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Sankt Michael

Auf der Bahnhofskommandantur von Valenciennes erfuhr Talbot, dass seine Abteilung gar nicht weit davon im Dorfe Bugnicourt lag. Er liess sich verbinden, Leutnant von Leerodt kam ans Telefon, der vor Freude kaum ein vernünftiges Wort redete. Talbot fuhr mit dem nächsten Zuge nach Douai; dort holte Leerodt ihn mit dem Wagen ab.

Als sie in das freundliche Dorf einfuhren, standen Kanoniere und Fahrer auf der Strasse. Talbot sah neben bekannten viele unbekannte Gesichter, aber alle strahlten. Talbot und Leerodt stiegen ab, und gingen zu Fuss weiter, während Wöbke mit dem Gepäck nach dem Stabsquartier fuhr. Da und dort blieb Talbot stehen und war bald von Leuten seiner alten dritten Batterie umringt; sie hätten ihn auf den Schultern in sein Quartier getragen, wenn nicht ein warnender Blick des Wachtmeisters Korn sie abgehalten hätte.

Im Stabsquartier, das in dem efeuumwachsenen Pfarrhause lag, waren die Offiziere versammelt. Hauptmann Schreiber meldete als der älteste »die Herren zur Stelle«. Es fiel Talbot auf, wie müde und gealtert der vor Jahresfrist noch so frische und heitere Mann aussah. »Tag, meine Herren,« sagte Talbot, »ich freue mich, Sie begrüssen zu können. Allah hat mich aus dem Lande der Türken, die er den Engländern noch lange erhalten möge, heil entkommen lassen. Auch das schöne preussische Berlin hat mich nicht festhalten können. Sie kennen mich; ich kenne die Mehrzahl von Ihnen. Ich hoffe in diesem etwas länglichen Orlog das Finish mit Ihnen reiten zu können.«

Dann gab er allen die Hand, sprach mit jedem ein paar Worte; als er den Oberleutnant Bickel sah, schlug er ihm kräftig auf die Schulter: »Lebt er noch, oller Freund?«

»Zu Befehl.«

»Mich auch«, erwiderte Talbot lachend. »Wo ist Schulz?«

»Vor vierzehn Tagen gefallen.«

Talbot stiess den Spazierstock seines Vaters, den er trug, auf den Boden und antwortete nicht; dann fragte er: »Wo ist Doktor Pilukeit?«

»Dienstlich unterwegs, Herr Hauptmann.«

»Na, wenigstens der blieb uns erhalten, Allah kerim!«

»Die Abteilung hat, seit Herr Hauptmann fort sind, elf Offiziere und hundertvierundachtzig Mann verloren«, sagte Leutnant von Leerodt leise.

Talbot schwieg einen Augenblick; dann sagte er: »Nun, es kann jeden von uns treffen. Das Pathetische liegt mir nicht. Aber es heisst für uns, alle vier Backen zusammenkneifen; es gilt die letzte Anstrengung. Was wir früher erlebt haben, war eine Kinderei gegen das, was bevorsteht. Die Abteilung muss auf Draht gehen und ihren alten Ruhm erneuern. Ich werde das meinige dazu tun. Ich danke den Herren.«

Da er sich umdrehte und den Raum verlassen wollte, eilte Leerodt ihm nach und bat ihn zum Frühstück.

Am Nachmittag besprach er in seinem freundlichen Zimmer mit dem Adjutanten das Ausbildungsprogramm für die Ruhezeit von sechs Wochen, die die Abteilung in Bugnicourt verbringen sollte. Er erkundigte sich über die Mannschaften, die Pferde und die artilleristischen Neuerungen, die inzwischen eingeführt waren.

Abends fuhr er nach Fressain, wo der Divisionsstab lag und wurde auch hier freudig empfangen. Der weisse Falke war Generalmajor geworden und trug wieder neue Orden. Er fragte auch Talbot sogleich, wieviel Orden er aus der Türkei mitgebracht hätte.

