonach sie sich sehnte.
Dazu ward ihr nun freilich mehr Gelegenheit, als ihr lieb war. Die Zeit wollte nicht enden, und sie sah unausgesetzt den langen Schienenweg hinauf, immer nach der einen Seite hin, von der der Zug kommen mußte. Vergebens, er schien ausbleiben zu wollen. Und doch war sie todmüde von Erregung und Anstrengung und fror, und ihre Füße trugen sie kaum noch. Endlich aber sah sie, daß die Signale gezogen wurden, und bald danach auch, daß die großen Feueraugen immer näher und näher kamen. Und nun Halt. Eine Coupétür wurde geöffnet, und rasch einsteigend drückte sie sich, Wärme halber, in eine der Ecken und zog ihre Mantille fester um ihre Schultern. Aber es half zu nichts, und ein Fieber schüttelte sie, während der Zug nach Berlin weiterdampfte.
»Stine, Kind, wie siehst du denn aus! Dir sitzt ja der Dod um die Nase.« So waren die Worte, womit die schon lange am ersten Treppengeländer wartende Witwe Pittelkow ihr Stinechen empfing und nicht zuließ, daß sie noch höher hinauf in ihre Polzinsche Wohnung stiege. »Komm, Kind, und leg dich man gleich hier aufs Bett. Na, ich sage... War's denn so doll? Oder haben sie dich geschubst? Oder haben sie dich wegjagen wollen? Oder er vielleicht! Na, dann erlebt er was, dann jag ich ihn zum Deibel. Olga, Baby, wo bist du denn! Uff, sag' ich, un mache Feuer. Un wenn's kocht, rufst du mir. Hörst du!... Jott, Stine, du bibberst ja man so. Was haben se dir denn gedhan?« Und dabei knöpfte sie der Schwester das Kleid auf und schob ihr Kissen unter und deckte sie mit zwei Deckbetten zu.
Nach einer halben Stunde hatte sich Stine soweit erholt, daß sie sprechen konnte.
»Na, nu wird es ja wieder«, sagte Pauline. »Wenn die Mühle erst wieder geht, is auch wieder Wind da. Kind, dir war ja die Puste reine weg, un ich dachte schon, nu stirbt die auch noch.«
Stine nahm ihrer Schwester Hand, klopfte und streichelte sie und sagte: »Ich wollte, es wäre so.«
»Ach, rede doch nich so, Stine. Du wirst ja schon wieder werden. Un bei allens is auch wieder'n Glück. Jott, er war ja soweit ganz gut und eigentlich ein anständiger Mensch, un nich so wie der Olle, der ans Ganze schuld is; warum hat er'n mitgebracht? Aber viel los war nich mit ihm; er war doch man miesig.«
Stine fühlte sich unter der Schwester Guttat erleichtert, und die Tränen rannen ihr übers Gesicht.
»Weine man, Stinechen, weine man orntlich. Wenn's erst wieder drippelt, is es schon halb vorbei, grade wie bei's Gewitter. Un nu trink noch 'ne Tasse... Olga, wo bist du denn! Ich glaube, die Jöhre schnarcht schon wieder... Un nächsten Sonntag is Sedan, da machen wir auf nach'n Finkenkrug un fahren Karussell und würfeln. Und dann würfelst du wieder alle zwölfe.«
Die Polzin hatte horchend am Treppengeländer oben gestanden und mit nur zu geübtem Ohre jedes der Worte gehört, womit die Pittelkow ihr Stinechen unten an der Korridortür empfangen hatte. Gleich danach aber, als sie die Tür unten ins Schloß fallen hörte, war sie wieder in ihre Stube gegangen, wo sich Polzin eben zu seiner Nachttoilette rüstete. Von einer solchen ließ sich wirklich sprechen, denn er trug, weil er andauernd an einem trockenen Husten litt, auch beim Zubettgehen eine schwarze, mit einem dicken Tuchstreifen gefütterte Militärkrawatte.
»Nu«, frug er, während er eben das Leder in die Schnalle schob. »Is sie heil wieder da?«
»Heil? Was heißt heil? Die wird nich wieder.«
»Is eigentlich schade drum.«
»I wo. Gar nich... Das kommt davon.«