Theodor Fontane
Meine Kinderjahre
Theodor Fontane

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Zwölftes Kapitel

Was wir in der Welt erlebten

Das waren so die Dinge, die uns die Stadt erleben ließ, aber auch was draußen in der Welt geschah, war für uns da, nicht zum wenigsten für mich. Ich hatte von früh an einen Sinn für die politischen Vorgänge, wie sie mir unsere Zeitung vermittelte. Bis zu meinem zehnten Jahre freilich blieb mir diese Lektüre, wenn nicht absichtlich, so doch tatsächlich vorenthalten, was denn zur Folge hatte, daß mir die geschichtlichen Ereignisse der zwanziger Jahre: die Freiheitskämpfe der Griechen, samt dem sich anschließenden Russisch-Türkischen Kriege, lediglich durch eine Jahrmarktsschaubude zur Kenntnis kamen. Alle diese augenblendenden, immer wieder in Gelb und Rot und nur ganz ausnahmsweise (wenn es Russen waren) in Grün auftretenden Guckkastenbilder taten aber, trotz aller ihrer Gröblichkeit und Trivialität, oder vielleicht auch um dieser willen, ihre volle Schuldigkeit an mir und prägten sich mir derart ein, daß ich über die Personen, Schlachten und Heldentaten jener Epoche besser als die Mehrzahl meiner Mitlebenden unterrichtet zu sein glaube. Griechische Brander steckten die türkische Flotte in Brand, das Bombardement von Janina (mit einer platzenden Riesenbombe im Vordergrund), Marco Bozzaris in Missolunghi, General Diebitsch Sabalkanskis Einzug in Adrianopel, die Schlacht bei Navarino – all das steht in einer Deutlichkeit vor mir, als wär ich mit dabeigewesen und läßt es mich nicht bedauern, meine früheste zeitgeschichtliche Belehrung aus einem Guckkasten erhalten zu haben.

Von Sommer 1830 an trat aber die Zeitung an die Stelle des durch Beleuchtungskünste verschönten und vergrößerten Gustav Kühnschen Bilderbogens, und ich sehe mich noch am Bollwerk stehen und auf das Anlegen der »Kronprinzessin Elisabeth«, des von Stettin kommenden Dampfers, warten, der täglich die Zeitungen mitbrachte. Mein Vater war natürlich auch mit an der Landungsbrücke, meist in Gesellschaft von Freunden. Waren es nun Freunde von der »milderen Observanz«, das heißt solche, von denen keiner nach dem in ziemlicher Nähe gelegenen Spielpavillon hinüberlugte, so unterließ er's nicht, sich sofort in die Neuigkeiten zu versenken. Waren aber umgekehrt etliche von den entschlosseneren Freunden zugegen, also von denen, deren Gedanken in derselben Richtung gingen wie die seinigen, so tat er nur einen flüchtigen Blick in die Zeitung und übergab mir dann diese, mit der ich in fliegender Eile nach Hause stürmte. Der Gehilfe, den wir damals hatten, war mein guter Freund und brannte auf Neuigkeiten nicht viel weniger als ich, ja, hätte am liebsten gleich selbst gelesen. Es war aber immer Mittagstunde, wo ziemlich viel zu tun für ihn war, und so fiel mir denn nicht bloß die Wonne des Lesens, sondern sogar die des Vorlesens zu. Hinter dem Rezeptiertische, wo man sieh vor Enge kaum drehen konnte, war doch noch nahe dem Fenster ein freier Winkel geblieben, in dem ein eingesessener Binsenstuhl gerade Platz hatte. Da ließ ich mich nun nieder, während ich die Füße zugleich auf einen etwas vorgezogenen Kasten stemmte; von außen her aber, wo die dichtbelaubten Kastanien standen, fielen die Lichter und Schatten auf das aufgeschlagene Blatt. Und nun begann die Lektüre, die sich, durch den ganzen Sommer hin, fast ausschließlich auf das unter der Überschrift » Frankreich« Stehende beschränkte. Polignacs Ordonnanzen interessierten mich wenig. Als dann aber die französische Flotte unter Admiral Duperré vor Algier erschien und die Beschießung anhob und dann General Berthézène mit seiner Division den Kirchhof in Nähe der Stadt angriff und nahm und der Dey mit seinem Harem um freien Abzug bat, da kannte mein Entzücken keine Grenze, das auch nicht voll mehr erreicht wurde, als ich hörte, daß Karl X. gestürzt und Louis Philipp König geworden sei. Von großem Eindruck auf mich war erst wieder die Nachricht, daß in Brüssel bei Aufführung der »Stummen von Portici« die Revolution ausgebrochen sei, und zwar gerade bei der Stelle »dem Meer-Tyrannen gilt die wilde Jagd«; ich fand dies unbeschreiblich schön, vielleicht in der dunklen, für eine Poetennatur immerhin schmeichelhaften Vorstellung, daß hier ein Lied eine politische Tat geweckt oder gezeitigt habe.

