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Der Wisent

Die geschichtliche Erforschung des Wisents wird dadurch sehr erschwert, daß er im Mittelalter beständig mit dem Auerochs verwechselt wird (s. Abb. 1 und 2). Und doch unterscheidet schon das Nibelungenlied deutlich zwei verschiedene, in Deutschland nebeneinander vorkommende Wildrinder, indem es heißt:

Danach schlug Herr Siegfried einen Wisent und einen Elch,
Starker Ure viere und einen grimmen Schelch.

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Abb. 1. Urochs ( Bos primigenius).
Aus der deutschen Ausgabe von Herberstains »Moscovia«, Basel 1556

Der »Ur« des Nibelungenliedes, bei den Polen Tur, ist zweifellos der echte Auerochs (Bos primigenius) (Abb. 1), der ein glatthaariges und mähnenloses Wildrind war, dem Hausrind nicht unähnlich, mit langen, schön geschwungenen Hörnern, die an diejenigen des zahmen ungarischen und noch mehr des podolischen Steppenrindes erinnern. Das urähnlichste Rind ist heute wohl der spanische Kampfstier. Von Charakter war der Ur offenbar weit sanfter und gutmütiger als der Wisent, wurde deshalb oft gezähmt und mit Hausrindern gekreuzt, während der viel wildere Wisent nie das Joch des Menschen getragen hat. Manche Forscher sind sogar der Ansicht, daß unser Hausrind unmittelbar vom Ur abstamme. Der letzte Auerochs in freier Wildbahn wurde bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts zur Strecke gebracht, ist aber glücklicherweise wenigstens als Ölgemälde verewigt worden, so daß wir uns einen ziemlich genauen Begriff von seinem Aussehen zu machen vermögen.

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Abb. 2. Wisent ( Bison europaeus).
Aus der deutschen Ausgabe von Herberstains » Moscovia«, Basel 1556

Der Wisent ( Bison europaeus) ist aber ein ganz anderes Tier (Abb. 2), das mit seinem übermäßig hohen Widerrist, der übermäßigen Entwicklung der vorderen Körperhälfte, der zottigen Behaarung, der starken Halsmähne und den kurzen Hörnern sehr an den berühmten Büffel (Bison) der nordamerikanischen Prärien erinnert. Doch sieht der Wisent infolge seiner feingeschwungenen Rückenlinie immer noch leichter und eleganter aus als ein alter Bisonstier, der, von vorn gesehen, einem mächtigen wandelnden Haarberg gleicht. Im Profil gesehen, hat der Wisent eigentlich zwei kurze Buckel, der Bison nur einen, aber um so höheren. Auch hebt sich bei ihm infolge der tieferen Nackeneinsenkung der Kopf schärfer vom Rumpfe ab als beim Wisent, zumal auch das Haupt entsprechend verschieden getragen wird.

In alten Zeiten war der Wisent weit verbreitet und ursprünglich wohl gar ein asiatisches Steppentier, wie nach Durst prachtvolle Wildrindzeichnungen aus Babylonien und ihre mykenäischen Nachahmungen (1400 v. Chr.) zu beweisen scheinen, das erst zum Waldtier wurde, als es längs des Schwarzen Meeres in Europa einwanderte, und zum Gebirgstier, als es die steilen Hänge des Kaukasus und der persischen Hochgebirge erstieg. Bei den alten Chaldäern galt der Wisent offenbar als ein heiliges Tier, denn ihre Göttergestalten trugen Wisentköpfe mit Hörnern und Bärten. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung reichte der Wisent anscheinend bis zu den Pyrenäen, von wo er noch im Jahre 400 n. Chr. erwähnt wird. Trotzdem ist er in Frankreich früher ausgestorben als der Auerochs und war schon im 6. Jahrhundert dort ein so seltenes Wild, daß seine Erlegung ausschließlich den Frankenkönigen vorbehalten blieb. Szalay hat uns darüber das folgende, sehr bezeichnende Geschichtchen überliefert: König Guntram (590) beritt einst seinen Wald und stieß dabei auf den Kadaver eines frisch erlegten Urs, worüber er in großen Zorn geriet. Der erschrockene Waldverwalter nannte als Täter den Kammerdiener Kundo, der aber hartnäckig leugnete. Der wutschäumende König ordnete ein sogen. Gottesgericht an, also einen Zweikampf auf Leben und Tod, wobei der schon bejahrte Kammerdiener seinen Neffen als Vertreter stellen durfte. Diesem gelingt ein Stoß in den Schenkel des Gegners, der Verwalter stürzt nieder, der andere wirft sich auf ihn und will ihm gerade den Hals durchschneiden, als er von dem Sterbenden einen tiefen Stich in den Bauch erhält. Beide sinken tot zu Boden. Kundo sah mit Entsetzen zu, da der Tod des Neffen ja auch seinen eigenen bedeutete, und lief aus Leibeskräften davon in der Richtung auf die Kathedrale des heiligen Marcell, die als unverletzliches Asyl galt. Aber der König bemerkte seine Absicht und ließ ihn durch seine Leute einholen, die den Unglücklichen an einen Pfahl banden und sofort zu Tode steinigten. Und dies alles nur eines Urs wegen!

Die Jagd als Kunst, die Jagdliteratur und die Jagddichtung erreichten in Frankreich im 12. bis 16. Jahrhundert ihre höchste Blüte, aber trotzdem wird ein Wildrind nirgends mehr erwähnt, wohl ein sicheres Zeichen dafür, daß sowohl Wisent wie Auerochs damals bereits ausgestorben waren. Ebensowenig gedenkt Gaston Phoebus (1380), einer der größten Nimrode aller Zeiten, der Wildrinder, obwohl er gerade die Pyrenäen viel bejagte und alle dort vorkommenden Wildarten gut kannte.

Mit dem Wisent der germanischen Urwälder hat uns zuerst Julius Cäsar in seinem berühmten Buch bekannt gemacht. Wie er erzählt, galt die Erlegung eines alten Wisentbullen mit der Lanze bei unseren Vorfahren mit Recht als eine Heldentat, und der glückliche Jäger wurde entsprechend gefeiert. Natürlich war das römische Volk erpicht darauf, solche Untiere auch lebend im Zirkus zu sehen, und schon zu Beginn der Kaiserzeit ging dieser Wunsch in Erfüllung. Martial rühmt in einem seiner feingespitzten Epigramme den Gladiator Karpophorus, der den gefährlichen Kampf mit Wisenten und Auerochsen siegreich bestand. Rom bezog seine Wisente für die beim Volke so beliebten Zirkusspiele aus drei verschiedenen Provinzen, nämlich aus Germanien, Siebenbürgen und vom Balkan, und demnach muß es damals in diesen Ländern viel Wisente gegeben haben. Überhaupt unterhielt das kaiserliche Rom einen auch nach heutigen Begriffen wirklich großartigen Tierhandel über die ganze bekannte Erde mit ausgezeichneten Fang- und Transporteinrichtungen. Von 1100 bis 1200 finden wir den Wisent, der bei den Polen Zubr (Suber) heißt, noch in Bayern, Österreich, Böhmen, Schweiz, Balkan, Schweden und Ungarn, hier namentlich im Komitat Marmaros. Der ungarische Hochadel unterhielt damals gern eingegatterte Jagdbezirke, wie die große Zahl der mit vadas = Wildgarten zusammengesetzten Ortsnamen beweist, und mit Vorliebe hegte man in diesen den Wisent. Verhältnismäßig lange hat sich das mächtige Tier in Siebenbürgen gehalten, wo noch Ende des 18. Jahrhunderts Wisente in den Szekler Bergwaldungen standen, und einer der dortigen Magnaten fuhr einmal unter allgemeiner Bewunderung in einem von zwei zahmen Wisenten mit vergoldeten Hörnern gezogenen Wagen zum Landtag. Im Innern Rußlands lebten früher Wisente in vielen Gegenden, scheinen aber dort früher ausgerottet worden zu sein als in Litauen und Polen. Allerdings berichtet Dolmatoff, der 10 Jahre lang in Bialowies gelebt hatte, also von dorther den Wisent gut kannte, daß noch zwischen 1840 und 1848 im Kreise Semenow von Wilderern mindestens sieben Zubrs erbeutet worden seien, deren Felle und Hörner er selbst sah. Spätere Forscher wie Köppen u. a. sind allerdings der Meinung, daß Dermatoff sich von den Bauern »einen Bären habe aufbinden lassen«, doch erscheinen mir die dafür vorgebrachten Gründe nicht ganz stichhaltig. Ebenso halte ich es keineswegs für ganz ausgeschlossen, daß irgendwo in schwer zugänglichen Gebirgswaldungen wenig erforschter Gegenden Innerasiens heute noch Wisente hausen.

