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Ich langte am folgenden Abend spät wieder zu Hause an, das zerrüttete, sinnlose Bild meines einstigen Idols im Kopfe. Die Jungen waren schon zu Bette gegangen. Leise schlich ich mich in Mimelis Zimmer ein, machte Licht und stupfte mein Dirnlein. Aber es schlief hartnäckig weiter. »Mimeli! Mimeli!« sagte ich laut und schüttelte mein Amselchen immer heftiger. Da sperrte es allmählich die Augen auf, zuerst nur wie die kleinste Blende an einem kleinen, vorwitzigen Photographenapparat, dann weiter und voller und zuletzt kugelrund.
»Hast du auch gebetet?« fragte ich. »Kannst du das Vaterunser noch? Wie? Probier', probier'!«
Und das Kind, halb wissend, halb träumend, begann: »Unser Vater, der du bist im Himmel, geheiliget werde . . .«
»Genug, genug!« sagte ich und küßte das Kind auf sein so frommes Mäulchen. »Schlaf nur weiter! Nichts als Engelchen sind um dich!«
Nun ging ich zu Ernst Eisen hinüber. Er lag auf dem Rücken, stemmte sich glatt bis zum Fußende und machte ein zorniges Gesicht im Schlaf. Aus dem laugen, halb offenen Munde blitzten die oberen kleinen spitzigen Zähne. »Ernst!« rief ich.
Sogleich schlitzte der helle Bursche die langen Augen auf, als wäre er wie eine Schildwache gewohnt, jede halbe Stunde aufzustehen. Er zog seine silbergrauen Blicke einen Augenblick gleichsam in sich hinein, um sich zu besinnen, runzelte leicht die Stirne und sagte dann: »Brennt es?«
»Hast du auch ein Vaterunser gebetet vor dem Schlafen?«
Ernst zog seinen langen, bleichen Mund wieder in den spöttischen Bogen, dessen Enden sich lustig in die Backen hinaufsichelten.
»Warum? Warum? Ich kann nicht beten! Ich bin doch kein dummes Mädchen!«
»Aber du bist noch ein junger, unbeschirmter, unsicherer Mensch,« predigte ich feurig. »Und wenn junge Menschen nicht beten, so . . . so . . .« Ich kam nicht weiter. Zu heftig trat plötzlich das Gefühl einer großen Unehrlichkeit meines Satzes mir vor den Sinn.
»So . . . so . . . Was so?« fragte der kaltsinnige Junge, indem er meine Schwäche sogleich merkte. »Hoffentlich hast du mich nicht wegen dieser Dummheit geweckt!«
»Lieber Ernst,« versetzte ich, mich gegen den jungen Widersacher zusammenraffend, »wir wollen nicht auf uns allein bauen. Wir brauchen den Herrgott. Ich komme . . .«
»Ach was! Laß mich doch schlafen!«
»Ich komme von Ilgis, von einem Sterbenden. Wenn du gehört hättest, wie deine Gotte und die zwei Kleinen vor dem Bett des armen Vaters gebetet haben . . .«
»Ja, ja . . . Und jetzt, was geht mich das an?«
»Oder wie Mimeli vorhin noch halb im Schlaf gesagt hat: Unser Vater, der du bist im Himmel . . . Du würdest vielleicht doch merken, daß so ein großartiges, kleines Gebet gar nicht eine Torheit und nur für dumme Mädchen gemacht ist. Weißt du nicht, daß dein geliebter Newton ganz das gleiche starke Gebet jeden Tag verrichtet hat?«
»So sag' es mir mal vor, das Vaterunser! Ich kann's wahrhaftig nicht mehr,« sagte der Bub etwas von oben herab, aber immer mehr wach.
