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Wie wir schon gesehen haben, fliegen die Vögel auf dem Zuge nur wenige Stunden und verwenden die andere Hälfte ihrer Zeit zur Nahrungssuche und zum Ausruhen. Dies geschieht an den sogenannten Raststationen, die mit großer Zähigkeit festgehalten und alljährlich immer wieder aufgesucht werden, falls sie nicht etwa durch Abholzungen, Trockenlegungen und dergleichen tiefgreifende Änderungen erlitten und dadurch an Anziehungskraft für die Vögel verloren haben. Das ist ja gerade das wunderbare beim Vogelzug, daß er trotz seiner Vielseitigkeit und Mannigfaltigkeit durch so große Einfachheit und ständige Wiederholung bis in die kleinsten Einzelheiten hinein sich auszeichnet. Das geht so weit, daß selbst der Einzelwanderer immer wieder dieselben Rastplätze aufsucht und ebenso seine Nachkommen, ohne daß wir sagen könnten, woher diesen solche Kenntnis kommt. Ich ergriff einmal in einer verlassenen und zerfallenen Fischerhütte in der Dobrudscha Zur Zeit des Frühlingszuges eine dort am Tage ausruhende Nachtschwalbe, und die Fischer erzählten mir daraufhin freiwillig, daß in jedem Jahr um die gleiche Zeit dort immer eine Nachtschwalbe anzutreffen sei. Selbst Seltlinge habe ich wiederholt vom gleichen Baume heruntergeschossen, wo es sich also im zweiten und dritten Falle doch nicht mehr um den gleichen Vogel handeln konnte. – Die Raststationen werden sich naturgemäß an solchen Örtlichkeiten befinden, die zugleich dem Vogel recht bequeme und reichliche Nahrung bieten, damit er in seinem erschöpften Zustand nicht lange herumzusuchen braucht. Solche Plätze werden meistens an Flußufern, Teichen oder ähnlichen Örtlichkeiten liegen, weil sich hier eben die Nahrung besonders reichlich vorfindet. Und hier erscheint für den Beobachter große Vorsicht geboten, denn wenn er große Vogelscharen immer wieder an Flußläufen rastend findet, so kann er leicht zu der Meinung verleitet werden, daß die Vögel überhaupt an den Flüssen entlang ziehen, also sogenannte fluviatile Wanderer sind und das dazwischenliegende trockene Land nicht gern überfliegen. Manche der sogenannten Zugstraßen ist sicherlich auf dieser falschen Auslegung aufgebaut. Gerade bei uns in Mitteleuropa treffen ja die nordöstlichen Wanderer auf ihrem Zug gen Südwesten fortwährend auf Stromsysteme, die ihnen sehr willkommene und nahrungsreiche Rastgelegenheiten bieten. Aber es wäre falsch, daraus schließen zu wollen, daß sie an dem Strome entlang ziehen. Freilich gibt es auch das und gar nicht selten, aber es muß erst durch weitere Umstände erhärtet werden. Nicht immer können die Vögel sich wirklich geeignete und gute Rastplätze aussuchen, sondern es gibt auf ihrem Wege auch Strecken, auf denen es an solchen völlig mangelt, und dann sind die Reisenden gezwungen, auch an den unbequemsten und widernatürlichsten Örtlichkeiten vorübergehende Zuflucht zu suchen, um sich nur wenigstens auszuruhen, wenn auch Schmalhans dabei Küchenmeister ist. So wurden bei meinem Frühlingsaufenthalt in der ungarischen Tiefebene Feldlerchen tagelang zu förmlichen Sumpfvögeln, Zaun- und Dorngrasmücken zu Wipfelbewohnern in den höchsten Pappeln und Eichen, Dompfaffen sogar zu Rohrvögeln. Am Kaspischen Meer traf ich kleine Grasmücken in der völlig kahlen, von Sturmwinden durchblasenen Mugansteppe, wo weit und breit kein Strauch zu sehen war, und in den Steppen Südmarokkos, die teilweise schon Wüstencharakter zeigen, wimmelte es eines Morgens in meinem Zeltlager von Schilf- und Binsenrohrsängern, die ganz vertraut in unsere Zelte schlüpften und von den Brosamen meines Frühstücks naschten.
