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... Ein Lied von dem, was war,
zu Ende ist und nie mehr sein wird.
Aus dem Vorwort zum II. Band der
Lebenserinnerungen Wera Figners.
Die nachfolgende Darstellung ist ein Teil der umfangreichen Lebenserinnerungen Wera Figners Malik-Verlag, Berlin 1926. (Sapecatljonny trud), die, im Jahre 1922 abgeschlossen, die getreueste Schilderung nicht allein ihres Lebens, sondern auch der wichtigen, heroischen Vorstufe der russischen Revolutionsbewegung ist, der Jahre 1875-1883. Wera Figners Leben ist unlösbar verflochten mit dem Entstehen, Wirken und dem Untergang der Semlja i Wolja (»Land und Freiheit«) und der späteren Narodnaja Wolja (»Volksfreiheit« Malik-Verlag, Berlin 1926.), des ersten Umsturzbundes mit nicht nur festem politischen Programm (Zarensturz, Republik Rußland, Aufbau sozialistischer Volkswirtschaft auf der Dorfgemeinschaft), sondern auch mit einer übers ganze Land ausgespannten, straff zentralisierten, »jakobinisch« aufgebauten Organisation (mit »Zellen« in Heer und Flotte, mit Bauernagitation, Arbeiter- und Intelligenzler-Hilfsgruppen), zu deren Taktik auch der Einzelterror gehörte, Attentate.
Wera Figner, geboren am 24. Juni 1852 im Wolgagebiet (Kasan), entstammt – wie sie selbst es im ersten Kapitel ihrer Erinnerungen schildert – väterlicherseits einer geadelten Familie; der Vater ihrer Mutter war Bezirksrichter gewesen. Doch wollte man die Schicht, aus der sie stammte, und in der sie in ihrer Jugend lebte, lediglich mit der Bezeichnung »Adel und höheres Beamtentum« charakterisieren, so ergäbe sich für den westeuropäischen Leser ein falsches Bild: denn auch im heutigen Deutschland kann man sich meist keinen wirklichen Begriff machen von jenem ungeheuren Gegensatz zwischen der mittelalterlichen, auf Bajonett und Knute gestützten Feudal- Reaktion des Zarismus und der noch schwachen, eben aufkeimenden bürgerlich-bäuerlichen Revolution, als deren Vorläufer die Dekabristen schon 1826 fielen. Denn in Deutschland kennt man nicht jene gewitterschwere Atmosphäre, deren enormer Druck Scharen junger Adliger und Bürger »ins Volk hinab« zwang, nach Sibirien und aufs Schafott gehen hieß, – und auf der anderen Seite, in der fortschreitenden Fäulnis und Zersetzung des Zarenregimes, Kleinbürger und Bauern im Gewande von »Heiligen« und »Rettern«, wie Rasputin, an den Zarenthron »emporhob«. Von Wera Figners fünf Geschwistern endeten zwei Schwestern, die sozialistische Arbeiterpropagandistin Lydia und die Attentäterin Eugenia, im sibirischen Gefängnis; die jüngste, Olga, folgte ihrem Manne, einem revolutionären Arzt, in die Verbannung nach Sibirien.
Die Kindheit verlebte Wera auf dem elterlichen Landgut, unter einem despotisch harten, soldatisch pedantischen Vater, einer sanften, scheuen, gebildeten Mutter. Vom elften bis zum siebzehnten Jahr ist sie Zögling in Kasan in einem Institut für adlige Mädchen, das sie als beste Schülerin, mit der »goldenen Medaille«, 1869 verläßt. Damals schon zeichnete sich ein Grundzug ihres späteren Charakters ab: mit dreizehn Jahren las sie den Spielhagenschen Roman »In Reih und Glied«; er »machte auf mich einen unauslöschlichen Eindruck: ich begriff die Charaktere der ... Personen und die soziale Seite des Romans sehr gut: die edlen Bestrebungen ..., und die ganze Hohlheit der bürgerlichen Gesellschaft ...« Dieser Roman »stellte zwei Lager scharf und bestimmt einander gegenüber; in dem einen sah ich hohe Ziele, Kämpfe und Leiden –, im andern nur satte Selbstzufriedenheit, Leere und Flittergold«. Von einem andern Werk, Nekrassows Poem »Sascha«, heißt es in ihren Denkwürdigkeiten: »... dieser Roman ... lehrte: keine Phrasen machen, sondern seinen Prinzipien getreu leben. Dies von mir selbst, ebenso wie von anderen, fordern – wurde zur Losung meines Lebens.« 1870 heiratet sie (einen späteren Justizministerialbeamten, Filippow) und bewegt ihren Mann, mit ihr die Universität Kasan zu beziehen; als ihr Lehrer, der hervorragende dortige Anatom Leshaft, vom Zaren gemaßregelt wird, geht sie 1872 nach Zürich und schließt dort 1875 ihr ärztliches Studium ab. Während sie im Laufe ihrer Züricher Jahre theoretisch und gefühlsmäßig zur Revolutionärin und Sozialistin wird, erkennt sie das ihr fremde, konservativ-bürgerliche Wesen ihres Mannes und trennt sich von ihm; kehrt in die Heimat zurück mit dem klaren Ziel: Wirken gegen das Herrschende, für die Revolution, zunächst in der Rolle einer Landverwaltungs-Ärztin.