»Vater unser . . . der du bist im Himmel . . . geheiligt . . . geheiligt,« stammelte ich verlegen, »dein Name . . .«
»Weiter, weiter!«
»Geheiligt werde dein Name! Zu uns komme dein Reich! Dein . . . dein . . . Es geschehe . . . was du willst . . . im Himmel und auf Erden! Unser Brot gib uns . . . tägliches Brot . . . Vergib uns . . . Ach . . .«
»Schau, schau, du kannst es ja selber nicht!« spottete Ernst und legte gemächlich seine schmalen Hände verknüpft unter den blonden, runden Wirbel. »Wie sollte nun ich so ein schwieriges Gebet kennen, Vetter Götti!«
»Wir wollen es miteinander wieder lernen. Nützt es nichts, so schadet es noch viel weniger. Nicht wahr!«
»Meinetwegen!«
Ich drehte das Licht ab und ging leise hinaus. Aber ich ließ eine Spalte der Türe offen, neugierig, ob Ernst nun gleich wieder einschliefe. Doch wie der Junge sich allein sah, sprang er aus dem Bette, war mit drei langen flinken Schritten am offenen Fenster und äugte in den lauen, bleichen Junihimmel der Nacht empor. Es zogen dort einige lautlose helle Wölkchen herum; hoch darüber war ein dünner Mondschnitt und noch ganze Welten höher das süße und wohllautende Licht der Sterne zu sehen.
»Das ist hoch!« bekannte Ernst für sich. »Das ist kolossal hoch!«
Und nach einer Weile: »Für einen Menschen ist das zu hoch . . . Ein Mensch hat das nicht gemacht . . .«
Und wieder nach einer Weile: »Das braucht schon einen Herrgott . . . Ich wette, es braucht einen . . .«
Darauf ging er gefestigt und langsam mit drei gleichen langen Schritten zum Bett zurück und deckte sich behaglich zu. »Einen Herrgott brauchen wir,« philosophierte er aus den Federn heraus, »da hat der Vetter Doktor recht. Und so wird man wohl auch beten müssen wie Newton. Ja, ja, das Vaterunser oder Unservater . . . oder . . . Ja, ja . . . wie Newton . . .«
Am liebsten wäre ich zurück ans Bett gesprungen und hätte auch dem Ernst den gescheiten Mund mit einem dankbaren Kuß geschlossen. In meinem Haus wird also gebetet wie droben in Ilgis. Das freute mich, obwohl ich selbst nicht betete . . . Aber ich fühlte, da geschah etwas auch mit mir, etwas Mildherbes, Frisches, Junges kam an meine Seele, etwas wie Lenzluft, aufspringender Quell und Gläubigkeit. O ich werde wieder beten, ich weiß es.
* *
*
Meine Schwester hatte sich bei Reginen entschuldigt, weil sie gar nie auf Besuch gekommen sei. Aber sie nehme schwesterlichen Anteil an den Prüfungen im Weggisserhaus und, ohne viele Worte zu machen, erkläre sie kurzweg, daß ihre ganze Vakanz Reginen und ihrem Krankendienst gewidmet sein solle.
Während ich von Ilgis nie auch nur eine Karte empfing, hatte Regina ihrem Elfchen umgehend geantwortet. Pauline sandte mir die Zeilen und schrieb mit ihren runden, frohen Buchstaben dazu: »Sie ist eine Königin und bleibt eine Königin, punktum!«
»Liebes Elfchen!« – lautete der Brief – »Du lebst in eitel Sonne, das merk' ich Deinem Schreiben an. Aber wenn Du mich für unglücklich ansiehst, so bist Du recht übel beraten. Ich glaube nicht, daß Du mitten in allem Deinem Fräuleingetriebe je einmal so ein tiefes Glück spürst wie ich bei einem einzigen Blick des Dankes, den mir unser lieber Thedi für eine kleine Erleichterung seiner Leiden zuwirft. Solange ich ihm helfen kann, bin ich glücklich. Wenn das einmal aufhört . . . dann freilich weiß ich nicht, was aus mir wird . . .
