Theodor Fontane
Meine Kinderjahre
Theodor Fontane

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Wir lasen denn auch das Kapitel so ziemlich zu seiner Zufriedenheit, und als wir durch waren, sagte er: »Nun will ich noch ein paar Fragen tun und mir allerlei von euch erzählen lassen, ob ihr schon in Stettin wart oder in Rügen und ob ihr schon schwimmen könnt und Schlittschuh laufen und ob ihr wißt, wo Vineta gelegen hat. Ihr kennt doch Vineta?«

Wir sagten ihm, was ihn erheiterte, daß wir zu Boot über die Stelle hingefahren wären. Und dann fragte er, welche Spiele wir spielten und ob wir's verständen, einen Drachen steigen zu lassen. Aber wir müßten ihn auch selber machen können. Es lag ihm offenbar daran, uns durch leicht zu beantwortende Fragen sowohl mit Vertrauen zu ihm wie zu uns selbst zu erfüllen. Es mochten so anderthalb Stunden vergangen sein, dann sagte er: »Nun ist es genug für heute; morgen wollen wir aber volle Zeit halten. Ich habe schon einen Stundenplan gemacht, und du mußt ihn dir abschreiben.« Diese Worte richteten sich an mich. Ich erhielt dann noch die Bestellung an meine Eltern, daß er am Nachmittage kommen würde, seinen Besuch zu machen, worauf ich nach Hause stürmte, um zu erzählen, wie mir's gegangen sei. Meine Mutter war etwas überrascht, während mein Vater sagte: »Gefällt mir alles sehr; nur nicht gleich scharf zufassen. Immer peu à peu. Nicht quälen, nicht einschüchtern. Vertrauen wecken und Liebe. Und daß er euch gleich frei gegeben hat! Das ist das, was ich einen richtigen Pädagogen nenne. Ferien sind etwas Dummes; ich habe nie gewußt, was ich in den Ferien machen sollte; aber Freistunden à la bonne heure. Und daß er euch immer gefragt hat und sich gleich hat von Drachensteigen erzählen lassen! Er hat offenbar die sokratische Methode.«

Die hatte er nun freilich nicht; aber in allem, was mein Vater sonst noch zum Lobe des Hauslehrers gesagt hatte, hatte er recht. Dr. Lau, so hieß der neue Hauslehrer, war ein vorzüglicher Pädagog, weil er ein vorzüglicher Mensch war, und wenn ich oben gesagt habe, daß ich eigentlich alles den Anekdoten meines Vaters zu verdanken hätte, so muß ich doch den guten Dr. Lau ausnehmen. Dieser verstand es auch, einem allerlei kleine Geschichten, woran eine Kinderseele hängt, zu vermitteln, aber weil er zugleich ein geschulter Mann war, so tat er das alles in Ordnung und Zusammenhang, und das bißchen Rückgrat, was mein Wissen hat, verdank' ich ihm.

