Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

Es war ein freundlicher, monderhellter Juniabend. Clara und Rudolph saßen in einer duftenden Rosenlaube, die den Gipfel eines Hügels schmückte. Dieser erhob sich am Ende ihres Gartens, den die Stadtmauer begrenzte, über welche hinfort man den großen, stillen See in seiner ganzen Pracht erblicken und bewundern konnte. Claras Auge ward durch den entzückenden Anblick, der sich ihm darbot, auf dem Zauberspiegel des Sees gefesselt, während Rudolph die balsamische Luft in langen Zügen so heftig in sich sog, als solle ihm sein Gefühl den ganzen Reiz einer Umgebung empfinden lassen, die man erblicken mußte, um eines ungeschwächten Genusses teilhaftig zu werden. Clärchen war schweigsam; mit derselben Liebe wie vordem gewährte sie dem blinden Bruder jede Dienstleistung, die ihm erwünscht sein konnte, doch zu sprechen vermochte sie nicht. Sie mußte furchten dem armen Rudolph ihr Geheimnis zu verraten, da es seinem scharfen Ohre unmöglich entgangen wäre, wenn allen ihren Worten jener wohl zu erkennende Ton der Liebe gefehlt haben würde, welcher seit Jahren seine Himmelskraft auf Rudolphs Herz geltend gemacht hatte.

– Du bist so still, mein Clärchen, unterbrach Rudolph das anhaltende Schweigen, und doch ist der Ton Deiner lieben Stimme mir, dem blinden Bruder, Alles, was dem sehenden Geliebten die schönen Augen seines Mädchens sind. Er liest darin jeden Zug ihrer Seele, alle ihre Gedanken, ihre Gefühle, und schließt sich ihr Auge, so dünkt es ihn: es lagre sich eine Wolke zwischen ihn und seinen Himmel. Der Klang Deiner Stimme verrät mir die Freude, die Dich beseligt, die Furcht, die Dich quält, und sprächest Du nur in Tönen zu mir, sie würden mir wie Worte Deine Gedanken an den Tag legen können. Clärchen, Du offenbarst Dich in ihnen, wie der Dichter in seinem Lied; sie lassen mich in Dir mein Ideal erkennen, lieben und verehren, und Du kannst dennoch zürnend schweigen?

– Ich Dir zürnen?! erwiderte Clara mit dem Ausdrucke des höchsten Erstaunens, nein, nein, gewiß nicht, – ich befinde mich nicht wohl, – mein Kopf tut mir weh, – es ist die Folge einer leichten Erkältung, die ich mir während unseres letzten Spazierganges mit dem Prediger zugezogen habe; um des Himmels willen, ich Dir zürnen! lieber, lieber Bruder, beruhige Dich, es wird recht bald anders und wieder besser werden.

– So hoff' auch ich! Du sprachst ja eben in dem lieben, alten Tone, könnte doch die ganze, liebe Vergangenheit wiederkehren und mit ihr unser beiderseitiges Glück. Mein Clärchen, ach, ich fühl' es wohl, es muß eine schwere Last sein, einen Unglücklichen zu pflegen, nicht von seiner Seite zu weichen, ein ganzes Dasein ihm hinzuopfern; doch ertrag' es nur, mein Dank und meine Liebe ist grenzenlos, wie das Opfer, welches Du bringst.

– Rudolph, lieber Bruder, welche Reden! wie kannst Du meinem Herzen so wehe tun? Ist es denn ein Opfer, welches ich Dir?

Doch hier unterbrach sie sich. Eine laute Stimme in ihrem Innern rief ihr zu: es ist ein Opfer! Sie erschrak; hastig ergriff sie Rudolphs Hand, drückte sie warm und innig und benetzte sie mit den Tränen, welche ihr der Schmerz entpreßte. Sie wurde weich und die Wehmut hatte ihr sicherlich ein Geständnis, demjenigen gegenüber, abgerungen, vor dem ihr Herz bis dahin geheimnislos geblieben war; wenn sie nicht ihre eigene Schwäche ebenso sehr erkennend, wie fürchtend, von seiner Seite in die duftenden Gänge des Gartens zu den schlafenden Blumenschwestern geflohen wäre.