Ja, komm' bald! Du wirst Theodor sogleich erkennen, so böse die Krankheit auch an ihm herumgeflickt hat. Es ist wahr, er sieht sehr mager aus und Dein Bruder ist erschrocken, als er ihn zuerst ansah. Er fand die roten Backen und das Kraushaar nicht mehr. Aber was liegt daran? Walter hat meinen Thedi nie recht erkannt. Theodor ist noch viel schöner als früher. Oft meine ich, es könne keinen schönern Menschen geben als diesen lieben, lieben Mann, so fein und sauber ist sein Gesicht jetzt. Die Krankheit arbeitete an ihm wie eine Goldschmiedin. Sie hat ihn wunderbar fein gemeißelt, so daß ich deutlicher als je die ganze Seele meines Mannes aus dem Gesichte lese. Aber schön oder nicht schön, die Hauptsache ist, daß er der alte wundervolle Mensch geblieben ist, so gut, so lieb, so freudig und so dankbar. Er redet tagelang kein Wort; aber ich sehe es seinen Augen an, daß er nur Zufriedenes und Herzhaftes denkt. Früher habe ich mit Zorn an unsere Prüfung gedacht und den Himmel einen Tyrannen gescholten. Warum gerade trifft es unser Haus? Warum gerade den Besten und Schönsten aus allen? Aber das ging langsam vorbei. Elfchen, man wird im Leiden nachdenklich und geduldig und lernt sich fügen . . .
Mich würdest Du daher kaum noch erkennen. Das Lachen habe ich verlernt und das Stolzsein und Necken auch. Ich bin vielleicht eine langweilige Frau geworden. Aber ich rechne sicher darauf, Du findest, sobald Du wieder ein wenig um mich herum gewesen bist, doch noch allerlei Gutes an Deiner alten Freundin
Regina Weggisser.«
* *
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Tessineralpen! Gott bewahre mich, daß ich davon viel Rühmens mache! Wenigstens den Weg in meine paar schönen herzlichen Schlupfwinkel verrate ich keinem. Denn das ist das Schöne daran: sie sind noch, wie vor hundert Jahren die Berner und vor fünfzig die Bündnerberge, nur von der Liebe und Demut kleiner, einsamer Wanderertrüpplein besucht. Es berlinert und londonert und amerikanert noch nicht da drinnen. Meist sind es einige recht feine Tessiner oder Mailänder und einige recht anständige Deutschschweizer, die sich da ohne große Komplimente treffen.
Die Bäche sind grün und blau wie der Himmel und die Tannen über ihnen und kalt wie ihre hohen, eisigen Gletscherwiegen. Der Schaum, den sie ringsum in die Granitblöcke spritzen, glitzert wie lauteres Silber. Dunkle, spitze, nordische Nadelbäume und rund gekuppelte, südländische wachsen ineinander, Tanne und Kastanie, Hasel, Weichsel und wilder Lorbeer. Dazwischen lachen die hellen leichten Lärchen ihr göttliches Lachen, und niemand weiß, gehören sie zum Nord oder Süd. Von Eidechsen und großen bunten Heuschrecken wimmelt das warme, kurze Gras, ein bronzenes Schlänglein schießt unter die heißen Steinplatten, dann und wann winkt ein mit Holzgitter versperrtes und mit lombardischer Kunst ausgemaltes Kapellchen. Wo ein Dörfchen oben an steiler, fast baumloser Sonnenhalde schläft – sie schlafen alle im Sommer – da sieht man zwischen schwarzem Hüttengebälk und weißem Kalk und finsterm Steindach den schlanken Campanile und etwa einen romanischen Bogen hervorschauen. Die Bergschluchten sind voll Granit und schimmernd grauem Schiefer und dem Gebrause großer, brückenloser, schneeweißer Bäche. Wasser, singendes, mutiges Wasser überall. Unerschöpflich ergießt es sich über die Staffeln des Gotthards und sieht gottlob seine müde, sieche Zukunft im heißen italienischen Sande nicht voraus. Überall in den Höhen pfeifen die Murmeltiere ihren spitzen Pfiff. Die Ziegen auf den Alpweiden gebärden sich schon etwas lebhafter, romanischer als eine währschafte Unterwaldnergeiß; aber das große, behagliche Braunvieh ist noch vom alten, soliden Schweizerschlag. Eng sind die Täler, heiß und doch von einem steten, wunderbaren Wind erfüllt. Die Zinnen reichen nirgends weit über das dritte Tausend hinaus. Aber sie haben kühne Formen und breiten da und dort einen blendenden Gletscher aus. Wie über eine weiße Schneewiese zieht man über den Cavagnoli; aber gegenüber der Basodino leuchtet wie eine silberweiße Riesenkuppel . . .