Den Begriff der »Paarungsstation« habe ich schon 1899 in die Wissenschaft einzuführen versucht, aber mein Vorschlag ist damals wenig beachtet worden, und doch gibt es zweifellos ganz ausgesprochene Paarungsstationen, und ich bin heute von der Sonderart dieser Stationen noch mehr überzeugt als früher, namentlich seitdem ich auch in der Dobrudscha diesbezügliche Beobachtungen anstellen konnte. Wer mit offenen Augen durch die Natur geht, der wird oft die Erfahrung machen, daß nordische Wandervögel auf ihrer Durchreise im Frühjahr längere Zeit, manchmal monatelang, an ihnen zusagenden Plätzen verweilen und sich daselbst ganz häuslich einzurichten beginnen. Sie sondern sich in Paare, führen ihre Liebesspiele auf und erkämpfen sich Reviere – kurz, sie gebärden sich ganz so, als ob sie brüten wollten, so daß auch der Forscher leicht zu der Annahme verleitet werden kann, sie seien in der betreffenden Gegend völlig heimisch. Aber plötzlich, zu schon sehr vorgerückter Jahreszeit, verschwinden sie doch und ziehen nun so schnell wie möglich ihren wahren Brutplätzen im Norden zu, wo sie dann sofort zum Nestbau und Eierlegen schreiten. Die von ihnen so lange belebte Gegend, in der sie alle Vorbereitungen zum Fortpflanzungsgeschäft trafen, war eben nichts als eine Paarungsstation. Diese werden hauptsächlich von solchen Arten gemacht, an deren nordischen Brutplätzen der Sommer so kurz ist, daß er ihnen nicht recht Zeit läßt für langwierige Balzspiele, für der Minne schmachtendes Hangen und Bangen. Jedenfalls darf die bisher arg vernachlässigte Wichtigkeit solcher Stationen, deren Vorhandensein kein aufmerksamer Beobachter leugnen wird, nicht unterschätzt werden. Aus individuellen Ursachen bleiben an solchen Paarungsstationen auch wohl vereinzelte Pärchen ausnahmsweise zurück und schreiten dann tatsächlich zur Fortpflanzung, weshalb die genaue Kenntnis der Paarungsstationen namentlich für den Faunisten von nicht geringem Wert sein dürfte. Hierher gehört z. B. das vereinzelte Brüten von Weindrosseln, Leinzeisigen, Bergfinken und Rauhfußbussarden in Norddeutschland. Da solche Beispiele Nachahmung finden können, so vermögen die Paarungsstationen wesentlich zur Erweiterung der Verbreitungsgrenzen einer Art beizutragen. Ich erinnere in dieser Beziehung an das regelmäßige Brutvorkommen des hochnordischen Zwergjägers in der Dobrudscha und der Sammetente auf transkaukasischen Seen. In beiden Fällen fehlen verbindende Zwischenbrutplätze völlig. Nach meinen Erfahrungen ist z. B. die Kurische Nehrung Paarungsstation für Regenbrachvogel, Eisente und Leinzeisig, die Dobrudscha für den Dünnschnäbeligen Brachvogel und den Rotkehlpieper, das Alföld für den Krammetsvogel. Wie leicht man durch solche Paarungsstationen getäuscht werden kann, geht daraus hervor, daß frühere Forscher übereinstimmend glaubten, Rotkehlpieper und Dünnschnäbeliger Brachvogel zählten zu den Brutvögeln der Dobrudscha, während dies in Wirklichkeit keineswegs der Fall ist.
»Hie Zugstraßen!« – »Hie Zug in breiter Front!« – so erschallt schon seit Jahrzehnten das Kampfgeschrei auf dem bereits arg zerstampften ornithologischen Turnierplatz. Beide Parteien haben recht, denn die einzelnen Vogelarten verhalten sich auch in dieser Beziehung ganz verschieden: bezeichnend ist es, daß solche Forscher, die ihren Wohnsitz und Beobachtungsplatz in weiten Ebenen haben, zumeist Anhänger der Frontwanderung sind, die in Gebirgsgegenden heimischen dagegen fast alle an das Vorhandensein bestimmter Zugstraßen glauben. Das gibt uns gleich den richtigen Wink. Nur darf man bei dem Begriff »Zugstraßen« nicht etwa an menschliche Fahrstraßen denken, sondern sie sind in der Regel Dutzende von Kilometern breit, ließen sich also eher mit den Anmarschstraßen oder Angriffsfronten großer Heeressäulen vergleichen, wie wir sie im Weltkriege gewohnt waren.