Das war der Sommer 30. Aber was war der Sommer gegen den Winter! Ende November brach in Nachwirkung der Ereignisse in Frankreich und Belgien die Insurrektion in Polen aus. Großfürst Konstantin wurde flüchtig, und nachdem man auf beiden Seiten gerüstet, kam es zu Beginn des folgenden Jahres zu den blutigen Schlachten bei Grochow und Ostrolenka. Die Namen von damals prägten sich mir so tief in die Seele, daß ich, als ich ein Menschenalter später in den zufällig mir zu Händen kommenden Briefen der Rahel Levin den Namen Skrzynecki und Rybinski begegnete, wie auf einen Schlag den Insurrektionskrieg von 30 und 31, einen der erbittertsten, die je ausgefochten wurden, wieder vor Augen hatte. Kein anderer Krieg, unsere eigenen nicht ausgeschlossen, hat von meiner Phantasie je wieder so Besitz genommen wie diese Polenkämpfe, und die Gedichte, die an jene Zeit anknüpfen (obenan die von Lenau und Julius Mosen) und dazu die Lieder aus Holteis »Altem Feldherrn« sind mir bis diese Stunde geblieben, trotzdem die letztren poetisch nicht hoch stehen. Viele Jahre danach, als ich dicht am Alexanderplatz eine kleine Parterrewohnung innehatte, stellte sich allwöchentlich einmal ein Musikantenehepaar vor meinem Fenster auf, er blind, mit einer Klapptuba, sie, schwindsüchtig, mit einer Harfe. Und nun spielten sie: »Fordere niemand mein Schicksal zu hören« oder »Denkst du daran, mein tapferer Lagienka«. Ich schickte ihnen dann ihren Obolus hinaus und ließ sie's noch einmal spielen und noch jetzt, ich muß es wiederholen, zieht, wenn ich die Lieder höre, die alte Zeit vor mir herauf, und ich verfalle in eine unbezwingbare Rührung. Ich erzähle das so ausführlich, weil ich – in gewissem Sinne zu meinem Leidwesen und jedenfalls in einem Widerstreit zu den poetischen Empfindungen, die mich damals beherrschten und auch noch jetzt beherrschen – die Bemerkung daran knüpfen muß, daß ich vielfach nur mit geteiltem Herzen auf Seite der Polen stand und überhaupt, aller meiner Freiheitsliebe unerachtet, jederzeit ein gewisses Engagement zugunsten der geordneten Gewalten, auch die russische nicht ausgeschlossen, in mir verspürt habe. Freiheitskämpfe haben einen eigenen Zauber, und ich danke Gott, daß die Geschichte deren in Fülle zu verzeichnen hat. Was wäre aus der Welt geworden, wenn es nicht zu allen Zeiten tapfere, herrliche Menschen gegeben hätte, die, mit Schiller zu sprechen, »in den Himmel greifen und ihre ewigen Rechte von den Sternen herunterholen«. So hat denn alles Einsetzen von Gut und Blut, von Leib und Leben zunächst meine herzlichsten Sympathien, obenan die Kämpfe der Niederländer, neuerdings die Garibaldischen. Aber noch einmal, es läuft, mir selber verwunderlich, ein entgegengesetztes Gefühl daneben her, und solange die Revolutionskämpfe des sicheren Sieges entbehren, begleite ich all diese Auflehnungen nicht bloß mit Mißtrauen (zu welchem meist nur zu viel Grund vorhanden ist), sondern auch mit einer größeren oder geringeren, ich will nicht sagen in meinem Rechts-, aber doch in meinem Ordnungsgefühle begründeten Mißbilligung. Ein Zwergensieg gegen Riesen verwirrt mich und erscheint mir