Plötzlich vernahm sie Rudolphs Stimme, deren tiefe Töne weithin durch die Stille der Nacht erschallten. Der See, unter einer Sternendecke schlummernd, lauschte dem Gesänge; die Bäume, aus ihren Zukunftsträumen geweckt, horchten auf, die Blumen öffneten ihre Kelche und spendeten dem nächtlichen Sängerin Zauberdüften ihren Dank, während ihm die Wasser und die Bäume ihren rauschenden Beifall zu erkennen gaben. Gleich einer Königin der Nacht, ihre Blumenschwestern an Schönheit überstrahlend, stand Clara unter den duftenden Rosen und Lilien, in der weiten Schöpfung um sie her einzig und allein die ganze Schmerzenstiefe des Liedes erkennend, das zu ihr herüberklang. So schmerzlich sie auch jene düstren Klänge berührten, schlich sie dennoch der Laube näher, um keine Silbe, keinen Ton durch die Entfernung einzubüßen, und als wolle sie ermessen, wie viel ihr Herz zu dulden vermöchte, horchte sie mit gespannter Aufmerksamkeit den letzten Strophen des folgenden Liedes:

Selbst die dunkelste der Nächte
Sieht am Morgen wieder Licht,
Nur der düstren Nacht des Blinden
Harrt das Licht des Tages nicht.

Menschenleer war's noch auf Erden,
Gott, da schufst Du schon das Licht,
Und Du läsest Blinde werden!
Höhnt das Deine Weisheit nicht.''

Laß mich einmal nur erschauen
Deiner Augen Sternenlicht,
Und ich will Dir ganz vertrauen,
Länger zweifeln will ich nicht.

Laß in Claras Herz mich lesen,
Zeige mir ihr Angesicht,
Ja, Du bist ein höchstes Wesen,
Einen Zufall giebt es nicht.

Die letzten Akkorde hatte der Nachtwind verweht; – die Blumen neigten wieder die müden Häupter, die Bäume träumten weiter und selbst der blinde Sänger, war infolge geistiger Abspannung, die ein Übermaß von Schmerz zu erzeugen vermag, dem Schlafe in die Arme gesunken. Starr und regungslos stand Clara am Fuße des Hügels, immer noch lauschend, als erwarte sie ein neues Schmerzenslied, um endlich ihren Wunsch erfüllt, – die Kraft ihres Herzens gebrochen und ein Dasein vernichtet zu sehn, das, wie sie handeln mochte, nur Leid und Wehe über diejenigen ausschütten mußte, die ihrem Herzen Alles waren.

Doch es blieb still um sie her. – Da plötzlich schien sie, wie aus einer Betäubung zu erwachen. Das Bewußtsein ihrer Freiheit leuchtete jetzt stolz aus ihrem schwarzen Auge; die langen, dunklen Locken, die ihren Kopf umflatterten, warf sie über den blendend weißen Nacken zurück; mit dem Ausdrucke der Entschlossenheit in ihren Mienen richtete sie sich majestätisch empor und eilte zur Laube, wo sie, wider Erwarten, den Bruder schlafend fand.

– Er muß Alles wissen, sprach sie zu sich selbst, zu lange schon habe ich ihm verhehlt, was ihm nimmer ein Geheimnis sein durfte. Ich kann nicht zweien Herren dienen! Gott, Du bist Zeuge, wie ich gekämpft habe, aber ich muß dem Geliebten den Bruder zum Opfer bringen. Der Entschluß ist gefaßt; mag er unnatürlich sein, – ich gehorche der Stimme meines Herzens, das nie aufhören wird, schwesterlich für den armen Rudolph zu fühlen, aber mir einzig und allein seinen Nebenbuhler zu lieben gebietet.

Fest entschlossen, dem Bruder noch in dieser Minute ihr Geheimnis zu offenbaren, trat sie näher; schon hob sie die Hand, um ihn aus Träumen zu wecken, deren vielleicht liebliche Bilder ihm einen schwachen Ersatz für eine schmerzensreiche Wirklichkeit gewähren mochten, als sie plötzlich ihre Rechte sinken ließ. Sie starrte unverwandten Blickes auf das vom Mondlicht umflossene Haupt des Bruders, dann ergriff sie, im Innersten ergriffen, ihre Laute, um ein Lied zu begleiten, das der Augenblick in ihrer Seele hervorgerufen hatte:

Welch ein Wunder! ist es Täuschung?
Nein, es kann nur Wahrheit sein,
Um das Haupt des blinden Bruders
Leuchtet mild ein Heilgenschein.

Um Verzeihung will ich beten
Vor dem Engelsangesicht,
Daß im wilden Herzenskampfe
Liebe siegte über Pflicht.

Ach, so soll ich ihn verlassen!
O, mein Gott! er ist ja blind,
Schwester, Mutter, Liebe - Alles
Fehlte dann dem blinden Kind.