Allerdings gibt es Fälle, wo die Zugstraßen sich stark verengern, z. B. auf der zu beiden Seiten von großen Wasserflächen begrenzten und stellenweise nur einen halben Kilometer breiten Kurischen Nehrung. Die gefiederten Wanderer folgen hier streng dem Verlauf der langgestreckten Halbinsel, wodurch auch ihre scharf ausgeprägte Zugstraße entsprechende schmal wird. Ähnliches gilt für die Alpenpässe. Es gibt auch Vögel, die den größten Teil der Reise in breiter Front zurücklegen und erst bei der Überwindung oder Umgehung von Hochgebirgszügen, Wüsten und Meeren aus praktischen Gründen zu besonderen Zugstraßen sich bequemen. Gerade unseren europäischen Zugvögeln legt sich ja in Gestalt von Pyrenäen, Alpen, Balkan und Kaukasus ein mächtiger und nicht leicht zu bezwingender Querriegel zur Zugrichtung vor, der sich weiterhin durch das Mittelmeer und durch den afrikanischen Wüstengürtel in anderer Form wiederholt.
Zugstraßen nach Palmén
Für solche Arten, die derartige Hindernisse nicht zu überfliegen wagen, sondern sie vorsichtig auf Umwegen umgehen, wird dadurch die Front gespalten, und der Zugschatten der Alpen z. B. macht sich dann noch weithin geltend, bis nach Afrika hinein, und dasselbe gilt von der Sahara. Um einen richtigen Begriff vom Überfliegen des Mittelmeeres zu bekommen, muß man sich vergegenwärtigen, daß die Vögel im Pliozän und Diluvium keineswegs über ein offenes Meer zu ziehen brauchten, sondern ständig über festem Land bleiben konnten, da ja damals das Mittelmeer noch kein zusammenhängendes, mit den übrigen Ozeanen in Verbindung stehendes Wasserbecken bildete, sondern zwei große getrennte Binnenseen.
Als dann die heutigen Verhältnisse eintraten, war die Kenntnis dieses bequemen Weges schon so fest vererbt, daß die Vögel zähe daran festhielten, woraus sich die heutigen Zugstraßen ergaben. Aber der Zugschatten der Alpen bewirkt es, daß der Übergang Sizilien-Malta-Tripolis oder Sardinien-Tunis ungleich weniger beflogen wird, als die Meerenge von Gibraltar oder das Nildelta, zumal hinter Tunis und Tripolis gleich die große Sandwüste sich breit macht. In Tunis erscheinen eigentlich nur Singdrosseln, Turteltauben und Wachteln in großer Menge, und diese bleiben wohl größtenteils schon in Nordafrika. Dagegen wimmelt Ägypten im Herbst und Winter von Gästen oder Durchzüglern aus der Vogelwelt, da ja der Nil den bequemsten Zugang nach Innerafrika bildet. Doch bemerken wir bald, daß nur Vögel aus der östlichen Hälfte Europas im Pharaonenlande sich einstellen, z.B. nur Sprosser und keine Nachtigallen, nur die Rotsternigen Blaukehlchen aus Schweden, aber nicht die aus Norwegen, nur die östlichen Arten und Rassen der Rohrsänger, nicht die westlichen. Ebenso zieht der große Rauhfußbussard aus dem Ural im Winter nach der Dobrudscha und nicht etwa durch Mitteleuropa gen Südwesten. Umgekehrt treffen wir in Marokko ausschließlich westeuropäische Arten und Rassen, also echte Nachtigallen, norwegische Blaukehlchen, Binsenrohrsänger, englische und französische Formen. Die Rassenkunde hat uns hier ein unschätzbares und sicheres Hilfsmittel für die Erforschung des Vogelzuges und besonders der Zugstraßen an die Hand gegeben. Die Grenzscheide zwischen den nach Südwesten und den nach Südosten ausweichenden Zugvögeln verläuft bei vielen Arten etwa im Stromtal der Elbe oder der Weser, bei anderen in dem der Oder oder erst in dem der Weichsel, geht also mitten durch Deutschland hindurch.