insoweit ungehörig, als er gegen den natürlichen Lauf der Dinge verstößt. Ich kann es nicht leiden, daß ein alter Schäfer eine Kur ausführt, die Dieffenbach oder Langenbeck nicht zustande bringen konnten. Jeder hat ein ihm zuständiges Maß, demgemäß er siegen oder unterliegen muß, und in diesem Sinne blicke ich auch auf sich gegenüberstehende Streitkräfte. Ich verlange von dreihunderttausend Mann, daß sie mit dreißigtausend Mann schnell fertig werden, und wenn die dreißigtausend trotzdem siegen, so finde ich das zwar heldenmäßig, und wenn sie für Freiheit, Land und Glauben einstanden, außerdem auch noch höchst wünschenswert, kann aber doch über die Vorstellung nicht weg, daß es eigentlich nicht stimmt. Ich habe nichts dagegen, dies mich stark beherrschende Gefühl, das mich mehr als einmal von der meine Sympathie fordernden Seite auf die schlechtere Seite hinübergeschoben hat, als philiströs oder subaltern oder meinetwegen selbst als moralisches Manko gekennzeichnet zu sehen; es kommt mir nicht auf die Feststellung dessen an, was hier zu loben oder zu tadeln ist, sondern lediglich auf Aufklärung über einen bestimmten inneren Vorgang und demnächst darüber, ob sich solche Gefühlsvorgänge, sie seien nun richtig oder falsch, auch wohl sonst noch in einer auf freies Empfinden Anspruch machenden Seele vorfinden mögenIch habe in vorstehendem den Grund für meine geteilten Sympathien in einem gewissen Ordnungssinne gesucht, in einem an die Zahl, bez. die Machtüberlegenheit zu stellenden natürlichen Anspruch. Und es liegt in der Tat so. Wenn sich zwei Jungen auf der Straße schlagen, und der ganz kleine siegt über den ganz großen, so freuen wir uns über den kleinen, ärgern uns aber über den großen dermaßen, daß die dem kleinen zugute kommende Freude sehr erheblich beeinträchtigt wird. Also noch einmal, wir ziehen aus dem Machtverhältnis ganz bestimmte Konsequenzen. Aber vielleicht spielt in dieser Frage auch noch ein anderes, aufs Moralische hin angesehen ganz gleichgültiges Moment mit, dessen trotzdem hier gedacht werden muß: die Macht der rein äußerlichen Erscheinung. Friedrich Wilhelm III., als es sich um den Einzug in Paris handelte, wollte von der Heranziehung des Yorkschen Korps, das doch die Hauptsache getan hatte, zu diesem Einzugszwecke nichts wissen, weil die Hosen der Landwehrleute zu sehr zerrissen waren. Manche hatten gar keine Hosen mehr und deckten ihre Blöße nur noch mit ihrem Mantel. Der König ist oft dafür getadelt worden; ich meinerseits aber habe mich immer auf seine Seite gestellt. Das Ästhetische hat eben auch sein Recht, mitunter sogar ein weit- und tiefgehendes, trotzdem ich nicht verkenne, daß dabei schließlich ein Dorfspitz herauskommen kann, der wohlgekleidete Lumpe passieren läßt und ehrliche Leute, die gerad' um ihrer Tugenden willen in Lumpen gehen, anbellt. Bedarf das der Abstellung, muß das aus unserer Seele heraus, so müssen wir nach ganz anderen, von der Erscheinung absehenden Prinzipien erzogen werden und es lernen, unter allen Umständen immer nur das Eigentliche, den Kern der Sache zu befragen. Davon sind wir aber vorläufig noch weit ab..

