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Ich sprang mit einem Ausruf auf – Jifferdene starrte mich verwundert an.
Aber der alte schlaue Chinese lächelte. Er sah den Detektiv an und zur selben Zeit nickte er mit dem Kopf nach mir.
»Das Gedächtnis dieses jungen Herrn ist aufgefrischt worden«, sagte er ganz ruhig. »Er erinnert sich.«
»Ja«, sagte ich, »ich entsinne mich jetzt genau. Ich hätte nicht bestimmt behaupten können, daß der Mann so verunstaltet war, wie Sie es eben sagten, aber ich erinnere mich genau, daß ich in dem Augenblick, wo ich ihn sah, bemerkte, er sei irgendwie auf der linken Gesichtshälfte verunstaltet – eine Narbe oder irgend so etwas.«
»Es fehlt die untere Hälfte seines linken Ohrs«, wiederholte Herr Cheng. »Ein Schwertstreich.«
Jifferdene, der aufmerksam zugehört hatte, seufzte, ob aus Erleichterung oder Verwirrung, wußte ich nicht.
»Nun«, sagte er, »das engt den Kreis der Nachforschungen ein. Ein Chinese, der die untere Hälfte seines linken Ohrs eingebüßt hat, nicht wahr? So viele Ihrer Landsleute gibt es hier in London nicht, Mr. Cheng. Aber vielleicht könnten Sie mir noch einige Anhaltspunkte geben. Zum Beispiel – wie heißt der Mann?«
Mr. Chengs Gesichtsausdruck wurde sphinxähnlicher denn je.
»Jetzt«, antwortete er, »wird er einen andern Namen führen.«
»Selbstverständlich«, gab Jifferdene zu. »Ich möchte aber eine noch viel wichtigere Frage an Sie richten. Warum wollen Sie den Mann haben, Mr. Cheng?«
Dieser zwinkerte uns zu und sagte liebenswürdig: »Das erste wäre, ihn zu finden.«
Jifferdene begriff, daß er gegen eine Mauer anrannte. Er faltete seine Hände, drehte die Daumen und sah dabei den alten Chinesen unentwegt an.
»Ich hatte vor, das Chinesenviertel in Limehouse zu durchsuchen«, sagte er.
»Sie werden ihn dort nicht finden«, sagte Mr. Cheng. »Jeder Ort, den meine Landsleute in London aufzusuchen pflegen, ist von uns aus gründlich durchsucht worden.«
»Ja, wo steckt er denn aber?« fragte Jifferdene verzweifelt.
»Wahrscheinlich hält er sich bei einem oder mehreren von Ihren Landsleuten in London versteckt«, entgegnete der alte Herr. »Ich nehme an, er wird Komplicen haben. Es kann ja auch ein Komplice gewesen sein, der Holliment ermordet hat, er braucht es doch nicht unbedingt selbst getan zu haben.«
»Wenn ich nur wüßte, weswegen Holliment ermordet worden ist«, brummte Jifferdene. »Das war doch kein gewöhnlicher Raubmord, das steht doch fest, Holliment hatte eine goldne Uhr bei sich, die mindestens fünfzig Pfund wert war, sie lag auf der Straße neben ihm, und außerdem lag sein Geld verstreut umher. Was hat denn der Mörder bloß gesucht?«
Mr. Cheng lächelte liebenswürdiger denn je.
»Eine interessantere Frage ist doch: hat er, was er suchte, gefunden«, sagte er in sanftestem Tone.
»Angenommen, er hat es nicht gefunden, Mr. Cheng«, sagte Jifferdene.
»In dem Fall«, murmelte der alte Herr, »wird noch ein andrer Mord geschehen. Möglicherweise noch zwei, es können aber auch drei werden.«
Jifferdene starrte ihn an, Mr. Cheng erwiderte den Blick. Der Detektiv stand auf.
»Ich glaube, wir gehn lieber an die Arbeit«, sagte er. »Kommen Sie, Cranage. Vielen Dank, Mr. Cheng. Ich wünschte nur, Sie würden uns etwas mehr mitteilen.«
Der alte Herr sagte gar nichts. Er ging bis zur Zimmertür vor uns her, öffnete sie und entließ uns mit einer höflichen Verbeugung. Grade als ich hinausgehn wollte, ergriff er plötzlich meinen Arm und sagte:
»Sie sind noch sehr jung, seien Sie ja vorsichtig!«
»Bin ich denn in Gefahr, mein Herr?« fragte ich.
