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Nach Solowjows mißlungenem Zarenattentat vom 2. April 1879 forderten Plechanow und Popow Malik-Verlag, Berlin 1926. die Einberufung eines allgemeinen Kongresses unseres Bundes »Land und Freiheit«, auf dem der Streit zwischen der alten und der neuen, der terroristischen Strömung entschieden werden sollte. Der Verband sollte beschließen, ob er am alten Programm festhalten oder den Neuerungen im Sinne der Vertreter des politischen Terrors zustimmen wolle.
Nach der Entscheidung sollte sich dann die Minderheit dem Beschluß der Mehrheit unterwerfen oder, um Ausschlüsse zu vermeiden, aus dem Verband ausscheiden.
Die Stimmung in der Provinz war in Petersburg wenig bekannt. Popow glaubte, sie sei seinen Anschauungen günstig, und das beunruhigte jene, die den neuen Standpunkt vertraten. Um nicht überrumpelt zu werden, hieß es Maßnahmen treffen und sich die Möglichkeit sichern, den politischen Terror selbst im Falle eines Bruches mit den bisherigen Genossen fortzusetzen. Damals entstand die Gruppe, die später den Kern des »Vollzugskomitees« der Partei »Narodnaja-Wolja« (»Volks-Freiheit«) bilden sollte. Kwatkowski, Michailow, Morosow, Oschanina, Tichomirow und Barannikow organisierten sich innerhalb des Bundes »Land und Freiheit« als Sondergruppe, von der die übrigen Mitglieder nichts wußten, und begannen heimlich Anhänger zu werben.
Deren gab es in Petersburg nicht wenig: bald entstand um Michailow und Kwatkowski ein Geheimzirkel, dem die illegalen Genossen Kibaltschitsch, A. Jakimowa, Sofja Iwanowa, die Studenten Issajew und Arontschik, das Ehepaar A. und der aus dem Auslande zurückgekehrte Stepan Schirajew beitraten.
Das Programm des Zirkels erkannte den politischen Terror als Notwendigkeit an, seine selbstbewußte Losung war: »Sieg oder Tod«.
Schon Ossinski hatte gemeinsam mit einigen anderen Kiewer Terroristen seinerzeit die Bezeichnung »Vollzugskomitee« in den Proklamationen angewandt, die sie (anläßlich ihrer aus eigener Initiative, auf eigene Gefahr ausgeführten politischen Terrorakte) herausgaben. Dem Beispiel Ossinskis folgten seine Gesinnungsgenossen in Petersburg, und das Blatt, das als Beilage zum Hauptblatt der »Semlja und Wolja« erschien, war gezeichnet: »Das Vollzugskomitee«. Das Blatt erschien meist, wenn das Hauptblatt sich aus irgendwelchen Gründen verspätete. Darin erschienen im Namen des Vollzugskomitees von Zeit zu Zeit Informationen über Spitzel und Provokateure. Dies Material lieferte Genosse Kletotschnikow, der mit Einwilligung Michailows und seiner Freunde im Januar 1879 als Beamter in die zaristische Geheimpolizei eingetreten war.
Die Bezeichnung Vollzugskomitee wurde gebräuchlicher, und die Sondergruppe Kwatkowskis machte sich diesen populär gewordenen Namen endgültig zu eigen.
Mit Hilfe Sundelewitschs verschaffte sich das Komitee eine genügende Menge Schriftmaterial, um nötigenfalls eine eigene Druckerei zu haben. In Kibaltschitsch hatte man den Mann gefunden, der nicht nur die nötigen theoretischen Kenntnisse zur Selbstherstellung von Dynamit besaß, sondern auch schon Laboratoriumsversuche in dieser Richtung unternommen hatte. Bald wurde auch ein Laboratorium zwecks Herstellung von Nitroglyzerin und Dynamit eingerichtet, das man zur Ausführung der zukünftigen Pläne brauchte. An der Spitze des Laboratoriums stand Kibaltschitsch als Chemiker, als technische Arbeiter wurden Schirajew, Issajew und Jakimowa hinzugezogen. Letztere war gleichzeitig Inhaberin der ›konspirativen Wohnung‹, wo die Arbeit vor sich ging.
In diesem primitiv eingerichteten, improvisierten Laboratorium, in steter Gefahr, entdeckt zu werden oder mit dem ganzen Hause in die Luft zu fliegen, stellten diese kühnen Genossen für den Sommer 1879 einige Zentner Dynamit her, ohne jede Schulung hierzu, als Laien experimentierend, jede Minute dem Tode gegenüber.
Die Mitglieder des Vollzugskomitees beschlossen, den Ausgang des einzuberufenden »Land- und Freiheit«-Kongresses im voraus zu bestimmen, indem sie die Gleichgesinnten zu einer geheimen Separatkonferenz einluden. Der Kongreß sollte am 24. Juni in Woronesch zusammentreten, die Separatkonferenz fand einige Tage früher in dem benachbarten Kurort Lipezk statt. Außer alten Mitgliedern von »Land und Freiheit« wurden aus dem Süden hervorragende Revolutionäre hinzugezogen, die »Land und Freiheit« nicht angehörten: Kolodkewitsch aus Kiew, Scheljabow aus Odessa und der im Süden allbekannte Frolenko. Frolenko hatte Stefanowitsch, Deutsch und Bochanowski in Kiew und Kostjurin in Odessa aus dem Gefängnis befreit; hatte sich beteiligt an dem Versuch, Woinaralski bei Charkow zu befreien, sowie an der Unterminierung der Regierungskasse in Cherson, die gelang und wo – eineinhalb Millionen Rubel geraubt wurden.
Die versammelten 11–12 Menschen schlossen sich zu einer Gruppe zusammen, nahmen das von Morosow verfaßte Statut an, in dem als Ziel der Organisation die Niederwerfung des Selbstherrschertums und die Eroberung politischer Freiheiten, als Mittel aber bewaffneter Kampf gegen die Regierung ausgesprochen wurde.
Nach rascher Erledigung der programmatischen Punkte begaben sich die Mitglieder, die »Land und Freiheit« angehörten, nach Woronesch, und ließen die Genossen aus dem Süden und Schirajew in Lipezk zurück, um sie zunächst in Woronesch als Mitglieder der Gesellschaft vorzuschlagen und sie dann zur gemeinsamen Tagung zu laden. Die oben genannten altbewährten Kandidaten Frolenko, Scheljabow, Kolodkewitsch wurden ohne Einwendung sofort aufgenommen; ebenso Stepan Schirajew, der von denen, die ihn von Petersburg her kannten, wärmstens empfohlen wurde. Sie erschienen auf der Haupttagung und stärkten dadurch den linken Flügel der Versammlung. Andererseits fanden damals die sich noch im Ausland aufhaltenden Stefanowitsch, Sassulitsch, Deutsch und Bochanowski Aufnahme. Nach der Ankunft der drei ersteren erwies es sich, daß sie auf Seiten Plechanows standen.
Theoretische Differenzen, persönliche Gereiztheit und gegenseitiges Mißtrauen, Befürchtungen auf beiden Seiten, daß die Gegner die Oberhand gewinnen könnten, daß Mitglieder eines doppelt geheimen, kleinen Zirkels innerhalb der größeren Geheim-Gesellschaft anwesend sein könnten, steigerten angesichts des drohenden Konflikts die allgemeine Spannung. Nach der Eröffnung des Kongresses aber erwies es sich, daß die Beziehungen zwischen den Delegierten der Hauptstadt und der Provinzen lange nicht so gespannt waren, wie man das nach den stürmischen Zusammenstößen in Petersburg annehmen durfte. Alle wollten die Einigkeit der Organisation retten, alle fürchteten den Verlust von Kräften infolge einer Spaltung.
Das Programm der »Semlja i Wolja«, abgefaßt in sehr allgemeinen Ausdrücken, ließ beiden Seiten die Möglichkeit, es zu ihren Gunsten auszulegen. Nach einer Debatte ließ man das Programm sowie das Statut »Land und Freiheit« unverändert. Man beschloß, die Propagandatätigkeit unter dem Volke fortzuführen, aber den Agrarterror hinzuzufügen. Daneben sollte in der Stadt der terroristische Kampf – auch gegen den Zaren – fortgeführt werden. Das Organ »Land und Freiheit«, mit seinem Beiblatt, wurde weitergeführt.
Die Lipezker Sondergruppe nutzte den Kongreß dazu aus, die Stellungnahme der einzelnen Mitglieder näher kennen zu lernen, um sie im Falle einer künftigen Parteispaltung wenn irgend möglich zu sich herüberzuziehen. So versuchte mein alter Freund Morosow mich in Woronesch für seine Geheimgruppe zu gewinnen; ich bestritt entschieden die Notwendigkeit und die Zulässigkeit der Formierung einer geheimen Gesellschaft innerhalb einer Geheimorganisation.
Eine Frage, die Scheljabow auf dem Woronescher Kongreß gelegentlich der Besprechung des Agrarterrors aufgerollt hat, scheint mir erwähnenswert. »Auf wen gedenkt sich die revolutionäre Partei zu stützen?« fragte er. »Auf das Volk oder auf die liberale Bourgeoisie, die mit der Niederwerfung des Selbstherrschertums und der Einführung der politischen Freiheit sympathisiert? Im ersten Falle sei auch der Agrar- und Fabrikterror am Platze. Wollen wir uns dagegen auf die Industriellen, auf die Vertreter der ländlichen und städtischen Selbstverwaltung stützen, so würde die terroristische Politik diese natürlichen Bundesgenossen von uns abstoßen. Und er wies darauf hin, daß es in Südrußland manche Männer im Bürgertum gebe, die angesichts der gemeinsamen politischen Ziele Beziehungen zur revolutionären Partei suchten.
So hatte Ossinski, der damals schon hingerichtet war, in Kiew ziemlich umfassende Verbindung mit liberalen Kreisen gehabt, und es war bemerkbar, daß auch Scheljabow selbst vom Sozialismus fort sich einem rein »politischen« Programm zuneigte, und in Odessa bestand damals in der Stadtverordneten-Versammlung eine große Gruppe von Intellektuellen, die Versammlungen veranstaltete und nichts mehr und nichts weniger als – Verfassungs-Entwürfe erörterte! »Die Pariser Kommune« wurde diese Stadtverordneten-Versammlung von Graf Panjutin genannt, der rechten Hand des Odessaer Generalgouverneurs Totleben; und im Sommer 1879 beeilte er sich, diese vorzeitigen »Konstitutionalisten« zu zersprengen, die Führer in entlegene Gegenden Sibiriens zu verbannen.
Aber einmütig beantwortete der Kongreß die Frage Scheljabows: Wir stützen uns auf die Volksmassen und bauen dementsprechend unser theoretisches und praktisches Programm aus. (Das Wort »Taktik« fehlte damals in unserem revolutionären Wortschatz, ebenso die Worte »Plattform«, »Minimal- und Maximalprogramm« u. a.) In Nordrußland wurden übrigens die Liberalen niemals als Machtfaktor betrachtet und in den 70er Jahren im großen ganzen mit Ablehnung und Spott behandelt. Ihre Untätigkeit, ihr Sichducken vor der politischen Unterdrückung mit allen ihren Greueln, ihr Sich-erniedrigen vor den Zentral- und Provinzbehörden diskreditierte die bürgerlich-liberalen Elemente, von denen Scheljabow sprach, in den Augen der jungen Generation; z. B. wollten die Liberalen ein eigenes Blatt herausgeben. Aber wie? Sie schlugen uns Landfreiheitlern vor, wir sollten eine Geheimdruckerei mit allem Nötigen einrichten, das Personal stellen und das von ihnen, den Liberalen, Geschriebene drucken – sie wollten auch Geld dazu geben. So sollten wir Risiko und Verantwortung tragen, in die Katorga und in die Verbannung gehen für eine Sache, die uns ganz fremd war! Das Angebot erweckte ironisches Gelächter.
Nach dem Kongreß von Woronesch begann mein illegales Leben. Mit Kwatkowski reiste ich nach Petersburg ab und ließ mich dort im Vorort Lesnoi nieder, wo er und Iwanowa eine konspirative Gemeinschaftswohnung hatten.
Kwatkowski fand immer einfache Frauen, die ihm vollständig ergeben waren. Die Bedienerin bei uns in Lesnoi war eine Deutsche, die völlig ungefährlich war für jene ungewöhnliche Lebenshaltung, die wir vor ihren Augen ganz offen führten.
Das war sozusagen das Stabsquartier der »Landfreiheitler« terroristischer Richtung. Es war Hochsommer, und die Villen-Örtlichkeit bot viele Vorzüge für ein solches Hauptquartier. Wir alle waren illegal, und eine Menge Personen in gleicher Lage kam zu uns in Sachen der Bewegung, ohne Aufsehen zu erregen; in dem Fichtenwäldchen am Ausgang der Ansiedlung ließen sich leicht, unter dem Anschein eines harmlosen Ausflugs, Konferenzen veranstalten.
Sie wurden denn auch weit ab von den Häusern abgehalten, wo das Publikum nicht hinkam, und wir lagerten auf dem trockenen Nadelboden unter den Kiefern, wo man weithin Ausblick hatte.
Teilnehmer waren nur die ständigen Besucher unserer Villa, Mitglieder jener Konferenz von Lipezk; Kwatkowski, Morosow und Michailow klagten über die Anhänger der Dorfpropaganda, die die terroristische Tätigkeit hemmten. Der Beschluß des Woronescher Kongresses, den Zaren zu töten, müsse ohne Aufschub verwirklicht werden, sonst werde man zum Herbst bis zur Rückkehr Alexander II. aus der Krim mit den Vorbereitungen nicht fertig sein. Zur Ausführung der Anschläge an einigen Stellen der Reiseroute des Zaren habe man zwar sowohl die nötigen Kräfte wie einen genügenden Dynamitvorrat zur Verfügung, aber die Gegner des Terrors verzögerten die Ausführung der Pläne nach wie vor in jeder Weise. In inneren Konflikten und Reibungen werde die Energie vergeudet; anstatt entschlossen und einmütig zu handeln, verliere man sich in Schwankungen und Kompromissen. Der Kongreß von Woronesch habe die bestehenden Gegensätze nicht aus der Welt geschafft, sondern sie nur vertuscht. Es sei besser, anstatt sich gegenseitig zu lähmen, im gegenseitigen Einverständnis auseinanderzugehen. Diese häufig wiederholten Ausführungen fanden keinen Widerspruch mehr.
Die Hauptopponenten – Plechanow, Popow, Stefanowitsch – waren fort, Perowskaja und ich, die in Woronesch noch geschwankt und versucht hatten, die Einheit der Organisation zu wahren, wir leisteten keinen Widerstand, jetzt, wo es an die Tat ging und die Petersburger Genossen uns eröffneten, daß alles zu Attentaten bereit sei, und es nun heiße, den Plan zu verwirklichen und nicht auf dem toten Punkt zu verharren.
Die Spaltung des Bundes »Land und Freiheit« wurde vollzogen.
Beide Seiten arbeiteten die Bedingungen des Auseinandergehens aus. Die Druckerei sollte in den Händen der Anhänger des alten Programms bleiben. Wir – die Gruppe Michailows – konnten dank dem von Sundelewitsch seinerzeit angeschafften Schriftmaterial sofort unsere eigene Druckerei einrichten.
Als Druckereileiterin war Sofja Iwanowa vorgesehen, die sich aufs Drucken verstand, da sie seinerzeit Setzerin in der Geheimdruckerei Myschkins in Moskau gewesen war. Die wenig gebildete Arbeiterin Grjasnowa, die bisher Anlegerin in der Geheimdruckerei von »Land und Freiheit« war, ging zu uns über, da sie mehr mit uns sympathisierte. An weiterem Personal war auch kein Mangel: der Inhaber zu sein, willigte Genosse Buch ein, während Zuckermann und »Ptaschka « (Vögelchen), von dem noch weiterhin die Rede sein wird, Setzer sein wollten.
Die Geldmittel sollten zu gleichen Hälften geteilt werden, in Wirklichkeit aber bestanden nur ›Aussichten‹ auf Geld: das große Vermögen D. Lisogubs, das er der Partei vermacht hatte, konnte nicht realisiert werden, da er verhaftet und bald darauf in Odessa hingerichtet worden war, sein Freund Drigo aber, den er in grenzenlosem Vertrauen beauftragt hatte, das Erbe zugunsten von »Land und Freiheit« zu verkaufen, wurde zum Verräter: er verkaufte sich an die Regierung, in der Hoffnung, den Reichtum seines großherzigen und vertrauensseligen Freundes zu erhalten. A. Michailow aber, der für die »Landfreiheitler« die Geldverhandlungen mit Drigo führte, bekam nicht nur kein Geld, sondern wäre dem Verräter fast in eine Falle gegangen. So erhielten unsere früheren Genossen nichts, während uns der Fonds von 23 000 Rubeln blieb, die uns vom Ehepaar A. versprochen und auch wirklich übergeben worden waren.