Besonders klar konnten diese Verhältnisse beim Hausstorch aufgedeckt werden, denn schon Wüstneis prächtige Beobachtungen haben deutlich und zweifellos nachgewiesen, daß die westdeutschen Störche auf der Rhein- und Rhonestraße an der spanischen Küste nach der Meerenge von Gibraltar ziehen, also eine ausgesprochene südwestliche Richtung einschlagen, die ostdeutschen dagegen eine südöstliche oder noch weiter ostwärts eine fast rein südliche. In vollster Übereinstimmung hiermit sah ich große Storchenzüge im schlesischen Odertale, in der March-Beczwa-Oder-Furche, in der Ungarischen Tiefebene, im östlichen Rumänien und Bulgarien und wahre Unmassen von Adebars in Kleinasien, besonders in Zilizien und in Syrien. Daß der rotbestrumpfte Langbein in den Nilländern ein sehr häufiger Gast ist, davon singen und sagen ja schon unsere alten Kinderlieder, und daß das Hauptwinterquartier erst im südafrikanischen Steppengebiete sich befindet, wußten wir durch die dortigen Forscher auch schon längst. Der Beringungsversuch hat dann diese große Zugstraße bestätigt und einige noch vorhandene Lücken ausgefüllt, namentlich diejenige zwischen dem Nilquellengebiet und Südafrika. Viel weniger gut sind wir über den weiteren Verlauf der südwestlichen Zugstraße über Gibraltar hinaus unterrichtet.
Ich konnte sie zwar durch eigene Beobachtungen längs der Westküste Marokkos bis etwa zum 30. Breitengrade verlängern, aber dann klafft eine große Lücke bis zum Tschadsee, und wie diese überwunden wird, insbesondere die dazwischenliegenden Wüstenstrecken, darüber könnte man höchstens vage Vermutungen aussprechen, die vorläufig noch jeder tatsächlichen Grundlage entbehren.
Mit solcher Sicherheit und Bestimmtheit wie beim Storch kann man heute wohl noch bei keiner anderen Vogelart eine Zugskarte entwerfen, obwohl es vielfach geschieht. Man hat z. B. auch Krähen und Lachmöwen massenhaft beringt, aber beide sind eigentlich mehr Strich- als echte Zugvögel, und schon deshalb kann hier der Versuch nicht so klare und weitreichende Ergebnisse zeitigen. Immerhin ergab sich bei den Lachmöwen die interessante Tatsache, daß sie möglichst den Anschluß an eine Hauptstraße zu gewinnen suchen und dabei auch Umwege in scheinbar ganz verkehrter Richtung nicht scheuen. So ziehen manche binnendeutsche Möwen, deren Zug überhaupt stark auseinander strahlt, im Herbst zunächst den Rhein abwärts, also gen Norden, um erst einmal in Holland die Hauptstraße zu erreichen. Ähnlich war es bei meiner Heimatstadt Zeitz, wo die an Zugstraßen sich haltenden Arten im Herbst zunächst die Elster abwärts zogen, also nach Norden, um erst einmal Anschluß an das Elbetal zu erreichen, und im Frühjahr von dort aus kamen, also das letzte Stück ihres Weges südwärts flogen: gerade umgekehrt, als man erwarten sollte. Die in breiter Front ziehenden Arten dagegen flogen einfach südwestwärts. Auch in Württemberg suchen viele Arten zunächst einmal das Neckartal zu gewinnen, um dadurch den Schwarzwald, der von ihnen nicht gern überflogen wird, nördlich zu umgehen und in die große Zugstraße der Rheinebene zu gelangen. Ich habe den Versuch gemacht, diejenigen europäischen Zugstraßen, die wir nach dem heutigen Standpunkte der Vogelkunde einigermaßen sicher kennen, auf einem Kärtchen einzutragen, muß aber immer wieder ausdrücklich betonen, daß es sich bei allen