»Sie waren auf einer Seite des Fensters«, antwortete er und warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Auf der anderen Seite war ein Mann, der vor nichts zurückschreckt.«
Dann verbeugte er sich und schloß die Tür hinter uns; wir gingen hinunter und traten auf die Straße hinaus.
»Jifferdene, hören Sie mal zu«, sagte ich, sobald wir auf der Straße standen. »Ich hab' den ganzen Kram satt, und ich hoffe, Sie brauchen mich nicht mehr. Diese ganze Atmosphäre von Mord und Totschlag behagt mir nicht. Ich möchte gern nach Hause fahren.«
»Das würde nur bedeuten, daß Sie morgen oder übermorgen wieder herkommen müßten«, antwortete er ruhig.
»Warum?« verlangte ich zu wissen.
»Wegen der gerichtlichen Untersuchung über Holliments Todesursache«, antwortete er.
»Was habe ich mit der Untersuchung zu tun?« fragte ich.
»Sie sind einer der wichtigsten Zeugen«, antwortete er. »Wir brauchen Ihre Aussage über den Vorfall in Portsmouth. Darum müssen Sie eben ein oder zwei Tage hierbleiben. Aber machen Sie sich keine Sorgen, tagsüber werde ich bei Ihnen sein, und es ist höchst unwahrscheinlich, daß Ihnen in einem guten Hotel während der Nacht etwas zustoßen sollte.«
»Die Geschichte ist aber höchst unangenehm!« rief ich aus. »Was meinte nur der alte Chinese zuletzt?«
»Ich nehme an, er wollte damit sagen, daß der Kerl mit dem verunstalteten Ohr hinter irgend etwas her ist, das Holliment besaß, und daß er oder seine Komplicen, um diesen Gegenstand zu erlangen, jedem, der mit Holliment zu tun gehabt hat, auflauern werden«, sagte er trocken. »Das wollte er wohl damit sagen.«
»Dann bin ich ja in Gefahr!« sagte ich. »Selbstverständlich weiß er, daß ich mit Holliment etwas zu tun hatte – wenn auch nur vorübergehend –«
»Haben Sie keine Angst«, gab er zurück. »Ich werde auf Sie aufpassen. Sie sind hier in London und in meiner Gesellschaft viel sicherer aufgehoben als in Renardsmere. Nun denken Sie nicht mehr daran, Mr. Cranage. Wir fahren jetzt nach der Polizeiwache in Paddington und wollen mal sehen, ob man dort irgend etwas über die Geschichte von gestern abend erfahren hat, denn eigentlich müßte das doch der Fall sein!«
Wir fuhren hin. Als wir eintraten, eilte ein Beamter freudig auf meinen Begleiter zu.
»Ich wollte Sie grade anrufen«, sagte er. »Ich habe etwas über den Ermordeten erfahren, dessen Identität wir nicht genau feststellen konnten.«
»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen«, bemerkte Jifferdene. »Dieser Herr hier hat ihn identifiziert. Wie ich schon annahm, ist er der Holliment aus Portsmouth. Was haben Sie über ihn in Erfahrung gebracht?«
»Nun, wir haben in dem Bezirk Maida Vale den ganzen Tag nachgeforscht, und endlich kam ich diesen Nachmittag auf eine Spur. Ein Mann, auf den die Beschreibung paßt, ist gestern nacht noch spät mit einem andern Mann im Warrington-Hotel gesehn worden. Ich wollte grade hingehn und sehn, ob man dort noch mehr erfahren könnte. Es wäre besser, Sie gingen gleich mit.«
»Solange die Möglichkeit besteht, etwas zu erfahren …« begann Jifferdene.
»Wir werden schon etwas in Erfahrung bringen«, unterbrach ihn der Beamte. »Sobald ich das gehört hatte, habe ich einen Kollegen hingeschickt, der mit dem Hotelbesitzer zur Totenhalle gehn sollte; vielleicht kann dieser in ihm den Besucher von gestern abend wiedererkennen. Er muß jetzt wieder im Hotel zurück sein. Mir liegt nicht soviel daran, über den Toten etwas zu erfahren, als über seinen Begleiter. Das ist eine Spur, die man sofort verfolgen kann.«
»Dann wollen wir auch gleich losgehn«, sagte Jifferdene. »Kommen Sie nur, Mr. Cranage, Sie sind sowieso mit hineinverwickelt. Es ist natürlich nicht so schön wie eine Fuchsjagd«, fügte er hinzu, als wir in eine Autodroschke einstiegen, »aber immerhin, eine gewisse Spannung ist dabei.«
Ich fing jetzt auch an, das Spannende zu empfinden. Es war doch auch eine Jagd. Die Jagd nach einem Mann unter sieben Millionen Einwohnern.