Wir hatten uns in All' Acqua niedergesetzt, zu hinterst im Bedrettotal, wo gerade noch der letzte duftige Lärchenwald grünt und wo zumitten ein kleiner Gasthof neben dem uralten, aus schwerem Holz gezimmerten, wunderlich gemütlichen Hospiz steht. Weit und breit gibt es sonst kein Haus. Hier findet man weder eine Fahrstraße, noch Kutsche, noch Laden, noch Polizei. Der Tessin rauscht von unten und die Zinke des Pizzo Rotondo glänzt von oben. Ziegen schellen, still stehen die Tannen, und die ewige Musik der tausend Wasser, die vom Gotthard niederfallen, spielt Tag und Nacht durch ihren schweigsamen grünen Ernst bis zu uns in die einfache Herberge hinein.
Da waren wir drei: Ernst Eisen, Mimeli und ich. In zwei emsigen Stunden konnte ich von hier den Gotthardzug erreichen, in zehn Stunden war ich in Ilgis. Darum hatte ich dieses Nestlein dem feinen Alpendorf Fusio diesmal vorgezogen. Und es reute mich von der ersten Stunde an nicht.
Oft kletterten wir nun rechts und links vom Fluß die Hänge hinauf, bis wir in den Schnee gerieten. Da ward gerutscht, ich Schwerfälliger auf allen würdevollen Vieren, Mimeli auf seinem natürlichen Hocksesselchen, aber Ernst aufrecht, stolz, die Beine stemmend und biegend wie ein erstklassiger Skifahrer und den Mund wichtig zusammengepreßt. Dann ward jeden Abend mit dem jungen, bei aller Gelassenheit rührigen Wirt und mit der umgriffigen, schlagfertigen Padrona und den paar tessinischen Tischnachbarn das alte Thema durchgenommen, ob ich, ob sogar Mimeli es wagen dürfte, auf den Basodino zu steigen, diesen firnumpanzerten Herrn aller Berge ringsum.
Schließlich brachen wir eines Tages nach Vesper mit dem Bruder unseres Padrone, Gabriele Forni, nach dem Giacomopaß auf. Gabriele war der beste Führer im hiesigen Bergbezirk. Von der Paßhöhe aus bestiegen wir die Lehne gegen Gigelalp, hoch über dem Tosafall. Dort wollten wir uns sogleich ins Heu strecken. Um halb zwei Uhr nachts, wenn Mimeli noch tief im Laubsack träumt, werden Ernst und ich mit Forni aufbrechen. Um halb sieben sind wir dann auf dem Basaldinerhorn. Und wenn wir uns auch gemächlich gehen lassen, sind wir doch um die Elfe wieder auf der Alpe und zum Mittagessen im steingebauten, kühlen Gasthaus am Tosafall. Am Abend gehen wir nach All' Acqua zurück.