»Sehen Herr General, so hätte ich beinahe das Wichtigste vergessen. Ich habe den Halbmond und eine goldene Medaille, den Namen hab ich auch vergessen. Aber darauf steht: 'Tod den Christenhunden'. Nette Aufmerksamkeit, nicht? Beim Passieren von Sofia habe ich dann auf dem Bahnhof noch den Bulgaren bekommen.

»Aber Latour!«

»Wirklich, Herr General! Nicht fürs Durchfahren allein; sondern weil ich ein ganzes Paket von den schönen blauen Kreuzen mitnahm, da haben sie mir gleich eins davon gegeben.«

Der Generalmajor schwieg. »Warum tragen Sie die Orden denn nicht?« fragte er dann.

»Wie gerne! Aber ich hatte sie leider in Berlin im Schreibtisch eingeschlossen und bei der Abreise vergessen. Den ganzen Weg hierher fehlte mir etwas, und ich konnte nicht darauf kommen, was. Erst in Valenciennes wurde mir's klar. Da wollte ich wieder umkehren ...«

»Ach nee!« sagte der Falke. Der Adjutant trat ein mit Papieren zur Unterschrift, und Talbot verabschiedete sich und begab sich zum Divisionskommandeur.

General Schröder empfing ihn sehr liebenswürdig. Er musste ihm den Tod seines alten Freundes, des Generals Rudolf mitteilen; der alte Herr war seiner Gewohnheit nach bei einem Einbruch der Engländer selbst nach vorne geeilt und war von einer Handgranate zerrissen worden. Es war eine traurige Nachricht für Talbot: er dachte an seinen Vater. Auch der Divisionär dachte daran und sprach ihm sein Beileid aus; um abzulenken sagte er: »Es ist schön von Ihnen, lieber Latour, dass Sie vom Generalstab freiwillig zu uns zurückgekommen sind.«

»Ich habe in Berlin Derartiges erlebt, Exzellenz«, sagte Talbot, »dass ich mich zur Front gemeldet habe. Sonst könnte ich wohl Tinte schlucken bis zum bitteren Ende.«

»Bittern ... Ende? Ja, glauben Sie denn nicht an ein gutes Ende?«

»Wir hoffen es, Exzellenz«, erwiderte Talbot in einem Ton, dass der General aufsah.

»Es ist alles in den besten Händen«, sagte der Divisionär.

Sechs Wochen später, in einer Märznacht, zog die Abteilung in Marschkolonne aus dem schweigenden Dorf. Auf allen Strassen im Umkreis zogen ähnliche Kolonnen vorwärts. Ein leises Rasseln, Hufschlag, Schnauben der Pferde, Kommandoworte und Flüstern. Ein paar Stunden ging es durch Alleen und zwischen Wiesen hin. Bäume mit noch kahlen Zweigen, aber überall mit Frühlingsknospen besetzt, in den stillen Dörfern Blumentöpfe in den Fenstern, kleine Kirchen mit Efeu umsponnen.

Bis all dies auf einmal ein Ende nahm. Oedes, zerschossenes, aufgewühltes Feld mit tiefen Gruben, nackte Erde mit Baumsplittern; wo noch Spuren einer Ortschaft waren, rauchgeschwärzte Mauerreste, Schutt und Trümmer. Zwei Stunden nach Mitternacht kam ein Offizier auf Talbot zu. Es war Leerodt, der sich mit dem übrigen Stab schon vorher nach dem Gefechtsstand begeben hatte. Die ganze Kolonne hielt, teilte sich, die Batterien fuhren in dem schwachen Licht der Sterne auf, rückten in ihre Stellungen, die Protzen wurden abgehängt und fuhren zurück. Und weit und breit, im Umkreis der Nacht, rückten jetzt, in gleicher Weise, die schweigenden Geschütze, zu Hunderten und Hunderten an die ihnen gewiesenen Stellen.