Jedenfalls muß es mit den Wisenten bei Ausgang des Mittelalters rasend schnell bergab gegangen sein, denn wir finden sie beim Anbruch der Neuzeit nur noch in vier Ländern, nämlich im damaligen Herzogtum Preußen, in Siebenbürgen, in Polen und in Rußland, wo sie zuerst verschwanden bis auf den Bestand im Kaukasus, auf den wir nachher noch näher zu sprechen kommen. Die Herrscher Ostpreußens ließen den Wisent im 17. und 18. Jahrhundert nach damaliger Sitte in den sog. Hetztheatern auftreten und mit anderen wilden Tieren kämpfen. Die dazu benötigten Wisente wurden hauptsächlich in der Umgegend von Tapiau nach besonderer Methode eingefangen und vielfach auch an andere hohe Herren verschenkt. Schon in den Ausgabebüchern des Königs Heinrich IV. von England (1367-1410), der in seinen jungen Jahren als Graf von Derby einige Zeit in Königsberg zubrachte, findet sich nach Szalay ein Posten von 6 Sest (3½ Silbermark), die einem Bauern für Überbringung eines »Oore«, also wohl eines Wisentkalbes ausgezahlt wurden. Ostpreußen blieb bis in die 40er Jahre des 18. Jahrhunderts hinein immer die Hauptquelle für die zu den Kampfspielen der Fürsten verschenkten Wisente. Der brandenburgische Markgraf Joachim I. (1499-1535) ließ sich wiederholt vom preußischen Hochmeister Albrecht, der ja auch ein Hohenzoller war, Wisente schenken und stellte sie in seinem Wildpark zur Schau, wo sie durch ihre Größe und Wildheit Bewunderung erregten. Unter Joachim II. (1535-1571) kämpften im Berliner Hetzgarten ostpreußische Wisente gegen Wölfe und Bären, wobei ein riesiger Bär vor einem mächtigen Wisent derart erschrak, daß er flüchten wollte und dabei die Umzäunung niederriß. Auch Kurfürst Joachim Friedrich (1591-1608) war ein Freund solcher Kampfspiele, und Kurfürst Johann Sigismund (1608-1619) hat noch selbst in den ostpreußischen Wäldern im Laufe der Jahre 25 Wisente erlegt. 1725 wurde der sog. Jägerhof bei Berlin gegründet, und hier standen auch vier Wisentkälber, von denen später zwei nach Stuttgart verschenkt und zwei nach der Stubenitz überführt wurden. In diesem Wildpark vermehrte sich der Wisent zur großen Freude der ersten preußischen Könige wiederholt, doch gingen die geworfenen Kälber größtenteils wieder zugrunde. Immerhin war dieser Bestand 1745 auf elf Stück angewachsen. Friedrich II., bekanntlich Nichtjäger, aber ein großer Tierfreund, interessierte sich sehr für ihn, so daß ihm allmonatlich ein genauer Bericht über das Befinden der Tiere erstattet werden mußte. Er gründete noch einen zweiten Tiergarten in Oranienburg, aber leider mißlang sein Versuch, den Wisent in der Mark in freier Wildbahn einzubürgern. Durch die vielen Anforderungen für die Hetzgärten war der ostpreußische Wisentbestand inzwischen schon recht bedenklich zusammengeschmolzen, zumal er auch stark durch Wilddiebe gezehntet wurde, die hauptsächlich mit einer besonderen Art von Schlingen arbeiteten. Von 1729 bis 1742 wurden in Preußen insgesamt noch 42 Wisente erlegt oder eingefangen und von 1717 bis 1739 28 (nach Szalay 32) Stück nach auswärts verschenkt. Auch das Königsberger Hetztheater beanspruchte immer einige Wisente, die nach alten Berichten bei den Kampfspielen Hunde und sogar Bären »wie Ballen in die Luft warfen«. Der Dichter Pietsch besang ausführlich den Kampf eines Wisents mit einem Löwen. Besonders großartige Schaustellungen fanden bei der Königskrönung (1701) des prunkliebenden Friedrich I. statt, wobei die Wisente gegen Bären, Wölfe und böse Pferde kämpfen mußten, um schließlich von dem neugebackenen und sehr eitlen König höchst eigenhändig erlegt zu werden. Friedrich der Große (1742-1786) dagegen fand an diesen barbarischen Hetzjagden und Kampfspielen keinen Gefallen, sondern ließ sie gleich nach seiner Thronbesteigung einstellen und verschenkte das bisher dazu benötigte Gelände an baulustige Königsberger Bürger. Bei seinem Regierungsantritt lebten nur noch wenige Wisente in den finsteren Waldungen zwischen Labiau und Tilsit, wo sie nunmehr streng geschont und auch im Winter gefüttert wurden. Aber es war bereits zu spät! Der ungewöhnlich harte Winter des Jahres 1742 verminderte den Bestand bis auf kärgliche Reste, und 1755, also in der unruhevollen Zeit unmittelbar vor dem Siebenjährigen Kriege, fiel der letzte ostpreußische Wisent unter der Kugel eines Wilderers!

Auch die Könige und Großen Polens ließen sich aus jagdlichen Gründen die Erhaltung des Wisents angelegen sein und errichteten eine ganze Reihe von Wisentparken, so bei Warschau, Ostrolenka und Zamosk. Zuchtversuche hatten allerdings nur wenig Erfolg, weil man die Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse der Tiere teils nicht kannte, teils zu wenig berücksichtigte. Wir wissen ja auch aus der Geschichte unserer Tiergärten, wie groß die Sterblichkeit unter den Wisentkälbern ist. Während des berühmten Konstanzer Konzils (1414 bis 1418) sandte König Wladislaus von Polen dem Kaiser Sigismund als besondere Ehrung ein Wisentkalb, das aber unterwegs vor Ermattung zusammenbrach und notgeschlachtet werden mußte, so daß es nur noch in eingesalzenem Zustande sein Ziel erreichte, wo es einen Festbraten abgeben mußte. Kaiser Maximilian I. (1459-1519) erhielt aus Polen fünf Wisente, die er u. a. in Nürnberg wegen ihrer »barbarischen Gestalt« zeigen ließ. Albrecht Dürer hat seine berühmten Wisentbilder also offenbar nach diesen lebenden Modellen gemalt. 1569 verehrte der Polenkönig Sigismund August dem Kaiser Maximilian II. (1527-1576) neun Wisente, die mit fünf siebenbürgischen zum größten Anziehungspunkt des Wiener Hetztheaters wurden. Als dieses 1786 abbrannte, wurde der letzte dort noch befindliche Wisentstier in die neu gegründete Menagerie nach Schönbrunn überführt und hier unter dem Namen Miska ein Liebling der Wiener Bevölkerung. Der Geschichtsschreiber Dlugos berichtet mehrfach über die Wisentjagden der polnischen Könige, und aus diesen Schilderungen geht hervor, daß damals das prachtvolle Wild in Polen noch keineswegs übermäßig selten war. So brachte König Johann Sigismund in sieben Jahren (1612-1619) immerhin noch 42 Wisente zur Strecke. Als die sächsischen Kurfürsten zugleich Könige von Polen wurden, wanderte mancher eingefangene Wisent an den Elbestrand. Dies hörte auf, als der polnische Thron zu einem Spielball der Großmächte wurde, und die vielen Kriege und Unruhen während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vernichteten dann die ohnehin schon recht spärlich gewordenen Wisentbestände Polens völlig. Die Jagden (s. Abb. 3) hatten sich damit von selbst erledigt. Nur an einem Punkte leuchtete dem mit gänzlicher Ausrottung bedrohten Wilde noch ein günstiger Stern – in der Bialowieser Heide!