Vogelzugskarten vorläufig immer nur eben um Versuche handeln kann, daß sie also stets cum grano salis zu nehmen sind und durch zukünftige Forschung wahrscheinlich mancherlei Richtigstellungen erleiden werden. Begründer der Zugstraßen-Theorie ist der berühmte finnische Forscher I. A. Palmén, der sich hauptsächlich auf das Vorkommen seltener nordischer Schwimmvögel zur Zugzeit stützte und bereits verschiedene Arten von Zugstraßen als marine, litorale, fluviatile usw. unterschied. Obgleich seine Begründung mancherlei Mängel aufwies und namentlich E. F. v. Homeyer heftig Sturm gegen ihn lief, hat sich der geistreiche Finnländer doch siegreich durchgesetzt, und heute leugnet wohl niemand mehr das Bestehen bestimmter Zugstraßen, die aber – wohlgemerkt! – nur für einen Teil unserer Vogelwelt Geltung haben. Besonders deutlich treten sie natürlich in Gebirgsgegenden hervor, wo sich die Vögel an die tiefer eingeschnittenen Pässe halten müssen, wie wir Menschen ja auch, und wo ihr Erscheinen oder Nichterscheinen das wirtschaftliche Wohlergehen ganzer Volksstämme in hohem Maße beeinflußt. Nicht umsonst errichten die italienischen Vogelmassenmörder ihre größten und erfolgreichsten Roccoli am Ausgang der Alpenpässe. Das hier beigegebene Kärtchen des im Vorjahr verstorbenen Schweizers Gustav v. Burg, der in der Erforschung der Zugverhältnisse in den Alpen seine Lebensaufgabe erblickte, ist auf Grund jahrzehntelanger unmittelbarer Beobachtung entworfen und gibt einen ganz anschaulichen Begriff, mag es auch in den Einzelheiten hier und da anfechtbar sein.
Selbst wenn man wie v. Burgs Landsmann und wissenschaftlicher Gegner Bretscher nach der Datenmethode arbeitet, kristallisieren sich doch beim Eintragen möglichst langjähriger Durchschnittsdaten der Ankunft im Frühling auf die Karte deutlich gewisse Zugstraßen heraus. Wir sehen auf dem Kärtchen von Südwestdeutschland, wie die ersten Bachstelzen im Rheintal auftauchen, also offenbar aus Westen oder Südwesten ankommen, und wie dann erst von hier aus etwas später die Hardt und die Vogesen besiedelt werden, wie die Vögel deutlich im Rhein-, Main- und Neckartal und etwas später im Donautal entlang ziehen und zuletzt im Fichtelgebirge, Bayrischen Wald und in den Voralpen wahrgenommen werden. Beigefügt sind weiter Versuche zu Zugskärtchen aus der Dobrudscha, die ich nach eigenen Beobachtungen entwerfen konnte, und vom Kaspi, wo ich die grundlegenden Forschungen des Altmeisters Gustau Radde bestätigt fand. Die westsibirischen Vögel halten zumeist eine streng nord-südliche Richtung inne, z. B. die dortigen Wachteln, während die Ostsibirier mehr nach Südosten abbiegen, um im südlichen China zu überwintern und zum Teil sogar über Japan nach der Inselwelt des Stillen Ozeans gelangen. Das tibetanische »Dach der Welt«, die gewaltigen Höhen der asiatischen Zentralmassive und die furchtbare Wüste Gobi werden nicht überflogen, sondern umgangen. In Nordamerika weist östlich der Felsengebirge die allgemeine Zugrichtung nach SO oder SSO, und die Wanderer gelangen schließlich über die Randländer des Golfes von Mexiko oder über die westindischen Inseln zur Nordküste Südamerikas, ziehen aber zum Teil bis in die gemäßigten La-Plata-Staaten hinunter. Westlich der großen Gebirgsscheiden finden wir hauptsächlich Küstenwanderer, also die litoralen Zugstraßen Palméns.