Die Dämmerungsstunde auf dem Giacomo war wie ein Märchen. Über dem tiefen Talschnitt gen Norden stand die Gotthardkette wie eine vielverzweigte kriegerische Herrscherdynastie, mit Felspanzer und weißen Hermelinschärpen darüber angetan. Sie ragte in den abendstillen Himmel so feierlich, wie eine alte große Historie im unendlichen Buch der Weltgeschichte ihr besonderes, ehrwürdiges Kapitel ausbreitet. Wir klommen die Halden hinauf. Schon leuchtete der Kastelsee mit dem letzten Diebstahl vom Tag, einem kleinen Abendrot, zu uns herauf. Das March- und Kastelhorn aber schossen finster wie Säulen daneben ins Blaue hinauf. Kühe, Rinder und seine dunkle Majestät der Stier grasten zu Hunderten an den Seelein der fruchtbaren Valdöscheralpen herum. Auf Gigelalp wimmelte es von Ziegen und Schafen. Gleich mischten sich meine Jungen unter das Hornvieh, und ich sah sehr bald, daß so ein Bub und so ein Mädchen noch viel tollere Kapriolen zuwegbringen als das kaprioligste Geißböcklein. So närrisch alles war, ich mußte doch immer wieder lachen, wenn das Boxen von Tier und Mensch aufs neue losging und das Tier der überlegene Teil war.
Dennoch in allem Spaß fuhr mir immer wieder der Gedanke durch den Kopf: Wenn nur nichts passiert, solange wir unterwegs sind! Länger als vierundzwanzig Stunden bleibe ich um keinen Preis von All' Acqua weg!
In der Nacht weckte mich der Führer. Ich erschrak, obwohl ich ja mit der Abmachung eingeschlafen war, um ein Uhr von Forni aus dem Schlummer gestupft zu werden. Mit einem Kopf voll Schlaf und Traum starrte ich auf. So, jetzt ist Theodor gestorben, sagte ich blitzschnell zu mir. Da fliegt die Depesche den Berg herauf. Oder er selber klopft und schreit, sein erlöster Geist: Walter, leb' wohl! – Herrgott, was rauscht denn so furchtbar und braust und lärmt? Er weiß, ich bin in einer Alphütte. So lagen wir oft beisammen im Heu. Und so toste es um die Balken. Jetzt will er mir ein Zeichen geben, daß er endlich auch aus dem elenden Bett befreit sei, daß er sich auch wieder in die Höhen aufschwingen könne mit seiner alten, wilden, brausenden Berglerseele. Wie sie rief und stürmte da draußen!
Aber die melodische Stimme des Tessiners und das kecke Laternchen, womit er mir ins Gesicht zündete, weckten mich nun vollständig.
»Man kann nicht aufs Horn! Der Westwind geht abscheulich, und die Berge sind voll Gewölk, Signore!«
»Gut, dann schlafen wir weiter,« sagte ich und entdeckte mit Befriedigung, daß Ernst neben mir im tiefsten Knabenschlummer verharrte und langsame, langsame Atemzüge durch seinen dünnen Nasenflügel ein- und ausstieß. Welch ein gesunder Kerl!
Am Morgen entschüttete der tiefe graue Himmel einen sündlich dichten Regen aufs Hüttendach. Es prasselte und knatterte über uns wie ein überirdischer feiner Pistolen schießet aus unzähligen Läufen. Und eine winterliche Kälte schlich durch die Wände und Kleider bis hart an unsere zitternde Seele. Wir kauerten uns ums Herdfeuer und horchten dem verquetschten und verwüsteten Italienisch zu, das ein paar Tessiner redeten, wo tütsch tutti und inggö oggi heißt. Dazwischen erklang die seltsam verbröckelte deutsche Sprache der sieben Tosadörfer. Aber das wurde langweilig, und wir stiegen wieder ins Heu und vergruben uns dort wie Vögel ins Nest und erzählten einander kleine Späße und Geschichten. Aber mir fielen alle Erzählungen immer tiefer in Schatten. Immer düsterer wurde mein Kram. Histörchen, wie ich sie in den Ilgisserbergen von den Käsern, Melkern und am kräftigsten von Theodor gehört hatte, folgten sich wie Krähen, von Geisterspuk, vom Künden und Türklopfen der Toten, von den armen Seelen, die nirgends Ruhe finden können, und so weiter.