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Abb. 3. Wisentjagd.
Nach einem Diorama im Museum für darstellende und angewandte Naturkunde, Salzburg
Phot. Bruno Kerschner

In diesen riesigen Urwaldungen hat es offenbar von jeher viel Wisente gegeben, obgleich von mancher Seite behauptet wird, daß sie erst künstlich von Smolensk aus dort eingebürgert worden seien. Schon König Wladislaus II. (1385-1434) ließ, als er zum Kriege gegen den Deutschorden rüstete, in Bialowies große Jagden abhalten, um sein Heer für den Winter mit Elch- und Wisentfleisch zu versorgen. Einmal jagte er selbst acht Tage lang und schickte als Ausbeute 50 große Fässer eingesalzenes Wisentwildbret ins Lager. König August III. (1733-1763) von Sachsen-Polen, ein leidenschaftlicher Jäger, erwarb sich durch seine großen Wisentjagden in der Bialowieser Heide wenigstens auf sportlichem Gebiete diejenige Berühmtheit, die ihm auf politischem und kriegerischem Gebiete versagt blieb. Es handelte sich dabei um die berüchtigten »eingestellten« Jagden, wie sie wohl dem Charakter jener Zeit entsprachen. Die »Weidmänner« saßen bequem auf dem Balkon des Jagdhauses, die eingelappten Wisente wurden auf wenige Schritte Entfernung an ihnen vorübergetrieben und konnten auf diese ekelhaft feige Weise in aller Ruhe zusammengeschossen werden. Auf solche Fleischhackerart wurden an einem einzigen Jagdtage des Jahres 1744 30 Wisente gefällt, 1752 sogar 42; 20 davon, darunter einen Stier von 18 Zentnern, knallte die Königin nieder und wurde dafür von den höfischen Schmeichlern in den Himmel erhoben. Als am Ende des 18. Jahrhunderts Bialystok vorübergehend zu Preußen gehörte, gaben sich die preußischen Förster alle Mühe, die Bialowieser Wisente dorthin zu locken, jedoch nur mit vorübergehendem Erfolg. Immerhin besitzt nach einer freundlichen Mitteilung von Erna Mohr das Berliner Museum noch Material aus Bialystok. Ein Retter entstand dem arg zusammengeschmolzenen und hart bedrängten Wisentbestande in letzter Stunde in dem ritterlichen Zaren Alexander I.; er erließ gleich nach seinem Regierungsantritt 1802 einen scharfen Ukas, durch den die Wisentjagd gänzlich verboten oder wenigstens von seiner persönlichen Erlaubnis abhängig gemacht wurde. Die Wirren der napoleonischen Kriege ließen aber zunächst eine rasche Vermehrung des Bestandes nicht aufkommen, und 1813 wurden nur 300 Stück gezählt; 1821 waren es 732, aber die polnische Revolution 1831 brachte eine abermalige starke Verminderung mit sich. Dann folgt in ruhigeren Zeiten eine beständige Zunahme; 1838 werden 906, 1839 932, 1841 946, 1845 1025 Wisente verzeichnet. Die Höchstzahl soll 1853 mit 1543 Stück und 1857 mit 1898 erreicht worden sein, was aber wohl eine übertriebene Angabe ist. Die polnischen Unruhen der 60er Jahre brachten wieder einen starken Abstieg, von dem sich der Bestand lange nicht recht erholen konnte, zumal auch öfters ansteckende Wildseuchen ausbrachen. Immerhin wurde er 1903 und 1909 auf rund 700 Stück geschätzt, und beim Ausbruche des Weltkrieges waren es 737, 1915 sogar 770. Fast alle Wisente, die wir in den Tiergärten noch sehen, stammen von Bialowieser Stücken ab, da die russischen Zaren sich ein Vergnügen daraus machten, das seltene Wild an wissenschaftliche Anstalten oder große Jagdherren zu verschenken. Ganz einfach war das freilich nicht; so mußten zum Einfangen einiger Kälber, die Alexander II. der Königin von England versprochen hatte, nicht weniger als 300 Treiber und 80 Förster aufgeboten werden.

Der berühmte Urwald von Bialowies umfaßt etwa 2000 qkm und ist dadurch scharf begrenzt, daß er wie eine Insel inmitten eines sonst baumarmen Gebietes liegt. In diesem endlosen Walde finden wir nur das eine Dorf Bialowies, das aber ausschließlich vom Schutz- und Jagdpersonal bewohnt wurde. Die eigentlichen Bauern hatte man der Wilddiebsgefahr wegen nach Westsibirien verpflanzt. Sie waren auch ganz gern nach dem »russischen Amerika« übersiedelt, denn sie erhielten dort umfangreichere und fruchtbarere Ländereien und für jede zurückgelassene Kuh deren drei. Seitdem unterblieb auch fast jede Holznutzung, so daß ein richtiger Urwald entstand, in dem die wenigen Wege oft durch umgestürzte, altersschwache Baumriesen versperrt waren oder nach einem zündenden Blitzschlag wochenlange Brände schwelten. Undurchdringliches Schweigen herrschte in dieser unabsehbaren Wildnis, und auch der Fuß des Menschen versank lautlos in dem weichen Moos oder in dem tiefen Sand. Eine schnurgerade Fahrstraße verbindet in echt russischer Eintönigkeit das Kaiserschloß mit dem schmutzigen Dorfe und dieses mit der nächsten Stadt und Bahnstation. Nur der Wind rauscht in tastenden Wellen durch die flüsternden Baumwipfel, sonst herrscht die Totenstille schauernder Ergriffenheit. Fichten und Kiefern, Eichen und Erlen von unglaublicher Stärke recken sich aus dem dichten Unterholz. Stachelige Brom- und Himbeeren sperren mit ihren Ranken die verschwiegenen Jägerpfade, würzige Blaubeeren duften, blühendes Heidekraut überzieht weite Flächen, saftige Weiden und zarte Gräser laden das von keinem Menschen gestörte wild zur Äsung. Auch Luchs und Kuder, Adler und Uhu, Schwarzstorch und Kolkrabe sind hier noch zu Hause. Wahrlich, ein Naturschutzpark, ein Tierparadies, wie man es sich schöner und vollkommener kaum denken kann. Und doch hat uns gerade Bialowies mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt, daß es mit bloßer schablonenmäßiger Schonung allein nicht getan ist, ja daß diese sogar zum Verhängnis werden kann, wenn sie in verständnislose Verhätschelung ausartet. Das ganze Revier war überhegt und übervölkert, und das machte sich bald in der nachteiligsten Weise geltend. Außer 700 Wisenten hatten hier ja noch 7000 Stück Rotwild ihren Stand, das rasch entartete und dafür die Elche vergrämte, die auf kaum 60 Stück zusammenschmolzen. Das Damwild zählte gleichfalls etwa 7000 Köpfe, und dazu kamen noch 5000 Rehe, deren Gehörne und Stärke man durch Einfuhr sibirischen Blutes zu verbessern suchte. Solche Wildmassen konnte aber selbst die Bialowieser Heide Die Bialowieser »Heide« ist natürlich keine Heide im Sinne der Lüneburger Heide, sondern Heide ist hier gleich Urwald, wie bei der Tucheler Heide nicht ernähren, und man verfiel deshalb auf die künstliche Fütterung. Damit entschwand vollends jede natürliche Auslese. Die Urwaldrecken wurden zahm und faul, zeigten bald alle Zeichen der Entartung und büßten die ehemalige Widerstandsfähigkeit gegen Wetterunbilden und Krankheiten ein. Die Wisente zogen überhaupt kaum noch auf Äsung, sondern warteten ruhig ab, bis ihnen der Tisch gedeckt wurde, und gewöhnten sich dabei derart an den Menschen, daß sie dessen Jagdlust schutzlos preisgegeben waren, als die Kriegsgewitter über die stille Heide zogen. Wohl konnte der Machtspruch des Zaren für Futter sorgen, die Wilddiebe fernhalten und das Raubzeug unterdrücken, aber ohnmächtig war er gegen das Milliardenheer der kleinen Schädlinge. Unter den Riesenrehen wütete die Finnenkrankheit, unter den Wisenten der Leberegel, unter den Elchen und Hirschen die Rachenbremse. Unzählige Raupen fraßen die Bäume kahl und düngten mit ihrem Kot und ihren verwesenden Leibern den Waldboden, dem um so üppigerer Rasen entsproß. Aber diese geile Äsung brachte Krankheit und Tod. Aus dem Tierparadies wurde ein großes Siechenhaus. Das kümmernde, ewig hustende und röchelnde Wild fiel wie die Fliegen, und das zahlreiche Schutzpersonal hatte alle Hände voll zu tun, die massenhaft herumliegenden Kadaver in blutrot leuchtenden Riesenfeuern zu verbrennen, während die Gelehrten hinter ihren Mikroskopen brüteten und herauszubekommen suchten, um welche Seuche es sich denn eigentlich handle. Nachdem die Bestände fast vernichtet waren, kam man endlich zu der Einsicht, daß man mit der Wildverhätschelung einen furchtbaren Fehler begangen hatte, und schlug vernünftigere Wege ein. Der Erfolg dieser neuen Maßnahmen war recht zufriedenstellend, die Bestände erholten sich wieder, und das Wild wurde gesünder und beweglicher, wenn es auch noch lange nicht an die Urwüchsigkeit früherer Zeiten heranreichte.