Außer der orohydrographischen Gestaltung der zu durchmessenden Länderstrecken kommen aber noch mancherlei andere Faktoren bei der Herausbildung von Zugstraßen in Betracht. Manche Arten, denen die bisherigen Verbreitungsgrenzen zu eng werden oder die verloren gegangene Gebiete wieder erobern möchten, stoßen in der Hitze des Frühlingszuges über die seitherigen Brutbezirke hinaus und versuchen sich weiter nördlich seßhaft zu machen. Hierher gehört es z. B., wenn unversehens einmal Bienenfresser in Hessen brüten, wenn ich zu meinem Erstaunen einmal bei Rossitten den Mittelmeersteinschmätzer erblickte, wenn ebenda einmal ein Steinrötel sich dreist auf den Zaun der Vogelwarte setzte und herabgeschossen wurde, wenn fast alljährlich Nachtreiher am Bodensee sich einstellen und wenn vor wenigen Jahren wieder einmal ein ganzer Schwarm Edelreiher in der Bartschniederung auftauchte und alle Anstalten zum Fortpflanzungsgeschäft traf. Leider werden alle solche Besiedlungsversuche, soweit es sich um größere oder farbenschöne oder angeblich schädliche Vögel handelt, regelmäßig vereitelt durch gewisse »Jäger«, die nichts Lebendes sehen können und es verlernt haben, sich an den köstlichen Gaben der Natur zu erfreuen, ohne gleich die Schrotspritze sprechen zu lassen. Nur kleinen oder unansehnlichen Vogelarten gelingt eine solche Erweiterung ihres Verbreitungsgebietes, und so haben z. B. in den letzten Jahrzehnten Girlitz, Hausrotschwanz, Bergstelze und Halsbandfliegenfänger ihre Grenzen bedeutend nach Norden vorgeschoben. Soweit sie Zugvögel sind, gehen sie dann aller Wahrscheinlichkeit nach im Herbst genau auf der Einwanderungslinie wieder rückwärts, womit ihnen also ihre Zugstraße vorgeschrieben ist. Nicht immer decken sich die Frühjahrszugstraßen mit denen des Herbstes, sondern öfters werden andere Wege eingeschlagen, wobei das Streben nach möglichster Abkürzung der Gesamtreisestrecke unverkennbar ist. Wo der Zug im Herbst erst von Ost nach West führt und dann fast rechtwinklig nach Süden umbiegt, wird im Lenz dieses Dreieck nicht ausgeflogen, sondern die Vögel ziehen auf seiner Hypotenuse. Dies gilt z. B. für die sibirischen Laubsänger, die im Herbst nach Helgoland kommen, sich aber im Frühjahr dort nicht wieder blicken lassen, weil sie dann quer durch Deutschland ziehen, wo sie natürlich nur durch einen besonders günstigen Zufall festgestellt werden können. Aber im allgemeinen wird doch nicht nur die Zeit, sondern auch der Raum beim Vogelzug mit erstaunlicher Regelmäßigkeit eingehalten. Es ist, als ob richtige, für die Vögel sichtbare Wege durch das wesenlose Luftmeer führten. Jeder erfahrene Jäger weiß ja, an welchen Stellen seines Reviers er auf Schnepfenstreich rechnen kann und wird sich deshalb immer wieder an denselben erfolgversprechenden Plätzen anstellen; jeder aufmerksame Spaziergänger wird bald dahinter kommen, daß die überwinternden Krähen bei ihren täglichen, oft ziemlich ausgedehnten Flügen von den Nahrungs- zu den Schlafplätzen und umgekehrt immer genau dieselben Luftstraßen einschlagen, und jeder Vogelschützer macht die Wahrnehmung, daß die Meisenschwärme im Spätherbst jeden Tag die gleiche Runde machen und mit Sicherheit zu einer bestimmten Stunde an einem ganz bestimmten Orte anzutreffen sind. Oft bleiben bei der gleichen Vogelart die weiter südlich wohnenden Stämme den Winter über in der Brutheimat zurück und werden von ihrer weiter nördlich siedelnden Sippschaft überflogen, nicht aber machen jene diesen Platz und räumen ihnen ihre Sitze ein, wie man vielfach fälschlich behauptet hat. Das Eintreffen im Frühjahr erfolgt keineswegs für alle Individuen derselben Art in einer Gegend gleichzeitig, sondern verteilt sich sprungförmig auf einen gewissen Zeitraum, der um so ausgedehnter ist, je frühzeitiger die durchschnittlichen Ankunftsdaten für solche Vögel liegen. Erst kommen die Vorposten, sogenannte »Spione«, die oft wieder verschwinden, nachdem sie sich kurz umgesehen haben, dann folgt die Hauptmasse, auch diese oft in mehreren Abteilungen, und endlich die Nachzügler. »Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer«, sagt sehr richtig das Sprichwort.