Talbot stand, seine Zigarre rauchend, auf den Stock seines Vaters gestützt, bei der zweiten Batterie. Jemand schrie auf. »Was ist los?« rief er.

»Halt die Fresse!« tönte es zurück.

»Hier ist der Abteilungskommandeur! Was ist los?«

»Zwei Mann verletzt, Herr Hauptmann«, rief jemand aus dem Dunkeln.

Talbot trat näher und fuhr einen Vorderreiter an, der mit den Pferden nicht fertig wurde. Zwischen den bewegten Schatten konnte er die Geschosse eifrig schwirren hören, wie Moskitos.

»Nette Sch ...«, sagte er zu dem Führer der Batterie und stampfte mit seinem Stock durch die lockere Erde davon.

Jetzt krachte es dicht vor ihm, eine schwere englische Granate war eingeschlagen; rosa Stichflammen stiegen auf. Maschinengewehrmunition war in Brand geraten.

»Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!« keuchte jemand hinter ihm.

»Was denn?«

»Wollen Herr Hauptmann nicht in den Stollen kommen?« Es war Leerodt.

»Nee. Sehn Sie doch, wie nett das Zeugs brennt.«

»Wir werden noch ganz andres Feuerwerk zu sehen bekommen ... übermorgen!«

»So wird's wohl sein«, sagte Talbot.

Vor dem Stollen standen Oberleutnant Bickel und der Arzt Doktor Pfeilschmidt. Talbot begann:

»But soft, what light through yonder window breaks?
It is the east, and Bickel is the sun?«

Der Oberleutnant machte ein schmerzliches Gesicht. »Shakespeare für Ihre Nerven, Bickel!«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann. Ist das aus dem Sommernachtstraum?«

»Nee, Romeo und Julia.«

»Ich dachte, Sommernachtstraum passt heute.«

»Habt Ihr was zu saufen?«

»Anon, Sir, anon.«

Talbot stieg die Stollentreppe hinab, nickte den Fernsprechern und Ordonnanzen zu und setzte sich auf die schmale Bank vor dem Kartentisch. Eine Flasche Rotwein wurde entkorkt und auf den Tisch gestellt.

»Da bin ich ja in einen sehr klassischen Stab geraten«, meinte der Arzt lächelnd.

»Ja, mein lieber Herr Doktor, wir lieben Shakespeare und Burgunder, im Notfall auch Korn. Sogar Bickels Wachtmeister heisst Korn.«

Ein junger Kriegsfreiwilliger von den Fernsprechern lachte laut auf. »Halt die Fresse!« zischte ein Unteroffizier.

»Alkohol gibt es, wie noch nie!« sagte der Adjutant.

»Dann werden viele besoffen ins Paradies eingehen.« Talbot trank ein Glas leer und begann mit den Offizieren die letzten Vorkehrungen zu besprechen.

Als er am Morgen vor den Stollen trat, ging ein leiser Regen nieder. Das ganze Trichterfeld war lebendig; Minenwerfer schleppten Munition, Infanterietrupps stiegen durch den Schlamm und die wassergefüllten Trichter. In einem Granatloch gurteten Maschinengewehrschützen die Munition nach. Fernsprecher mit Rollen auf dem Rücken zogen Drähte über den Boden.

Den Tag über blieb die Feuertätigkeit auf beiden Seiten gering. Talbot ging von einer Batterie zur andern, sprach mit der Bedienung, liess sich von den Führern berichten; nachmittags hatte er eine letzte Besprechung im Gefechtsstand. Dann verglich er die Uhren nochmals und setzte sich, als die Offiziere gegangen waren, an den Kartentisch. Den ganzen Tag kamen Fernsprüche, Meldungen, Papiere zur Unterschrift, auf dem Tisch neben Akten und Karten stand die Flasche. Um zehn Uhr warf er sich erschöpft und weinbeschwert auf sein Bett.