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Abb. 4. Wisente im Bialowieser Wald
Mit Genehmigung der Internationalen Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents, Frankfurt a. Main, Zoologischer Garten

Bei Ausbruch des Weltkrieges standen also wieder 737 Wisente in Bialowies (Abb. 4), und sie hatten unter dem Völkerkampfe anfangs so wenig zu leiden, daß in den ersten Monaten 1915 sogar 770 Stück gezählt wurden. Damals kam der unglückselige Zar Nikolaus II. zum letzten Male auf nur 24 Stunden nach Bialowies und nahm wehmütigen Abschied von seinem Lieblingsrevier. Dann brach das Verhängnis herein. Die zurückgehenden russischen Truppen schossen zahlreiche Wisente nieder, um sich Fleisch zu verschaffen, und die nachrückenden deutschen Feldgrauen gaben ihnen darin nicht das Geringste nach, wie zur Steuer der Wahrheit nicht verschwiegen werden darf. Oft genug wurde auch aus bloßem Vergnügen gewildert, und es war nur ein Kinderspiel, die vertrauten Wisente niederzuschießen, die nicht selten die Trainkolonnen querten oder auf kürzeste Entfernung neben ihnen hertrotteten, in der Meinung, es handle sich um Futterwagen. Erst allmählich wurden die Tiere durch viele böse Erfahrungen vorsichtiger. Als dann eine deutsche Militär-Forstverwaltung in Bialowies eingerichtet wurde und damit wieder geordnetere Verhältnisse eintraten, waren kaum noch 150 Wisente vorhanden. Der Forstverwaltung erschien es gegenüber Vorschlägen zur Übersiedlung der Wisente auf deutsches Gebiet als ein verlockenderes Ziel, den Wisentbestand durch sorgfältige weidmännische Hege und Auswahl beim Abschuß auch qualitativ wieder zu heben, und in der Tat gelang es ihr trotz der vielen Wilddiebereien, ihn bis zum Frühjahr 1918 wieder auf etwa 200 Stück zu bringen. Gefüttert wurde nur noch während der strengsten Wintertage und auch dann nicht mehr mit Heu, sondern nur noch durch Fällen von Bäumen, deren Wipfeltriebe den Wisenten zur Nahrung dienten. Aber mit dem Zusammenbruch der deutschen Front kam dann auch unheimlich rasch das Ende der großen Wisenttragödie. Räuber- und Wildererbanden, einrückende Sowjettruppen und versprengte deutsche Scharen wetteiferten miteinander, Europas größtes Säugetier restlos zu vernichten, sie alle allerdings einigermaßen dadurch entschuldigt, daß sie bitteren Mangel an Lebensmitteln litten. Kriege und Revolutionen sind ja von jeher auch für die Tierwelt verhängnisvoll gewesen. Die herrlichen Waldbestände wurden in jeder Hinsicht gründlich ausgeraubt, und am 19. Februar 1921 endete auch der letzte Wisent durch die Kugel eines Wilderers. Dieser war übrigens ein ortsansässiger früherer Förster namens Bartmoleus Szpakowicz. Auch in polnischen Kreisen entrüstete man sich weidlich über diesen Zwischenfall: »Möge sein Name wie der des Herostrat auf ewig erhalten bleiben.« Das war das traurige Ende des altberühmten Wisentbestandes von Bialowies! Vielleicht doch noch nicht das ganz Endgültige! Denn soeben geht durch die Tagespresse die hoffnungsfrohe Meldung, daß der Posener (oder Warschauer?) Zoo einige Stücke seines gesunden und fast reinblütigen Wisentbestandes wieder in Bialowies ausgesetzt hat. Es soll sich Zeitungsnachrichten zufolge um zwei Stiere und zwei Kühe handeln.

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Abb. 5. Wisent-Jungbulle und Wisent-Jungkühe im Berliner Zoologischen Garten 1927 photogr.

Auch auf deutschem Boden, nämlich in den oberschlesischen Waldungen des Fürsten von Pleß, hatten wir bis zum Kriege erfreulicherweise noch einen kleinen Wisentbestand. Er ist zurückzuführen auf einen Stier und drei Kühe aus Bialowies, die Zar Alexander II. 1865 dem damaligen Fürsten von Pleß schenkte; später kamen noch weitere fünf Kühe aus Bialowies hinzu, die gegen Plesser Rotwild eingetauscht wurden. Der Fürst setzte die Wisente zunächst in seinem 1100 Hektar großen Tiergarten aus, wo sie sich gut hielten und auch vermehrten, später weit herumwechselten und erst im Winter bei den Futterplätzen sich einstellten. Der stärkste in Pleß geschossene Stier wog immerhin 16 Zentner (aufgebrochen 14 Zentner), konnte sich also wohl sehen lassen, obwohl richtige Urstiere es auf 19-20 Zentner bringen sollen. Schon im November 1869 konnte der erste Wisentstier in Pleß abgeschossen werden, und den letzten, der auf regelrechte Weise fiel, streckte mit sicherer Kugel Hindenburg, der ja längere Zeit auf dem Plesser Schlosse sein Hauptquartier hatte. Im ganzen sind im Zeitraum 1869-1901 23 und 1902-1913 34, also zusammen 57 Stück abgeschossen worden (nach Forstmeister Schmidt). Trotzdem war der Bestand 1915 auf 15 Stiere, 27 Kühe und 14 Kälber, also zusammen 56 Stück, angewachsen. In Anbetracht der schwachen und langsamen Vermehrung des Wisents muß das als ein recht günstiges Ergebnis bezeichnet werden. Bei der Brunft geforkelt wurden während des genannten Zeitraums vier Stück. Hauptsächlich gelangten Stiere zum Abschuß, die ein gewisses Alter erreicht hatten, weil sie sonst leicht zu bösartig wurden. Jeder Besucher, dem das Weidmannsheil beschieden war, in Pleß auf den Wisent zu jagen, hat sich gern den strengen Vorschriften gefügt, nur einer nicht – der durch seine fabelhafte Treffsicherheit, aber auch durch seine unersättliche Schießlust und Rekordsucht bekannte Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este, dessen Ermordung später Veranlassung zu dem furchtbaren Weltenbrande wurde. Er bekam es fertig, außer dem ihm freigegebenen Stier auch noch eine trächtige Kuh zusammenzuschießen, was aber der Jagdherr so übel nahm, daß der Gast trotz seines hohen Ranges am nächsten Morgen die Koffer packen mußte. Die Nachwehen des Weltkrieges brachten auch dem Plesser Wisentbestand beinahe die Vernichtung. Als polnisches Raubgesindel die Wälder überschwemmte, wäre es fast um ihn geschehen gewesen. Ende 1921 waren nur noch vier kümmernde Stücke vorhanden, 2 Geltkühe, 1 angekratzter Stier und 1 Kalb. Der Gedanke, diesen kleinen Restbestand nach den niederschlesischen Besitzungen des Herzogs von Pleß zu überführen, wo er gesicherter gewesen wäre, scheiterte an dem Widerspruch der polnischen Regierung. Da ja nun Pleß an Polen abgetreten wurde, steht heute kein Wisent mehr auf deutschem Boden. Aber glücklicherweise hat sich der kleine Plesser Restbestand überraschend schnell und gut erholt. Es wird jährlich wieder ein Kalb gesetzt, und nach Dr. Erna Mohr ist sogar eine 21jährige »alte Tante« dabei beteiligt.