Vereinbarungsgemäß sollte keine der Fraktionen den alten Namen »Land und Freiheit« führen, der sich schon Ruf und Sympathie in revolutionären Kreisen erobert hatte. Die Vertreter der alten Richtung, die ihr Augenmerk auf die Agrarfrage und die wirtschaftlichen Interessen des Bauerntums konzentrierten, gaben sich den Namen »Tschorny Peredel« »Tschorny Peredel« = Schwarze Aufteilung, agrar-revolutionäre Bewegung zu Ende der 70er Jahre, an der unter anderem auch Plechanow teilnahm. Ihr Hauptziel drückt sich im Namen aus: Aufteilung – d. h. Wiedergewinnung – des von den Zaren und Adligen in den vorangegangenen Jahrhunderten den Bauern weggenommenen Landes, und zwar nicht »gesetzlich« oder gegen Entschädigung, sondern »schwarz«, d. h. gewaltsam, revolutionär. Unter anderem berührt dies auch Marx in einem Briefe an Kugelmann über die amerikanischen Landreformer (Georgisten).. Wir, die vor allem den Sturz der Selbstherrschaft anstrebten und an Stelle des Willens eines Einzigen den freien Willen des Volkes setzen wollten, nahmen den Namen »Narodnaja Wolja« (Volksfreiheit) an. Nach dem Ausdruck Morosows hatten wir auf diese Weise sogar den Namen der alten Organisation aufgeteilt: die Landaufteiler nahmen sich »das Land«, wir die »Freiheit«, und jede Fraktion zog ihres Weges.
Während die Fraktion der »Schwarzen Aufteilung« im wesentlichen das Programm von »Land und Freiheit« beibehielt und darin nur die Tätigkeit unmittelbar im Volke und die Notwendigkeit seiner Organisierung zum ökonomischen Kampf gegen die Bourgeoisie unterstrich, legten wir »Volksfreiheitler« unserem Programm einen ganz neuen Gesichtspunkt zugrunde: den bedeutsamen Einfluß der zentralisierten Staatsmacht auf die gesamte Struktur des Volkslebens. Unseres Erachtens spielte dieses Moment eine ungeheure Rolle in der Geschichte Rußlands. So hatte in längst vergangenen Zeiten die zarische Staatsmacht die föderativen Prinzipien zerstört, die der politischen Struktur des alten Rußlands entsprachen. Das Volk, das schon damals seit langem in einen steuerzahlenden Stand verwandelt worden war, war von der Zarenmacht zuerst an das Land ›befestigt‹ und dann sogar leibeigen gemacht worden; sie hatte den Adelsstand geschaffen, zuerst als einen dienstpflichtigen Vasallen-, dann aber als einen von den Lasten des Staatsdienstes freien Gutsbesitzer-Stand, und als auch diese Klasse immer mehr herunterkam und einschrumpfte, indem die vornehmsten alten Hofadels-Bojaren-Geschlechter gegen Anfang des 18. Jahrhunderts verarmten oder ausstarben, da wurde durch eine Reihe »allergnädigster« riesiger Schenkungen von Staatsländereien und Krongütern der Grund gelegt zu jenem mächtigen und reichen Groß-Grundbesitz, wie ihn noch die Epoche der Bauernbefreiung bei uns vorfand; ebenso hatte in neuester Zeit diese selbe Staatsmacht, nachdem sie 1861 die Bauern von persönlicher Leibeigenschaft befreit hatte, die Rolle des Hauptausbeuters der freien Volksarbeit übernommen; sie gab nämlich der Bauernschaft einen Landanteil, der weit geringer war als ihn die bäuerliche Arbeitskraft beanspruchte, sie belastete dann diesen ungenügenden Bodenanteil mit solchen unmäßigen Abgaben und Steuern, daß sie die ganze Brutto-Einnahme des Bauern verschlangen, in vielen Gegenden den Ertrag des Landes sogar um 250 und mehr Prozente überstiegen. Diese Abgaben stellten somit eine maßlose Steuer auf die Arbeitskraft dar, die pro Kopf des erwachsenen Arbeiters 4o–5o Rubel jährlich betrug. (Golowatschow: Unser Staatsetat, »Russkaja Mysl« 1883.) Die zentralisierte Staatsmacht verwandte diese kolossalen Mittel fast ausschließlich zur Aufrechterhaltung der äußeren Macht des Reiches, zum Unterhalt der Armee, der Flotte und zur Tilgung der für Rüstungen aufgenommenen Staatsanleihen. Nur erbärmliche Summen wurden dagegen für produktive Ausgaben, für so dringliche Bedürfnisse wie Volksbildung und dergleichen, verwandt. Diese Sachlage entsprach vollständig dem Prinzip, daß das Volk für den Staat, nicht aber der Staat für das Volk da sei. Neben einer derartigen Ausbeutung des Volkes durch den Staat verblaßte jede private Ausbeutung. Aber nicht genug damit, unterstützte die Regierung die private Ausbeutung mit allen Mitteln und Kräften; einst hatte die Staatsmacht den Adel ins Leben gerufen, jetzt förderte sie das Entstehen der Bourgeoisie.
Anstatt die wirtschaftlichen Interessen des Volkes zu vertreten, unterstützte sie Privatunternehmer, Großindustrielle und Eisenbahngesellschaften. Nach Zeugnis aller Nationalökonomen war während der ganzen 20 Jahre seit der Bauernbefreiung nicht eine einzige Maßnahme zur Hebung des Wirtschaftslebens des Volkes getroffen worden; im Gegenteil, die Finanzpolitik der Regierung war auf die Bildung und Unterstützung des Privatkapitals gerichtet; Subsidien, Garantien und Tarife, alle ökonomischen Maßnahmen in diesem Zeitabschnitt erfolgten zugunsten des Privatkapitals. Und während im Westen die Regierungen den besitzenden Klassen, die die Herrschaft bereits angetreten hatten, als Werkzeug und Willensausdruck dienten, stellte sie bei uns eine selbständige Kraft dar, die bis zu einem gewissen Grade sogar eine Quelle, Schöpferin dieser besitzenden Klassen war.
Auf ökonomischem Gebiet war der moderne Staat nach Ansicht der »Volksfreiheitler« der größte Eigentümer und der hauptsächlichste Ausbeuter der Volksmassen, der die anderen kleineren Ausbeuter unterstützte. Indem die Regierung die Volksmassen ökonomisch knechtete, ließ sie in politischer Hinsicht alle Klassen rechtlos. Millionen Sektierer und »Altgläubige« litten unter der Unterdrückung der Religionsfreiheit; steuerliche und polizeiliche Maßnahmen raubten dem Volk die Freizügigkeit; das Verbot freien Unterrichts hielt die Bevölkerung in erzwungener Unwissenheit; da kein Petitionsrecht bestand, hatte das Volk keine Möglichkeit, der Regierung seine Nöte und Bedürfnisse kundzugeben, und endlich war sein ganzes Leben der zügellosen Willkür der Behörden ausgeliefert.
Das einzige Mittel, wodurch die ›Gesellschaft‹ auf die Regierung und durch sie wieder auf das Leben hätte einwirken können – Literatur und Presse –, waren vollständig unterdrückt. Dort, wo die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und die Freiheit des Wortes fehlt, was kann dort die Presse sein? Aber selbst in dem engen ihr verbliebenen Rahmen blieb sie eine Stimme in der Wüste, – ein Mittel, die Leser in einer bestimmten Richtung zu erziehen, nicht aber ein Weg zur unmittelbaren Verwirklichung von Ideen im Leben; worauf sie auch hinweisen, was sie auch vorschlagen mochte, – es blieb alles vergebens. Ihre besten Vertreter waren oder befanden sich noch in der Verschickung; die auf Festung gesessen hatten, befanden sich nunmehr unter ständiger Polizeiaufsicht, (unter anderen Tschernyschewski, Hertzen, Saltykow, Pissarjow, Lawrow, Dostojewski, Uspenski), die Jugend der Gesellschaft, die studierende Jugend, wurde kleinlichen Einengungen unterworfen, der Korporationsrechte beraubt und genoß die verstärkte Aufmerksamkeit der Polizei. – Jeder Versuch, auf diese oder jene Weise die Umgestaltung der bestehenden Ordnung zu erreichen, zerschellte entweder am Gesetz der Trägheit oder an grausamer Unterdrückung.
Als sich die Jugend mit friedlicher Propaganda an das Volk gewandt hatte, war sie mit Massenverhaftungen bedacht worden, mit Verbannung, Zwangsarbeit, Zuchthaus und Gefängnis. Als sie, empört durch diese Gewalttätigkeit, einige Schergen der Regierung gestraft hatte, wurde geantwortet mit Einsetzung von General-Gouverneuren und mit Hinrichtungen. In den 1½ Jahren 1878/79 hatte Rußland 18 Todesurteile gegen politische Verbrecher vollstrecken sehen.
Die Staatsmaschine wurde unter diesen Umständen zu einem wahren Moloch, dem sowohl das wirtschaftliche Wohlergehen der Volksmassen wie alle Menschen- und Bürgerrechte zum Opfer fielen.
Diesem Beherrscher des russischen Lebens – der Staatsmacht, die sich auf ein unübersehbares Heer und eine allmächtige Bureaukratie stützte – erklärte die revolutionäre Verbindung »Volksfreiheit« den Krieg. Sie nannte die Regierung in ihrer damaligen Form den Hauptfeind des Volkes. Diese These und die Folgerungen daraus: der politische Kampf, die Verlegung des Schwergewichtes der revolutionären Tätigkeit aus dem Dorf in die Stadt, Vorbereitung nicht eines Volksaufstandes, sondern einer Verschwörung gegen die Regierung mit dem Ziel, die Macht zu ergreifen, um sie dem Volke zu übergeben; strengste Zentralisierung der revolutionären Kräfte als notwendige Vorbedingung eines erfolgreichen Kampfes gegen den zentralisierten Feind, – all diese Grundsätze vollzogen eine vollständige Umwälzung in der revolutionären Welt jener Zeit. Sie warfen die bisherigen revolutionären Anschauungen um, erschütterten die sozialistische und föderalistische Organisationsüberlieferung, sie zerstörten jene revolutionäre Routine, die im Laufe der letzten Jahrzehnte üblich geworden war. Kein Wunder deshalb, daß, um die Opposition zu überwinden und der neuen Auffassung das endgültige Übergewicht bei den Revolutionären zu verschaffen, ein bis anderthalb Jahre rastloser Propaganda und eine ganze Reihe glänzender Leistungen notwendig waren.
Indem unsere neue Partei die Verwirklichung sozialistischer Ideale für die Angelegenheit einer mehr oder weniger entfernten Zukunft hielt, bezeichnete sie als nächstes Ziel auf wirtschaftlichem Gebiet: die Übergabe des Hauptproduktionsmittels – des Bodens – in die Hand der Bauerngemeinde; auf politischem Gebiet hingegen – den Ersatz der Selbstherrschaft eines Einzigen durch die Selbstregierung des ganzen Volkes, d. h. durch eine Staatsordnung, in der sich der Volkswille frei ausdrücken und der höchste und einzige Regulator des gesamten gesellschaftlichen Lebens sein werde. Das geeignete Mittel zur Erreichung solcher Ziele sahen wir in der Beseitigung der damaligen Staatsorganisation, die die ganze, dem Wünschenswerten so sehr widersprechende »Ordnung« aufrecht erhielt. Wir glaubten, diese Beseitigung müsse erfolgen durch eine Staatsumwälzung, die durch eine Verschwörung vorzubereiten sei.
Das Programm war ohne viel Worte beraten und bestätigt worden, – rasch gingen wir über zum Organisationsplan der Partei und zum Statut des Vollzugskomitees.
Entsprechend den Forderungen angespanntesten Kampfes gegen einen mächtigen Gegner war der Organisationsplan der »Volksfreiheit« streng zentralistisch aufgebaut und von vornherein in allrussischem Maßstabe entworfen.
Ein Netz geheimer Gruppen, von denen sich jede eine allgemeine revolutionäre Arbeit auf einem bestimmten Spezialgebiet wählte, hatte ein gemeinsames Zentrum – das Vollzugskomitee. Die lokalen Gruppen waren verpflichtet, sich ihm unterzuordnen, ihm ihre Kräfte und Mittel zur Verfügung zu stellen. Vom Zentrum aus wurden alle allrussischen Angelegenheiten der Gesamtpartei verwaltet. Im Moment des Aufstandes hatte es alle Kräfte der Partei mobil zu machen, ihr revolutionäres Auftreten anzuordnen. Zuvor aber konzentrierte es sich auf die Organisierung der Verschwörung, die allein eine Umwälzung zwecks Übergabe der Macht an das Volk ermöglichen konnte. In der Tat arbeitete die Partei durchaus in dieser Richtung; wenn sie trotzdem später terroristisch genannt wurde, so geschah es auf Grund eines rein äußerlichen Merkmals. Der Terror war niemals ihr Selbstzweck! Er war ein Mittel der Verteidigung, des Selbstschutzes, er galt als mächtiges Instrument der Agitation und wurde nur angewandt, soweit gewisse organisatorische Ziele erreicht werden sollten. Unter anderem gehörte in diese Rubrik die Tötung des Zaren.
Im Herbst 1879 wurde die Zarentötung zu einer Notwendigkeit, zu einer brennenden Tagesfrage; und das gab einigen von uns, darunter auch Goldenberg, der uns später verriet, den Anlaß, Zarenmord und terroristische Tätigkeit fälschlich für unsern wesentlichsten Programmpunkt zu halten.
Die einzige Ursache, warum das Vollzugskomitee sogleich nach seiner Bildung beschlossen hatte, ein Attentat auf Alexander II. an vier verschiedenen Stellen zu organisieren, war der Wunsch, ein weiteres Anwachsen der Reaktion, die unsere Organisationsarbeit hinderte, zu unterbinden.
Die propagandistische und organisatorische Arbeit unter den Intellektuellen und der Arbeiterschaft ging stets neben der zerstörenden Tätigkeit einher; sie war weniger auffallend, sollte aber dennoch ihre Früchte tragen.
Scheljabow betrieb sie in Charkow, Kolodkewitsch und ich in Odessa, Michailow in Moskau, die Genossen Kwatkowski, Korba und andere in Petersburg.
Laut Statut war jedes Komiteemitglied verpflichtet: 1. alle Geistes- und Seelenkräfte der revolutionären Sache hinzugeben, ihretwillen alle Familienbande, Sympathien, Liebe und Freundschaft aufzugeben; 2. wenn nötig das Leben hinzugeben, ohne Rücksicht auf sich und andere; 3. nichts zu besitzen, das nicht gleichzeitig der Organisation gehörte; 4. seinem individuellen Willen zu entsagen und ihn den Mehrheitsbeschlüssen der Organisation unterzuordnen; 5. streng geheimzuhalten alle Angelegenheiten, Pläne und Absichten, sowie den Mitgliederbestand der Organisation; 6. in allen Beziehungen öffentlichen und privaten Charakters, in allen offiziellen Handlungen und Erklärungen sich nie als Mitglied, sondern stets nur als Beauftragter des Vollzugskomitees zu bezeichnen; 7. im Falle des Austritts aus der Gesellschaft unverbrüchliches Schweigen zu bewahren über alles die Tätigkeit der Gesellschaft Betreffende.
Groß waren diese Anforderungen, aber leicht für den, der vom revolutionären Gefühl beseelt war, jenem hochgespannten Gefühl, das keine Hindernisse kennt und vorwärts stürmt, weder zurück, noch nach rechts oder links blickend. Wären jene Forderungen leichter gewesen, hätten sie nicht zuinnerst an den Menschen gerührt, so wären sie als unbefriedigend empfunden worden; so aber erhoben sie durch ihre Strenge und Höhe die Persönlichkeit, sie rissen sie aus den Bahnen des Alltäglichen heraus. Der Mensch fühlte stärker, daß eine Idee in ihm lebe und leben müsse.