Um vier Uhr morgens stand er auf. Eben wurde der Funkspruch durchgegeben: »Seine Majestät der Kaiser und Hindenburg haben sich auf den Schauplatz der Operationen begeben.«

Talbot zuckte die Achseln und ging nach oben. Es war eine sternklare Nacht.

Eine Stunde später begann die Erde weithin zu erzittern. Die Kanonen brüllten, Blitze flammten, Rauchschwaden wälzten sich über den grauen zerrissenen Boden.

Talbot kletterte auf die Böschung über dem Stollen und betrachtete das Schauspiel.

Vor der englischen Stellung hob sich eine haushohe Wolkenwand. Tausende von Einschlägen blitzten auf und färbten die Rauchwolken hellgelb und blutigrot.

Talbot verspürte plötzlich Brechreiz; Gasschwaden waren zurückgetrieben worden. Er drehte sich um und bemerkte Leerodt, der ihn schon die ganze Zeit beschwor, hinunterzukommen.

»Zum K ... für die armen Beefs«, sagte er im Stollen. Er füllte einen Trinkbecher mit Rum und goss ihn hinab. Hinter ihm klappten ein paar Sporen.

»Unteroffizier Wöbke zur Stelle«, meldete die bekannte Stimme.

»Wer hat Sie herbestellt, Unteroffizier Wöbke?«

»Niemand Herr Hauptmann.«

»Was wollen Sie dann?«

»Ich habe für Herrn Hauptmann Frühstück gebracht und Post.«

»Bist wohl auf dem Kreuzzug? Für Frühstückspatrouillen gibt es kein Kreuz Erster, mein Lieber!«

»Nein, Herr Hauptmann.« Er grinste.

»Bleiben Sie hier, und dann in meiner Nähe!«

»Jawoll, Herr Hauptmann!« Das Fuchsgesicht strahlte.

Meldungen kamen. Es verlief alles planmässig. Der sichtliche Erfolg und der Alkohol erhöhten die Stimmung. Talbot erzählte Geschichten aus der Türkei. Durch das Getöse hindurch hörte man das Brummen eines Infanterie-Fliegers dicht über dem Stollen. »Eines Tags«, erzählte Talbot, »gab Faruk Bey einen Befehl heraus, worin er den deutschen Fliegern das Fliegen von Kurven und Spiralen wegen Benzinmangels verbot. Das Aufklärungsziel sei auf direktem Wege zu erreichen. Auch Notlandungen müssten vermieden werden.« Er wurde immer gesprächiger, erzählte von der Gazaschlacht, von den Arabern, wie er Jerusalem gesehen, und von der Küche der verschiedenen Achmeds. »Kinder«, schloss er »Ihr könnt gar nicht glauben, wie froh ich bin, wieder so gemütlich bei Euch zu sein!«

Der Doktor drehte sich um und ging in einen Seitenstollen, in dem, bleich, sein Feldunterarzt sass, dem das schwere Schiessen auf die Nerven gegangen war. »Gehen Sie dort hinein, lieber Braun«, sagte er, »und hören Sie dem Häuptling zu; der freut sich, dass es hier so gemütlich ist, als ob es das Schützenfest des Kriegervereins Meseritz wäre!«

Nach acht Uhr fingen die schweren Minenwerfer zu schiessen an. Das Getöse nahm zu. Auch in der Tiefe des Stollens war kaum ein Wort zu verstehen. »Herr Leutnant von Leerodt«, schrie Talbot, »fragen Sie bei den Batterien an, ob die Protzen überall bereitstehen.«

»Befehl.«

»Punkt dreiviertel müssen unsere Pferde hier sein.«

»Ist alles besorgt, Herr Hauptmann. Klappt wie im Pantinenkeller.«

Kurz vor zehn Uhr trat auf der ganzen Front des Unternehmens, das mit dem Deckwort »Sankt Michael« bezeichnet war, die Infanterie zum Sturm an. Ueberall in den Falten des Geländes standen sie, kompanie- oder gruppenweise, das Gewehr bei Fuss, die Stahlhelme auf dem Kopf, und gingen jetzt in weiten Schützenlinien vor. Welle um Welle liefen sie über das Gelände. Die leichte Artillerie sollte unmittelbar hinter der dritten Welle folgen.