Dr. Lau war ein Priegnitzer. Er mochte damals, als er ins Krausesche Haus kam, gegen dreißig sein, sah aber älter aus, was wohl damit zusammenhing, daß er zu jenen disproportionierten Leuten gehörte, bei denen Linien und Maße nicht recht stimmen. Man suchte sofort nach einem Buckel, trotzdem dieser eigentlich nicht existierte oder doch nur ganz embryonisch. Dafür war aber etwas anderes da: der bekannte große Kopf mit eindringlichem Gesicht und Leberteint, wozu sich dicht neben dem rechten Auge auch noch eine sogenannte »Himbeere« von apart dunklem Farbenton gesellte. Den Schluß machte eine große Brille mit Silberfassung, die er, wenn er etwas genau sehen wollte, jedesmal abnahm und putzte. Das Ganze von Schönheit weit entfernt. Dennoch darf man sagen, daß er auch äußerlich einen guten Eindruck machte, weil man ihm Wohlwollen, Humor und Idealismus von der Stirn herunterlesen konnte. Solche Menschen gibt es nicht mehr oder doch kaum noch. Sie waren das Produkt einer armen, aber zugleich geistig strebsamen Zeit. In kleinen Verhältnissen geboren, hatten sie sich mit Notgroschen und Stipendien durchgeschlagen und unter Bitternissen und Demütigungen aller Art doch keinen Augenblick den Mut verloren. Ich kann mir diesen ihren Zustand, aus meiner eigenen Vergangenheit heraus, sehr wohl konstruieren. Als ich, zwischen sechzehn und zwanzig, Lehrling in einer Berliner Apotheke war, noch dazu an der Ecke der Haidereuter Gasse, lag mir unter anderen Unliebsamkeiten auch die Verpflichtung ob, jeden Sonnabend einen in einem hölzernen dorischen Tempel aufgebauten Teil der Apotheke, der den lächerlichen Namen corpus chemicum führte, mit einem großen nassen Handtuche wieder sauber putzen zu müssen. Eine vollkommene Waschfrauenarbeit. Aber es störte mich sehr wenig, weil es sich nicht selten so traf, daß gerad' an diesen Sonnabenden irgendeine Ballade von mir, sagen wir »Pizarros Tod« oder »Simson im Tempel der Philister«, in dem damals in der Adlerstraße erscheinenden »Berliner Figaro« gestanden hatte. Und daß ich mir nun sagen durfte, dieser »Simson im Tempel der Philister« rührt von dir her, trägt deinen Namen, gab mir ein so kolossales Selbstbewußtsein, daß nicht bloß das corpus chemicum, sondern mit ihm auch die ganze Prinzipalität samt allen Provisoren und Gehilfen als etwas tief Inferiores unter mir verschwand. Ich nehme an, so stand es auch mit Dr. Lau, der in dem Bewußtsein, »ich bin ein Schüler von Schleiermacher und besitze nicht nur den West-östlichen Diwan, sondern kann ihn sogar auswendig«, über alle Misere des Lebens weggekommen war und allem Anscheine nach auch jetzt, wieder nach seinem Eintreffen in Swinemünde – dessen »Konsuln« ihm, als einem guten Liviuskenner, schwerlich imponierten – ein innerlich freies und glückliches Leben führte. Die Konsuln ihrerseits lachten natürlich auch über Dr. Lau und hielten ihn für eine komische Null.

So war seine Stellung zu den Stadtgrößen. Anders stand er in dem Krauseschen Hause, dem er jetzt angehörte. Da war er geliebt und geschätzt und antwortete darauf mit Hingebung und Treue. Wir liebten ihn außerordentlich und sahen in ihm etwas in jeder Hinsicht Ausgezeichnetes. Daß er uns, weil er seinem Herzen nicht Gewalt antun mochte, dann und wann Gedichte aus dem West-östlichen Diwan, der seine Spezialität war, vorlas, war gewiß anfechtbar; aber daß er sich dadurch lächerlich gemacht hätte, davon konnte keine Rede sein. Im Gegenteil. Diese Vorlesungen, von denen wir natürlich kein Wort verstanden, waren uns nur die Besieglung alles dessen, was wir an diesem kleinen Manne mit dem buntkattunenen, immer die Brille putzenden Taschentuche bewunderten. Unter allem aber stand uns eines obenan: er war nämlich auch Bräutigam. Das Bildnis seiner Braut, in Pastell, hing am Fußende seines Bettes, eine Pastorentochter von freundlichen, beinahe hübschen Gesichtszügen, mit einem schwarzen Sammetband um den Hals, daran ein Medaillon hing. Das Gesicht war uns interessant genug, aber das Interesse, das es uns einflößte, verschwand doch neben dem Medaillon, weil wir von der Frage nicht los konnten: »Was steckt eigentlich darin? Ist es sein Bildnis oder ist es ein Schnitzelchen von seinem Haar?« Von Locke konnte wohl nicht gesprochen werden. Aber was es auch sein mochte, ein Liebeszeichen war es gewiß, und wenn wir dann wieder etwas von Suleika hörten, so folgten wir freudiger und geduldiger und suchten nach Ähnlichkeiten zwischen der Schönheit aus dem Osten und der Pastorentochter aus der Ost-Priegnitz. Übrigens wolle man aus dem Pastellbilde am Fußende des Bettes nicht schließen, daß Dr. Lau von einer gekünstelt heraufgeschraubten Gefühlsbeschaffenheit gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Er war von durchaus gesundem Sinn, und wenn ich mich eines literarischen Vorganges erinnere, darin ich mit neun oder zehn Jahren die Hauptrolle spielte, so muß ich meinen guten Dr. Lau sogar einen Realisten nennen. Dies kam so. Meines Vaters Geburtstag stand bevor, und ich hatte die Pflicht, auf einem liniierten Briefbogen – schon die bloße Liniierung war ein Schrecknis – meine Glückwünsche niederzuschreiben. Ich durfte dies in einer Schulstunde tun, während welcher Lau Exerzitienhefte korrigierte. Mit einem Male sagte er: »Nun gib her.«