Als zur Bekämpfung des Polenaufstandes 1831 auch kaukasische Regimenter herangezogen wurden, sah einer ihrer Offiziere in Wilna einen ausgestopften Wisent und erklärte sofort, daß dieses Wild auch in seiner Heimat vorkomme. Damit hatten wir die erste glaubwürdige Nachricht vom kaukasischen Wisent, obschon darüber bereits seit dem 17. Jahrhundert wiederholt Gerüchte aus Abchasien zu uns gedrungen waren, die aber von den Gelehrten nicht beachtet wurden. Die Forschungsreisen der russischen Zoologen Nordmann, Radde, Satunin und Filatow haben dann volle Klarheit in die Sache gebracht. Danach scheint es sicher, daß der Wisent auch im Kaukasus früher weit größere Gebiete bewohnt hat als heutzutage; und wahrscheinlich hat er sogar zeitweise über den Kamm nach den Südhängen hinübergegriffen, worauf schon der Name des Dombai-Passes hinweist, denn Dombai ist die kaukasische Bezeichnung für den Wisent. Erst seit 1895 haben wir genauere Nachrichten über diesen Bestand, der schon damals auf das Quellgebiet des Kubanflusses beschränkt war, hier aber in dem Jagdherrn, dem Großfürsten Sergius Michailowitsch, einen weidgerechten Beschützer fand, der überhaupt nur zu wissenschaftlichen Zwecken ab und zu ein Stück abschießen ließ. Die Wisente standen besonders in den oberen Tälern der Belaja, Laba und Kischa, die alle zu den Nebenflüssen des Kuban gehören, also auf einer Fläche von etwa 500 000 ha am Nordhang des Kaukasus. Trotz scharfer Bewachung und strenger Strafen fiel so manches Stück den Wilddieben zum Opfer. Eine genaue Schätzung des Bestandes in diesen wild zerklüfteten Tälern war sehr schwer, zumal die kaukasischen Wisente scheu und unstet sind und bei der geringsten Störung ihren Aufenthalt wechseln. Die Durchschnittszahl wird sich aber wohl um 700 herum bewegt haben. Die allmählich einsetzende Ausbeutung der großen Waldungen schadete namentlich dadurch, daß sie zuerst die tieferen Täler angriff und so die Wisente ihrer gewohnten Winterstände beraubte. Auch die subalpinen Wiesen werden kaum noch vom Wisent betreten, da sie den ganzen Sommer über von Hirten und Herden belebt sind. So müssen die Wisente das ganze Jahr über im dumpfen Urwalde verbleiben, was ihnen unmöglich zuträglich sein kann. Ihr Standort sind einsame, wilde, dicht mit urigem Tannenwald bewachsene Hochtäler in etwa 5000 Fuß Meereshöhe, und ihr gesamtes Gebiet ist auf einen Streifen von 50 Werst Länge und 20 Werst Breite zusammengeschrumpft. Der Zusammenbruch des Zarenthrons brachte auch den Kaukasus-Wisent dicht an den Rand des Untergangs. Die Rätetruppen hielten regimenterweise große Treibjagden mit Maschinengewehren ab und schossen alles zusammen. Es hieß zuerst, daß der Wisent dadurch völlig ausgerottet worden sei, aber später hat es sich doch herausgestellt, daß etwa 25-30 Stück dem Gemetzel entronnen sind. Früher oder später wird ja wohl auch dieser kleine Rest der unersättlichen Mordlust des Menschen zum Opfer fallen, denn die angeblich erlassenen Schonvorschriften stehen wohl nur auf dem Papier. Dagegen meldete der mecklenburgische Jagdmaler Peter Paschen, der während des Krieges in Persien tätig war, daß er dort öfter Wisentfelle und -gehörne gesehen habe, und daß frisch erlegte Wisente auf dem Markte von Resch (am Südrande des Kaspi) feilgeboten wurden. Trifft diese Nachricht, die von fachkundiger Seite stark bezweifelt wird, wirklich zu, so will sie doch wenig besagen, da in diesen wilden Gegenden von weidmännischer Hege natürlich keine Rede sein kann, also auch die dortigen Wisente baldigem Untergange verfallen sein dürften. Ich kenne diese undurchdringlichen Waldungen an der russisch-persischen Grenze aus eigener Anschauung und kann mir recht wohl denken, daß sich der Wisent in ihnen heimisch fühlen mochte, doch habe ich bei einem kurzen Aufenthalte vor 30 Jahren keine Spur des mächtigen Wildes bemerkt. Pfizenmayer erwähnt, daß auch dem Kaukasischen Museum in Tiflis Nachrichten über das Vorkommen von Wisenten bei Resch zugegangen seien, worauf man eingehende Nachforschungen anstellte, die aber ohne jedes Ergebnis blieben. Die feuerspeienden Stiere der Argonauten sollen nach der Ansicht mancher Forscher Wisente gewesen sein, und in der Tat gehört ja das Land Kolchis, wo Jason sie antraf, zu Transkaukasien. Dagegen sind die Wildrinder der Bibel sicher Auerochsen. Zwar hat man im Libanon Wisentknochen gefunden, aber in geschichtlicher Zeit war diese Bisonart dort sowohl wie im Inneren Kleinasiens zweifellos schon ausgestorben. In Nordafrika hat es niemals Wisente gegeben, obschon dies fälschlicherweise vielfach behauptet worden ist. Ebenso irrtümlich ist die in der Jagdpresse immer wiederkehrende Mitteilung, daß Fürst Hohenlohe 1906 auf seinem Jagdbesitz in der Tatra Wisente angesiedelt habe. Es handelte sich dabei nämlich nicht um Wisente, sondern um nordamerikanische Bisons.

Wenn wir bedenken, daß die verschiedenen Wisentstämme schon seit sehr langer Zeit räumlich weit getrennt waren und hier als Bewohner des Sumpfwaldes, dort als Hochgebirgstiere lebten, so liegt die Vermutung nahe, daß sich verschiedene Ortlichkeitsrassen herausgebildet haben müssen. Szalay unterscheidet drei geographische Formen: die ostpreußische (ausgestorben 1755), die siebenbürgische (ausgestorben 1790 bzw. 1809) und die polnisch-litauische (ausgestorben 1919), wozu dann noch kämen die sibirische (längst ausgestorben) und die kaukasische (noch eine kleine, stark gefährdete Herde erhalten). Namentlich der Kaukasier ( Bison europaeus caucasicus) ist gut zu unterscheiden, denn er ist kurzhörniger und kleiner und hat als Gebirgstier insbesondere niedrigere Läufe. Er ist vom litauischen Typ fast ebenso verschieden wie dieser vom amerikanischen Bison. Die Spezialisten gehen aber meiner Ansicht nach entschieden zu weit, wenn sie nun auch noch den Kaukasier in zwei Formen aufsplittern wollen, von denen die eine kurzhörniger sein und einen stärkeren Kehlbehang, wolligeren und mehr gekräuselten Pelz, weniger gebogene Stirn- und Nasenlinie, eckigere Körperformen und schwächere Läufe haben soll. Das alles sind doch wohl nur individuelle Unterschiede. Eher könnte man eigentlich noch bei den Bialowieser Wisenten, zu denen natürlich auch die von Pleß gehören, verschiedene Typen herausfinden, und diese sind wohl darauf zurückzuführen, daß in früherer Zeit zur Blutauffrischung wahrscheinlich kaukasisches Blut eingekreuzt wurde, was sich heute allerdings nicht mehr mit voller Sicherheit feststellen läßt. Zukowsky unterscheidet den großen, langgebauten Litauer Typ mit auffallend hohem Widerrist und stark S-förmig geschweiftem Rücken von dem kleinen, kurzgebauten, aber hochbeinig erscheinenden Typ mit weniger hohem Widerrist und nicht so stark geschweiftem Rücken. Jener ist wohl die ursprüngliche und unverfälschte Litauer Rasse.