Herr Rechnungsrat Meyer befindet sich seit dem 1. April im Ruhestande und macht nun täglich, ehe er sich zu seinem Dämmerschoppen am Stammtisch im »Roten Löwen« begibt, seinen behaglichen Nachmittagsbummel durch die hübschen Anlagen des Städtchens nach dem nahen Buchenwäldchen, wobei er mit Vorliebe auf die Stimmen der gefiederten Sänger lauscht, denn er ist ein alter »Vogelnarr«, nebenbei gesagt eine der sympathischsten Klassen des im allgemeinen ziemlich ekligen Menschengeschlechts, heute am 24. April ist es besonders schön draußen. Den Äckern entsteigt der kräftige Geruch der umgepflügten Erdscholle, die Wiesen prangen in frischem Grün und sind von unzähligen bunten Blümlein durchstickt, die Obstbäume haben ihre schneeige Blütenpracht entfaltet, die weißleuchtenden Birkenstämme ihren zartgrünen Spitzenschleier übergeworfen, die bis zum Platzen angeschwollenen Buchenknospen warten nur darauf, vom nächsten Sonnenstrahl wachgeküßt zu werden Zu neuem Leben, das Buschwerk in Wald und Flur hat seine jungen Blätter entrollt, und von allen Zweigen, aus allen Hecken tönen die jauchzenden Frühlingshymnen der täglich um neu eintreffende Arten sich vergrößernden Vogelschar. Das Herz voll sonniger Lenzesstimmung ist Herr Meyer schon auf dem Heimwege begriffen. Leise senkt sich die Dämmerung hernieder. Der Weg führt an dem alten Wallgraben der ehemals freien Reichsstadt entlang, der jetzt von Gärten und Anlagen ausgefüllt ist. Plötzlich bleibt der alte Rechnungsrat wie verzückt stehen und hält lauschend die Hand an das schon etwas schwerhörig gewordene Ohr. Unendlich süße Töne schallen zu ihm herauf aus dem jungen Grün eines alten Fliederbusches, kunstvolle Läufe, jauchzende Triller, prachtvolle Kadenzen. Die Nachtigall ist wieder da! An diesem Tage ist der Herr Rechnungsrat erst mit erheblicher Verspätung an seinem Stammtisch erschienen. Die Freunde maulten, denn sie vermochten es nicht zu begreifen, daß man eines Vogelliedes wegen den geliebten Männerskat oder die Bierbankpolitik versäumen könne. Die Nachtigall aber sang unentwegt weiter, fast die ganze laue, vollmondüberflutete Frühlingsnacht hindurch. Auch die nächste und übernächste. Mit der Macht ihrer melodienreichen Kehle will sie sich durchaus das ersehnte Weibchen herbeizaubern. Wie das jauchzt und klagt, wie das trillert und flötet, wie das fleht und wirbt, bald in den zartesten Molltönen ersterbend, bald mit schmetternder Kraft schier gellend ausgestoßen! Es ist das Hohelied der Liebe! Und endlich – in der vierten Nacht –, da fliegt ein unscheinbar graues Vögelchen schon stundenlang einsam über Berg und Tal, über Feld und Wald dem Lichtschimmer des Städtchens zu. Als die sehnsüchtigen und wehmütigen Triller aus dem Fliederbusch an sein Ohr schlagen, da stutzt es, schwenkt um, läßt sich tiefer herab und fällt endlich im Nachbarbusch ein, bewillkommt von einer prachtvollen Jubelfanfare des harrenden Männchens. Sie haben sich wiedergefunden an der vorjährigen Stätte ihres Glückes nach der langen, gefahrvollen, getrennt vollführten Reise. Innig schmiegen sich die beiden Vögelchen auf ihrem Zweige aneinander. Brust an Brust verfallen sie nach durchwanderten oder durchsungenen Nächten in den tiefen, wohltuenden Schlaf völliger Ermattung. Sie träumen von Minne und Liebe, von Nestbau, Brüten und Kinderfüttern. Wonniges Glücksgefühl durchzittert die kleinen leidenschaftlichen Vogelherzen. Sind sie doch nach so viel Fährnissen endlich wieder vereint in der Heimat!