Als die ganze theoretische und organisatorische Vorarbeit beendet war, ging das Komitee zum Praktischen über und beschloß, einen Anschlag auf den Zaren bei seiner Rückkehr aus der Krim an drei verschiedenen Strecken zu organisieren. Einige Mitglieder wurden sofort nach Moskau, Charkow und Odessa entsandt. Alle Attentate sollten mit Dynamit ausgeführt werden. Gleichzeitig bereitete das Komitee eine Sprengung des Winterpalastes vor; sie wurde aber selbst unter uns strengstens geheim gehalten und war einer Vorbereitungskommission, drei aus der Mitte des Komitees gewählten Personen, anvertraut: Michailow, Tichomirow und Kwatkowski. Von letzterem hörte ich einmal die rätselhaften Worte: »Während hier diese Vorbereitungen getroffen werden, kann der persönliche Mut eines Einzelnen allem ein Ende machen.« Diese Andeutung bezog sich auf Chalturin, der mir später einmal erzählte, zufällig sei er eines Tages im Winterpalast mit dem Zaren ganz allein gewesen, und ein einziger Hammerschlag hätte genügt, ihn auf der Stelle zu töten ...
Ich war mit den Attentaten durchaus einverstanden, gehörte aber nicht zu den mit ihrer Ausführung Betrauten. Da mir der Gedanke unerträglich war, nicht direkt mitzuwirken, sondern nur die moralische Verantwortung einer Sache zu tragen, für die das Gesetz die Genossen mit schwersten Strafen bedrohte, ersuchte ich die Organisation, mir auch irgendeine Funktion bei den Vorbereitungsarbeiten zu übertragen. Ich bekam einen Verweis, daß ich nur persönliche Befriedigung suche, anstatt es der Organisation zu überlassen, über meine Kräfte nach ihrer besten Einsicht zu verfügen. Trotzdem machte man mir ein Zugeständnis, indem man mich mit Dynamit nach Odessa sandte. Um die konspirative Wohnung, die ich mit Kwatkowski bewohnte, ›dicht zu halten‹, brachte ich meine Schwester Eugenie dort unter, die kurz vorher aus dem Gouvernement Rjasan nach Petersburg gekommen war und hier unter dem Namen Pobereschskaja lebte. Unglücklicherweise wußte ich nicht, daß meine Schwester sich aus Unerfahrenheit mit demselben Namen vorzustellen pflegte, unter dem sie gemeldet war. So verursachte ich indirekt das furchtbare Ende Kwatkowskis:
Bei der Boguslawskaja, einer Hochschülerin, die von einem Bekannten denunziert worden war, fand man Exemplare der »Narodnaja Wolja«, und sie gab an, sie von der Pobereschskaja erhalten zu haben. Im Meldeamt wurde die Adresse festgestellt, und Eugenie wurde am 24. November 1879 verhaftet, mit ihr Kwatkowski. Er wurde 1880 hingerichtet, sie nach Sibirien verschickt. In der Wohnung fand man Dynamit, Zünder und einen Zettel, den Kwatkowski nicht mehr vernichten konnte, nur noch rasch zerknüllt in die Ecke warf. Die Gendarmen hoben den Zettel auf, konnten aber den Sinn nicht deuten. Es war die Skizze eines Planes, und eine Stelle war angekreuzt. Dieser Zettel kostete Kwatkowski das Leben: Nach der Explosion im Winterpalast am 5. Februar 1880 enträtselten die Gendarmen, daß der Zettel den Plan des Palastes darstellte und das Kreuz das Speisezimmer bezeichnete, dem die Sprengung galt, weil hier die ganze kaiserliche Familie gewöhnlich zusammenkam. –
Ich war, mit der nötigen Menge Dynamit versehen, Anfang September nach Odessa abgereist. Dort traf ich Kibaltschitsch an, der mir erklärte, wir müßten uns beeilen mit der Einrichtung einer Geheimwohnung für Besprechungen, Experimente mit Zündern und die Aufbewahrung von Explosivstoffen. Dies wurde erledigt, wir zogen unter dem Namen Iwaniti ein.
Bald kamen Kolodkewitsch und Frolenko an, später die Lebedewa. Unsere Wohnung diente zu allgemeinen Zusammenkünften. Dort fanden alle Beratungen statt, dort wurde Dynamit aufbewahrt und Pyroxilin getrocknet und die Zünder fertiggestellt; dort wurden die Induktionsapparate unter der Leitung von Kibaltschitsch geprüft – mit einem Wort: in ihr fanden alle Arbeiten statt. Dabei halfen ihm jedoch, und manchmal sehr wesentlich, auch andere, darunter auch ich. Zuerst mußte aber ein Plan aufgestellt werden, wie und an welcher Stelle die Eisenbahn zu unterminieren wäre. Man plante, nachts, während keine Züge einfuhren, das Dynamit unter die Gleise unmittelbar vor Odessa zu legen und nachher den Draht ins Feld zu ziehen. Das bedeutete aber viel Unbequemlichkeiten und Schwierigkeiten, sowohl in der Vorbereitung, wie auch bei der Ausführung selbst. Wir kamen zum Resultat, es wäre das Beste, wenn jemand von uns die Stelle eines Bahnwärters bekäme, um von seinem Häuschen aus die Mine zu legen. Das war das Sicherste und Bequemste, was man sich vorstellen konnte. Ich übernahm es, eine solche Stellung zu beschaffen, Frolenko sollte sie antreten als verheirateter Beamter mit Lebedewa als seiner Frau. Anfangs hatte ich die Absicht, Frolenko mit Hilfe von Bekannten unterzubringen. Aber es war unmöglich, ihnen den eigentlichen Zweck anzugeben, es hätte sich auch kaum jemand zu einem derartigen Dienst hergegeben; das Ziel verschweigen hätte bedeutet, das Vertrauen der Leute mißbrauchen in einer Sache, die schwerste Verantwortung auf sie laden konnte. Überdies wäre eine solche Bitte seltsam und verdächtig erschienen. Deshalb beschloß ich, mich als unbekannte Bittstellerin an irgendeinen einflußreichen Beamten in der Direktion der Südwestbahn zu wenden und als Motiv meiner Bitte einen wohltätigen Zweck anzugeben. Nach Einholung von Erkundigungen begab ich mich zu dem künftigen Schwiegersohn des Odessaer Generalgouverneurs Graf Totleben, dem Baron Ungern-Sternberg. Zu jener Zeit wurde er auf der Hauptwache in ›Haft‹ gehalten zur Strafe für die bekannte Eisenbahnkatastrophe von Tiligul, der einige hundert Rekruten zum Opfer gefallen waren. Als ich erfuhr, daß er Besuche empfange, begab ich mich zu ihm. Als ich ihm meine Bitte unterbreitete, meinem Pförtner eine Wärterstelle zu geben, da seine Frau an Tuberkulose leide und frischer Luft außerhalb der Stadt bedürfe, erwiderte er, die Besetzung von Bahnwärterstellen hänge nicht von ihm ab, er könne daher nichts für mich tun. Da bat ich ihn um zwei Zeilen an den Streckendirektor. Als ich bemerkte, daß der Empfang, der mir von Ungern-Sternberg zuteil wurde, nicht dem üblichen Empfang glich, wie er Puppen-Damen der höheren Gesellschaft zuteil wird, beeilte ich mich, meinen Fehler in bezug auf das Kostüm auszutilgen und fand mich bei dem Streckenchef ein, in Samt gekleidet, wie es einer Bittstellerin, die eine Dame ist, geziemt. Der empfing mich äußerst liebenswürdig und bat mich, ihm schon morgen meinen Schützling zu schicken. Vom Empfang kaum zurückgekehrt, warf ich die Pfauenfedern ab, füllte Frolenko einen Paß auf den Namen des Kleinbürgers Semjon Alexandrow aus. Andern Tags war er 11 km vor Odessa in einem Wächterhäuschen installiert. Genossin Lebedewa kam als seine Frau bald nach. Schon war zu ihnen das Dynamit gebracht, als unerwartet Goldenberg erschien mit der Anweisung, ihm einen Teil des Dynamits für Moskau zu geben, da dort zu wenig davon vorhanden sei, und die Linie Moskau–Kursk als Reiseroute des Zaren am ehesten in Betracht komme. Wir konnten uns nur fügen. Goldenberg blieb nur zwei Tage in Odessa, trotz aller Vorsicht wurde er auf der Rückreise verhaftet. Bald darauf erfuhren wir, daß der Zar nicht über Odessa fahren werde. Frolenko und Lebedewa verließen ihr Wärterhäuschen und dann Odessa. Später hörten wir, daß der kaiserliche Zug die Linie Losowaja–Sewastopol über Charkow ohne Zwischenfall passiert habe. Das Attentat, das dort von Scheljabow, Jakimowa und dem Arbeiter Okladski vorbereitet worden war, mißlang.
Die Mine war unter das Eisenbahngeleise, ihre Leitungsdrähte weit hinaus ins Feld gelegt worden, und bei der Durchfahrt des kaiserlichen Zuges befanden sich die handelnden Personen auf ihrem Posten, aber die Explosion erfolgte nicht, denn die Elektroden waren falsch verbunden und gaben keinen Funken.
An einer dritten Stelle – auf der Linie Moskau–Kursk – wurden die Vorbereitungen unweit Moskaus von einem Hause am Bahnhof aus getroffen. Am 19. November, pünktlich zur festgesetzten Stunde, fuhren zwei hellerleuchtete Züge durch. Auf das erste Signal, das Perowskaja (die ›Wirtin‹ jenes Hauses) gab, verband Stepan Schirajew die Elektroden nicht, und ein Zug fuhr unversehrt durch; auf das zweite Signal hin entgleiste der zweite Zug. Aber der Zar war im ersten Zug gefahren, im zweiten fuhren Hofbediente. Das war ein Mißerfolg, aber die Tatsache an sich rief ungeheuren Eindruck in Rußland hervor und weckte Widerhall in ganz Europa.
Im Herbst setzten unsere Verluste in Petersburg ein: Kwatkowski ging uns verloren, dann Schirajew und andere; dann fiel nach heldenhafter bewaffneter Verteidigung die Druckerei der »Narodnaja Wolja«; einer ihrer Arbeiter, ›das Vöglein‹, erschoß sich oder wurde zu Tode getroffen, die anderen wurden gefangen genommen.
Mitte Dezember reiste Kibaltschitsch aus Odessa ab, im Januar Kolodkewitsch, gleichzeitig mit ihnen fuhren auch die anderen einflußreicheren Personen fort. Die ganze Arbeit wurde mir und noch einigen in Odessa ansässigen Genossen übergeben.
Meine Beschäftigung war Propaganda. Nachdem ich drei Monate hindurch vollkommen abgeschlossen von der Außenwelt in der konspirativen Wohnung zugebracht hatte, sehnte ich mich nach der Öffentlichkeit und einer ersprießlichen Tätigkeit. Die lange zurückgedrängte Energie verlangte nach Betätigung. Ich begann Professoren, Generale, Gutsbesitzer und Studenten, Ärzte und Beamte, Arbeiter und Schneiderinnen kennen zu lernen, wo irgend möglich vertrat ich die revolutionären Ideen und verteidigte die Politik der »Volksfreiheit«. Aber meine liebste Sphäre war die Jugend, die so heiß empfindet und sich so aufrichtig begeistert. Leider hatte ich unter den Studenten wenig Bekannte, und diese wenigen blickten pessimistisch auf ihre Umgebung und glaubten nicht, daß darunter revolutionäre Elemente seien.
In Petersburg nahmen unterdessen die Ereignisse ihren Lauf. Wie erwähnt, bereitete das Komitee gleichzeitig mit den Eisenbahnsprengungen bei Moskau, Alexandrowsk und Odessa noch einen Anschlag in Petersburg selbst vor, was mir Alexander Kwatkowski seinerzeit schon angedeutet hatte.
Mit Zustimmung des Komitees hatte Stepan Chalturin, ein sehr intelligenter Arbeiter, von Beruf Tischler, Arbeit im Winterpalast angenommen, und zwar um einen revolutionären Akt gegen Alexander II. auszuführen. Nachdem sich Chalturin mit der Lage der Zimmer und den Verhältnissen im Palast, den Sitten und Gebräuchen der Bediensteten vertraut gemacht hatte, freundete er sich mit dem untersten Personal an, und als kunstfertiger und nüchterner Handwerker gewann er besonders die Zuneigung eines mit ihm im Palastkeller wohnenden Gendarmen, der in ihm einen erwünschten Schwiegersohn zu sehen begann.
Nach diesen ersten Schritten begann Chalturin allmählich, in seinem Köfferchen vom Komitee geliefertes Dynamit in den Keller zu tragen. Als schon ein bedeutender Vorrat angesammelt war und weitere Transporte ins Auge fallen und eine Durchsuchung hätten hervorrufen können, wurde beschlossen, zu handeln.
Am 5. Februar 1880, am Tage der Ankunft des Prinzen von Hessen, sollte Chalturin das Attentat vollbringen. Den Speisesaal in die Luft sprengen, um unter den Trümmern den Zaren und seine Familie mitsamt dem Gast zu begraben.
Pünktlich zur vorbestimmten Stunde verband er die Zündschnur mit dem Sprengkörper im Dynamit, brannte sie an und ging fort, um nicht zurückzukehren. Als die kaiserliche Familie den Speisesaal betrat, erfolgte eine furchtbare Explosion. Im Stockwerk über dem Keller, wo sich die Wache des Finnländischen Regiments befand, wurden 50 Soldaten getötet und verstümmelt: die Dynamitmenge hatte sich aber als zu gering erwiesen, um die höhere Etage mit dem Speisesaal zum Einsturz zu bringen. Von der Erschütterung bebte und bog sich der Fußboden, das Tafelgeschirr fiel klirrend zu Boden – die Zarenfamilie blieb unversehrt.
Darauf wurde Graf Loris-Melilow zum Diktator ernannt; auf ihn schoß, ohne Erfolg, Mlodetzki, den drei bis vier Tage später auf dem Schafott mit dem Lächeln eines Helden starb.
Alle diese Ereignisse, zusammen mit Gerüchten, die nach den Enthüllungen Goldenbergs über zwei weitere vorbereitete Attentate auftauchten, erschütterten die Gesellschaft aufs tiefste.
Diese Gesellschaft, wenigstens ein Teil davon, litt unter dem Mangel an politischer Freiheit, war längst mit der Reaktion unzufrieden, war aber passiv und zum Kampfe gegen die Regierung unfähig, und so erblickte sie mit Bewunderung und Entzücken in der Partei den Kämpfer gegen den Despotismus der Selbstherrschaft.
Bestürzt von den Verbannungen, die viele aus ihren Kreisen traf, betäubt von den Hinrichtungen, hatte die Gesellschaft angenommen, die ganze Energie der revolutionären Bewegung sei erschöpft; und da, plötzlich, mitten in dieser allgemeinen Bedrücktheit und Hoffnungslosigkeit, folgten nacheinander die unerhörtesten Ereignisse!
Mit Chemie und Elektrizität als Gehilfen hatte der Revolutionär den Zarenzug gesprengt und war in die Kaisergemächer eingedrungen. Je träger, gedrückter die Öffentlichkeit war, desto bewundernswerter schien die Energie, Erfindungskraft und Entschlossenheit der Revolutionäre. Während wir selbst unter unseren Mißerfolgen litten, wuchs der Ruhm des Komitees, der Effekt seiner Taten blendete alle, berauschte besonders die Jugend. Es hieß allgemein: dem Komitee ist nichts unmöglich. Über dem Grandiosen der Ereignisse vergaß man die Mißerfolge. Der Führer der »Schwarzen Landaufteilung«, berauscht vom Eindruck, den der 5. Februar in Europa hervorgerufen, schrieb uns aus dem Ausland: »Das Auge der Welt auf sich gerichtet haben, heißt das nicht schon siegen?«
Diese Einstellung gegenüber dem Komitee und der Partei verstärkte sich fortwährend und erreichte ihren Höhepunkt am 1. März, als zu allen bisherigen Handlungen der Haupterfolg hinzukam; die Gesellschaft wartete nicht darauf, was die kaiserliche Macht gewähren, sondern darauf, was die revolutionäre Kraft nehmen werde. Ich muß hier natürlich bemerken, daß ich bei allem Obengesagten nur jenen Teil der Gesellschaft meine, mit dem wir Revolutionäre in Berührung kamen; da wir uns aber als alleinige Aufgabe und alleiniges Ziel das Eindringen in alle Kreise und Schichten gestellt hatten, da wir nicht nur in den Gouvernementsstädten, sondern auch in den Provinznestern Komplizen hatten, und da alle diese Genossen wiederum Freunde und Angehörige hatten und von einer ganzen Schicht Sympathisierender umgeben waren, denen gewöhnlich noch Leute folgen, die einfach ein bischen liberal sein wollen – so geschah es, daß wir am Ende überall Billigung fanden und nirgends moralische Abweisung oder Gegenwirkung. Von diesem Standpunkte aus hatten wir das Recht, im Namen der Öffentlichkeit, der Gesellschaft zu sprechen; wir bildeten in einem gewissen Grade den Vortrupp eines Teiles dieser Gesellschaft; es kann sein, daß dieser Teil uns, die beständig darin verkehrten, größer schien, als er tatsächlich war. Dafür aber war dieser Teil höchstwahrscheinlich bedeutsamer, als die Leute des uns feindlichen Lagers es annahmen. Da wir wußten, daß diese Gruppe mit uns sympathisierte, fühlten wir uns nicht als eine von allen anderen Elementen des Staates isolierte Sekte, und das förderte bedeutend jene ›hartnäckige‹ Verwurzeltheit, die wir bei unseren Handlungen an den Tag legten, und von der in den Prozessen die Staatsanwälte sprachen. Um diese Verwurzeltheit zu vernichten, hätte man die Atmosphäre der Unzufriedenheit vernichten müssen, von der wir umgeben waren; das einzige Mittel dazu aber war – die Unzufriedenen zufrieden zu machen.