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Abb. 6. Bisonherde (eiszeitliche Wisente), in eine Fallgrube einbrechend.
(Der Künstler hat die Herde vielleicht zu zahlreich angenommen, auch waren die Hörner wohl weniger spitz)

Ziehen wir nun aus alledem die Folgerung, so ist das Ergebnis tieftraurig, denn außer dem kleinen Restbestand im Kaukasus gibt es heute in freier Natur keine Wisente mehr. Dr. Kurt Priemel war also durchaus im Recht und sprach allen Naturfreunden aus dem Herzen, als er seinen flammenden Aufruf »Wisent in Not!« erließ und zur Gründung einer »Internationalen Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents« aufforderte Auch ich möchte alle Leser dieses Büchleins dringend bitten, diese so erfolgreich wirkende Gesellschaft (Frankfurt a. Main, Zoologischer Garten) durch Beitritt in ihrer schweren Aufgabe zu unterstützen.. Diese Vereinigung ist denn auch unter erfreulich starker Beteiligung gegründet worden und entfaltet seitdem eine äußerst rührige Tätigkeit, so daß wieder die Hoffnung besteht, das größte europäische Säugetier in letzter, aber auch allerletzter Stunde vor der endgültigen Vernichtung zu bewahren. Sind doch sogar schon in den Museen die toten Wisente zu einer begehrten Seltenheit geworden, denn in allen Sammlungen der Welt befinden sich nur noch 80 ausgestopfte Wisente und etwa ebenso viele Skelette; dazu kommen noch 120 Einzelschädel. Die erste Aufgabe der Gesellschaft war es, ein genaues Stammbuch aller noch in den Tiergärten lebenden Wisente anzulegen, und in diesem konnten bis zum 15. Oktober 1922 noch 56 Wisente eingetragen werden, darunter 22 sprungfähige Bullen und 22 zuchtfähige Kühe. Seitdem haben diese Zahlen noch etwas zugenommen. heute schätzt Erna Mohr auf 70 Stück, die sich fast gleichmäßig auf beide Geschlechter verteilen, wohlgemerkt handelt es sich dabei nur um ganz reinblütige Wisente, da man die früher mitgezählten Mischlinge jetzt aus den Listen gestrichen hat. Mit diesem wertvollen Bestand soll nun nach Möglichkeit weiter gezüchtet und die Zuchttiere sollen öfters ausgetauscht werden, um eine zu starke Inzucht zu vermeiden. Priemel hofft, daß man schon, in 12-15 Jahren daran wird denken können, einen Teil der Nachzucht auszusetzen, wobei man vor allem den großen Naturschutzpark in der Lüneburger Heide bedenken sollte. Übergangsstadien lassen sich schon jetzt verzeichnen. So hält Graf Arnim-Boitzenburg auf Boitzenburg eine kleine Herde in einem großen Gehege auf seinen Besitzungen in der Uckermark, wo sich die Tiere überraschend gut entwickelt haben. Was das Ausland anbelangt, so war die Wisentzucht des Herrn Friedrich Falz-Fein in Askania Nova (Südrußland) niemals reinblütig, dagegen besitzt der Herzog von Bedford in einem englischen Gehege den heute überhaupt größten Wisentbestand, der fast alljährlich 3 Kälber bringt. Von den ausländischen Tiergärten hatten namentlich Budapest und Stockholm immer einen guten Wisentbestand. Jener unternimmt jetzt bei Visegrad und dieser bei Aengelborg aussichtsvolle Aussetzungsversuche.

Wenn auch die heutigen Wisente nicht mehr die Mächtigkeit und Wildheit der mittelalterlichen erreichen, so erscheinen sie uns doch noch immer als ein herrliches Bild urwüchsiger Kraft und Stärke. Der erwachsene Stier (s. Abb. S. 5) wird heute noch etwa 1,7 m hoch und doppelt so lang bei einem Gewicht von 13-14 Zentnern aufgebrochen. Die Kühe sind merklich kleiner und zierlicher, haben kürzere Hörner und eine weit weniger entwickelte Mähne und wurden in Pleß nach Angaben von Schmidt nur 8-10 Zentner schwer. Das Längenwachstum der Hörner ist im wesentlichen mit dem fünften Lebensjahre beendigt; von da ab nehmen sie nur noch an Dicke zu. Die schön geschwungene Form der Hörner bildet sich hauptsächlich im dritten und vierten Lebensjahre heraus. Die Gewichtszunahme dagegen hält nach den in Schönbrunn gemachten Beobachtungen bis zum elften Lebensjahre an. Das Haar der Tiere strömt namentlich zur Brunftzeit einen starken Bisamgeruch aus. Die Verfärbung fällt in die Monate April und Oktober. Das Winterhaar ist länger, wolliger und dichter und von graubrauner Färbung, das kürzere Sommerhaar dagegen dunkelbraun. Die Kälber sehen stets hell rotbraun aus. Fährte und Losung ähneln denen eines starken Hausrindes, doch ist letztere fester, mehr zebumäßig. Zu weicher Kot läßt auf Durchfall schließen.

Im Winter stehen die Wisente am liebsten im buschreichen Hochwald, im Sommer dagegen in den Stangenhölzern und Dickungen, besonders in der Nähe von Wiesen, auf die sie aber erst nach völligem Einbruch der Nacht heraustreten. Tornau, der drei Jahre lang als Gefangener der Gebirgsvölker im Kaukasus lebte, berichtet, daß die Wisente sich dort in den steilsten Schroffen förmliche Pfade brechen, um jederzeit bequem von einem Felsental ins andere wechseln zu können. Der Gang des Wisents ist ein rascher Schritt, der Lauf ein schwerfälliger, aber überraschend schnell fördernder Galopp. Der flüchtige Wisent streckt sich und das gewaltige Haupt lang, während der Bison im Galopp den Kopf tiefer nimmt. Der Wedel wird dabei wagerecht gehalten oder sanft nach oben gekrümmt. Breite Gräben und Zäune von 1½ m Höhe überfällt der Wisent mit Leichtigkeit. Der einzige Stimmlaut, den man von ihm hört, ist ein schnarchendes Brummen, das entfernt an den Brunftruf des Damhirsches erinnert. Filatow berichtet allerdings, daß eine angeschossene Kuh anhaltend brüllte. Zum Ausruhen tun sich die Wisente entweder nieder, oder sie stellen sich unter alte Tannen, deren schattenspendende Zweige ihnen Schutz vor der Sonnenglut bieten und peinigende Kerbtiere einigermaßen fernhalten; sie stampfen solche Plätze im Lauf der Zeit so fest, daß sie aussehen wie eine reingefegte Tenne, mit großem Behagen und bei jeder Gelegenheit scheuert sich der Wisent an Stämmen und aus der Erde hervorragenden wurzeln, was ja alle Rinderarten sehr gern tun. Er wittert und hört ausgezeichnet, äugt dagegen nicht sonderlich gut. Das normale Lebensalter soll etwa 30 Jahre betragen. Starke Schneefälle werden namentlich im Gebirge dem Wisent oft verhängnisvoll, denn dann bricht das schwere Tier so tief ein, daß es sich nicht mehr herauszuarbeiten vermag. Im Kaukasus üben die Mineralwasser der zahlreichen Schwefelquellen anscheinend eine besondere Anziehungskraft auf den Wisent aus.

Die Sommeräsung besteht in den verschiedensten Grasarten, Knospen, Blättern und Zweigen, auch in der Rinde von Laubbäumen, während Nadelhölzer vom Wisent fast niemals geschält werden. Dagegen macht er sich gerne das Vergnügen, Nadelholzstangen von 8-10 cm Dicke niederzureiten, nachdem er vorher ihre Wurzeln mit den Hörnern gelockert hat, aber weniger der Nahrung wegen, als vielmehr deshalb, weil die dabei entstehende Reibung ihm namentlich zur Zeit des Haarwechsels ein sehr angenehmes Gefühl verursacht. Die Esche scheint der Lieblingsbaum des Wisents zu sein, und er zieht ihre saftige Rinde jeder andern vor. Außerdem werden Pappeln, Weißbuchen, Ulmen und Ahorne mit Vorliebe geschält, von Gräsern und Kräutern werden namentlich Honiggras, Schmielengras, Farnkräuter, Huflattiche, Hahnenfußarten, Windhalm und kohlartige Kratzdistel gern genommen. Auf Felder tritt der Wisent niemals aus, tut also in dieser Beziehung gar keinen Schaden. Bei guter Sommerweide setzt er bis zum Herbst ziemlich Feist an und kann dann leichter durch die schlimme Winterzeit kommen. Sobald Schnee gefallen ist, treten Baumrinde und Flechten als Hauptnahrung in den Vordergrund, und nach Möglichkeit werden Gräser und Kräuter unter dem Schnee hervorgescharrt, wobei sich die Tiere aber oft mit Heidekraut begnügen müssen. Auch die im Sommer verschmähten Stechpalmen werden jetzt geäst, während der Kaukasus-Wisent Heu verschmäht, wurden die Wisente in Pleß und Bialowies im Winter regelmäßig mit bestem Heu gefüttert, daneben auch noch mit Kartoffeln und Roßkastanien. Der einen Baum schälende Wisent faßt die Rinde unten am Stamm und reißt sie, den Kopf aufwerfend, in langen Fetzen von unten nach oben los. Auch in Teichen gehen die Wisente ihrer Nahrung nach, um allerlei saftige Wasserpflanzen zu äsen. Ihr Trink- und Badebedürfnis ist groß, und etwa vorhandene Salzlecken werden leidenschaftlich gern besucht. Trifft der Wisent auf seinen Äsungsplätzen mit Rotwild zusammen, so nimmt dieses schleunigst Reißaus. In Pleß sind sogar mehrfach starke Keiler, die dem Wisent nicht aus dem Wege gehen wollten, von ihm zu Tode geforkelt worden.