»Noch mehr!« bat Mimeli und klebte sich noch inniger an Ernsts frechgrüne Lodenjacke. Seine Stimme zitterte.
»Noch mehr!« heischte auch Ernst, und dieser Ton war rauh und ungläubig. Hochmütig ließ er dann die Unterlippe hängen und sah zur finstern Bodenluke, wo man aus der Küche auf einem Leiterchen heraufkommt und wo auch die Spukgeister, wenn sie uns zupfen und quälen wollen, heraufklappern, mit so heillos ungenierten Augen, als ob er es mit einer ganzen Leiter voll junger und alter Teufel aufnehmen wollte. Mögen sie nur schön hintereinander heraufklettern . . .
Trostlos regnete es draußen weiter. Da begann ich eine längere Geschichte, die mir Theodor an einem ähnlichen Regentage im Heu erzählt hatte und die mir soeben durch das gleiche Geknister des Lagers und das gleiche Getropfe zu Häupten und weiß Gott durch was für einen andern nervösen Zusammenhang aus vieljähriger Vergessenheit klar und schnell wie ein Blitz in die Erinnerung schoß.
Die arme Seele des Hirten Melk
»Der junge Hirt Melk, der ein frohes, rotgoldenes Haar und eine schöne junge Falkennase, aber zwei kleine, tiefe schwarze Äuglein hatte, die allen Sonnenschein aus dem Gesicht trieben, dieser Hirt Melk war unendlich aufs Geld versessen. Er hatte zweihundert Gemeindeschafe zu hüten und nebstdem eine kleine Sennhütte mit zwei Kühen zu besorgen. Nun schor er bald diesem, bald jenem zottigen Schaf einen Zipfel Wolle ab und legte alles schlau beiseite, der Schelm, eine Dieberei um die andere, den ganzen Sommer lang. Bekam ein Schaf ganz leicht und ungefährdet die Sucht, dann schnitt er es kahl, obwohl dem Tier die Schur nicht wohltat, und legte den großen Ballen Wolle zum andern Haufen. Im Dorf unten log er: das Schaf habe die Krätze oder noch Schlimmeres gekriegt. Er habe die Wolle wegen der Ansteckung verbrennen müssen. So brachte er bis zum nächsten Lenz einen großen Sack voll zusammen und gewann eine blanke Reihe von Fünflibern. Zwei, drei Jährchen trieb er es so. Auch mit dem Futter und der Streue kargte er gegen die Tiere auf ehrlose Manier und verkaufte das Ergeizte und Erschlichene unter der Hand. So kam es, daß das liebe Vieh, von dem wir beinahe unser Leben fristen, oft hungern und frieren mußte. Am betrübendsten freilich war immer so ein geschorenes Schaf anzuschauen, das in der Schneeluft des Gebirges im späten Jahr gar kläglich herumlief, an allen Gliedern bebte, sich mit seinem kahlen Leib, so nahe es konnte, an die dampfenden Kühe heranschmuggelte und in seiner Sprache so deutlich blökte: Ich friere, ich friere! – daß das übrige Vieh es umringte und leckte und Fell an Fell zu erwärmen suchte. Oft haben die Tiere etwas mehr als die Menschen, nämlich ein Herz . . .«
»Zt, zt, zt!« zischelte und neckte der Eisen verächtlich und spie ins Heu. Aber es war ihm durchaus nicht ernst damit.
»Melk fror nie. Er war ein heißblütiger Mensch, und so rot und hitzig wie sein Mund war sicher auch sein Herz. Immer hatte er Durst. Man konnte ihn warnen, soviel man mochte; aber sowie er voll Schweiß zur Hütte kam, rannte er in die Milchkammer und trank einen ganzen Napf dicke, eiskühle Milch aus. Das ist nicht gesund. Davon bekommen so viele Älpler einen kurzen, dünnen Schnauf oder gar einen frühen Tod.