Die Attentate vom 2. April, 19. November 1879 und am 5. Februar 1880 schufen eine derartige Stimmung, daß – hätten wir damals plötzlich unsere terroristische Tätigkeit aufgegeben – sofort Freiwillige oder sogar eine neue Organisation aufgetreten wären, die sich die Beseitigung des Zaren zur Aufgabe gestellt hätten. Neue Attentate waren völlig unvermeidlich, und das Vollzugskomitee unternahm sie.
Im März oder April 1880 kamen nach Odessa zuerst Sablin, dann Sofja Perowskaja, um im Auftrag des Komitees, für den Fall der Durchreise des Zaren nach der Krim, Minen zu legen.
Ich bereitete gerade damals einen Anschlag gegen den Leiter der Kanzlei des Grafen Totleben, den Staatssekretär Panjutin, vor. In Panjutins Händen ruhte die Leitung der inneren Politik des Totleben unterstellten Gebietes. Er war bei Murawjow, dem Henker von Litauen, in die Schule gegangen und war der Schrecken Odessas. Zur Zeit des Prozesses der 28, von denen 5 am Galgen endeten, nahm er eine radikale Säuberung der Stadt vor. Wahllos wurden Beamte der Stadtverwaltung, Lehrer, Schriftsteller, Studenten, Staatsangestellte und Arbeiter verhaftet und verbannt. Nirgends ging man so willkürlich, brutal und übereilt vor, so daß oft Personen gleichen Namens oder Verwandte irrtümlich büßen mußten.
Seinerzeit waren in der »Narodnaja Wolja« (Volksfreiheit) einige Taten dieses »Helden« veröffentlicht worden. Sein Verhalten war roh, die Angehörigen der Verbannten mußten in seiner Kanzlei erniedrigende Szenen erleiden. Als die schwangere Frau eines Verhafteten ihr Schluchzen nicht unterdrücken konnte, schrie er sie an: »Machen Sie, daß Sie wegkommen, Sie lassen sich womöglich noch einfallen, hier zu gebären!« Es genügt, zu sagen, daß im Sommer 1880, als Totleben nach Wilna versetzt wurde, der Graf, der, wie es hieß, in Petersburg einen Verweis bekommen hatte, weil er in seiner Tätigkeit als Generalgouverneur sich »päpstlicher als der Papst« gezeigt hatte, – daß dieser Graf auf dem Bahnhof in Anwesenheit der ganzen ihn begleitenden Persönlichkeiten an Panjutin den Vorwurf richtete, er habe sein Vertrauen mißbraucht und ihn mit der Gesellschaft in Konflikt gebracht. Nach der Abreise Totlebens aus Odessa wurde die Mehrheit der administrativ Verschickten zurückgebracht.
Gegen diesen Panjutin wollte ich die Waffe der Partei kehren. Zu dem Zweck wurde zunächst in der Sofiskajastraße, wo sich die Kanzlei Panjutins befand, jemand einquartiert, der die Persönlichkeit und die Lebensweise Panjutins zu studieren hatte. Das führte aber zu nichts, denn keiner von uns wußte, wie Panjutin aussah. Kurz darauf wurde er mir von einem jungen Menschen gezeigt, von dem ich überdies Panjutins üblichen Weg erfuhr, so daß, wenn ich zu einer bestimmten Stunde auf die Straße ging, ich fast täglich die Möglichkeit hatte, seine dicke Figur in Begleitung von zwei Spitzeln zu sehen. Der eine Spitzel ging neben ihm, der andere folgte in einem Abstände von 3–4 Schritten. Es fand sich jemand, der die Sache durchführen wollte; er sollte Panjutin auf seinem Spaziergang erdolchen. Es war schon ein den Ort und die Zeit betreffender Plan fertiggestellt; um dem Mörder die Möglichkeit zum Verschwinden zu geben, gedachte ich, ein Pferd bereit zu halten. Die Ankunft Perowskajas mit dem Auftrag des Komitees zwang mich, den ganzen Plan aufzugeben.
Perowskaja brachte einen Brief an einen Arbeiter »Wassili« mit; man sollte ihn zum Attentat heranziehen. Dieser Wassili war jener Merkulow, der später in Odessa alle ihm bekannten Arbeiter und unseren Genossen Swedenzow verriet und im Prozeß der 20 seine Kameraden belastete. Dieser Verräter, der zum Schein 20 Jahre Zwangsarbeit erhielt, wurde im Jahre 1885 nach Charkow geschickt, um mich dort zu fangen. Ich hatte noch vor Perowskajas Ankunft Bekanntschaft mit diesem Schuft angeknüpft, um bei ihm den Steindruck zu erlernen.
Sablin und Perowskaja erschienen mit dem fertigen Plan des Attentats. Vor allen Dingen galt es, die Straße festzustellen, die für die Fahrt des Zaren vom Bahnhof zum Hafen am meisten in Betracht käme. In dieser Straße sollten sie als Ehepaar einen Laden aufmachen. Von diesem Laden aus sollte die Mine bis unter den Fahrdamm getrieben werden. Das Technische sollte Grigori Issajew leiten, der bald darauf mit Jakimowa nach Odessa, kam.
Die Perowskaja brachte kein Geld mit: sie sollte zusammen mit uns allen einen Voranschlag der Ausgaben machen und ihn dem Komitee vorlegen, das die gewünschte Summe schicken sollte. Wir rechneten, daß nicht weniger als 1000 Rubel erforderlich sein würden. Ich schlug vor, das Komitee wissen zu lassen, daß man das Geld nicht brauche, da ich mich verpflichtete, die Mittel zu beschaffen, die zur Ausführung des Attentats erforderlich wären. Ich übergab der Perowskaja nach und nach 900 Rubel, die zur Miete des Ladens verwandt wurden, zur Anschaffung von Kolonialwaren, für Bohrwerkzeuge, zum Unterhalt der Beteiligten und ihre Abfahrt.
Sofort wurde zur Arbeit geschritten; die Zeit drängte, man erwartete den Zaren im Mai, es war schon April. Dabei konnten wir nur nachts arbeiten, da die Mine nicht von den Hinterräumen ausging, sondern vom Laden, wo tags Kunden aus- und eingingen. Die Arbeit erwies sich als sehr mühselig. Es war Lehmboden, in den der Bohrer schwer eindrang. Endlich waren wir unterm Pflaster angelangt, der Bohrer stieß zur Oberfläche durch. Da geschah es, daß unserem Grigori Issajew durch unvorsichtige Handhabung der Sprengkapseln mit Explosivquecksilber drei Finger weggerissen wurden. Er ertrug es stoisch, wir aber waren außer uns; er mußte ins Krankenhaus. Da wir fürchteten, die Explosion könnte die Aufmerksamkeit der übrigen Hausbewohner auf uns gelenkt haben, trugen wir alles (Dynamit, Quecksilber, Draht usw.) aus seiner in meine Wohnung. Wir hatten nun einen Arbeiter weniger. Die Erde hatten wir in einem Hinterzimmer aufhäufen müssen. Nach Beendigung der Arbeit wollten wir sie wegbringen, für den Fall einer Besichtigung der Häuser vor der Durchfahrt des Zaren. Ich fand in meiner Wohnung einen Platz, wo man die Erde hinschaffen konnte; wir brachten sie zu mir in Körben, Paketen und Bündeln, die ich leerte, wenn die Hausbewohner abwesend und unsere Dienstboten mit einem Auftrag weggeschickt waren. Inzwischen waren die Gerüchte von einer Reise des Zaren nach Livadia verstummt.
Bald darauf erhielten wir vom Komitee Weisung, die Arbeit einzustellen. Da schlugen wir vor, sie wenigstens dazu auszunutzen, Graf Totleben in die Luft zu sprengen. Das wurde abgelehnt mit der Begründung, man müsse sich diese Art des Attentats ausschließlich für den Zaren vorbehalten, dagegen erhielten wir Erlaubnis zu einem Attentat gegen den Grafen mittels irgendeiner anderen Methode.
Sablin, ich und noch einige durch mich herangezogene Personen begannen nun, den Generalgouverneur genau zu beobachten. Wir hätten unsere Absicht sicherlich ausgeführt, wäre nicht Graf Totleben plötzlich von Odessa versetzt worden.
Nach Totlebens Abreise mußten wir die Arbeit endgültig einstellen. Der Laden wurde geschlossen, in den unterirdischen Gang war schon vorher die Erde auf gleichem Wege, wie wir sie herausgeholt hatten, zurückgebracht worden. Ich half dabei, indem ich nachts die Säcke mit Erde in den Keller brachte, wo die Männer sie feststampften. Bald darauf reisten Sablin und Perowskaja ab, ihnen folgten Issajew und Jakimowa. Ich bat das Komitee, auch mich von Odessa abzuberufen und jemand zu schicken, dem ich die lokalen Verbindungen übergeben könnte. Ich motivierte meinen Wunsch damit, daß ich, fast ein Jahr in der Provinz, weitab vom Zentrum der Organisation, mich der allgemeinen Arbeit entfremdet fühle; außerdem wollte ich in Petersburg über die von mir in diesem Zeitraum geleistete Arbeit Bericht erstatten und die Fortsetzung der Arbeit beraten.
Im Juli fuhr ich von Odessa nach Petersburg, ohne die Ankunft meines Nachfolgers abzuwarten – Trigoni war dazu bestimmt worden.
Gleichzeitig mit mir reiste auf Einladung aus Petersburg Wassili Merkulow ab. Unangenehm ist es, daran zu denken, wie dieser Verräter sich damals augenscheinlich ziemlich freundschaftlich zu mir verhielt: nach der Ankunft in der Hauptstadt traf er mich mehrmals durch Vermittlung von Personen, die zu ihm geschäftliche Beziehungen hatten. Ich kam dann jedesmal zu ihm in einen Garten, weil zu dieser Zeit das Wetter noch warm war.
Er war aufbrausend und ewig unzufrieden, schimpfte beständig auf die Intellektuellen und lobte die Arbeiter und das Werkleben. Wir vergaben ihm gern eine gewisse Erbitterung, da wir sie bei einem Proletarier, der sein Leben in Not verbracht hatte und alles Herrschaftliche haßte, völlig natürlich fanden. Für seinen einzigen Fehler hielten wir seine Eigenliebe, die zu schonen wir uns bemühten.
In Petersburg, wo man mich wegen meiner eigenmächtigen Abreise mit einer Rüge empfing, wurden um diese Zeit neue Vorbereitungen zu einem Attentat auf Alexander II. in der Gorochowaja an der Kamennybrücke Hauptverkehrspunkt Petersburgs. getroffen. Einzelheiten darüber wußte ich damals nicht. Die ganze Angelegenheit lag in den Händen der Verwaltungskommission und wurde, ebenso wie damals der Anschlag im Winterpalais, strengstens geheim gehalten. Ich wußte nur das eine, daß eine Explosion bei der Vorbeifahrt des Zaren vorbereitet werde, und diesmal unter einer Brücke, vom Wasser aus.
Im Oktober 1880 wurde Alexander Michailow verhaftet – dieser unersetzliche Hüter, dieser ›gute Geist‹ unserer Organisation, dessen Wachsamkeit auch nicht die geringste Kleinigkeit, die unsere Sicherheit betraf, entging.
Ein junges Mitglied weigerte sich, im photographischen Atelier Alexandrowski am Newski-Prospekt, wo die Verhafteten gewöhnlich für die Polizei photographiert wurden, dort von uns bestellte Kopien von Bildern bereits verurteilter Genossen abzuholen. Da ging, gereizt durch die Ablehnung, Michailow selber hin. Im Atelier war man bestürzt; nur einer der Angestellten benutzte diesen Moment und machte eine Bewegung zum Halse hin, um Michailow die drohende Gefahr anzudeuten. Aber als Michailow wegeilte, packten ihn auf der Treppe die ihm seit langem auflauernden Spitzel.
Für uns war Alexander Michailow ein unersetzlicher Genosse. Er war sozusagen das allsehende Auge der Organisation, der Wächter der Disziplin, die bei jedem revolutionären Regime ja so unentbehrlich ist. Viel Unglück wäre uns erspart worden, wäre er in unserer Mitte geblieben. Mit fanatischer Hingabe an die Revolution verband er Energie, Beharrlichkeit, bemerkenswerte Gewandtheit und eine solche Vorsicht, daß selbst die feigsten Leute unter seiner Leitung sich völlig sicher fühlten. Ein talentvoller Organisator und guter Menschenkenner, war er pedantisch, konsequent und unerbittlich in der Einhaltung organisatorischer Grundsätze. Streng in den Anforderungen an sich, stellte er das Interesse der Sache über alles und verlangte, daß der Revolutionär alle menschlichen Schwächen vergessen, alle persönlichen Neigungen aufgeben müsse. »Wenn die Organisation mich beauftragen würde, Tassen zu waschen,« sagte er mir einmal im Gespräch, »so würde ich das mit demselben Eifer verrichten wie die interessanteste geistige Arbeit.« In diesem Sinne bekämpfte er scharf die Ansicht, daß es unproduktive, ›niedere‹ Parteiarbeiten gebe; seines Erachtens war alles, was für die Organisation geschehen mußte, wertvoll genug, um es freudig auszuführen. Solch ein geschlossener Charakter mußte einen ungeheuren Eindruck ausüben, wie auf die Organisation, so auch auf jene, die außerhalb standen; seine Autorität war gleich groß unter den Genossen, wie unter den Außenstehenden. Der enge Rahmen des russischen Lebens hinderte ihn, seine Kräfte im großen Maßstabe zu entfalten und eine bedeutende Stelle in der Geschichte einzunehmen; im revolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts wäre er ein Robespierre geworden. –
Im Herbst 1880 und Anfang 1881 konzentrierte unsere Partei ihre Kräfte auf Propaganda- und Organisationsarbeit. In jener Zeit wurden zahlreiche Verbindungen mit der Provinz angeknüpft, lokale Gruppen organisiert und ein eingehender Aktionsplan in einzelnen Orten ausgearbeitet; Agenten des Komitees bereisten die verschiedenen Gebiete oder wurden zu dauerndem Aufenthalt an verschiedene Stellen des Zarenreichs abkommandiert. Alle vorangegangenen Ereignisse hatten den Boden genügend vorbereitet: Während die Organisation »Schwarze Aufteilung« so gut wie verschwunden war, wandten sich die allgemeinen Sympathien der »Volksfreiheit« zu, dank der intensiven Verbreitung unseres Organs, der mündlichen Agitation des Komitees, vor allem aber dank den aufsehenerregenden Kampfakten gegen das Zarentum, die für sich selbst sprachen. Von weit und breit erschienen Delegierte, um mit dem Komitee Verbindungen anzuknüpfen und ihre Dienste anzubieten; wobei sie baten, ihnen Agenten zur Organisierung lokaler Mitgliedschaften zu schicken. Natürlich versäumte das Komitee nicht, diese günstige Stimmung zu nützen; es erntete nun die Früchte seiner Mühen und Opfer. Dieser sich allenthalben regende Drang zu Betätigung und Zusammenschluß, zu aktivem Kampf gegen die Regierung war der Ausdruck jener ungeheuren Erregung der Geister, die als Folge der Tätigkeit der »Volksfreiheit« weite Schichten der Gesellschaft ergriffen hatte. Tapferkeit ist ebenso ansteckend wie panischer Schreck; durch ihre Energie und ihren Mut zog die Organisation die lebendigen Elemente an sich, und selbst die Furcht vor dem Tode schien verschwunden.