»Ich nehme an, Sie müssen in solchen Fällen aus den geringsten Anzeichen Schlüsse ziehen können«, sagte ich, als wir abfuhren. »Es ist wohl einem mathematischen Problem sehr ähnlich.«
»Ja aber wie ein Zusammenlegerätsel«, bemerkte Jifferdene. »Und manchmal ist es sehr schwer, die einzelnen Stücke aneinanderzufügen. Ist es nicht so, Birkem?«
»Meiner Treu, ja!« sagte Birkem. »Dies scheint auch hier der Fall zu sein. Warum ist Holliment erstochen worden? Auf jeden Fall nicht, um ihn auszuplündern.«
»Ah«, bemerkte Jifferdene, »bei so einem Fall ist man viel auf Mutmaßung angewiesen. Aber jetzt hoffe ich, etwas Bestimmtes zu erfahren. Hoffentlich hat der Hotelwirt ein gutes Gedächtnis.«
»Na ja, es gibt Gedächtnisse und Gedächtnisse«, bemerkte Birkem. »Das schlimmste ist, wenn die Leute anfangen, die Tatsachen mit ihrer Phantasie auszuschmücken. Aber das brauchen wir hier nicht zu befürchten. Der Wirt – ich kenne ihn ein wenig – wird uns alles genau so erzählen, wie es war.«
»Ein nüchtern denkender Mann, nicht wahr?« fragte Jifferdene.
»Ja, vollkommen«, antwortete Birkem. »Er wird uns das sagen, was er gesehn und was er gehört hat, und nichts hinzu dichten.«
Der Hotelwirt mußte schon die Polizei erwartet haben, denn in dem Augenblick, da wir ankamen, kam er heraus, führte uns in ein Privatzimmer und setzte sich zu uns. Er fing sofort über den Fall zu reden an.
»Ja«, sagte er und faltete seine Hände auf dem Tisch und sah uns der Reihe nach an, »ich bin drüben in der Totenhalle gewesen.«
»Und?« fragte Birkem.
»Das ist der Mann, der gestern abend hier war.«
»Sind Sie dessen auch ganz sicher?«
»Todsicher. Er kam gestern abend um halb elf in unsre Bar und blieb fast bis zur Polizeistunde.«
»Er war in Gesellschaft eines andern Mannes?« fragte Birkem.
»Ja, eines jüngeren Mannes, sehr gut angezogen, sogar fast geckenhaft.«
Ich mußte mich zusammennehmen, um mir nichts anmerken zu lassen. Der jüngere mußte Neamore gewesen sein. Aber ich wollte nichts sagen, jedenfalls jetzt noch nichts.
»Haben Sie schon früher einen oder den anderen gesehn?« fragte Jifferdene.
»Niemals! Vielleicht fielen sie mir eben darum auf. Zufällig bediente ich grade an dem Teil der Bar, an dem sie standen, und ich sah sie mir beide gut an. Dann gab es noch einen Grund, warum sie mir auffielen – sie bestellten eine Flasche Sekt.«
»Und sie tranken sie natürlich auch«, sagte Birkem.
»Gewiß! Es war eine meiner besten Marken. Sie tranken die Flasche gleich an der Bar. Ich konnte ihre Unterhaltung mit anhören.«
»Über was unterhielten sie sich denn?« fragte Jifferdene.
»Über die Aussichten, die Lady Renardsmeres Stute Rippling Ruby beim Derby hat«, antwortete der Hotelwirt. »Der Jüngere schien gut Bescheid zu wissen.«
»Nun«, sagte Jifferdene nach einer Pause, »was geschah dann?«
»Sie tranken die Flasche aus, dann sah der ältere Mann – den ich vorhin identifiziert habe – nach der Uhr und sagte: ›Wir haben noch viel Zeit, wir wollen noch eine Flasche trinken.‹ So ließen sie sich dieselbe Marke noch einmal kommen, und als ich die Flasche für sie geöffnet hatte, nahmen sie diese und ihre Gläser in eine Nische des Barzimmers und setzten sich dorthin.«
»Waren sie nüchtern?« fragte Birkem.
»Ja, nüchtern und ruhig, und sie benahmen sich tadellos«, sagte der Wirt. »Es waren überhaupt höfliche, gut erzogene Menschen. Ich hielt sie für Buchmacher oder ähnliches.«
»Sie unterhielten sich hier also einige Zeit?« fragte Jifferdene.