Himmel! wie so engelsmilde
Er so plötzlich auf mich blickt;
Doch es waren wohl nur Grüße,
Die der Mond mir zugeschickt.

Aber nein, in seinem Auge
Glänzt das wunderbare Licht,
Segensvoller, freudereicher
Strahlt mir selbst die Sonne nicht.

Gott, wie groß doch Deine Werke
An mir schlichtem Mädchen sind,
Ach, nun steht die Welt mir offen,
Rudolph ist ja nicht mehr blind.

Die letzten Worte hatte sie von ihren Empfindungen überwältigt und fortgerissen, mehr gesprochen wie gesungen. Ihre überreizte Phantasie machte sie glauben, der heißeste ihrer Wünsche sei in Erfüllung gegangen, und von der Überzeugung beseelt, dem unglücklichen Bruder sei von einer höheren Hand endlich das Augenlicht geschenkt, umschlang sie jetzt in geistiger Trunkenheit – o, arme Clara – den noch immer blinden Rudolph.

– Schwester, was ist Dir, mein süßes Leben! rief Rudolph erschreckt, der schon vor Beendigung des Liedes erwacht war und seinen Inhalt teilweise zwar gehört, aber nicht klar verstanden hatte. Er, der nicht ahnen konnte, daß die Strahlen des Mondes, welche sein Auge trafen, von der überreizten Schwester für die ersten milden Blicke des sehend gewordenen Bruders gehalten worden waren, glaubte erklärlicherweise, jene sei dem Irrsinn verfallen.

– Rudolph, Rudolph, sieh mich an mit Deinem lieben, sanften Auge; was sagst Du zu Deiner Clara? Ach, Du hast sie Dir wohl schöner gedacht? Aber tröste Dich nur, ich werde wieder schöner werden, wenn meine gramgebleichten Wangen wieder blühn und die matten, fast erstorbenen Augen in altem Glanze strahlen werden. Ja, ja mein herziger, lieber Bruder, all' mein Leid und Weh ist in die unaussprechlichste Freude verwandelt, denn ach, Du bist ja ...

– Immer noch blind, unterbrach sie Rudolph mit bitterster Stimme. Mein Kind, was hat Dich verblendet? Arme Clara, geh' zur Ruh; Du phantasierst, Du träumst, und Dein Erwachen wird kein freudiges sein. Der Gram hat zerstörend an Dir genagt, Dein Geist ist zerrüttet; geh' heim in unsre Wohnung, mein Clärchen, träume weiter, wenn Du es vermagst, und bist Du glücklich in Deiner Traumwelt, so suche nimmer zu erwachen. Die Nacht ist so schön, lab mich allein, laß mich den Zauber der Natur um mich her ungestört genießen.

Rudolph hatte sich von seinem Platze erhoben; er seufzte tief, war er doch durch Claras ungegründete Freude mehr denn je an sein Unglück erinnert worden. Hastig suchte er ihre Hand, preßte sie an seine Lippen und während seine glühendheißen Tränen auf die heißere Hand der Schwester fielen, rief er mit vor Schmerz erstickter Stimme:

– Ach, mein Gott, warum bin ich blind? warum ist mein ganzes Leben nur eine ewig lange Prüfungszeit?

Starren Auges schaute Clara auf den jetzt nachtumhüllten Bruder, eine Wolke hatte sich vor den Mond gelagert und all ihr Hoffen in ein Nichts verwandelt. Weder ein Heiligenschein umglänzte das dunkle Haupt, noch leuchteten milde, segensreiche Blicke aus den dicht geschlossenen Augen und dunkle Nacht war es in ihrer Seele geworden, wie rings um sie her. Taub war sie gegen die Worte und Bitten ihres Bruders; leblos, gleich einer Statue, hatte sie jetzt das tote Auge unverwandt auf den See gerichtet, dessen Tiefe der Schmerzensreichen sicherlich als ein rettungverheißendes Asyl erscheinen mochte. Da ward sie plötzlich durch ein Geräusch in den Bäumen, welche das Ufer des Sees bekleideten, aus ihrem Starrkrampfe geweckt; gleichzeitig warf der Mond den düstren Schleier von seinem mildstrahlenden Antlitz zurück, bei dessen hellem Scheine Clara die dunkle Gestalt des Predigers erkannte, dessen Herz, wie das ihre, von den verschiedensten Gefühlen bestürmt, Ruhe und Frieden am Busen der Natur zu finden hoffte.