Die Forderung, den Zaren zu töten, wurde immer lauter; die Politik des Ministerpräsidenten Graf Loris-Melikow konnte niemand täuschen, dem Wesen nach änderte sie nichts in der Beziehung der Regierung zu Gesellschaft und Partei; der Graf ersetzte nur die groben Formen durch feinere, aber nahm mit der einen Hand wieder, was er mit der anderen gab. So z. B. ließ er einen Teil der administrativ Verbannten zurückkehren, während er gleichzeitig aus Petersburg zahlreiche neue Opfer verbannte. Auf seinen Befehl wurde das Los der zu Zwangsarbeit Verurteilten noch verschlimmert, er entzog ihnen unter anderem das für sie so kostbare Recht der Korrespondenz mit den Angehörigen.
Die allgemeine Stimmung unter den Revolutionären war für Fortsetzung des Terrors; man forderte die Hinrichtung des Zaren wie seines heuchlerisch-liberalen Vertrauten. Während die Mehrzahl der Beauftragten des Komitees mit Propaganda und Organisation beschäftigt waren, arbeiteten seine Techniker unermüdlich an der Vervollkommnung der Bomben; man wollte sie als Hilfsmittel bei zukünftigen Attentaten verwenden, neben den Minen, die bisher versagt hatten.
In jene Glanzperiode der Tätigkeit des Vollzugskomitees fällt auch die Gründung der Militärorganisation der »Volksfreiheit«.
Die Erkenntnis, daß es notwendig sei, sich in der Armee Anhänger zu werben, nicht in der Form zufälliger Heranziehung einzelner Personen, die von der revolutionären Umgebung aufgesaugt wurden, sondern auf dem Wege einer systematischen ›Anhäufung‹ von revolutionären Elementen im Heere selbst, für den bewaffneten Kampf mit der Zarenherrschaft, – solche Erkenntnis war in der Epoche der siebziger Jahre absolut nicht vorhanden. Nur die »Volksfreiheit« leistete diese Arbeit unter dem Militär als eine der Aufgaben einer revolutionären Partei. Militärpersonen hatten schon im Prozeß der 193 figuriert und auch im Prozeß der 5o; es waren das aber damals gewöhnliche Propagandisten gewesen, die ihr Berufsmilieu verlassen hatten und unter das Volk gegangen waren, zu den Bauern und den städtischen Arbeitern.
Die Volksfreiheitler, die den politischen Kampf, den Sturz der Regierung und die Erringung von Freiheiten durch bewaffneten Aufstand in den Vordergrund gestellt hatten, mußten einsehen, daß ohne die organisierte Kraft der Armee auf keinen Sieg der militärisch ungeschulten Volksmassen zu rechnen sei. Die Agenten des Vollzugskomitees begannen daher, Verbindungen mit den Militärkreisen anzuknüpfen, um Kaders einer künftigen Militärorganisation zu formieren zur aktiven Unterstützung eines sei es organisiert oder spontan ausbrechenden Volksaufstandes.
Der Einfluß der westeuropäischen Auffassung der sozialen Frage auf die russische Revolutionsbewegung hatte seit 1876 völlig aufgehört; seit dieser Zeit war sie selbständig geworden, hatte ihre eigene Form und Richtung bekommen. Auch die Emigration hatte für das revolutionäre Rußland keine Bedeutung mehr; die literarische und Verlags-Tätigkeit wurde jetzt in Rußland selbst gepflegt und wurde hier zum Sprachrohr der neuen Strömungen und Lebensbedürfnisse. Regelmäßige Beziehungen der revolutionären Organisation zu den Emigranten rissen ab, sie erschienen der Partei der Tat als ein verlorenes Glied. So war die Lage bis zu den Attentaten des 19. November 1879 und 5. Februar 1880, die ganz Europa erschütterten und in allen Kreisen der westeuropäischen Gesellschaft ein ungeheures Interesse für die Tätigkeit der revolutionären Partei in Rußland erweckten.
Bald darauf forderte die zaristische Regierung von Frankreich die Auslieferung Hartmans, der im Auftrag des Vollzugskomitees unter falschem Namen das Haus erworben hatte, von dem aus der kaiserliche Zug am 19. November in die Luft gesprengt worden war. Wie sehr sich auch die russische Botschaft in Paris abmühte – das republikanische Frankreich blieb bei seiner Weigerung. Das war eine schallende Ohrfeige Europas für den Vertreter des Zaren, eine Niederlage der Regierung, ein Triumph der revolutionären Partei.
An diesem Vorfall erkannte die »Volksfreiheit«, von welcher Bedeutung die öffentliche Meinung Europas für sie sein konnte. Wir beschlossen, im Auslande die Propaganda unserer wirklichen Ziele und Bestrebungen zu organisieren und die Sympathien der europäischen Gesellschaft zu gewinnen, indem wir sie über die Innenpolitik des Zarenreichs aufklärten. Wir gedachten den Thron des Zaren, den wir im Innern des Landes durch Dynamit erschütterten, außerhalb der Grenzen zu diskreditieren; und womöglich einen Druck, ja vielleicht sogar eine diplomatische Intervention gegen die inneren Angelegenheiten unseres finsteren Reiches fördern zu können.
Dazu konnten wir jene revolutionären Kräfte ausnutzen, die für die revolutionäre Arbeit in Rußland verloren gegangen waren, nämlich die Emigranten. Wir schlugen Hartman und Lawrow vor, als Bevollmächtigte der Partei im Auslande eine Agitation im Geiste des Programms der »Volksfreiheit« zu entfalten. Als Mittel dazu konnten Vorträge, Versammlungen, hauptsächlich aber Broschüren, Flugblätter und Artikel dienen, die die ökonomische und politische Lage in Rußland darstellten.
Hartman sollte zu diesem Zwecke die Großstädte Amerikas bereisen. Alle hervorragenden Persönlichkeiten der westeuropäischen sozialistischen Welt hatten ihm Unterstützung zugesagt; an einige von ihnen, wie z. B. an Karl Marx und Rochefort, wandte sich das Vollzugskomitee schriftlich mit der Bitte, Hartman als unserem Vertreter bei der Organisierung der Propaganda gegen den russischen Despotismus zu helfen. Der Verfasser des »Kapitals« antwortete mit seiner Zusage; gleichzeitig schickte er uns sein Porträt mit einer anerkennenden Widmung. Nach Hartmans Schilderung zeigte Marx den Brief des Komitees mit Stolz seinen Freunden und Bekannten. Aber nicht nur Karl Marx äußerte diese Hochachtung für die russische revolutionäre Bewegung, die Aufmerksamkeit war allgemein, die Zeitungen stürzten sich heißhungrig auf die Nachrichten aus Rußland, und die Ereignisse der russischen Revolutionschronik galten als die pikantesten Neuigkeiten. Um die Unmasse von Falschmeldungen und Entstellungen zu unterbinden, die die europäische Presse ihren Lesern über unsere Bewegung vorsetzte, mußten unsere ausländischen Agenten mit Korrespondenzen über alle wichtigen Vorgänge in der russischen Revolutionswelt regelmäßig beliefert werden. Das Komitee wählte mich im Herbst 1880 zum Sekretär für Auslandsbeziehungen. Ich führte den Briefwechsel mit Hartman, schickte ihm Artikel, Lebensdarstellungen und Lichtbilder der Hingerichteten und Verurteilten, alle revolutionären Veröffentlichungen usw.
Meine letzte Korrespondenz, die ich ihm schickte, betraf die Vorgänge des 1. März, sie enthielt den offenen Brief des Komitees an Alexander III. und eine Zeichnung von der Hand Kobosews, die das Innere des ›Käsegeschäfts‹ zeigte.
Noch während Alexander Michailow in Freiheit war, mietete das Vollzugskomitee einen Laden in einer der Straßen Petersburgs, in der Sadowaja, die der Zar oft bei seinen Fahrten passierte. Vom Laden aus sollte die Mine gelegt werden. Dort sollte ein Käsehandel eröffnet werden. Für die Rolle des Wirtes schlug ich meinen alten Freund Juri Nikolajewitsch Bogdanowitsch vor. Er war zwar nicht in Petersburg, kam aber meiner Aufforderung, dorthin zu reisen, sofort nach. Da er ein sehr praktischer und geschickter Mensch war, wurde er mit der schwierige Rolle des Käsehändlers betraut. Als seine Frau bezog Jakimowa mit ihm den Laden, und wir begannen an der Mine zu arbeiten.
Im Januar 1881, als ich und einige andere Mitglieder des Komitees in der konspirativen Wohnung waren, die ich mit Issajew bewohnte, und die dem Vollzugskomitee zu Besprechungen diente, trat Issajew ein und legte vor uns auf den Tisch einen kleinen, zusammengeknüllten Zettel: »Von Netschajew! – aus der Schlüsselburg –«
Diese Worte, von Issajew ganz ruhig gesprochen, machten auf uns einen überwältigenden Eindruck. Aus der Schlüsselburg! Von Netschajew!
1872 wegen eines politischen Mordes als Emigrant in der Schweiz lebend, war Netschajew, von einem Mitglied der Internationale, dem Polen Stempkowski, verraten und auf Verlangen der russischen Regierung ausgeliefert worden.
Wie bekannt, wurde Netschajew zu 20jähriger Zwangsarbeit verurteilt. Formell war der Vertrag mit der Schweiz eingehalten worden: Netschajew war als Strafverbrecher verurteilt worden. Aber anstatt ihn dem Urteil gemäß nach Sibirien zu schicken, ließ man ihn spurlos verschwinden: niemand ahnte, was mit ihm weiter geschehen, ob er lebte oder tot war.
So vergingen Jahre, bis jetzt, an diesem Januarabend des Jahres 1881, plötzlich sein Bild vor uns erstand, als er sich aus den Kasematten der Alexejew-Festung an das Vollzugskomitee wandte.
Doch wie hatten seine Worte aus der Festung, wo er lebendig begraben war, den Weg zu uns gefunden?
Als nach dem Prozeß der 16 Volksfreiheitler (Oktober 1880) Stepan Schirajew, Mitglied des Vollzugskomitees und Urheber des Attentats auf den kaiserlichen Zug, in die Festung gebracht wurde, setzte sich Netschajew mit ihm in Verbindung und beschloß, sich durch seine Vermittlung an die »Narodriaja Wolja« zu wenden. Durch einen ihm blind ergebenen Gendarmen schickte er an die Adresse eines Studenten, der ein Landsmann Schirajews und ein guter Bekannter Issajews war, einen Brief für das Vollzugskomitee.
Dieser Brief trug einen streng sachlichen Charakter; keine Ergüsse, keine Sentimentalitäten, kein Wort von dem, was Netschajew durchlitten hatte und gegenwärtig durchlebte. Schlicht und sachlich warf er die Frage seiner Befreiung auf. Seitdem er im Jahre 1869 ins Ausland geflüchtet war, hatte die revolutionäre Bewegung vollkommen ihren Charakter geändert, sie war unermeßlich in die Breite gegangen, war permanent geworden und hatte drei Phasen durchgemacht: die utopistische Phase des »Ins-Volk-Gehens«, die realistische der »Land und Freiheit«-Agitation und die darauffolgende der Wendung ins Politische, der Bekämpfung der Regierung nicht durch Worte, sondern durch Taten. Und Netschajew? Er schrieb wie ein Revolutionär, der soeben erst aus den Reihen der Kämpfer ausgeschieden ist und an seine in Freiheit gebliebenen Kameraden schreibt.
Wir sahen einen Geist, der nach langen Jahren der Einzelhaft weder geschwächt noch verdunkelt war, einen Willen, den auch die ganze Last der grausamen Strafe nicht gebrochen hatte, eine Energie, die trotz der Mißerfolge nicht geschwächt war. Wir lasen in der Sitzung des Komitees das Schreiben Netschajews, und uns alle ergriff einmütig der Gedanke: ihn befreien!
In den folgenden Briefen enthüllte Netschajew nach und nach vor uns seine Tätigkeit in den verflossenen Jahren. Obwohl er in seiner Kasematte an Händen und Füßen gefesselt lag, arbeitete er doch rastlos. Tag für Tag war er bemüht, das feindliche Milieu, das ihn umgab, unter seinen Einfluß zu bringen. Er studierte den Charakter jedes einzelnen Gendarmen, jedes Soldaten, der ihm als Wächter beigegeben wurde. Er beobachtete, verglich, stellte zusammen, um für jeden eine besondere individuelle Art und Weise seelischer Beeinflussung auszuarbeiten. Er untergrub tagaus, tagein die Disziplin unter den untersten Dienstgraden, die ihn bewachten; er erschütterte in ihren Augen die Autorität ihrer Vorgesetzten, agitierte, propagierte, beeinflußte den Verstand und das Gefühl, zwang zu Eingeständnissen, bemächtigte sich des Willens der Leute; er nutzte den außergewöhnlichen Charakter und die Strenge seiner Haft aus, um seine Person mit einem mysteriösen Schein zu umgeben, der für die Zukunft etwas Besonderes versprach.
Auf diese Weise vermochte dieser ungewöhnliche Mensch, dank seiner zähen, rastlosen Kleinarbeit, sich etwa 4o seiner Wächter unterzuordnen. Von ihnen hatte er allmählich alle Einzelheiten über die Einrichtung des Vorwerks und der Peterpaulsfestung, über ihr Dienstpersonal, dessen gegenseitige Beziehungen, die Dienstordnung, die Lage der Festung und der Insel, auf der sich damals das Vorwerk befand, erfahren. So hatte er langsam eine Menge von unschätzbaren psychologischen und materiellen Daten gesammelt, die ihn in die Lage setzten, einen Plan für seine Befreiung auszuarbeiten und an dessen Verwirklichung zu gehen, nachdem er ihn vorher jahrelang in seinem Grabe vorbereitet hatte.
Getreu seinen alten Traditionen, meinte Netschajew, daß seine Befreiung unter komplizierten, mystifizierenden Umständen stattfinden müsse. Seine Befreier sollten, um den militärischen Dienstgraden zu imponieren, in ordensgeschmückten Militäruniformen erscheinen; sie sollten erklären, daß ein Staatsumsturz vollzogen, Kaiser Alexander gestürzt und sie im Namen des neuen Kaisers dem Insassen des Vorwerks bekanntzugeben hätten, daß er wieder frei sei. All dieses Kulissenwerk war natürlich nicht etwa bindend für uns, sondern nur für Netschajew charakteristisch.
Als die Frage seiner Befreiung in der Sitzung des Komitees aufgeworfen wurde, beschlossen wir ohne weiteres, die Durchführung dieser Aufgabe der Militärorganisation anzuvertrauen. Jedoch waren wir darüber einig, das ganze Unternehmen bis zum Frühling hinauszuschieben, um die Festung durch Boote und nicht über das Eis zu erreichen. Außerdem hielt es das Komitee für unmöglich, das Attentat gegen Alexander II. aufzuschieben. Da dessen Vorbereitung die Konzentration aller Kräfte erforderte, sahen wir uns genötigt, Netschajew mitzuteilen, daß wir an das Werk seiner Befreiung erst dann herantreten könnten, wenn das Unternehmen gegen den Zaren zu Ende geführt sein würde.
Entgegen den späteren Behauptungen in der Literatur überließen wir keineswegs Netschajew die Entscheidung dieser Frage. Jeder Aufschub der Vorbereitungen hätte das Attentat auf den Zaren mit sicherem Mißerfolg bedroht. Das Komitee teilte Netschajew seinen Beschluß mit, und Netschajew antwortete, er werde warten.
Die Verbindung, die mit Netschajew angeknüpft war, wurde eine Zeitlang durch Issajew aufrechterhalten, er traf gewöhnlich an einer bestimmten Stelle der Straße einen der Soldaten aus der Festung, und der übergab ihm den von Netschajew mit Hieroglyphen eigener Erfindung ausgefüllten Zettel. Am 1. April wurde Issajew verhaftet, die Verbindung riß für eine Zeitlang ab und wurde dann endgültig abgebrochen nach dem Verrat Mirskis (des Mörders des Gendarmeriechefs), der gleichzeitig mit Netschajew im Alexejew-Vorwerk gefangen gehalten wurde. Die Folge dieses Verrats war die Verhaftung der Gendarmen und Soldaten, die Netschajew ergeben waren; 23 von ihnen wurden vor Gericht gestellt, einige andere in Strafbataillone geschickt. Netschajew selbst starb im Alexejew-Vorwerk, aber die näheren Umstände seines Todes blieben bis zur Revolution in geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Erst auf Grund der Dokumente im Festungs-Archiv konnte festgestellt werden, daß er am 21. November 1882 im Vorwerk gestorben war, ohne daß die damals schon zahlreichen anderen Insassen, die Volksfreiheitler, je die Möglichkeit gefunden hätten, in Verbindung mit ihm zu treten. Er ist zweifellos, wie mancher andere Bewohner dieser finsteren Kasematte, Hungers gestorben: die Ernährung war, nachdem die Volksfreiheitler dort untergebracht worden waren, so gering, daß nach dem Zeugnis von Bogdanowitsch nach Verlauf eines Monats die Gefangenen nicht mehr imstande waren zu gehen, ohne sich an den Wänden festzuhalten.