»Ja, sie unterhielten sich ruhig bei ihrem Sekt so ungefähr bis zehn Minuten vor der Polizeistunde. Dann zündeten sie sich Zigarren an, und als sie hinausgingen, kam noch der jüngere zu mir an die Bar und fragte mich, wo die Delaware Road wäre. Ich ging noch mit ihnen vor die Tür und beschrieb ihnen den Weg – es ist nicht sehr weit von hier. Sie verabschiedeten sich von mir und gingen nach der Richtung weiter.«
»Zusammen?« fragte Jifferdene.
»Zusammen«, antwortete der Wirt.
Wir verließen gleich darauf das Hotel und gingen ebenfalls auf die Delaware Road zu, die, wie es sich herausstellte, nur ein oder zwei Straßen entfernt lag. Sie war für die ganze Gegend typisch. Sie machte einen ruhigen vornehmen Eindruck; kleine gutgebaute Einfamilienhäuser, umgeben von Gärten, lagen an ihr. Daß hier Verbrechen begangen werden konnten, schien ganz unmöglich. Und doch, wie Jifferdene bemerkte, waren hier spät in der gestrigen Nacht die beiden Männer entlang gegangen, und nicht drei Minuten von hier wurde der eine, ungefähr zwei Stunden später, bei dem Kanal ermordet.
»Sie werden in dieser Gegend genau nachforschen müssen, Birkem«, bemerkte Jifferdene, als wir an einer Straßenecke standen und uns umsahen. »Holliment und der andre gingen hier entlang, um jemand aufzusuchen. Wer ist dieser Jemand?«
Birkem überflog mit einem prüfenden Blick die Nachbarschaft.
»An dieser Straße liegen nicht soviel Häuser«, sagte er, »und jedes einzelne sieht so aus, als ob sein Besitzer wohlhabend sei. Die Gegend sieht gut bürgerlich aus. Ich kann ja die Namen jedes Einwohners aus dem Adreßbuch ersehen und auch bei jedem vorsprechen. Aber wenn die beiden irgend jemand hier besuchten, so ist es höchst unwahrscheinlich, daß dieser das zugeben wird.«
»Sie werden eben mal Ihr Glück versuchen müssen«, meinte Jifferdene. »Der Gastwirt erzählte uns, daß die beiden sich über Pferderennen unterhielten. Finden Sie heraus, ob irgend jemand hier lebt, der in irgendeiner Weise mit Pferderennen zu tun hat. Sie können vielleicht so auf eine Spur kommen … Was ist denn los, Mr. Cranage?«
Ich hatte nämlich vor Überraschung aufgeschrien und fuchtelte mit den Händen umher, so daß meine Begleiter sicherlich denken mußten, ich wäre verrückt geworden. Eine Autodroschke war in ziemlicher Geschwindigkeit in Warrington Crescent eingebogen und fuhr in vollem Tempo auf Edgware Road zu, man konnte bereits jetzt das Nummernschild nicht erkennen. Ich hatte aber trotzdem den Fahrgast noch grade erkennen können: Quartervayne!
»Das Auto!« rief ich aus. »Quartervayne ist da drin, Quartervayne! Der Mann, der mich zu Holliment schickte. Schnell! können wir nicht hinterher fahren?«
»Da hier nirgends eine Autodroschke zu sehen ist, ist es unmöglich«, sagte Jifferdene. »Sind Sie sich aber auch ganz sicher?«
»Todsicher!« entgegnete ich ihm aufgeregt. »Ich sah ihn ganz deutlich. So wahr ich hier vor Ihnen stehe, es war Quartervayne. Wenn wir ihn doch nur hätten anhalten können.«
»Ja, er hätte uns nützen können«, antwortete Jifferdene kopfschüttelnd. »Wir haben ihn aber jetzt aus den Augen verloren. Hm, angenommen, er sei der Mann, den die beiden gestern abend aufsuchen wollten. Da wir, vielmehr Sie, ihn hier gesehn haben, kann er möglicherweise hierherum wohnen. Geben Sie doch Birkem eine genaue Beschreibung von ihm.«
Ich beschrieb Quartervayne, so gut ich es nur irgendwie konnte, dann trennten Jifferdene und ich uns von Birkem. Für einen Augenblick war ich nahe daran, meinem Begleiter von Neamore zu erzählen, da ich überzeugt war, daß er es gewesen sein mußte, der gestern abend mit Holliment im Warrington-Hotel gewesen war, und daß er mit ihm nach der Delaware Road gegangen war. Aber ich überlegte es mir doch anders und beschloß, bevor ich Lady Renardsmere nicht gesehn hatte, nichts zu sagen. Holliment, Quartervayne, Neamore und Lady Renardsmere waren ein zu merkwürdiges Kleeblatt – ich konnte mir das nicht zusammenreimen.