Ein Jahr lang dauerte der polnische Insurrektionskrieg, während welcher Zeit ich mich zu einem kleinen Politiker herangelesen hatte. Namentlich in Herzählung der alle vier Wochen im Oberkommando wechselnden polnischen Generale kam mir niemand gleich, was natürlich für meine Bescheidenheit nicht sehr förderlich war. Doch stand es wohl nicht allzu schlimm damit; in all meiner Eitelkeit war ich doch immer zunächst bei der Sache.

 

Herbst 31 sah sich die Revolution besiegt; aber ein neuer schlimmerer Feind war inzwischen heraufgestiegen und näherte sich von Osten her unseren Grenzen: die Cholera. Vorbereitungen zur Abwehr derselben wurden getroffen, natürlich (wie immer) auch bewitzelt, und als der alte Geheimrat Rust Absperrungsmaßregeln vorschlug, erschien eine Berliner Karikatur, die den alten Rust, bei vollkommenster Porträtähnlichkeit, als Sperling (aber mit einem doppelten r geschrieben) darstellte. Darunter stand: »Passer Rusticus, der gemeine Landsperrling.« Indessen, es half zu nichts; es blieb bei der Absperrung, und auch nach Swinemünde hin wurde Militär detachiert, um dort einen Kordon zu ziehen. Im Sommer eben genannten Jahres (1831), an einem glühend heißen Tage, traf ein Bataillon vom Kaiser-Franz-Regiment bei uns ein. Die Grenadiere hatten von Wollin her einen viermeiligen Marsch durch sandige Kiefernheide machen müssen und kamen ziemlich marschmüde an, trotzdem sie sich während der Bootfahrt von einem Flußufer zum andern wieder erholt hatten. Wir Jungens standen am Bollwerk und staunten die schönen großen Leute an, an die zunächst Quartierbilletts verteilt wurden. Mein Freund Oskar Thompson und ich hatten uns etwas vorgedrängt und studierten die Achselklappen.

»Hast du es 'raus?« fragte ich.

»Ja«, sagte Thompson, »es ist ein ›R‹ und heißt Rex.«

»Unsinn. Du mußt doch wissen Kaiser Franz. Kaiser und Rex geht nicht.«

»Na, dann sage was Besseres.«

»Es heißt Franciscus Imperator. Es ist ein ›F‹ und ein ›I‹...«

»Nein, mein junger Freund«, sagte jetzt, sich rasch umwendend, der die Kompanie führende Hauptmann, ein sehr gütig aussehender Herr mit goldener Brille; »es ist kein ›I‹, sondern eine römische I, und es heißt: Franz der Erste.«

Mir schoß das Blut in die Stirn, und ich zog mich, unsicher ob ich ihm vielleicht danken müsse, verlegen zurück. Gleich danach aber sah ich, wie der Hauptmann einen jungen Offizier, der kaum zwanzig sein mochte, heranrief und mit diesem ein paar Worte wechselte. Dieser junge Offizier wurde bald der Liebling aller Damen und ein Gegenstand ihrer lebhaften Neugier. Er hieß von Witzleben und war der Sohn des Obersten von Witzleben, der, damals in Dresden wohnend, unter dem Namen A. W. Tromlitz seine im Walter-Scott-Stil gehaltenen Romane schrieb. Er (Tromlitz) war als Schriftsteller sehr gefeiert, mehr, als wir uns das heute denken können, sein Sohn aber wurde später mein besonderer Gönner, eine Gönnerschaft, der er in dem von ihm redigierten Militär-Wochenblatt in anerkennenden Worten über meine die Kriege von 1864, 66 und 70 behandelnden Bücher Ausdruck gab. Er ist darin, als Militär, einzig dastehend geblieben, weil die militärischen Fachleute gegen die Schreibereien eines »Pequin« ein für allemal eingenommen sind. Ob sie darin recht haben? Ich glaube nicht, wenigstens nicht ganz. Alle diese Dinge liegen mir jetzt weit zurück, und der Wert oder Unwert dessen, was ich damals über unsere Kriege geschrieben habe, bedeutet mir nicht viel mehr. Ich darf auch hinzufügen, daß ich auf jedem Gebiete für Autoritäten bin, also was so ziemlich dasselbe sagen will, das Urteil von Fachleuten bevorzuge. Trotzdem können auch Fachleute zu weit gehen, wenn sie Verständnis für ihre Sache für sich ausschließlich in Anspruch nehmen. Es gibt konventikelnde Leineweber, die die Predigt eines Oberkonsistorialrats sehr wohl beurteilen können, und es gab immer Farbenreiber, die sich sehr gut auf Bilder verstanden. In neuerer Zeit sind Auktionskommissarien an ihre Stelle getreten. Es liegt auf militärischem Gebiete nicht viel anders, wenn es überhaupt anders liegt, dessen sind die Revolutionskämpfe, die seit hundert Jahren geführt werden, ein beredter Zeuge. Heute noch Kellner oder Friseur und nach Jahr und Tag ein Schlachtenlenker. Und was in praxi hundertfältig geleistet wird, das kann doch auch auf theoretischem Gebiete nicht zu den Unmöglichkeiten zählen. Ich nenne hier einschaltend nur den Namen Bernhardi. Gewiß, die Laienschaft hat sich zunächst zu bescheiden; aber sie darf doch gelegentlich mitsprechen, ja selbst Vorzüge für sich in Anspruch nehmen: größere Freiheit und unbefangeneres Inrechnungstellen außermilitärischer Faktoren, vor allem der sogenannten Imponderabilien. Im letzten ist Kriegsgeschichtsschreibung doch nichts anderes als Geschichtsschreibung überhaupt und unterliegt denselben Gesetzen. Wie verläuft es? Ein reiches Material tritt an einen heran, und es gilt unter dem Gegebenen eine Wahl zu treffen, ein »Für oder Wider«, ein »Ja oder Nein« auszusprechen. Auch die Darstellung des Kriegshistorischen ist zu sehr wesentlichem Teile Sache literarischer und nicht bloß militärischer Kritik. Ordnen und aufbauen können ist wichtiger als ein reicheres Wissens- und Erkenntnismaß, und alles in allem kann ich nicht einsehen, warum es leichter sein soll, über den Charakter Wallensteins als über den Gang der Schlacht bei Großbeeren ins klare zu kommen.