Ich hatte aber mit meinem Geburtstagsbriefe noch gar nicht angefangen, sondern mich bis dahin darauf beschränkt, allerlei Reime auf ein neben mir liegendes Blatt zu kritzeln, halber Unsinn, der nicht viel was andres war, als der Ausdruck meiner Verzweiflung. Ich wußte nicht, was ich schreiben sollte, der berühmte Anfang wollte sich nicht finden lassen, und so schob ich denn, mit Hilfe dieser Spielerei, das, um was es sich eigentlich handelte, nur hinaus. Verlegen reichte ich das bekritzelte Blatt hinüber, und Lau, nachdem er seine Brille geputzt, begann zu lesen:

Lieber Vater,
Du bist kein Kater.
Du bist ein Mann,
Der nichts Fettes vertragen kann;
Doch von den Russen hörst du gern,
Wie sie den Polen den Weg versperren usw....

In solcher Reimerei, drin ich von Zeile zu Zeile sozusagen lapidar gegenüberstellte, was mein Vater sei und nicht sei, was er möge und nicht möge, ging es weiter zwei Seiten lang. Als Dr. Lau damit durch war, schlug er auf den Tisch und sagte: »Das ist gut, das wollen wir nehmen; darüber wird sich dein Vater freuen. Nur das mit dem Kater müssen wir fortlassen.« Und den Anfang durchstreichend, schrieb er statt dessen »Lieber Vater, du Stadtberater«. Denn mein Vater war kurz vorher Senator oder Mitglied des Magistrats geworden, dessen Sitzungen er, bei großer Abneigung gegen dergleichen, natürlich nie beiwohnte. Auch diesen Zug hab' ich von ihm geerbt. Lau blieb zwei Jahre lang. Als sein Abgang nahe war, kam ich auf den unglücklichen Gedanken, ihm zu Ehren ein Stück aufzuführen, noch dazu ein Lustspiel. Es war ungebührlich lang, und kein Mensch hörte recht zu, was mich sehr traurig machte. Das Schlimmere aber lag nach der Herzensseite hin. Ich liebte Dr. Lau ganz aufrichtig, mehr als irgendeinen anderen Lehrer, den ich später gehabt habe; trotzdem brachte mich die verdammte Komödianteneitelkeit um jedes richtige Gefühl für den Mann, dem ich doch so viel verdankte. Ja, noch ganz zuletzt, als er bewegt von uns Kindern Abschied nahm, dachte ich nicht an den lieben braven Mann, sondern immer noch an das dumme Stück, mit dem wir so gar keinen Erfolg erzielt hatten. Eigentlich bleibt es zeitlebens so; immer wenn mit allem Fug und Recht die großen Gefühlsregister gezogen werden sollen, denkt man als Kind an Kuchen und Traubenrosinen, zehn Jahre später an einen neuen Schlips, und wenn endlich wer gestorben ist, an den Bouleschrank und wer ihn wohl eigentlich kriegen wird.

Lau, soviel ich weiß, hat nie mehr von sich hören lassen. Vielleicht daß er an Krauses schrieb, aber ich habe nichts davon vernommen. Viele Jahrzehnte später erfuhr ich, daß er Rektor in Wittstock geworden sei, und als solcher ist er mutmaßlich gestorben.

 