Die Offiziere des Stabes verliessen den Graben. Alle Batterieführer waren zur Stelle. Talbot kletterte nochmals auf die Böschung und sah den Sturm und das Fortschreiten der Feuerwalze, wo die Rauchschwaden sich weiter rollten und drehten.

Dann wendete er sich zu den Batterieführern und gab die nötigen Befehle.

Die Protzen wurden angehängt, die Fahrer sprangen auf, die Gespanne schwenkten, und die Geschütze fuhren los. Auf vorbereiteten Brücken fuhren die einzelnen Batterien über die eigenen Infanteriestellungen. Strohwische wiesen ihnen den Weg. Pioniere eilten ihnen voran und mit grossen Scheren zerschnitten sie alte rostige Drahthindernisse. Auf und nieder in der von furchtbaren Löchern gähnenden Erde, die Menschen halb taub und wie von Sinnen in dem Höllengetöse, abgesessene Reiter an den Zäumen der unruhigen, sich bäumenden Tiere, arbeiteten sich die Geschütze und Wagen mühselig, aber unerbittlich vorwärts.

Talbot schritt mit den Offizieren und einigen Fernsprechern weit voraus. Dicht hinter ihm folgte Wöbke mit Feldflaschen, Frühstücksbeutel und einer Zigarrenkiste, einen grünen Zweig in der Hand.

Die englische Artillerie hatte sich bisher kaum gerührt. Nur vereinzelte Infanteriegeschosse pfiffen über die vorrückenden Batterien hin. Talbot sah, wie die stürmende Infanterie vor dem Bahndamm, der von Ecoust nach Croisilles führte, liegen blieb. Er liess die dritte Batterie auffahren und den Damm auf etwa achthundert Meter Entfernung unter Feuer nehmen. Die übrigen Batterien setzten den Vormarsch fort.

Auf dem Damm erschienen braune Gestalten und winkten mit weissen Tüchern.

»Aufprotzen, Bickel, und weiter!« rief Talbot. Dabei drehte er sich um und fiel in ein mit Wasser gefülltes Granatloch. Fluchend kroch er wieder heraus.

Immer vorgehend wurde der Bahndamm erreicht und erstiegen. Oben blieb Talbot stehen, um zu beobachten, wie die Batterien die Durchgänge passierten. Jenseits des Damms liess er alle drei Batterien in Stellung gehen und die im Talgrund zurückgehenden Engländer beschiessen. Die Protzen fuhren hinter den Damm zurück. Von oben hatte er ausgezeichnete Sicht. Das Wetter war hell und klar. Neben dem Donner der Abschüsse, dem Krachen der Einschläge, war in der Luft jener unbeschreibliche Ton, der von den Hunderten von Geschossen herrührte, die in jeder Sekunde über den Köpfen der Sturmtruppen hinzogen. Bei den zerschossenen Dörfern vor ihnen, an der fernen Strasse, die sich zwischen zersplitterten Pappeln hinzog, konnte man die Einschläge der Mörsergranaten und der schweren Flachbahngeschütze deutlich wahrnehmen. Der weite Grund vor ihnen wimmelte von fliehenden Menschen, davonpreschenden Fahrzeugen.

Talbot blickte um sich. Da sah er wenige Schritte entfernt einen Verwundeten liegen. Es war ein indischer Offizier in brauner Uniform, der graugrüne Turban war ihm vom Kopf gefallen. Talbot trat näher und bot ihm seine Flasche. Der Inder roch den Rum mit einem Ausdruck unsagbaren Ekels. »Water!« stöhnte er.