Netschjajew war eine ganz außerordentliche Figur in der Geschichte der revolutionären Bewegung Rußlands, ein eigenartiger Typus, desgleichen wir nicht wieder begegneten. Wie peinlich auch im Verlauf seines Lebens seine skrupellose Taktik nach der Regel »der Zweck heiligt die Mittel« war, so kann man doch nicht umhin, seinen eisernen Willen und seinen stählernen Charakter zu bewundern und die Uneigennützigkeit seines ganzen Handelns anzuerkennen. Keine Spur von Ehrsucht war in ihm, er war der revolutionären Sache aufrichtig und grenzenlos ergeben. Er übte so durch seine ganze Persönlichkeit, besonders auf unkomplizierte Charaktere, eine ungeheure, faszinierende Wirkung aus. Die Soldaten, die infolge ihrer Verbindung mit Netschajew verurteilt und später nach Sibirien verbannt worden waren, gedachten nach dem Zeugnis aller jener Verbannten, die sie später kennen lernten, Netschajews, der ihr Leben zugrunde gerichtet hatte, nie mit einem Vorwurf. Sie alle sprachen von ihm mit einem ganz besonderen Gefühl, das an Angst grenzte, und sagten, daß sie im Banne seines Willens gestanden hätten. »Es war gar nicht daran zu denken, etwas nicht zu tun, was er einem befahl«, sagte einer von ihnen, »es genügte, wenn er einen nur ansah.«
Man erzählte, daß die Soldaten und Unteroffiziere während der Gerichtsverhandlung von Netschajew wie Menschen gesprochen hätten, die noch immer im Banne der Angst vor ihm standen. Sie nannten nie seinen Namen; er wurde immer als »er« oder als Nr. 5 bezeichnet. Aber auch im fernen Sibirien war der gewaltige Einfluß dieses Gefangenen, der ihre Seelen sich unterjocht hatte, immer noch nicht geschwunden, weder schwere Erlebnisse, noch Zeit und Entfernung vermochten die Macht dieser Hypnose zu zerstören.
Am 26. Januar wurden Kolodkewitsch und Barannikow, zwei unserer liebsten Kameraden, verhaftet. In der Wohnung Barannikows fiel auch noch Kletotschnikow in die Hände der Polizei – dieser unschätzbare Schutzgeist unserer Organisation, der zwei Jahre lang über ihre Sicherheit gewacht hatte. Wir hatten ihn aufs Sorgfältigste gehütet und jeden seiner Schritte mit strengster Konspiration umgeben. Eine Person, die vollständig legal war, die Schwester des Komiteemitgliedes Oschanina, Frau Olowennikowa, die zu diesem Zweck von jeder Beteiligung an der revolutionären Tätigkeit ausgeschlossen worden war, hielt die Verbindung mit Kletotschnikow aufrecht; zu ihr allein durfte er kommen und sie übermittelte alle für die Partei wichtigen Informationen: über bevorstehende Verhaftungen, Haussuchungen, über Spitzel, kurz über alles, was ihm dank seiner Tätigkeit im III. Departement bekannt wurde.
Aus irgendeinem mir unbekannten Grunde wurde diese Ordnung nicht eingehalten, und Kletotschnikow begann anstatt der legalen Olowennikowa den illegalen Barannikow zu besuchen, der an allen unseren gefährlichen Arbeiten teilnahm. Da er kurzsichtig war, konnte es geschehen, daß er die Sicherheitszeichen nicht sah, mit denen wir gewöhnlich unsere Wohnungen versahen. So ging er in die Falle, die ihm im Zimmer Barannikows gestellt worden war. Mit zwanzig unser Genossen verurteilt, starb Kletotschnikow später im Alexejew-Vorwerk den Hungertod.
Interessant ist noch, auf welche Weise Kletotschnikow den Posten eines Sekretärs der III. Abteilung erlangt hatte. Nach seiner Ankunft in Petersburg aus der Krim bot er dem Komitee seine Dienste an. Da es aber schwer war, für einen Neuangekommenen sofort eine entsprechende Arbeit zu finden, so war er längere Zeit zu einer für ihn sehr peinlichen Tatenlosigkeit verurteilt. Er hatte sich ein Zimmer gemietet und merkte nachträglich, daß seine Wirtin als geheime Agentin der III. Abteilung tätig war. Sie lud ihn öfters zu sich zu einer Partie Karten ein. Bei näherer Bekanntschaft erzählte er ihr, daß er arbeitslos sei und sich um eine Stelle bemühe. Da sprach sie ihm von ihren Verbindungen mit der III. Abteilung und bot ihm an, ihm behilflich zu sein, dort eine Stelle zu finden.
Kletotschnikow erzählte Alexander Michailow davon und beriet mit ihm, ob er diesen Zufall nicht ausnützen solle, um der Partei auf diese Weise nützlich zu sein. Alexander Michailow und das Komitee fanden, daß man die Gelegenheit ausnutzen müsse, und rieten Kletotschnikow, an seine Wirtin öfters kleine Summen zu verlieren, um sie sich desto geneigter zu machen. Es geschah so, wie Kletotschnikow es wollte. Er bekam eine Anstellung beim politischen Nachrichtendienst und leistete dadurch der Partei ungeheure Dienste. Unter anderem wußten wir im Herbst 1879 rechtzeitig von den bevorstehenden Massenhaussuchungen, bei denen auch eine Haussuchung bei dem Rechtsanwalt Bardowski vorgesehen war. Das war einer der glänzendsten und treuesten Verteidiger in den Prozessen der Narodnaja Wolja (dem Prozeß der 5o usw.). Zweimal war ich vergeblich in seiner Wohnung, um ihn von der bevorstehenden Verhaftung zu unterrichten. Spät abends erst kam er heim, hinter ihm die Gendarmen. Hinter einem Schrank versteckt fand man ein Bündel Nummern der »Narodnaja Wolja«. Er und sein Wohnungsgenosse wurden verhaftet. Bardowski war ein hochgradig nervöser Mensch und litt an Schlaflosigkeit. Erschüttert von der Verhaftung verlor er 24 Stunden später den Verstand und blieb für immer geisteskrank; obgleich er bald darauf in Freiheit gesetzt wurde und seine Frau ihn mit aufopfernder Pflege umgab, vermochte man nicht, ihn zu retten. Sein Bruder, der Friedensrichter in Polen war, wurde im Jahre 1884 in Warschau als Mitglied der polnischen Partei »Proletariat« hingerichtet. –
In der ersten Februarhälfte berief das Komitee seine Mitglieder zu einer Beratung ein. Es war die Frage zu erörtern, ob man gleichzeitig mit dem Attentat auf den Zaren den Versuch eines Aufstandes machen sollte. Die Mitglieder aus Moskau und den Provinzen sollten über die Erstarkung und Erweiterung der Gruppen und die Stimmung der breiten Massen Bericht erstatten und ihre Meinung äußern, ob es möglich wäre, mit diesen Kräften und unterstützt von den mit der Partei sympathisierenden Kreisen, einen bewaffneten Aufstand gegen die Regierung zu unternehmen. Die Antwort war negativ. Die Zahl der Mitglieder unserer Gruppen und jener, die mit uns unmittelbar verbunden waren, zeigte klar, daß unsere Kräfte zu gering waren, als daß ein offener Aufstand möglich gewesen wäre. Ein Versuch würde voraussichtlich so enden, wie im Jahre 1876 die Manifestation auf dem Kasaner Platz, die mit einer völligen Niederlage und körperlicher Mißhandlung der Teilnehmer ausging.
Am 14. Februar fuhr der Zar durch die Kleine Sadowaja nach dem Michael-Tattersall. Der Tunnel war um diese Zeit bereits fertig, aber die Mine noch nicht gelegt.
Als wir davon erfuhren, waren wir über das langsame Arbeiten unserer Techniker außer uns. Die nächste Gelegenheit würde vielleicht einen Monat auf sich warten lassen.
In der nächsten Sitzung beschloß das Komitee, alle Vorbereitungen bis zum 1. März zu Ende zu führen. Die Mine und die Bomben mußten zu diesem Termin fertig sein. Unsere Aktion umfaßte drei verschiedene Pläne; alle drei verfolgten das eine Ziel, das zum siebentenmal in Angriff genommen wurde; endlich mußte nun das Attentat ein Resultat zeitigen! Der Hauptplan bestand in einer Explosion von der Käsehandlung aus; von diesem Plan hatten nur die Mitglieder des Komitees Kenntnis; sollte diese Explosion nicht rechtzeitig eintreten, so sollten Ryssakow, Grinewitzki, Timofej Michailow und Jemeljanow von beiden Ecken der Sadowaja Bomben werfen; sollte aber auch das aus irgendwelchen unvorhergesehenen Gründen mißlingen, dann sollte als letzter Scheljabow sich mit dem Dolch auf den Zaren stürzen und die Sache zum Abschluß bringen.
Seit diesem Beschluß lebten wir wie im Fieber. Seit fast 3 Monaten bestand unsere Käsehandlung im Hause Mengden. Bogdanowitsch und Jakimowa spielten ihre Rolle nach außen hin als die Inhaber des Ladens vorzüglich. Doch im Handel waren sie schwach, und die benachbarten Händler überzeugten sich bald, daß sie keine gefährlichen Konkurrenten waren. Um diese Zeit hatten wir wenig Geld, und der Käseankauf war gering. Wie gering unsere Geldmittel in dieser für uns so wichtigen Periode waren, beweist der Umstand, daß, als ich 300 Rubel für den Ankauf von Ware beschaffte, dieses Geld für uns ein Glück war.
Das Aussehen des Ladens war sehr anständig; auf dem Ladentisch lagen allerlei Sorten Käse, nur die Käsetonnen waren leer; wir füllten sie mit der Erde, die wir aus dem Tunnel holten. Wir wußten nicht, wie es kam, aber die Polizei richtete plötzlich ihre Aufmerksamkeit auf dieses Haus.
Am Abend des 27. Februar verhaftete die Polizei Trigoni, der neben einigen anderen im Tunnel arbeitete und wahrscheinlich bespitzelt wurde, und Scheljabow, der gerade bei Trigoni war. Die Nachricht von diesem Unglück traf uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Suchanow brachte sie uns am Morgen des 28. Februar. In der Stadt verbreitete sich das Gerücht, daß die Polizei einem außerordentlich wichtigen Anschlag auf den Zaren auf der Spur sei und dabei wurde jener Stadtteil genannt, in dem sich der Käseladen befand. Bald kam auch Bogdanowitsch und erzählte, eine angebliche Sanitätskommission wäre dagewesen. Die Sache hing an einem Haar. »Was bedeutet diese Feuchtigkeit?« fragte der Polizeikommissar und wies auf die Spuren der Nässe, die neben einer der mit nasser Erde gefüllten Tonnen sichtbar waren. Zu Ostern habe ich Sahne vergossen, erwiderte ruhig Bogdanowitsch. Hätte der Kommissar in die Tonne gesehen, so würde er gewußt haben, was für eine Sahne das war!
Im Hinterzimmer lag in allen Ecken Erde, die dem Tunnel entnommen war. Sie war mit Koks und Stroh bedeckt, und eine Matte lag darüber. Die angebliche Sanitätskommission hätte bloß diese Dinge zu entfernen brauchen, und wir wären entdeckt worden. Aber alles ging glücklich vorüber, und da nichts Verdächtiges gefunden wurde, war der Laden, wie Bogdanowitsch sagte, gewissermaßen legalisiert. Das Werk, das wir mit so viel Mühe und übermenschlichen Anstrengungen aufgebaut hatten, das unseren fast zweijährigen Kampf zu Ende führen sollte, war in Gefahr, am Vorabend seiner Verwirklichung zusammenzubrechen. Alles konnten wir ertragen, nur das nicht!
Nicht die persönliche Gefahr des einen oder anderen von uns war es, was uns so maßlos erregte. Unsere ganze Vergangenheit, unsere revolutionäre Zukunft, alles hatten wir auf diese Karte gesetzt, auf den 1. März; die Vergangenheit, in der wir 6 Anschläge auf den Zaren ausgeführt hatten, und die uns 21 Todesurteile eingetragen hatte, und die Zukunft – die helle und weite, die wir den kommenden Geschlechtern erobern wollten: dies alles stand für uns auf dem Spiel. Kein noch so eisernes Nervensystem wäre imstande, eine derartige Anspannung auf die Dauer zu ertragen.
Und doch schien alles sich gegen uns verschworen zu haben; Kletotschnikow, unseren Schutz und Schirm, hatten wir verloren; der Käseladen war in größter Gefahr. Scheljabow, dieser tapfere Kamerad, der zur Leitung der Bombenwerfer bestimmt worden war und beim Attentat eine der verantwortlichsten Rollen spielen sollte, wurde am Vorabend des Attentats aus unserem Plan gestrichen; man mußte unverzüglich seine Wohnung von allem kompromittierenden Material säubern und sie aufgeben. Die Wohnung, in der die Bomben hergestellt wurden, schien auch nach einer Mitteilung ihrer Besitzer Sablin und Helfman bespitzelt zu werden; dieser verzweifelten Situation setzte es die Krone auf, daß, wie wir zu unserem Entsetzen erfuhren, die Mine bis jetzt noch nicht gelegt worden und daß keine von den vier Bomben fertig war. Am nächsten Tag aber hatten wir den 1. März, einen Sonntag, an dem der Zar vielleicht die Sadowaja passieren würde...
Unter diesen Umständen versammelten sich die Mitglieder des Vollzugskomitees am 28. Februar zu einer außerordentlichen Sitzung. Nicht alle Mitglieder waren anwesend, da man keine Zeit gehabt hatte, alle zu benachrichtigen. Außer den Inhabern der Wohnung, Issajew und mir, waren anwesend: Perowskaja, Anna Pawlowna Korba, Suchanow, Gratschewski, Frolenko, Lebedew; vielleicht waren auch Tichomirow und Langhans da – genau erinnere ich mich nicht. Und alle beherrschte dasselbe aufgeregte Gefühl, dieselbe Stimmung. Als daher Perowskaja die Frage stellte: ob wir nicht, falls der Zar morgen die Kleine Sadowaja meiden würde, das Attentat mit Bomben ausführen sollten, antworteten alle einmütig: Handeln, handeln! Um jeden Preis muß gehandelt werden. Die Mine muß gelegt werden. Die Bomben müssen bis morgen fertig sein; neben der Mine oder unabhängig von ihr, müssen sie angewandt werden. Nur Suchanow erklärte, er sei nicht imstande, etwas Bestimmtes zu sagen, da man Bomben noch nie verwandt habe.
Unverzüglich wurde Issajew nach dem Laden geschickt, die Mine zu legen; die Wohnung Scheljabows und Perowskajas wurde mit Hilfe Suchanows und der Offiziere geräumt, Perowskaja zog zu mir. Wir hatten keine Zeit mehr, alle Mitglieder des Komitees, ja nicht einmal jene Genossen, die die Signale geben sollten, zu benachrichtigen. Aber die Rollen waren rechtzeitig verteilt und der Treffpunkt mit allen verabredet worden.
Um fünf Uhr abends erschienen Suchanow, Gratschewski und Kibaltschitsch in unserer Wohnung, um die ganze Nacht an der Anfertigung der Bomben zu arbeiten. Am Abend überredete ich Perowskaja, schlafen zu gehen, damit sie morgen im Besitz ihrer Kräfte wäre, ich selbst arbeitete mit den drei Männern bis zwei Uhr nachts mit. Die ganze Nacht brannten die Lampen und das Feuer im Kamin; die Männer arbeiteten die Nacht hindurch. Als Perowskaja und ich um sieben Uhr erwachten, waren zwei Bomben fertig. Perowskaja trug sie in die Wohnung Sablins in der Teleschnaja; dann ging Suchanow fort; schließlich half ich Gratschewski und Kibaltschitsch, die zwei übrigen Blechbüchsen mit Explosivstoff zu füllen, und Kibaltschitsch trug sie fort. Am 1. März um 8 Uhr früh, nach fünfzehnstündiger Arbeit von drei Personen, waren vier Bomben fertig. Um 10 Uhr kamen in die Wohnung Sablins: Ryssakow, Grinewitzki, Jemeljanow und Timofej Michailow, Perowskaja gab ihnen genaue Anweisungen, wo sie stehen und, nachdem der Zar vorbei sein werde, zusammentreffen sollten.