Lau verließ uns im Spätherbst 30, und Bemühungen, seine Stelle rechtzeitig zu besetzen, waren entweder versäumt worden oder hatten zu keinem Resultate geführt. Wir standen also wieder vor einem Interim, das aber diesmal, weil die Krauses mit in Verlegenheit waren, einen anderen Charakter annahm als vordem. Mit andern Worten, die »Methode« meines Vaters, brauchte nicht wieder zu momentaner Aushilfe für mich herangezogen zu werden, denn nach einigem Umtun in der Stadt ergab sich's, daß ein in den Vorbereitungen zum Examen steckender Theologe vorhanden und desgleichen bereit sei, sich bis zum Eintreffen eines neuen Hauslehrers unserer anzunehmen. Freilich nur halb und auch das kaum. Es war dies der Predigtamtskandidat Knoop, Sohn des Lotsenkommandeurs, ein gewissenhafter junger Mann, gegen den nicht das geringste zu sagen gewesen wäre, wenn er uns und unsere Eltern nicht zu sehr hätte fühlen lassen, daß er alles nur aus Gefälligkeit tue, ja, daß er uns geradezu ein Opfer bringe. Vorwürfe waren ihm daraus freilich nicht zu machen, denn es lag wirklich so. Die Sache fing gleich damit an, daß er in seinem väterlichen Hause verblieb und unsern Eltern gegenüber darauf bestand, daß wir zu wechselnden und jedesmal von ihm zu bestimmenden Tagesstunden in seiner meist in einer Tabakswolke steckenden Hinterstube mit kleinen Zitzgardinen erscheinen müßten. Er war nicht freundlich und nicht unfreundlich und sah, gleichviel ob er uns Interessantes oder Nichtinteressantes mitteilte, gleichmäßig gelangweilt drein. Im ganzen aber kam es seinerseits überhaupt nicht recht zu Mitteilungen, sondern nur zu Aufgaben, ein Verfahren, aus dem genugsam hervorging, daß er uns nicht eigentlich belehren, sondern nur beschäftigen wollte. Dazu gehörte denn vor allem, weil ihm das das bequemste war (Exerzitien und Aufsätze hätten ja korrigiert werden müssen), das Auswendiglernen von Vers und Prosa, von Bibelkapiteln und Schillerschen Balladen. Er erschrak dabei vor keiner Länge. Ganz im Gegenteil, so daß ihm beispielsweise der »Kampf mit dem Drachen«, weil er länger vorhielt, um vieles lieber war als der »Handschuh«, der nur fünf Minuten dauerte. Wir hatten gegen diese neue Form des Unterrichts nicht viel einzuwenden, und nur einmal kam es mir hart an. Es ereignete sich das in den Weihnachtstagen 30 auf 31, kurz vor Tisch. Ich selber war, wie gewöhnlich zu dieser Festzeit, in jenem eigentümlich gastrischen Zustande, wo sich der schon geschädigte Magen unbegreiflicherweise nach neuer Schädigung sehnt. Ein wohliger Duft von gebratener Gans zog durch das ganze Haus und gab meinen Gedanken eine dem Höheren durchaus abgewandte Richtung. Ich hatte mich, der wieder in Gedichtauswendiglernen bestehenden Ferienaufgabe gedenkend, auf den ersten Boden zurückgezogen und mir's hier in einem Kinderschlitten mit Seegraskissen leidlich bequem gemacht, dabei einen alten vielkragigen Mantel meines Vaters über die Knie gebreitet, denn es war bitterkalt, und in der Sonne blinkten links neben mir ein paar Schneestreifen, die der Wind durch die Fensterritzen hineingepustet hatte. Fröstelnd und unzufrieden mit mir und meinem Schicksal saß ich da, Schillers Gedichte vor mir, und lernte »das Eleusische Fest«. Unten klimperte wer auf dem Klavier. Als es endlich schwieg, hörte ich den von einem asthmatischen Pusten begleiteten Schritt meines Vaters auf der Treppe und nicht lange mehr, so stand er vor mir, übrigens zunächst weniger mit mir als mit den zwei Schneestreifen beschäftigt. Er schob denn auch, eh er sich zu mir wandte, den Schnee mit der Sohlenkante zusammen und sagte dann ernst: »Ich begreife nicht, warum du hier sitzest.«

»Ich lerne.«

»Was?«

»Das Eleusische Fest.«

»Nun, das ist gut. Aber du siehst aus, als ob du keine rechte Freude daran hättest. Ohne Freude geht es nicht, ohne Freude geht nichts in der Welt. Von wem ist es denn?«

»Von Schiller.«

»Von Schiller. Nu, höre, dann bitt' ich mir aus, daß du Ernst mit der Sache machst. Schiller ist der Erste. Wie lang is es denn?«

»Siebenundzwanzig Verse.«

»Hm. Aber wenn es von Schiller ist, ist es gleich, ob es lang oder kurz ist. Es muß runter.«

»Ach, Papa, die Länge, das is es ja nicht. Der ›Kampf mit dem Drachen‹ ist noch länger, und ich habe es in der letzten Stunde, die wir hatten, doch hergesagt.«

»Nun, was ist es dann?«

»Es ist so schwer. Ich versteh es nicht.«

»Unsinn. Das ist bloße Faulheit. Gewiß, es gibt Dichter, die man nicht verstehen kann. Aber Schiller! Gang nach dem Eisenhammer, Bürgschaft, Kraniche des Ibykus, da kann man mit. ›Und in Poseidons Fichtenhain, tritt er mit frommem Schauder ein‹ – das kann jeder verstehn und war immer meine Lieblingsstelle. Natürlich muß man wissen, wer Poseidon ist.«