Man merkte erst im dritten Jahr, es gehe bei Melk nicht ganz mit richtigen Dingen zu. Die einen behaupteten zuviel, die andern wußten zu wenig. Man wollte ihm jetzt insgeheim auf die Finger sehen. Aber als man endlich den Fuchs meinte in der Falle zu haben, war es zu spät. Denn obwohl dem Melk sein jähes Trinken mitten im Schweiß langezeit nicht merklich schadete und er nur ab und zu ein bißchen trocken hüsteln mußte, so verlor er doch im dritten Jahr die roten Backen, magerte ab, redete heiser, und viel schönes rotes Haar fiel ihm aus. War's einmal soweit, dann riß das Übel immer frecher ein. Oft griff Melk hinter den Kittel und drückte die flache Hand auf die Brust, als täte es ihm da weh. Er konnte bald nicht mehr gut steil bergauf gehen, springen schon gar nicht, mußte immer wieder stille halten und wie ein alter Spitäler keuchen und kurcheln. Zuletzt ging's überhaupt nicht mehr, er mußte ins Dorf. Dort wollte man ihm den Prozeß machen. Aber der Tod prozessierte schneller. Er starb in wenigen Wochen an der galoppierenden Schwindsucht . . .«
Eisen streckte seine geraden, langen Beine in ihrer ganzen hochmütigen Gesundheit durchs Heu und bewunderte seine fernen, schlanken Füße, die er ohne Schuh' und Strumpf starr aufgerichtet hielt. Wie groß und schön war er! Dann schlüpfte er wieder ins warme Heu. Wie wonnig ist es, zu leben in Licht und Wärme! Ach was Tod! Ach was galoppierende Schwindsucht!
»Als nun sein Nachfolger, der Peter Förnli, mit seiner langen, roten, tapfern Nase einmal abends allein in der Hütte saß und sich am Feuer den verregneten Rücken wärmte, ein bißchen schnäpselte und dazu einen höllisch starken Tabak rauchte, da hörte er ein hundertfaches Getrappel wie von Schafen näher und näher zur Hütte kommen und ein Blöken und eine große Unruhe um die Sennerei herum. Böcke und Lämmer weideten doch um diese Zeit in lustiger Zerstreuung an den Ränften der Algerkette auf und ab, wo das kürzeste, aber salzigste Gras wächst! Das war seltsam . . . Nun hielt der Rummel vor dem Stall; von selbst flog das Doppeltürchen auf, und ein Dutzend Schafe reckten mit einem Box ihres Kopfes sich halbwegs in die Hütte, gerade als hätten sie irgendeinen Feind hineingestoßen. Voran der prachtvolle, schwerbezottelte Leithammel. Peter Förnli hatte ein lange, tapfere, rote Nase und fürchtete sich darum nicht. Aber als guter Katholik schlug er ein Kreuz über sich. Da krachte es auch schon neben ihm auf der Stabelle, genau wie wenn sich jemand niedersetzte, mit dem Rücken gegen das Feuer wie er selber. Und Peter hörte sehr deutlich, wie jemand die Hände rieb und sich schaudernd zusammenduckte, ganz wie Leute, die stark frieren, beim ersten göttlichen Gefühl der Erwärmung tun, weil Kalt und Heiß so blutig in ihrem Innern aneinander geraten. Und das sah er auch, wie das Herdfeuer neben dieser Stabelle tiefer kroch und fast erlöschen wollte. 's war gerade, als ob ihm jemand alle Glut entzöge . . .«
Mimeli schlüpfte jetzt unter den Ellbogen Ernsts. Der aber spreizte seine langen, stolzen Beine weit auseinander, als könnte ihn weder frösteln noch gruseln. Wo es wäre, weit draußen in einer endlosen, öden Wüste oder in einem unheimlichen Felsenloch, er würde diese Beine genau so frech auseinanderlegen, zwischen alle Engel und Teufel hinaus. Mir aber fiel jetzt zum erstenmal ein, welche Verwandtschaft diese Geschichte mit Theodors Schicksal zeige. Er hatte auch nie gefroren, wie Melk. Nackt hatte er sich mehrmals in den besonnten Schnee ausgestreckt. Er fürchtete nicht Wind noch Sturm. Er trank in seiner Gier das Leben wie kühle, schwere Milch in sich hinein. Und nun war er doch an einer ungeheizten Stube tödlich erkrankt, vielleicht an einem Schneelüftchen, das nur eine Minute lang leben durfte, aber gerade in dieser Minute seine kleine, eisige Seele in Theodors Stube hineinsteckte und ihn verdarb. Seitdem fror er, und wenn er stirbt, wird auch in so einer Ilgisserhütte ein Sesselchen knicken und einer sich die Hände reiben und wärmen wollen . . .