»Mr. Cranage«, sagte Jifferdene plötzlich und unterbrach damit meinen Gedankengang. »Der Nachmittag ist noch nicht vorbei, wir wollen einmal zur chinesischen Gesandtschaft in Portland Place gehn. Ich möchte eine kurze Unterredung mit Mr. Shen haben – er ist derjenige, der mit uns nach Renardsmere kam. Wenn die alte Mumie im Langham uns nichts sagen will, vielleicht wird es Mr. Shen im Hinblick auf Holliments Ermordung tun.«
Wir gingen nach Portland Place. Mr. Shen empfing uns. Er war liebenswürdig und zuvorkommend und hörte aufmerksam zu, aber aus ihm war auch nichts herauszubekommen. Er gab Jifferdene recht, daß Holliment durch den Chinesen, dessen Gesicht ich durch das Fenster gesehn hatte, erstochen worden sei, und daß dieser auch der Mann sei, den Mr. Cheng ermittelt haben wollte. Er gab das alles zu, aber von sich aus teilte er nichts mit.
»Nun, Mr. Shen«, sagte Jifferdene bittend, »können Sie mir nicht sagen, worum es sich handelt? Warum will Mr. Cheng diesen Kerl, dessen Namen er uns nicht angibt, ermittelt haben?«
Herr Shen wurde noch liebenswürdiger.
»Hauptsache«, sagte er, »ist ihn zu finden.«
Jifferdene machte eine ungeduldige Handbewegung. »Ganz recht«, sagte er. »Aber ich möchte Sie etwas fragen. Ihnen stehen ganz andere Mittel und Wege zur Verfügung als uns – haben Sie ihn hier in London, in den Stadtvierteln, wo Ihre Landsleute leben, suchen lassen? So, Sie haben das getan? Haben Sie da irgendeine Spur von ihm gefunden?«
»Nein«, antwortete Mr. Shen. »Nicht die geringste Spur. Und dabei ist er verunstaltet, er müßte also auffallen.«
»Aber wo zum Kuckuck steckt er dann?« rief Jifferdene. »Ein Chinese! Die Hälfte seines linken Ohrs fehlt, und dabei nicht zu fassen – – –«
»Ich glaube«, unterbrach Mr. Shen ruhig, »er hält sich bei englischen Komplicen versteckt.«
»Ich wette, daß er gestern abend aus seinem Versteck hervorgekommen ist. Ich möchte darauf wetten, daß er Holliment umgebracht hat.«
»Ja«, gab Mr. Shen zu und lächelte höflich durch seine Brillengläser. »Und ich nehme auch an, er wird noch jemand umbringen. Vielleicht fassen Sie ihn dann.«
Jifferdene starrte ihn an und stand dann auf.
»Wird Mr. Cheng mir angeben, warum er diesen Mann festgenommen haben will?« fragte er. »Noch einfacher! Kennen Sie den Grund? Sagen Sie ihn mir doch!«
»Hm«, meinte Mr. Shen ausweichend. »Den weiß ich auch nicht. Aber Sie besuchen mich hoffentlich doch mal wieder!«
Daraufhin gingen wir fort, und Jifferdene fluchte unaufhörlich, als wir Portland Place entlang gingen. Vielleicht hatte ihn dies erleichtert, jedenfalls beschäftigte er sich dann mit mir. Nachdem ich mit Jifferdene besprochen hatte, wo ich die Nacht über bleiben sollte, entschloß ich mich, im Howard-Hotel in Norfolk Street ein Zimmer zu nehmen und meiner persönlichen Sicherheit wegen nicht mehr auszugehn. Sobald ich mich von Jifferdene verabschiedet hatte, ging ich hin, aß gemächlich zu Abend und spielte noch etwas Billard mit einem Hotelgast, und um elf Uhr ging ich auf mein Zimmer. Ich war grade dabei, mich auszuziehn, als ein Hotelpage mir mit dem Bemerken, der Schreiber warte unten, einen Zettel überreichte. Der Zettel war ein zerknülltes Stück Papier, auf dem zwei in aller Eile mit Bleistift geschriebene Worte standen: ›Pier, Portsmouth.‹
Ich ging sofort hinunter; in einer etwas dunklen Ecke der Halle stand – Quartervayne!