 

Mein Gönner von Witzleben – er war zuletzt General – hat sich's natürlich nicht träumen lassen, daß mich sein Wohlwollen zu solchen Betrachtungen hinreißen würde; vielleicht wär' er sonst ein wenig härter mit mir verfahren. Aber so oder so, ich kehre zunächst zum Jahre 31 und zu dem Bataillon vom Franz-Regiment zurück, das damals »um Kordon zu ziehen und die Quarantäne zu sichern«, in Swinemünde einzog. Das Bataillon blieb nicht lange, wahrscheinlich weil man sich von der Nutzlosigkeit solcher Kordons überzeugt hatte; statt seiner aber erschien nun eine Batterie oder Halbbatterie schweren Geschützes, bronzene Zwölfpfünder, von denen zwei auf die Molenköpfe geschafft und dort so gestellt wurden, daß sie den Hafeneingang bestrichen. Aber auch diese Zwölfpfünder kriegten nichts zu tun; sie standen da bis ins nächste Frühjahr hinein, wo dann Befehl kam, sie nach Stettin hin zurückzuziehen. Ehe dieser Befehl aber ausgeführt werden konnte, nahm der Kommandierende Veranlassung zu einer Dankesbezeugung für die Gastfreundschaft, die die Swinemünder gegen ihn und seine Offiziere geübt hatten. Er erließ Einladungen an die Honoratioren, sich auf der diesseitigen Mole zu versammeln, um dort einem von ihm zu veranstaltenden Schießversuche beizuwohnen. Auch mein Vater war draußen und hatte mich mitgenommen, weil er sehen wollte, welchen Eindruck das Schauspiel auf mich machen würde.

Die Luft war feucht und der Himmel grau. Alles fröstelte. Wir fanden, daß es etwas lange daure, denn die schräg vor uns stehende Sonne neigte sich schon dem Horizonte zu. Da plötzlich große Bewegung... ein donnernder Knall, und im nächsten Augenblicke brachen alle Versammelten in ein staunendes »Ah« aus. Es war nämlich ein Ricochette-Schießen, was im Prinzip etwa dasselbe bedeutet wie das »Butterstullenwerfen« auf einem Teich. Die mächtige Kugel setzte in Entfernung von 300 oder 500 Schritt zum erstenmal auf und trieb eine Wassersäule, ganz nach Art eines Springbrunnenstrahls in die Luft; dann folgte ein zweites und drittes Aufsetzen, bis die Wassersäulen immer kleiner wurden und schließlich die Kugel versank. Ich hätte stundenlang dem entzückenden Schauspiele zusehen können. Aber es währte nur kurze Zeit. Als der Sonnenball über dem Wasser hing, war alles vorbei und man trat den Heimweg nach der Stadt an, wo den Offizieren und allen anderen, die mit draußen gewesen waren, bei Konsul Thompson ein Abschiedssouper gegeben wurde. Viele Reden wurden gehalten, unter Ausdruck der Freude, daß die Cholera, so fatal sie sei, so liebe Gäste gebracht habe. Zuletzt sprach auch mein Vater und bemerkte in seiner launigen, wenn auch vielleicht anfechtbaren Weise: »Was draußen auf der Mole die Kanone, das sei drinnen in seiner Stadtapotheke der große Salzsäureballon gewesen, unter dessen Heranziehung er jeden Augenblick imstande gewesen wäre das bedrohte Swinemünde unter Chlor zu setzen.«

Meine Mutter – wie denn fast alle Frauen an den Reden ihrer Männer Anstoß nehmen – war wenig erbaut von diesem Toaste; besonders mißfielen ihr die chemisch-pharmazeutischen Anspielungen. Sie freute sich zwar immer, wenn das Geschäft blühte, hielt aber im übrigen nicht viel vom Metier.


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