Während des Winters stehen die Wisente in kleinen Rudeln von 4-20 Köpfen beisammen, die von einer alterfahrenen Leitkuh geführt werden, ihre Lieblingsplätze eifersüchtig festhalten und sich nicht unter andere Herden mischen. So gesellig wie der nordamerikanische Bison ist also der Wisent keinesfalls. Mit Beginn der schönen Jahreszeit sondern sich die Hauptstiere von der Herde ab und führen ein einsames Dasein, behalten aber meist einen jüngeren Stier als Freund und gewissermaßen als Aufpasser bei sich. Beim Austreten auf eine Wiese wird immer der Jungstier vorausgeschickt, damit er erst mit seinen scharfen Sinnen prüfe, ob irgendeine Gefahr droht. Erst die zu Ausgang des Sommers oder zu Beginn des Herbstes (im Kaukasus noch später) einsetzende Brunft macht diesem innigen Freundschaftsbund ein Ende. Der Hauptstier gesellt sich wieder zur Herde und wird zum gewalttätigen Haremspascha mit unberechenbaren Launen. Schnaubend und prustend vor Wohlbehagen trotten die zottigen Urwaldriesen einher, gierig nach dem Weib, aber auch jähzornig und angriffslustig. Bald wird ein großer Ameisenhaufen zu Spreu zerstampft, bald werden Fetzen von Moos und Erde durch die Luft geschleudert, bald wird eine Fichte entwurzelt und im Triumph auf die Hörner genommen. Die gütige Natur hat dem liebestollen Wisentbullen dieselben weibberauschenden Wohlgerüche verliehen, die der zweibeinige Salonlöwe sich erst für teueres Geld erwerben muß: den ganzen Wald durchduftet ein Bisamgeruch kräftigster Art, unverfälscht und gediegen. An alten Stämmen erprobt der Recke die Härte seines Dickschädels, bis ihm endlich auf einer Waldblöße ein wirklicher und ebenbürtiger Nebenbuhler entgegentritt, absatzweise mit gesenktem Kopf und hoch im Bogen erhobenen Schwanz heranziehend, von Zeit zu Zeit haltmachend und mit dem einen Vorderfuße stampfend und scharrend, mit den Hörnern Erde aufwühlend, Baumwurzeln und große Rindenstücke durch die Luft wirbelnd. Mit ingrimmigen, blutunterlaufenen und wutfunkelnden Lichtern messen sich die beiden, stürmen schließlich aufeinander los und stoßen nun krachend mit Stirnen und Hörnern zusammen; die Augen treten aus den Höhlen, die Zunge hängt geifernd aus dem Maule, Hufestampfen, Schweifpeitschen, Toben, neues Anrennen wechselt in rascher Folge mit kurzem Ausruhen, bis endlich der eine Dickschädel genug hat und sich mit schmerzendem Kopfe zurückzieht. Er darf froh sein, wenn seine Hörner noch festsitzen und die Augen unverletzt geblieben sind. Gar nicht selten wird ein Horn abgebrochen, oder der Stärkere rennt die spitze Waffe seinem Gegner in die Brust, so daß der Zweikampf tödlich endet. Häufiger noch als das ganze Horn geht bei solchen Kämpfen die Hornscheide verloren, so daß nur der kahle Zapfen übrig bleibt. Die Kühe stehen inzwischen in der Nähe und verfolgen den Streit mit weiblicher Neugierde. Dem Sieger wird der Lohn nicht versagt, oder er wird vielmehr von ihm, noch heiß vom Streit, im Sturme genommen. Wie hart ein solcher Wisentschädel ist, das kann man öfters auch in den Tiergärten sehen, wenn ein bösartiger Stier mit vollster Wucht gegen die mächtigen Eichenbalken und dicken Eisenstangen seines Gatters anprallt, daß das ganze Gehege in seinen Grundfesten erbebt und Zweifel an seiner Haltbarkeit hervorruft. Man meint, der Stierkopf müsse dabei in Trümmer gehen, aber es scheint ihn weiter gar nicht anzufechten, höchstens daß er einen tüchtigen Brummschädel davontragen mag.

Leider ist die Vermehrung des Wisents ziemlich schwach, weil das Tier erst im vierten Jahre erstmalig in die Brunft tritt. Gesunde und kräftige Kühe bringen jährlich ein Kalb, während kümmernde Stücke öfters pausieren. Bei solchen läßt auch die Milchergiebigkeit schon mit dem 12. Lebensjahre bedenklich nach, während gute Zuchtkühe noch im 20. Jahre ihr Kalb bequem großbringen. Ihre eigentliche »Rinderzeit« dauert nur zwei Tage, aber der Beschlag wird innerhalb dieser Frist sehr häufig wiederholt, und zwar erfolgt er in genau derselben Weise wie beim Hausrind. Trotzdem sind die in Pleß angestellten Kreuzungsversuche zwischen beiden nie geglückt. Obwohl man dazu immer Kühe von wisentartiger Farbe wählte, kümmerte sich doch der ihnen zugedachte Wisentbulle nicht im geringsten um sie. Dagegen wurde aus der Bialowieser Heide berichtet, daß einmal ein Wisentstier eine Hauskuh von der Weide bis zu ihrem Stall begleitete, zum nicht geringen Schrecken der Dorfbewohner. Die Trächtigkeitsdauer der Wisentkuh beträgt nach den Feststellungen der Tiergärten 270 bis 274 Tage, so daß das Kälbchen in der Regel im Mai geboren wird. Da aber die Rinderzeit großen individuellen Schwankungen unterliegt, kommen beträchtliche Verschiebungen vor. In Pleß wurde sogar nach Schmidt einmal ein Kalb im Dezember bei -18° gesetzt und kam dennoch hoch, weil die Mutter das vor Frost bebende Geschöpf zwischen die Vorderläufe nahm und mit ihrer langen Halsmähne bedeckte. Wohl nur einmal ist ein Mensch Zeuge des Geburtsvorganges im Freien gewesen, nämlich ein Waldarbeiter in Pleß. Als er über eine Wiese ging, sah er sich plötzlich einer Wisentkuh gegenüber, die ihn sofort annahm, so daß er schleunigst auf einen Baum klettern mußte und hier längere Zeit von dem erbosten Vieh belagert wurde. Endlich tat sich die Kuh nieder und setzte vor den erstaunten Augen des bedrängten Kletterkünstlers ein Kalb, das sie sorgfältig trocken leckte und mit dem sie dann im Walde verschwand. So ein wolliges Wisentkälbchen ist ein gar nettes, munteres, neck- und spiellustiges Geschöpf von fast ziegenartiger Behendigkeit. Es saugt fast ein volles Jahr an der Mutter, obwohl es schon sehr frühzeitig nebenbei auch Gräser und Kräuter aufnimmt. Die Kuh hängt mit rührender Liebe an ihrem Sprößling und lockt ihn durch ein schnarchendes Brummen, wobei auch in der größten Herde jedes Kalb die Stimme seiner Mutter herauskennt. Während die Wisentkühe des Kaukasus ihre Kälber gegen überlegene Feinde nicht verteidigen sollen, ist dies bei den litauischen zweifellos der Fall, und die Tiere entwickeln dabei viel Mut und Tapferkeit. Selbst den Menschen scheut die ein Kalb führende Wisentkuh nicht, und jeden Hund nimmt sie ohne weiteres an. Sucht dieser dann bei seinem Herrn Schutz, so kann auch für den Menschen die Lage recht brenzlig werden. Brehm erzählt, daß ein Wisentbulle im Tiergarten seinen Sprößling mit den Hörnern über das Gatter beförderte. Als man dann den rabiaten Vater abgesperrt hatte und das Kälbchen zur Mutter zurückbrachte, wurde es doch von dieser sofort getötet, wohl wegen des ihm durch Berührung der Wärter anhaftenden Menschengeruchs. Die niedlichen Kälbchen stehen in den Tiergärten ja so harmlos und friedfertig neben der bärtigen Mutter mit dem bösen Blick, daß man sich unwillkürlich versucht fühlt, sie zu streicheln und zu liebkosen; aber man unterläßt es doch wohlweislich, wenn man die Alte näher ins Auge faßt. Im Notfall drückt sich das Kalb flach auf die Erde, während die Alte sich darüber stellt und dem Gegner dräuend die Hörner weist.