Das weitere bringen die nachfolgenden Kapitel: die Vorgeschichte und die geglückte Ausführung des Attentats auf Zar Alexander II. – Nach der Verhaftung und Hinrichtung der hervorragendsten Beteiligten blieb Wera Figner die geistige und organisatorische Führerin der »Narodnaja Wolja «, bis deren Reihen sich unter den immer dichter hagelnden Schlägen der Polizei und ihrer Lockspitzel mehr und mehr lichten, und Wera, die Führerin, selbst das Opfer des Verrats zweier ehemaliger Genossen wird. Ausführlich schildert sie die Verhaftung, die langjährige Untersuchungshaft, den Prozeß und die über 20 Jahre währende Einzel-Kerkerhaft in den Schlüsselburg-Kasematten. Diese Schilderung gehört zum Ergreifendsten, was von und über Revolutionäre, über Leben in Haft und über die Standhaftigkeit der menschlichen Seele geschrieben worden ist, wozu noch die politisch-historische Bedeutung des Buches und die Aufdeckung der zaristischen Gefängnisgreuel kommt.
Heute lebt Wera Figner in Moskau im »Heim der ehemaligen politischen Zuchthäusler« und unternimmt zuweilen noch Vortragsreisen durch die Sowjetrepubliken zugunsten der Internationalen Roten Hilfe. –
Die hier folgenden Aufzeichnungen über die Jahre 1875 bis 1883 verdienen besondere Beachtung: obgleich sie russisch erst 1922 erscheinen konnten, sind Notizen dazu doch schon 1883, bald nach der Verhaftung Wera Figners (also kurz nach den geschilderten Vorgängen), als Darstellung ihrer Tätigkeit, für den Untersuchungsrichter niedergeschrieben worden; 34 Jahre später, nach dem Sieg der Revolution von 1917, wurde die Niederschrift im Archiv des Polizeidepartements aufgefunden und der Verfasserin übergeben; es erleichterte ihr nach der 22jährigen Haft, jene verwickelten Begebnisse deutlich zu vergegenwärtigen.
Diese einleitenden Worte sollen und können keine Würdigung der politischen Ziele und Wege der »Narodnaja Wolja« geben, ebensowenig des von ihr angewandten Einzelterrors gegen den Zaren und die übrigen Machthaber. Erwähnt sei aber das Wort Lenins auf die Frage nach seinem d. h. der Bolschewiki Verhältnis zu den alten russischen individuellen Sozialterroristen: »... Wir billigen ihre Methode nicht, aber wir achten diese Genossen hoch wegen ihres Opfermuts und ihrer Treue.« (So gehörte auch Lenins älterer Bruder, der 1887 für einen Attentatsversuch gehängte Alexander Uljanow, zu einer Gruppe, die der letzte Ausläufer der »Narodnaja Wolja« war.) Und rückschauend sagt Wera Figner selbst: »Doch hatte die ›Volksfreiheit‹ das ihrige getan. Sie hatte Rußland, jenen unbeweglichen, passiven Koloß, erschüttert. Auch gingen ihre Erfahrungen für die weitere Entwicklung nicht verloren: das Bewußtsein, die politische Freiheit sei unbedingt notwendig« (ehe die Befreiung des Menschen von der »Wirtschaft« – der Sozialismus – durchzusetzen sei), »blieb den folgenden Generationen eingeprägt, in allen späteren revolutionären Programmen tritt die politische Freiheit als Hauptforderung auf. In ihrem Streben nach einer freien Gesellschaftsordnung war die ›Volksfreiheit‹ der Vortrupp ... Dieser Vortrupp eilte zumindest um ein Vierteljahrhundert der Gesamtarmee voraus und blieb vereinsamt ...« Und zusammenfassend sagt sie im II. Teil ihrer Erinnerungen: »Wenn mein Buch auch von der Vergangenheit spricht und nichts Neues in das praktische Leben des gegenwärtigen revolutionären Augenblicks (1922, d. Ü.) hineinbringt, so wird doch sicherlich der Augenblick kommen, wo es seine Aufgabe erfüllen wird. Wenn auch die Toten nicht zum Leben auferstehen, so stehen doch die Bücher auf.«
In diesem Sinne sei auch »Das Attentat auf den Zaren« dem deutschen Leser unterbreitet.