Nicht ahnend, wer sich in seiner Nähe befinde, wollte er flüchtigen Schrittes vorübereilen, als er, durch einen ängstlichen Schrei Claras veranlaßt, sein Auge auf die Stadtmauer richtete und dort mit nicht geringem Erstaunen die Geliebte bemerkte. Er grüßte sie mit der Hand, und ohne auf ihre lauten, hastigen Fragen: Wohin so spät? Warum so eilig? zu antworten, beflügelte er seine Schritte und war bald vor Claras sehnsuchtsvollen Blicken verschwunden.

– Wer war der Glückliche, zu dem Du sprachst? Welchem Beneidenswerten galten jene gleichgültigen Fragen, die dennoch meinem Herzen nicht gleichgültig klingen wollten? rief Rudolph mit bittrem Hohne. Himmel, meine Ahnungen, die folternden Gedanken, welche mir den erquickenden Schlaf raubten, wenn sie Wirklichkeit gewönnen! Gott sei mir gnädig, laß mich das nimmer erleben!

Er entriß seinen Arm den Händen Claras, welche ihn willenlos umklammert hielt und von dem quälenden Gedanken gepeinigt: ihr Geliebter, ihr anderes Ich teile den Lebensüberdruß mit ihr, der unglücklichsten aller Bräute, bangte sie für ein Dasein, dem sie das ihrige mit freudiger Hingebung zum Opfer gebracht haben würde.

– Clara, sprich! so störte der unheilahnende Rudolph die in ängstliches Sinnen verfallene Schwester, – wer war der, zu dem Du zärtlicher, als zu dem Bruder sprechen konntest?

– Welche Frage! er war es ja selbst! lieber, teurer Rudolph, wenn er mich wirklich für ewig unglücklich machen wollte! – ach nein, er kann es nicht, ein Diener der Kirche, ein Lehrer der Religion – o fort ihr finstern Gedanken, die ihr wie böse Geister auf mich einstürmt und meinen Glauben an ihn und seine Liebe vernichten wollt. O gewiß, – der Irrsinn spricht aus mir; Clara, Clara, welche Torheit! er muß, er wird leben um meinetwillen; er liebt mich innig genug, um für mich das Unerträgliche zu ertragen. Aber welch ein Ton traf jetzt mein Ohr? Gott im Himmel erbarme Dich seiner und meiner armen Seele. Rudolph, Bruder, hast Du den dumpfen, unbeschreiblich schrecklichen Laut vernommen? Rette, rette ihn, wenn Du es vermagst; siehst Du dort – ach warum bist Du blind? Du siehst und reitest ihn nimmer – dort das dunkle Gewand, er ringt und kämpft mit der Flut; wie so todesbleich seine Wangen sind, – er grüßt mich zum letzten Male mit der Hand, – wie, war das nicht gar mein Name? – o harre meiner, nimm mich mit in das Land des Friedens! – weh mir, alles ruhig, todesstill auf dem Wasserspiegel. Er ist tot, und ich – ich lebe noch! Welch ein Leben! o könnt' ich meine Tränen sammeln, die um den Toten fließen werden, sie würden ein Tränenmeer, in dem ich sterben wollte wie er gestorben ist.

In Rudolphs Brust kämpfte der Zorn mit dem Mitleid; zu dem Kummer über das eigene Wehe gesellte sich der Schmerz über die unglückliche Schwester. Er setzte sich auf die Bank, stützte den Kopf mit beiden Händen, und ohne ein Wort des Trostes, doch auch ohne den leisesten Vorwurf auszusprechen, überließ er sich seinen düstren Gedanken.

Allgemach gelangte Clara zum vollständigen Bewußtsein ihrer selbst. Sie erkannte, daß die Furcht ihrer Fantasie ein zu weites Feld eröffnet hatte; wie ein schrecklicher Traum erschien ihr die jüngste Vergangenheit und nur die quälende und doch freudige Gewißheit, dem Bruder endlich das lang verhehlte Geheimnis offenbart zu haben, war ihr geblieben.