Wöbke reichte ihm eine andere Flasche, und der Inder trank gierig. »Das ist der erste Mensch, den ich heute Wasser trinken sehe«, sagte Talbot. Dann fragte er, sich zu ihm niederbeugend, den Mann auf englisch, wie er heisse.

»Har Bishan Singh Brar, 4th Hyderabad-Regiment«, antwortete der Inder und streckte die Hand aus, wie um seinen Dank auszudrücken. Dann rollte er sich zusammen, und wurde nicht weiter beachtet. Talbot hatte sein Doppelglas wieder vorgenommen und sah in die Ferne, als dicht neben ihm, durch das Getöse deutlich vernehmbar, ein Pistolenschuss krachte. »Kreet, verdammtes!« brüllte Wöbke.

Talbot sah sich um. Die Pistole in der Hand, stand Wöbke vor dem toten Inder, aus dessen Kopf das Blut rann. »Er hatte mit seinem Revolver auf Herrn Hauptmann angelegt!« schrie Wöbke ihm zu.

»So ein Vieh!« sagte Talbot, »Erst Wasser trinken und dann ... Wöbke, Du wirst doch noch erstklassig, wenn Du so weiter mimst!«

»Es war aber Kaffee, Herr Hauptmann, und es ist gern geschehen!«

»Merci!«

Gegen Abend wurde in einer englischen Stellung ein provisorischer Gefechtsstand eingerichtet. Aber niemand vom Stab war zu finden. Offiziere und Fernsprecher suchten in den Unterständen nach Beute. Talbot wurde ernstlich böse. Dann kamen alle mit Schinken und Büchsenfleisch, Eiern, Dosen mit Marmelade aus echten Früchten, Büchsen mit Tee und Kaffee, Tabak, Zigaretten, Whisky, Likör und Weissbrot in Menge.

Die Nacht brach herein. Das Schiessen hatte aufgehört. Nur hier und da ertönten noch dumpfe Schläge.

Talbot lag in einem bequemen Liegestuhl, rauchte und pfiff das Frühlingslied von Mendelssohn.

»Sind Sie musikalisch, Herr Hauptmann?« fragte Dr. Pfeilschmidt.

»Wenn man's noch nicht war, konnte man's heute werden.«

»So hatte ich mir den Krieg nicht vorgestellt.«

»Im Vertrauen, Herr Doktor: ich auch nicht! Aber trösten Sie sich, es ist nicht alle Tage so.«

Leutnant von Leerodt trat aufgeregt ein: »Herr Hauptmann, draussen marschieren Tausende von gefangenen Tommys vorbei!«

»Recht so!«

»Wollen Herr Hauptmann sie nicht sehen?«

»Nein, ich will rauchen. Und nachher mir noch Tomaten à la Croisilles backen.«

Oberleutnant Bickel erschien im Eingang. »N' Abend, Herr Hauptmann! N' Abend, Ihr Scheiche!« rief er.

»Was gibt's Neues?«

»Nichts. Der Tommy besinnt sich, schiesst wieder.«

»Lassen Sie ihn schiessen! Muss er auch mal tun.«

»Eben ist auch der weisse Falke vorbeigestrichen.«

»Meinetwegen!« lachte Talbot.

In der Dunkelheit draussen vor dem Unterstand rief jemand: »Herr Hauptmann von Latour!«

»Sehen Sie mal nach, Leerodt, wer da so schreit!«

Leerodt verschwand und kam bald zurück, hinter ihm glitzerte im Schein der Karbidlampe das Monokel des weissen Falken.