»Ja, das geht, und Poseidon kenn' ich. Und die, die du da nennst, die hab' ich auch alle gelernt. Aber das Eleusische Fest, das kann ich nicht. Ich weiß nicht, was es heißt, und weiß auch nicht, was es bedeutet, und ich weiß auch nicht, gleich zu Anfang, welche Königin einzieht.«

»Das ist auch nicht nötig. Du wirst doch verstehn, daß eine Königin einzieht. Welche er meint, ist am Ende gleichgültig. Es ist ein Ausdruck für etwas Hohes.«

»Und in dem zweiten Verse heißt es dann: ›Und in des Gebirges Klüften barg der Troglodyte sich.‹ Was ist ein Troglodyte?«

»Nun, das ist ein griechisches Wort und wird wohl Leute bezeichnen, die einen Kropf haben oder irgend so was. An solcher einzelnen Unklarheit kann das Ganze nicht scheitern. Also strenge dich an...«

Er hätte mir wohl noch weitere Lehren gegeben, wenn nicht in diesem Augenblicke zu Tische gerufen wäre. »Nun komm nur. Es heißt zwar plenus venter... aber du wirst schon darüber hinkommen.«

Ich kam nicht darüber hin und habe das Eleusische Fest nicht auswendig gelernt, weder damals noch später. Aber so viel bin ich dem Lotsenkommandeurssohn doch schuldig: das Eleusische Fest bedeutete nur den Ausnahmefall und kann die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß ich ihm, und nur ihm allein, die Totalkenntnis der Schillerschen Balladen verdanke. General v. d. Marwitz erzählt einmal in seinen Memoiren, daß er einen Hauslehrer gehabt, der, aus einem kleinen Buche von höchstens hundert Seiten, Weltgeschichte vorgetragen habe; nach dem Vortrage ließ er dann seinen Zögling ein paar Seiten auswendig lernen, und wenn er mit dem Buche durch war, begann das Auswendiglernen von Seite 1 an von neuem. Marwitz setzt hinzu: »Dieser Lehrer war beschränkt und bequem, aber ich verdanke ihm, in bezug auf historische Fakten und Zahlen, eine Überlegenheit über alle Personen, auch die Klügsten mit einbegriffen, mit denen ich in meinem langen Leben in Berührung gekommen bin. Keiner wußte so sicher wie ich, in welchem Jahre die Schlacht bei Crecy oder bei Granson oder bei Lepanto gewesen war.«

 

Ostern 31 war endlich ein neuer Hauslehrer da, so daß die Stunden im kommerzienrätlichen Hause wieder ihren Anfang nehmen konnten. Der Neuengagierte hieß Dr. Philippi und kam aus Hamburg. Er war aus einem großen Hause, sehr gebildet und von weltmännischen Manieren. Das war das Gute, das er mitbrachte; zugleich aber gab ihm sein Hamburgertum, sein Vertrautsein mit den Formen einer wirklich reichen und vornehmen Kaufmannswelt, ein bis zu Dünkel und Unart sich steigerndes Selbst- und Überlegenheitsgefühl, das ihm von Anfang an seine Stellung verdarb. In der Stadt gewiß und fast auch in dem liebenswürdigen Hause, dem er als Mitglied angehörte. Dr. Lau, wie hervorgehoben, hatte auch etwas von diesem Selbst- und Überlegenheitsgefühl gehabt, aber in ganz andrer Art. Lau war nicht spitz und ironisch, sondern immer nur heiter und humoristisch gewesen und hatte seine vergnügliche Stimmung, und mit ihr Licht und Behagen, zunächst in seine Verkehrsformen und schließlich auch in seine Unterrichtsstunden mit herübergenommen; Philippi dagegen, der überaus eitel und weil man ihm nicht Ehre genug erwies, auch immer sehr geärgert und verstimmt war, ließ durchweg jene freundliche Gesinnung vermissen, ohne die nichts recht gedeiht. Wir lernten dies und das, aber es hatte kein Leben, nicht einmal so viel, wie der morose Predigtamtskandidat seinen halb widerwillig gegebenen Stunden zu geben gewußt hatte. Nicht ein einziges Schulvorkommnis hat sich mir aus jenen Philippischen Tagen her eingeprägt. Ein wenig mochte dies allerdings auch daran liegen, daß die Zeit, wo ich das elterliche Haus zu verlassen hatte, näher und näher rückte und daß mich nur noch das interessierte, was kommen würde, nicht das, was da war.


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