– Rudolph, so wandte sie sich jetzt zu diesem, die namenloseste Furcht hat mir ein Geständnis erpreßt, das Du sonst vielleicht nimmer vernommen hättest. So oft ich bemüht gewesen bin mein Herz so faltenlos wie in glücklicheren Zeiten vor Dir aufzudecken, es wollte mir bisher durchaus nicht gelingen. Nimmer wärest Du wohl der Vertraute eines solchen Geheimnisses geworden, das ich mit mir ins Grab zu nehmen gedachte, an dessen Rande schon ich stand. Doch in dem Augenblicke, wo ich das Leben des Geliebten gefährdet, ja verloren glaubte, wurde mir das Band der Zunge gelöst. Jedes andere Gefühl wich der Liebe zu ihm; jede Rücksicht, die mir Deine Nähe sonst auferlegt haben würde, wurde hintenan gesetzt, es galt ja seine Rettung, die Rettung des Geliebten. Bruder, ich empfind' es wohl, wie jedes dieser Worte Dein Herz wie ein Dolchstich trifft, aber es ist besser, Du leerest sogleich den Leidenskelch bis auf den Grund, als daß ich ihn Dir tropfenweise zu trinken gebe. – All' mein irdisch Glück war meine Liebe zu Dir; ach, ich war so heiter und zufrieden, als ich nichts von der Welt wie den blinden Bruder kannte; warum mußte der heilige Frieden, die segensreiche Ruhe unseres Ineinanderlebens durch die Gegenwart eines Dritten gestört und vernichtet werden? Er war ein Räuber an Deinem Eigentum, das ich in meinem Herzensschreine sicher geborgen glaubte; doch er öffnete Schloss für Schloss mit dem Zauberschlüssel seiner Liebe und nahm die Schätze, die ich Dir gesammelt hatte. Rechne ich es seinem Edelmute oder meinem verzweifelten Widerstande zu Gute, – er raubte nur die Hälfte seiner Habe, die ihm dem Sieger preisgegeben war. Rudolph, er hat Dir ein köstlich Teil gelassen; ich weiß nicht, ob Du es zu deuten vermagst, aber wie er Dir die Fülle meiner Liebe geschmälert haben mag, – bei Gott, ich fühl' es erst in diesem Augenblick – ich liebe Dich wahrhaftiger denn je. Wie ein Heiliger erscheinst Du mir; ich blicke scheu zu Dir empor, beten könnte ich vor Dir; aber – ach, wozu soll ich es aussprechen – ich bin Deine Schwester, erwäge das eine Wort und verzeihe mir, wenn mich die irdische Liebe, eine Leidenschaft die ich noch nie gekannt und jetzt mein Innerstes ergriffen hat, fort von Dir in die ausgebreiteten Arme des Geliebten führt. Er hat das Versprechen meiner Liebe – es trennt mich für immer von Dir. Jetzt hin ich sein! mit wilder, ungestümer Hast zieht es mich .in seine Brust; Gefühle, die jahrelang fast einen Todesschlaf in meinem Busen schliefen, sind in ihrer riesigen Größe erwacht.

Eisenhardt liebt Dich fast so innig und aufrichtig, wie ich; ziehe zu uns, sei uns Beiden ein geliebter Bruder, kein Opfer wird uns zu groß sein, um Dein Leben froh und heiter zu gestalten. Auch in den Armen des Geliebten werde ich Dir ewig eine Schwester sein. Kann Deine Eitelkeit dennoch von mir verlangen, nur Dir zu gehören und unerfüllt zu lassen, was die Bestimmung des Weibes ist?

Rudolph erhob sich von seinem Sitze. Clara umschlang ihn, hat ihn zu bleiben, denn es rege sich noch Tausenderlei in ihrem Herzen, was er nur jetzt in diesem Augenblicke erfahren könne, wo ihr das Verhältnis zum Geliebten noch über einen solchen Gegenstand zu sprechen erlaube. Umsonst, er entzog sich gewaltsam ihrer Umarmung, Eitelkeit, Eitelkeit! rief er mit herzzerreißendem Tone in die Nacht hinaus und kehrte dann auf wohlbekannten Wegen in sein Zimmer zurück, das er verschloß, um weiterer Mitteilungen überhoben zu sein.

– Gott, vergib mir, flehte Clara, daß ich die Seele des Unglücklichen bis in den Tod betrübte! Das Loos des Weibes ist entsagen, dulden und ertragen, doch sollte es darum auch seine Bestimmung sein, den Geliebten um des Bruders willen zu opfern? Ich wäre arm an Gefühlen, könnte ich nur seine Schwester sein; ich bin mehr, ich hin ein Weib und stolz auf meine Liebe zu dem Auserwählten. Ein Weib? – ach nein, ich war es einst in schöneren Tagen; die

fromme Liebe, ungetrübt durch sinnliches Verlangen, ist niedergekämpft, jetzt trägt jeder Gedanke die Sehnsüchtige in seine Arme.


 << zurück weiter >>