Laut Anordnung des Komitees sollte ich am 1. März bis 2 Uhr nachmittags zu Hause bleiben, um die ›Kobosews‹ bei mir zu erwarten. Es war nämlich verabredet, daß Bogdanowitscn eine Stunde ehe der Zar die Straße passiere, den Laden verlassen solle, Jakimowa aber sofort nach dem Signal, daß der Zar auf dem Newski-Prospekt gesehen sei. Der elektrische Strom sollte von einem Dritten eingeschaltet werden, der das Geschäft als Fremder verlassen sollte, falls er nicht unter den Trümmern des Hauses zugrunde ginge.
Um 10 Uhr kam dieser Genosse – es war Frolenko – zu mir. Erstaunt schaute ich ihn an, als er aus einem mitgebrachten Paket Wurst und Rotwein auspackte, auf den Tisch stellte und mit der größten Ruhe zu essen begann. Nach dem gestrigen Beschluß und der schlaflosen, in Vorbereitungen zugebrachten Nacht befand ich mich in einem so aufgeregten Zustand, daß es mir unfaßbar erschien, wie ein Mensch jetzt essen oder trinken könne. »Was machen Sie?« fragte ich ganz entsetzt. Es schien mir unfaßbar, daß er essen wollte, während ihm in ein paar Stunden der sichere Tod unter den Trümmern bevorstand. »Ich muß vollkommen Herr meiner Kräfte sein,« erwiderte mir ruhig der Genosse und begann zu essen, ohne sich durch mich stören zu lassen. Ich konnte mich vor dieser Willenskraft nur beugen. Dieser Mensch dachte keinen Augenblick an den sicheren Tod, der ihm bevorstand, er hatte nur einen Gedanken, daß er zur Erfüllung seiner Aufgabe alle seine Kräfte brauche.
Weder Bogdanowitsch noch Jakimowa waren gekommen; Issajew kehrte dagegen mit der Nachricht zurück, daß der Zar die Sadowaja nicht passiert habe, sondern direkt aus dem Tattersall nach Hause gefahren sei. Ich ging von Hause fort mit der Überzeugung, daß das Attentat infolge irgendwelcher unvorhergesehener Umstände nicht zur Ausführung gekommen sei.
In Wirklichkeit schlug der Zar einen anderen Weg ein, aber hier zeigte Perowskaja, wie sehr sie Herrin der Situation war. Sie erfaßte sofort, daß der Zar auf dem Rückweg den Katharina-Kanal entlang fahren werde, und beschloß, nur mit den Bomben vorzugehen. Sie ging zu den Bombenwerfern, wies ihnen ihre neuen Plätze an und verabredete mit ihnen, daß sie das Signal durch Winken mit ihrem Taschentuch geben werde.
Gegen 2 Uhr erfolgten nacheinander zwei Detonationen, die an Kanonenschüsse erinnerten: die Bombe Ryssakows zerschmetterte die Kutsche des Zaren, die Bombe Grinewitzkis traf den Zaren selbst. Einige Stunden später waren sowohl der Zar wie Grinewitzki tot.
Als ich nach Isajews Rückkehr auf die Straße ging, war dort alles still. Aber eine halbe Stunde später, als ich bei Uspenski war, kam Iwantschin-Pissarjow mit der Kunde herauf, daß in der Stadt Explosionen erfolgt seien, daß der Zar getötet sei, und man in den Kirchen schon seinem Nachfolger den Eid leiste.
Ich stürzte fort. In den Straßen sprach die erregte Menge vom Zaren, von seinen Wunden, von Blut und Tod. Ich kehrte heim, die Freunde hatten von den Vorgängen noch keine Ahnung, und ich konnte vor Erregung kaum hervorbringen, daß der Zar getötet sei. Ich weinte, ebenso die anderen; der Alp, der jahrzehntelang auf dem jungen Rußland gelastet hatte, war beseitigt.
Dieser Moment, das Blut des Zaren, rächte die Greuel der Gefängnisse und der Verbannung, die Grausamkeiten und Gewalttaten, die an Hunderten und Tausenden unserer Gesinnungsgenossen verübt worden waren; eine schwere Last fiel von unseren Schultern, die Reaktion (so schien es uns) mußte nun endlich der Arbeit zur Erneuerung Rußlands weichen.
In diesem feierlichen Moment waren alle unsere Gedanken dem künftigen Wohl unseres Vaterlandes gewidmet.
Bald kam Suchanow freudig erregt, umarmte und begrüßte alle. Das von uns in den nächsten Tagen verfaßte Schreiben an Alexander III. spiegelte treu die allgemeine Stimmung der Petersburger Mitglieder der Partei in jenen Tagen wider. Das Schreiben war maßvoll und voll Takt und hat Anerkennung und Mitgefühl in ganz Rußland hervorgerufen. In Westeuropa veröffentlicht, rief der Brief Aufsehen in der ganzen westeuropäischen Presse hervor; selbst die gemäßigtesten und konservativsten Blätter billigten die Forderungen der russischen ›Nihilisten‹ und äußerten die Meinung, sie seien gerecht und vernünftig und gehörten zum größten Teil schon längst zu den selbstverständlichen Bestandteilen des europäischen Lebens.
Am 3. März kam Kibaltschitsch zu uns mit der Nachricht, daß die Wohnung der Helfman in der Teleschnajastraße entdeckt und sie selbst verhaftet sei, Sablin aber, ihr Wohnungskamerad, der immer sorglos und frohen Sinnes war, habe sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Während der Verhaftung sei in ihrer Wohnung T. Michailow erschienen und habe bei seiner Verhaftung bewaffneten Widerstand geleistet. Unser erster Gedanke war, daß die Wohnung durch Ryssakow verraten worden war; denn wir wußten ganz genau, wer die Adresse der Wohnung kannte und wer sie besuchte. Wir beschlossen sofort, daß Kobosews, anstatt – wie wir vorher beabsichtigt hatten – zu warten, bis der Explosivstoff aus der Mine beseitigt wäre, den Laden sofort verlassen und noch am selben Abend aus Petersburg abreisen sollten.
Um drei Uhr kam Bogdanowitsch, um sich von mir zu verabschieden, am Abend kam Jakimowa und zog sich bei mir um; beide, ebenso wie noch einige andere Parteimitglieder, verließen auf Anordnung des Komitees Petersburg noch am gleichen Abend.
Kaum verging eine Woche, und wir verloren Perowskaja, die auf der Straße verhaftet wurde. Ihr folgte Kibaltschitsch – wahrscheinlich infolge einer Denunziation seiner Wirtin. Bei Kibaltschitsch wurde Frolenko verhaftet. Kurz darauf Iwantschin-Pissarjow. Der weiße Terror wütete. Viele Jahre später, nachdem das Archiv der zaristischen Regierung, im Jahre 1917, geöffnet worden war, überzeugte ich mich, daß der Verräter ein Arbeiter Okladski war, der in der Sache Kwatkowskis in den achtziger Jahren verurteilt worden war.
Das Komitee beschloß, daß einige Mitglieder, darunter auch ich, die Stadt verlassen müßten. Aber wir alle brannten vor Ungeduld, die für unsere organisatorischen Ziele so geeignete Zeit auszunutzen; wir sahen rings um uns einen glühenden Enthusiasmus: selbst Leute, die immer passiv und indifferent gewesen waren, baten um Anordnungen, um Arbeit und boten ihre Dienste an; alle möglichen Zirkel baten uns, mit ihnen in Verbindung zu treten. Unser Erfolg war berauschend, und wäre nur Ehrgeiz unsere Triebfeder gewesen, so hätten wir jetzt vollauf Befriedigung gefunden. Wer die Periode nach dem 1. März nicht miterlebt hat, kann sich keine Vorstellung von der Bedeutung dieses Tages für uns als revolutionäre Partei machen. Leicht begreiflich, wie peinlich jedem die Notwendigkeit sein mußte, in diesem Moment Petersburg zu verlassen, besonders für jene, die an ihre Kraft und an die Notwendigkeit glaubten, sie gerade jetzt nicht der Arbeit zu entziehen. Ich versuchte, das Komitee zu überzeugen, daß ich jetzt unmöglich aus Petersburg fortkönne und bat um die Genehmigung, bleiben zu dürfen. Ich wurde darin von Suchanow unterstützt, und das Komitee willigte ein, wenn auch leider nicht auf lange. Aber am 1. April kehrte Grigori Issajew nicht mehr nach Hause zurück; ähnlich wie schon viele andere Genossen im Laufe dieses Monats wurde auch er von irgendeinem Verräter auf der Straße der Polizei ausgeliefert. Mittlerweile hatte sich unsere Wohnung in ein förmliches Magazin verwandelt, alles Mögliche war hier aufgestapelt worden; nach der Liquidierung der Arbeiterdruckerei brachte man das Schriftmaterial und alles Zubehör zu uns; als man das Laboratorium schloß, brachte Issajew einen großen Vorrat Dynamit zu uns und alles andere, das aus seiner Wohnung zu entfernen, er für wichtig hielt. Nach Frolenkos Verhaftung hatten wir die Hälfte des bei ihm aufbewahrten Paßbureaus übernommen, ebenso die ganze Literatur. Dieser ganze Reichtum durfte der Partei nicht verloren gehen; ich beschloß, nicht eher die Wohnung zu verlassen, bis ich alles in Sicherheit gebracht hätte.
Am 2. April fing ich mit dem Packen an. Um 1 Uhr nachmittags kam Gratschewski zu mir. Er teilte mir mit, daß die Genossen mich schon als verloren betrachteten. Außerdem sagte er mir, daß schon vom frühen Morgen an die Portiers straßenweise zum Polizeipräsidium gerufen würden, um durch sie die Persönlichkeit eines am Vorabend verhafteten jungen Mannes festzustellen, der sich hartnäckig weigere, seinen Namen und seine Adresse anzugeben. Niemand von uns zweifelte, daß es sich um Isajew handle. Trotzdem billigte Gratschewski mein Vorhaben, alles bei mir Aufbewahrte zu retten. Ich bat ihn, zu diesem Zweck Suchanow herbeizuholen. Suchanow war so energisch und entschlossen, daß selbst das Unmöglichste für ihn möglich war.
Einige Stunden später erschien Suchanow in Begleitung zweier Marineoffiziere; mit dem ihm eigenen Organisationstalent räumte er die Wohnung im Laufe von zwei Stunden vollkommen aus. Gegen 8 Uhr abends, als er fertig war, drang er darauf, daß ich die Wohnung verlasse. Ich war sicher, daß die Polizei vor dem nächsten Morgen nicht zu mir kommen könne, da Issajew seine Adresse nicht angeben würde, und die Portiers unserer Straße noch nicht zur Polizei gerufen worden waren. Als ich am nächsten Tag, dem 3. April, früh morgens hinaus ging, um mich auf der Straße umzusehen, bemerkte ich vor dem Tor eine typische Spitzelgestalt, die dem Portier einschärfte: »Unbedingt vor 12, unbedingt vor 12!« Nun war es Zeit, die Wohnung zu verlassen. Bald erschienen zwei Frauen, die ich noch erwartet hatte, und die ich durch das verabredete Signal informiert hatte, daß die Wohnung noch sicher sei. Sie nahmen den Rest der Sachen an sich, und kurz nach ihnen ging auch ich. Eine Stunde später kamen die Gendarmen: der Samowar, aus dem ich vor dem Weggehen Tee getrunken hatte, soll noch warm gewesen sein ...
Der 3. April war der Tag der Hinrichtung unserer Zarenmörder: Das Wetter war wunderschön, ein heiterer Frühlingstag, die Sonne strahlte. Als ich das Haus verließ, war das »Volksschauspiel« soeben zu Ende, rings um mich sprach alles von der Hinrichtung. Ich bestieg zufällig die Straßenbahn, die vom Semjonowski-Platz, dem Platz, wo die Hinrichtung stattgefunden hatte, zurückkehrte, und war erfüllt von schmerzlichen Gedanken an Perowskaja und Scheljabow. Alle waren erregt, doch niemand sah man Trauer an. Mir gegenüber saß ein schöner Mann – ein Bürger mit kohlschwarzem Haar, krausem Bart und flammenden Augen. Das schöne Gesicht war von Leidenschaft verzerrt: ein echter Henker, bereit, die Leute zu köpfen! ...
Sofja Lwowna Perowskaja ist eine jener wenigen Gestalten, die sowohl durch ihre ganze revolutionäre Tätigkeit, als auch durch ihr Schicksal der Geschichte angehören – sie war die erste russische Frau, die als politische »Verbrecherin« hingerichtet wurde.
Vom Standpunkte der Vererbungslehre und der Lehre vom Einfluß des Milieus ist die Feststellung von Interesse, daß Perowskaja – diese asketische Revolutionärin – Urenkelin des letzten ukrainischen Hetmans Kasumowski, Enkelin des Gouverneurs der Krim zur Zeit der Regierung Alexanders I. und Tochter des Gouverneurs von Petersburg unter der Herrschaft Alexanders II. war.
Die Bedingungen, unter denen Perowskaja ihre Kindheit verbrachte, haben unauslöschliche Spuren der Menschlichkeit und des Ehrgefühls in ihre Seele gegraben. Zu jener Zeit der Leibeigenschaft kam es öfter vor, daß sich in den Kindern, im Gegensatz zu den Eltern und im Widerspruch zu deren Sitten, ein Widerwille und Haß gegen den herrschenden Despotismus entwickelte. So war es auch mit Perowskaja. Ihr Vater war ein Vertreter der Leibeigenschaft schlimmster Sorte. Er mißhandelte nicht nur seine Leibeigenen, sondern auch die Mutter seiner Kinder, ja, er zwang dazu auch seinen kleinen Sohn. Sofjas Mutter war die Verkörperung der Güte und Sanftmut. In der schweren, drückenden Familienatmosphäre lernte Sofja Lwowna den Menschen, den Leidenden, lieben, so wie sie ihre mißhandelte Mutter liebte, mit der sie bis zu den letzten tragischen Tagen ihres Lebens durch Zärtlichkeit und Liebe verbunden blieb. Während meiner Untersuchungshaft erzählte mir die Aufseherin, daß Perowskaja bei ihrem letzten Zusammensein mit der Mutter sehr wenig gesprochen hätte. Wie ein krankes, gequältes Kind habe sie, den Kopf auf den Knien der Mutter, regungslos dagelegen. Zwei Gendarmen, die Tag und Nacht in ihrer Zelle wachten, verließen sie auch in diesen Momenten nicht.
Sofja Lwowna hatte kaum selbständig zu denken begonnen, als sie auch schon beschloß, ihre Familie zu verlassen, in der weiter zu leben ihr moralisch unmöglich war. Aber der Vater verweigerte ihr den Paß und drohte, falls sie gegen seinen Willen ginge, sie durch die Polizei in das elterliche Haus zurückholen zu lassen. Doch Perowskaja blieb in ihrem Beschluß fest; sie ging heimlich fort und hielt sich eine Zeitlang bei Freundinnen – Studentinnen – verborgen. Gemeinsam mit einer von ihnen stand sie dann im Prozeß der 193 vor Gericht.
Als Mitglied der Gruppe der Tschajkowtzy war Perowskaja längere Zeit auf dem Lande als Arztgehilfin und Propagandistin der Narodnikiprinzipien tätig. Da soll sie ihre ganze verborgene Zärtlichkeit und weibliche Güte, die sie von der Mutter ererbt hatte, dem arbeitenden Volke gegeben haben. Augenzeugen erzählten, daß in ihrer Beziehung zu den Kranken unendliche Güte und mütterliche Zärtlichkeit zum Ausdruck kam. Welch moralische Befriedigung ihr das nahe Zusammenleben mit den Bauern gab, und wie schwer es ihr war, sich von diesem armseligen, lichtlosen Dorfleben loszureißen, zeigte ihre Haltung auf dem Woronescher Kongreß und ihr Schwanken anläßlich der Spaltung des Bundes »Land und Freiheit«. Damals waren wir beide – sie und ich –, die wir soeben erst das Dorfleben verlassen hatten, noch mit ganzer Seele mit ihm verbunden. Man forderte uns zur Teilnahme am politischen Kampf auf, man rief uns in die Stadt, wir aber fühlten, daß das Dorf unsere Kräfte brauche, wir waren der Überzeugung, daß es ohne uns dort – noch finsterer sei. Der Verstand riet, gemeinsam mit den Genossen zu gehen, die den Weg des politischen Terrors einschlugen. Das Gefühl aber zog uns zurück in die Welt der Elenden und Enterbten. Später erst erkannten wir, daß jene Stimmung der Drang nach einem sittlich-reinen Leben, nach höheren persönlichen Werten war – damals aber gaben wir uns noch keine Rechenschaft darüber ab. Nach einem inneren Kampfe hatten wir unser Gefühl, unsere Stimmung gemeistert; wir verzichteten auf die moralische Befriedigung, die uns das Leben und die Arbeit auf dem flachen Lande gegeben hätte, und stellten uns in Reih und Glied mit den Genossen, die uns durch ihren politischen Instinkt überlegen waren.