»Ich suche Sie schon eine Weile, Baron«, sagte er und reichte Talbot die Hand. »Sie haben Ihre Sache heute glänzend gemacht. Die Infanterie hat sich bei mir dafür bedankt, dass Sie so rechtzeitig gegen den Bahndamm gewirkt haben.«

»Das war ich gar nicht, Herr General. Das hat Oberleutnant Bickel aus eigenem Entschluss getan.«

»Na, dann geben Sie ihn zum Hohenzollern ein.«

»Zu Befehl, Herr General. Darf ich dem Herrn General etwas Abendbrot anbieten?«

»Sehr liebenswürdig!«

»Wöbke, mach mal Rühreier mit Schinken, und gebt den Whisky her.« Er bot dem General einen Sitz an.

»Höllisch scharf, das Zeug«, sagte dieser, trinkend.

Die Rühreier wurden gebracht, ein zweiter Whisky eingeschenkt. Ehe er ging, sprach der weisse Falke der Abteilung nochmals seine Anerkennung aus. Talbot begleitete ihn ein Stück.

Als er zurückkam, sagte Bickel erregt: »Herr Hauptmann konnten doch nicht für mich so schwindeln!«

»Sie sehen doch, dass ich's konnte. Und schwindeln? Tun das Abteilungskommandeure? Die irren höchstens.«

»Aber Herr Hauptmann!«

»Ausserdem hätten Sie es bestimmt aus eigenem Entschluss getan, wenn ich nicht zufällig da gewesen wäre. Ich habe Sie daran gehindert. Und ... kommen Sie mal vor die Türe!«

Sie standen in dem dunklen Graben. Oben flimmerten die Sterne. Leuchtkugeln flammten auf und erloschen wieder; dann und wann dröhnte ein Kanonenschuss, aus der Ferne tönte Infanteriefeuer.

»Ihnen gesagt, Bickel, ich widerspreche ihm zu gerne. Ausserdem ist die Sache nur logisch. Wenn sich die Infanterie bei ihm für etwas bedankt, was er nicht getan hat, so kann doch ich es wieder jemandem zuschieben, der es immerhin ausgeführt hat. Klar? Und dem Hohenzollern kann ich auf die Dauer nur durch Selbstmord entgehen. Und nun wollen wir schlafen gehen.«

Am andern Morgen wurde Talbot mit der Meldung geweckt, dass die Infanterie noch vor Mory lag, einem der Dörfer, die er gestern gesehen hatte. Die Verluste waren schwer; die Engländer hatten sich von der ersten Ueberraschung erholt und leisteten hartnäckigen Widerstand.

Weissgrauer Nebel lag über dem Gelände. Talbots Gefechtsstand wurde nach vorne verlegt und wiederum in einer eroberten Stellung eingerichtet. Hinter der Höhe, auf der der Graben lag, fuhren die Batterien auf. Talbot hörte den Krach, sah, wie bei einem Geschütz der ersten Batterie eine Rauchwolke aufstieg und augenblickliche Verwirrung entstand; Pferde wälzten sich auf dem Boden oder brachen aus; einige Fahrer waren verwundet. Eine schwere englische Granate hatte eingeschlagen.

Einige Minuten später brachten Sanitätssoldaten eine Tragbahre. Ein sterbender Mann in brauner härener Kutte, unter der gespornte Stiefel hervorsahen, lag darauf, das bleiche bärtige Gesicht zurückgeworfen; aus seiner Brust quoll durch einen Riss in der Kutte stossweise das Blut. Talbot winkte den Leuten im Graben, der Bahre Platz zu machen, und fragte nach Dr. Pfeilschmidt. »Der Herr Doktor ist noch in der Batterie, Herr Hauptmann. Wir sollten den Herrn Pater zum Verbandsplatz bringen«, meldete einer der Träger. »Er hat eben noch gesprochen,« fuhr er fort, »er wollte nach vorn zu der Bayerischen Division ...«

»Und da ist er in den Feuerüberfall hineingeraten«, sagte Talbot zu Leutnant Koch, der neben ihm stand. »Allerlei für so'n Himmelsfähnrich«, fügte er hinzu, als die Bahre vorüber war.