Wirklich gefährlich können in freier Natur alte Bullen werden, wenn sie nach erfolgter Abtrennung von der Herde in mürrische Einzelgänger mit unberechenbaren Launen sich verwandeln. Man soll ja das Tier nicht vermenschlichen, aber trotzdem wird man von dem gärenden Wutzustand eines solchen abgeschlagenen Stiers nur dann eine richtige Vorstellung sich machen können, wenn man nach dem Vorgange unseres unvergeßlichen Hermann Löns in seine Seele sich hineinzuversetzen versucht. Bis zum Platzen ist der alte Kämpe mit grimmiger Wut geladen: Was! Er, der unumschränkte Herrscher des Rudels, er, der Pascha von 20 Muttertieren und Jungkühen, er, der Hundezertrampler und Wolf-in-die-Luft-Schmeißer, schmählich abgekämpft und mit Schmach und Schande in die Einsamkeit hinausgejagt von einem jüngeren Nebenbuhler?! Seine Wunden brennen, mit jedem Atemzuge saugt er Dutzende von Mücken ein und hustet sie ärgerlich wieder aus, und das alles steigert nur noch den in ihm kochenden Grimm. An irgend etwas muß er seine Wut auslassen. Da kommt ihm die süßliche Witterung des verhaßten Menschen in den Windfang. Nun, mit dem elenden Zweibeiner wenigstens wird er doch noch fertig werden! Zornig stürmt er auf ihn los, um ihm wollüstig die spitzen Hörner durch den Leib zu bohren, dann Fangball mit ihm zu spielen und ihn schließlich zu Brei zu zerstampfen. Deshalb wurden auch in Pleß und Bialowies immer die älteren Stiere abgeschossen, ehe sie zu bösartig und damit zu einer Gefahr für die ganze Umgebung wurden. Schon mit den jüngeren Stieren hatte man oftmals seine liebe Not. Oft kam es in Pleß vor, daß die Heufuhren der Bauern von Wisenten belagert wurden. Für solche Fälle hatten die Bauern strengen Befehl, ihr Heu einfach im Stich zu lassen, dessen Wert ihnen natürlich reichlich vergütet wurde. Einmal wurde das Pferd eines solchen Bauernwagens von Wisenten getötet, ein anderes Mal eine Reisig sammelnde Frau schwer verletzt, ebenso ein bei der Winterfütterung beschäftigter Parkwärter. Nicht selten versperrten Wisente Fuhrwerken und Reitern trotzig den Weg und wichen nicht von der Stelle, so daß den Menschen nichts übrig blieb als umzukehren. Nur ein schmetterndes Hornsignal oder entschlossenes Drauflosreiten vermochte die Wisente zum Ausweichen zu bewegen. Auch in Bialowies hatte sich ein Stier zum förmlichen Wegelagerer herausgebildet und stellte im Winter alle durch den Wald fahrenden Heuschlitten. Er forderte mit Ungestüm seinen Anteil und ließ sich nicht abweisen. Zeigte man ihm die Peitsche, so wies er dagegen seine Hörner und hob drohend den Schwanz. Wie Zimmermann berichtet, warf er einmal fremde Reisende, die sich nicht mit ihm abzufinden vermochten, samt Pferden und Schlitten in einen Graben. Grelle Farben mag auch der Wisent nicht leiden, und auffallend gekleidete Personen haben sich deshalb immer besonders vor ihm vorzusehen. Immerhin sind alle die erwähnten Fälle doch nur seltene Ausnahmen, denn im allgemeinen geht der Wisent dem Menschen scheu, wenn auch widerwillig aus dem Wege. Nur bei gutem Winde ist es möglich, sich bis auf 100 Schritt an eine Herde heranzuschleichen; bei schlechtem Winde ergreifen die Tiere schon auf 500 Schritt Entfernung die Flucht. Jüngere Wisente zeigen sich wesentlich munterer und gutmütiger als die mürrischen Alten; sie sind zwar auch nicht gerade sanft und friedfertig zu nennen, aber noch weniger bösartig. Erst mit fortschreitendem Alter werden sie zu reizbaren, übellaunigen, jähzornigen und jeder Tändelei gründlich abgeneigten Geschöpfen. Pferde zeigen furchtsamen Abscheu vor dem Wisent und gehen durch, wenn sie seine Witterung in die Nüstern bekommen.

Auf Jagden läßt sich der Wisent nicht gut treiben, da er gern nach rückwärts durchbricht. Die zum Abschuß bestimmten Stücke wurden deshalb in der Regel im eingestellten Jagen vor die Schützen gebracht. Wenn der Wisent nicht einen sehr guten Blattschuß erhält, müssen ihm ziemlich viele Kugeln gegeben werden, bis er zusammenbricht. Die Schützen selbst standen wohlweislich auf hohen Kanzeln, um vor den Angriffen angeschossener Stiere sicher zu sein. Aber noch im Mittelalter traten die Ritter dem Wisent mutig mit der Lanze entgegen, während das Volk auf den Wechseln Fanggruben anlegte und die hineingestürzten Tiere totschlug. Das Wildbret soll nach Güte und Geschmack die Mitte halten zwischen Rindfleisch und Hirschwildbret. In Polen galt es als Leckerbissen und wurde gern zu Geschenken an fürstliche Höfe verwendet. Die Haut wurde gewöhnlich zu Riemen und Strängen zerschnitten. Aus Hörnern und Hufen schnitzte man allerlei Gegenstände, denen der Aberglaube geheimnisvolle Kräfte zuschrieb. Unsere Vorfahren versahen die schön geschwungenen Hörner mit Silberbeschlag und benutzten sie als Trinkgeschirre, und im Kaukasus müssen sie hier und da noch heute die Weingläser ersetzen. Bei einem Gastmahl, das ein kaukasischer Fürst dem russischen General Rosen gab, dienten 50 bis 70 mit Silber ausgelegte Wisenthörner als Pokale. In unseren Tiergärten halten sich die Wisente bei sachkundiger Pflege vortrefflich und schreiten ohne Umstände zur Fortpflanzung, ohne daß sich jedoch auf dem beengten Raume ein eigentliches Familienleben entwickelt, weshalb der Stier von der trächtigen Kuh getrennt werden muß. Auch bleiben die Tiere immer störrisch, und selbst der Wärter hat sich vor ihren Launen zu hüten. Eine eigentliche Zähmung gelingt nur in den allerseltensten Fällen. Doch soll Graf Lazar 1740 in Hermannstadt in einem mit Wisenten bespannten Wagen zu den Sitzungen des Landtages gefahren sein. Er hatte die Tiere durch Vergoldung der Hörner und reiches Silbergeschirr stattlich herausputzen lassen, so daß das absonderliche Gespann allgemeine Bewunderung erregte. Der Hauptfeind des Wisents ist der Wolf. Zwar an ein zu geschlossener Abwehr bereit stehendes Wisentrudel wagt er sich kaum heran, und im Einzelkampf mit einem Wisent muß er stets unterliegen. Aber anders gestaltet sich die Sache, wenn eine ganze Rotte Wölfe Gelegenheit erhält, über einen vereinzelt stehenden Wisent herzufallen. Dann muß auch der stärkste Stier unterliegen. Von allen Seiten umringen ihn die heißhungrigen, leichtfüßigen Bestien, verbeißen sich in seinen Hinterläufen, in den Weichen und im Halse, während andere ihn von vorn beschäftigen, bis der Gemarterte schließlich, vom Blutverlust erschöpft, zusammenbricht und von der aufjauchzenden Schar seiner grimmigen Gegner bedeckt wird. Mit dem Bären nimmt der Wisent den Kampf entschlossen auf und bleibt dabei oft genug Sieger. Aber Dasselfliege, Leberegel, Rinderpest, Klauenseuche, Milzbrand und Räude sorgen schon dafür, daß sich der Wisentbestand nicht zu sehr vermehrt. Heute ist er ja ohnehin auf einen winzigen Rest zusammengeschmolzen, und unser lebhaftestes Bestreben muß dahin gehen, dieses herrliche Urwild in letzter Stunde vor der völligen Vernichtung zu bewahren.


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