Seit dem Woronescher Kongreß nahm Perowskaja bei allen terroristischen Unternehmungen des Vollzugskomitees der »Volksfreiheit« den ersten Platz ein. Sie war es, die die Rolle der liebenswürdigen, einfachen Wirtin in dem ärmlichen Häuschen spielte, das in Moskau, am Rande der Stadt, für 700–800 Rubel gekauft worden war, und von dem aus das Attentat auf den kaiserlichen Zug am 19. November 1879 ausgeführt wurde. Im entscheidenden Moment blieb sie mit Stepan Schirajew im Häuschen, um, sobald der kaiserliche Zug sichtbar wurde, das Signal zum Sprengen der Mine zu geben.
Immer wachsam, immer auf der Hut, gab sie es rechtzeitig, und nicht sie war schuld daran, daß statt des kaiserlichen Zuges der seiner Begleitung durch die Explosion zur Entgleisung gebracht wurde.
Nach der Explosion am 5. Februar 1880 im Winterpalast kam Perowskaja im Sommer nach Odessa, um dort ein neues Attentat zu organisieren.
Im Jahre 1881, als das Vollzugskomitee seinen siebenten Anschlag vorbereitete, organisierte Perowskaja gemeinsam mit Scheljabow die Kolonne, die die Aufgabe hatte, die Fahrten des Zaren auszukundschaften und zu signalisieren; sie leitete die Bombenwerfer nicht nur in den Tagen der Vorbereitung, sondern auch während des Attentats am 1. März. Sie war es, die, als sich die Situation infolge der veränderten Marschroute des Zaren verschob, den ganzen Plan aus eigener Initiative umstellte; ihrer Geistesgegenwart war es zu verdanken, daß der Kaiser den zwei Terroristenbomben zum Opfer fiel. Sie hat den 1. März gerettet und ihn mit ihrem Leben bezahlt.
An ihrem einfachen Äußeren hätte man nie erraten können, aus welcher Sphäre sie stammte, unter welchen Bedingungen sie ihre Kindheit und Mädchenzeit verbracht hatte. Ihr allgemeiner Gesichtsausdruck mit den weichen, kindlichen Linien verriet nichts von der Festigkeit des Charakters und dem eisernen Willen, den sie anscheinend vom Vater ererbt hatte. Überhaupt war in ihrer Natur weibliche Zartheit mit männlicher Strenge gepaart. Während sie für das Volk eine echt mütterliche Zärtlichkeit hatte, war sie in ihren Anforderungen ihren Gesinnungsgenossen gegenüber streng und unerbittlich. Ihre politischen Feinde und die Regierung bekämpfte sie unermüdlich. Nach dem Prozeß der 193 war ihre Wohnung in Petersburg das Zentrum, in dem die freigesprochenen Kameraden sich trafen. Aber nur diejenigen wurden zu diesen Zusammenkünften zugelassen, die gegen das Gericht protestiert und es nicht als Gericht anerkannt hatten. Der Angeklagte Myschkin hatte durch seine starke Persönlichkeit und seine wunderbare Rede, die er vor Gericht hielt, einen solchen Eindruck auf Sofja Lwowna gemacht, daß der Gedanke, ihn aus seinem Gefängnis zu befreien, zu ihrer fixen Idee geworden war. Der Verwirklichung dieser Idee hatte sie viel Kraft geopfert.
Im Einklang mit den Idealen der Epoche war Perowskaja eine große Asketin. In ihrer täglichen Lebenshaltung war sie unsagbar anspruchlos; wie streng sie in bezug auf die Organisationsmittel war, davon zeugt, daß sie mich einmal bat, ihr 15 Rubel zu leihen, die sie für Arzneien ausgegeben hatte; sie wollte diese Ausgabe nicht mit Organisationsgeldern bestreiten, sondern beabsichtigte, zu diesem Zweck ein Kleid zu verkaufen, das ihr die Mutter geschickt hatte.
In jenen unvergeßlichen Tagen, die dem 1. März vorangingen, lernte ich auch ihre zarte Fürsorge für ihre Kampfgenossen kennen, deretwegen sie nie zögerte, ihre eigenen Interessen zu opfern. Als sie nach Scheljabows Verhaftung gezwungen war, ihre Wohnung zu verlassen, übernachtete sie bei Fremden, bald hier, bald dort.
»Werotschka, kann ich bei dir übernachten?« fragte sie mich zwei bis drei Tage vor ihrer Verhaftung. Erstaunt über ihre Frage, entgegnete ich ihr vorwurfsvoll: »Wie kannst du danach fragen? Ist es nicht selbstverständlich?« »Wenn man hier Haussuchung hält und mich bei dir findet,« erwiderte Perowskaja, »so wirst du gehängt – darum frage ich dich.« Ich umarmte sie und antwortete, auf den Revolver zeigend, der am Kopfende meines Bettes lag: »Ob sie dich finden oder nicht, ich werde schießen.«
Im schwarzen Gewand, mit gefesselten Händen, ein Brett mit der Inschrift »Zarenmörder« auf der Brust – so brachte man sie alle zum Hinrichtungsplatz: Scheljabow – den Bauer, Kibaltschitsch – den Pfarrerssohn, Timofej Michailow – den Arbeiter, Ryssakow – den Bürger, Perowskaja – aus altem adligem Stamme – als ob sie alle Stände des russischen Reiches symbolisieren sollten. Auf dem Schafott umarmte Perowskaja Scheljabow, Kibaltschitsch, Michailow, wandte sich aber von Ryssakow ab, der die Adresse der Wohnung in der Teleschnajastraße verraten und dadurch Ilesja Helfman, Sablin und Michailow den Händen der Henker ausgeliefert hatte, im Wahn, sich dadurch selbst retten zu können.
Perowskaja starb, im Leben wie im Sterben sich selbst getreu.
Die Bedeutung des 1. März war ungeheuer. Um dies zu verstehen, ist es notwendig, sich die Zustände jener Epoche zu vergegenwärtigen.
Nach jahrhundertelanger Reaktion hatte Alexander II. die Bauern-, Selbstverwaltungs- und Gerichts-Reform durchgeführt und dadurch der Entwicklung Rußlands einen gewaltigen Stoß nach vorwärts gegeben; er lenkte sie in die Bahnen des allgemein-menschlichen Fortschritts. Aber schon die erste und größte dieser Reformen – die Bauernbefreiung – blieb in ökonomischer Beziehung weit hinter den Forderungen der besten Vertreter der damaligen russischen Gesellschaft zurück, und 15 Jahre später, als an Stelle einer elenden Lobhudelei eine ernste Kritik eingesetzt hatte, wurde sie von der Publizistik offen als ein unter dem Druck des interessierten Standes – der Gutsbesitzer – durchgeführtes Kompromiß bezeichnet, das in keiner Weise dem gesteckten Ziele »der Besserung der wirtschaftlichen Existenz des Bauernstandes« entsprach. Die anderen Reformen wurden unter dem Einfluß der Gegner der Reformen und der jetzt vom Zaren selbst an den Tag gelegten reaktionären Gesinnung verstümmelt und durch allerlei Ergänzungen, Ausnahmen, Auslegungen jeglichen Wertes beraubt. So kam es, daß die besten Elemente der Gesellschaft und die Regierung verschiedene Wege einschlugen, und daß erstere jeglichen Einfluß auf die Regierung und Staatsverwaltung einbüßten.
Diese Unzufriedenheit der besten Elemente der russischen Gesellschaft hatte sich schon bei Beginn der Herrschaft Alexanders II, in den sechziger Jahren, in den Studentenunruhen Luft gemacht und war in den Prozessen von Tschernyschewski, Michailow, Karakosow, Netschajew und Genossen zum Ausdruck gekommen. Im Zusammenhang mit dem polnischen Aufstand führten diese Bewegungen eine Verschärfung der Reaktion herbei: die Reaktionäre nutzten die Lage aus, und Anfang der 70er Jahre war die Spaltung zwischen der Regierung und der Gesellschaft vollständig. Seit jener Zeit war die Auflehnung eines Teils der Untertanen des Zaren gegen seine Methode der Staatsverwaltung chronisch geworden. Dies zog die strengsten Repressalien und die äußerste Unterdrückung nach sich, was wiederum eine schärfere Auflehnung hervorrief. Ende der 70er Jahre war das ganze innere Leben Rußlands vom Kampf gegen die »Kramola« (= Revolution) beherrscht. Aber weder die Generalgouverneure und Kriegsgerichte, noch der Ausnahmezustand und die grausamen Hinrichtungen, weder Hunderttausende Soldaten, noch Scharen von Schutzwachen und Spitzeln und das ganze Gold des Kaisertresors waren imstande, den Herrscher aller Reußen, den Herrn der Geschicke von achtzig Millionen Menschen, vor der strafenden Hand der Revolutionäre zu schützen.
Der 1. März war insofern lehrreich, als er der letzte Akt im zwanzigjährigen Kampf zwischen Gesellschaft und Regierung war. 20 Jahre Repressalien, Grausamkeiten und Maßregelungen, die gegen eine Minderheit gerichtet waren, aber auf allen lasteten – und das Resultat: Der Zar wurde getötet. Die ganze Gesellschaft erwartete diesen Tod mit der größten Gewißheit: die einen in höchster Angst, die anderen mit Ungeduld. Eine solche Lage war in der Weltgeschichte beispiellos und jedenfalls geeignet, sowohl Philosophen wie Moralisten und Politiker zu veranlassen, sich in ihr Wesen zu vertiefen. Die Bomben des Vollzugskomitees, die ganz Rußland erschütterten, warfen vor dem Lande die Frage auf: Wo ist der Ausweg aus dieser, abnormen Lage? Wo liegen die Ursachen? Wir glaubten, daß die Erfolglosigkeit aller Maßnahmen der Regierung im Kampfe gegen die revolutionäre Bewegung und ihre Unfähigkeit, die Unzufriedenheit durch Beseitigung der energischsten Leute unter den Unzufriedenen aus der Welt zu schaffen, durch die zwanzigjährige Erfahrung, die zum 1. März geführt hatte, genügend bewiesen worden sei. Nach unserer Überzeugung mußte – wenn nicht der Zar – so jedenfalls Rußland daraus seine Schlüsse ziehen. Wir glaubten, daß die frei zum Ausdruck kommende öffentliche Meinung vorschlagen würde, die wirklichen Ursachen der Unzufriedenheit, die in den allgemeinen politischen Zuständen begründet waren, zu beseitigen, statt einzelne ihrer Erscheinungsformen zu bekämpfen. Die ungewöhnlichen Umstände, die die Ereignisse des 1. März begleiteten und ihr großzügiger Charakter schienen dazu beizutragen, daß breite Kreise der Gesellschaft sich über diese Bedeutung des 1. März klar wurden.
Der 1. März hat auch die Bauernschaft aufs tiefste erschüttert. An die Stelle der täglichen Sorgen und Lokalinteressen trat plötzlich die Frage: »Wer hat den Zaren getötet und weshalb?« Alle, die zu jener Zeit und später auf dem flachen Lande wohnten, berichten übereinstimmend, daß die Ermordung des Zaren und die Ursachen dieser Tat die Bauerngeister stark bewegt und gezwungen habe, intensiv darüber nachzudenken. Zwei Schlußfolgerungen waren dabei möglich: entweder wurde der Zar durch Sozialisten getötet, die dem Volke Grund und Boden geben und es von der Unterdrückung des Beamtentums befreien wollen, oder durch die Gutsbesitzer, die rebellieren, weil der Zar die Bauern befreit hat, und sie die Leibeigenschaft wieder herstellen wollen. In dem einen Fall wurde das Volk durch die Gleichheit der Interessen für die Partei gewonnen, und die Partei fand in den Massen einen Stützpunkt, wie sie ihn selbst durch jahrzehntelange Propaganda nicht erworben hätte; in dem anderen Falle entstand in ihm heftiger Haß gegen die besitzende Klasse, und dieser Haß konnte in Anbetracht der furchtbaren ökonomischen Lage, in der sich das einfache Volk befand, zu einem entsetzlichen Blutbad unter dem privilegierten Stand ausarten. In beiden Fällen hoffte die Partei die Revolte, zu der die Ermordung des Zaren Veranlassung geben konnte, für ihre revolutionären Ziele ausweiten zu können. Der 1. März eröffnete auf diese Weise der Partei die Aussichten eines Bündnisses mit dem Volk.
Auch für die Partei selbst, für ihre revolutionäre Tätigkeit waren die Ereignisse vom 1. März von größter Bedeutung. Sie hatten das Vollzugskomitee in den Augen seiner Anhänger auf eine bisher unerreichte Höhe erhoben. Von allen Seiten erging an uns der Ruf: »Kommt und herrscht über uns!« Leider mußten wir uns immer wieder sagen, daß, wie reich auch die Ernte sein mochte, es uns dennoch an Schnittern fehlte.
Die Kehrseite des Moments war, daß der 1. März weder das Signal zu einem Volksaufstand gegeben hatte, noch die Regierung zu zwingen vermochte, irgendwelche grundsätzliche politische und wirtschaftliche Änderungen vorzunehmen, die den Unzufriedenen Zugeständnisse gemacht hätten. In Wirklichkeit gab sich die Partei nie der Illusion hin, die Zarentötung sei imstande, einen Volksaufstand herbeizuführen; sie war im Gegenteil immer darüber im klaren, daß dazu noch ungeheuer viel Arbeit und Mühe gehöre.
Es ist notwendig, noch auf die durch die Kampfmethoden sowohl der revolutionären Partei als auch der Regierung herbeigeführte Demoralisation einzugehen.
Gewalt als Mittel des politischen Kampfes ruft Verrohung hervor, weckt Raubtierinstinkte, veranlaßt zu schnödestem Vertrauensbruch. Freilich glichen die Revolutionäre die dunkle Seite ihrer Tätigkeit durch das hohe Ziel der Verteidigung der Sache aller Unterdrückten und Enterbten aus, durch die Solidarität und Brüderlichkeit, die die Beziehungen der Kämpfer untereinander kennzeichnen, durch die Selbstlosigkeit ihres Wirkens, den Verzicht auf alles materielle Wohl, auf jegliches persönliche Glück, durch das heroische Ertragen aller Leiden, beginnend mit Verfolgung, Gefängnis, Verbannung, Zuchthaus und mit dem Tod endend. Auf der anderen Seite ging die Zarenregierung mit größter Rücksichtslosigkeit und furchtbarster Grausamkeit gegen die Revolutionäre vor. Der Gedanke wurde in Fesseln, das Wort in Ketten gehalten, die Freiheit geraubt, Todesurteile ereilten die Besten. Die Verbannung auf administrativem Wege war eine tägliche Erscheinung, die Gefängnisse waren überfüllt, der Henker arbeitete rastlos; in den Gefängnissen und Zuchthäusern mißhandelte und peinigte man die »politischen Verbrecher« auf die ungeheuerlichste Art. Um sich Waffen gegen die revolutionäre Gefahr zu beschaffen, hatte die Regierung ein System weitverzweigtester und raffiniertester Spionage ausgebaut: alle Stände, Geschlechter und Altersstufen – angefangen mit 14 jährigen Mädchen und 11 jährigen Knaben – waren unter den Helfershelfern der Gendarmerie vertreten. Doch nichts versetzte der revolutionären Bewegung einen so furchtbaren Schlag, wie der geglückte Versuch, einen Revolutionär im Netz des schmutzigen Spitzeldienstes zu fangen. Nichts schmerzte mehr, als in einem ehemaligen Kampfgenossen, den man oft jahrelang als Kameraden und Bruder betrachtet hatte, einen Gendarmerieschergen zu entdecken, der uns zynisch zurief: »Das haben Sie wohl nicht erwartet?« Und wie oft wurde mit Erfolg Mißtrauen in unseren eigenen Reihen gesät, Bruder gegen Bruder aufgehetzt, so daß manch einer bereit war, die Hand gegen den eigenen Kampfgenossen zu erheben, in dem man einen Verräter erkannt zu haben glaubte. Ich selbst war zweimal nicht mehr weit davon entfernt, Menschen aus der Welt zu schaffen – in einem Falle eigenhändig –, die ich selbst oder Genossen mit felsenfester Sicherheit als Verräter und Schurken betrachteten, die ihr Leben also durch Verrat verwirkt hatten.
Ja, es ging so weit, daß es einem vor den Menschen graute.