»Diese Ordensgeistlichen sollen überhaupt sehr ordentliche Leute sein«, erwiderte der Leutnant.

Talbot blieb am Scherenfernrohr. »Es ist nichts zu sehen,« sagte er, »Leutnant Koch, die Chefs sollen rasch Beobachter zur ... Halt, Koch, bleiben Sie da!« Er sah unverwandt durch das Glas. Dann rieb er sich die Augen und sagte: »Batteriechefs zu mir, aber ganz fix!«

Die Offiziere waren in Rufweite und rasch zur Stelle. »Hauptmann Möllenkamp«, sagte Talbot, »sehen Sie bitte mal durch mein Scherenfernrohr, aber ohne es zu verschieben. Nördlich von Mory sehen Sie zwei Windmühlen. Die eine heisst, nach der Karte, Moulin de l'Abbaye.«

»Zu Befehl.«

»Was sehen Sie?«

»Da bewegt sich etwas im Nebel,« antwortete der blondbärtige Hauptmann, die Augen am Rohr, »so wie ... Wellen auf einem See. Dort ist aber kein See.«

»Nein, das ist Kavallerie,« er sah wieder selber durchs Glas, »es ist vielleicht ein Regiment, kann aber auch mehr sein. Der verdammte Nebel stört so.« Er erhob die Stimme: »Erste und dritte Batterie Schrapnells, die zweite Granaten! – Erste linken Flügel, zweite Mitte, dritte rechten Flügel! Staffeln! – Fertigmeldung hierher. Feuerüberfall auf meinen Befehl gleichzeitig. Dann aber raus, was die Rohre hergeben! – Danke.«

Die Chefs eilten fort. Talbot sah wieder durch das Fernrohr und beobachtete unausgesetzt. Etwa fünf Minuten vergingen, dann meldete der Fernsprecher neben ihm: »Dritte Batterie fertig. – zwote fertig. – Erste fertig«.

»Feuern!« rief Talbot, der Fernsprecher gab das Wort weiter, und ein Orkan brauste über den flachen Höhenrücken hin.

Ueber den Stahlhelmen der englischen Lancers platzten die Schrappnells, Granaten schlugen ein. Bald war alles in Rauch gehüllt, der wogende See war verschwunden, und wo der Rauch sich verzog, sah man, winzig in der Ferne, die herrenlosen Pferde über den Mühlberg rasen.

Fünf Minuten währte das Schnellfeuer, ein beständiger Donner; dann liess Talbot langsamer feuern, und gab schliesslich den Befehl: »Feuerpause!«

Jetzt aber schlugen rings um die Abteilung schwere englische Geschosse ein. »Sie suchen uns«, sagte Talbot.

Nach einiger Zeit hörte das feindliche Schiessen wieder auf, ohne dass die Abteilung wesentliche Verluste gehabt hätte.

Nachmittags wurde Talbot von Major Meister, dem Generalstabsoffizier der Division, am Fernsprecher verlangt: »Nach Aussagen von Gefangenen der 34. und der 3. englischen Division«, sagte der Major, »ist eine bei Mory bereitgestellte Kavallerie-Division durch Artilleriefeuer aufgerieben worden. Auch nach der Ansicht des Artilleriekommandeurs kann das nur Ihre Abteilung gewesen sein.

»Es stimmt zufällig, Herr Major.«

»Seine Exzellenz lassen besonders danken.«

»Ich danke auch,« sagte Talbot, »es ist gerne geschehen.« Er biss einer neuen Zigarre die Spitze ab und pfiff die »Traumbrigade« von Middleton, ein Musikstück auf die Attacke der Brigade Cardigan bei Balaklava, das er vor zehn Jahren im Café Riche in Strassburg gehört hatte.


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