»Was studierst du?« zürnte Ernst mit gescheitem Aufmerken. »Du willst die Geschichte nicht fertig erzählen, du willst uns etwas Sanftes hineinflicken! Wir fürchten uns doch nicht! Gelt, Mimeli, wir wollen alles wissen, zahm oder wild, wie's ist, aber lieber wild!«
»Ja, alles!« sagte Mimeli gefügig, aber leise.
Diese Kinder! Alles wissen wollen sie! Gibt es etwas Mutigeres als so einen Vorsatz?
»Peter Förnli wartete und wartete andächtig und ohne Angst, was nun geschähe. Nach einer halben Stunde krachte das Stühlchen wieder, wie wenn einer aufsteht. Das Feuer schoß sogleich munter empor. Draußen hörte der Senn zwischen einem vielstimmigen Geblöke leichte Holzschuhtritte durchs Gras forteilen. Und als Peter im G'wunder die Hand auf die Stabelle legte, da war das ganze Sitzbrett prachtvoll warm . . .«
»Ich glaub' kein Wort, Vetter, aber nur immer weiter! Schön ist's halt doch!« regierte Ernst.
»Die unsichtbare und doch deutliche Visite wiederholte sich nun jeden Tag zur gleichen nachmittäglichen Stunde. Alle Käser und Hirten im Umkreis wußten es. Und immer trollte sich ein Troß von Schafen mit bis zur Tür, und immer boxte der Leitbock den seltsamen Gast hinein. Aber bald wurde man mit Staunen gewahr, daß mit jedem Besuch die Begleitung kleiner wurde. Kein Zweifel, das war die arme Seele des Melk, und das waren seine mißhandelten Schafe, und das war der von ihm fast zu Tode gestutzte Hammel. Und so hatte der junge Schelm nun sein Fegefeuer hier oben bekommen und ward gezüchtigt, womit er gesündigt hatte. Dem Förnli ward der stille Gespan sein behagliches nachmittägliches Tabakstündlein lang so gewohnt und liebgeworden, daß ihm etwas im Genuß gemangelt hätte, wenn das Stabellchen nur einmal nicht gekracht und das Brett sich nicht erwärmt und der Geist mit einem zweiten Krachen sich nicht beim Abschied dankbar verlautbart hätte. Reden konnte er nicht mit ihm, auch nichts Festes von ihm in die Finger bekommen. Aber er hörte das Reiben der Hände, das fröstelige Einziehen der Schultern und sah das plötzliche Niedergehen der Herdglut. Nach und nach war das Händereiben schwächer, vom körperlichen Erschaudern, wie es zuerst gleich einem Schüttelfrost bemerkt worden war, erlosch allmählich jede Spur, und im gleichen Maß trat auch die Flamme immer weniger zurück. Melk Hort fror jedenfalls nicht mehr so schwer. Sein Fegfeuer wurde linder. Er ging der Erlösung entgegen. Den Peter aber kam bei so ungefährlicher Nachbarschaft mit dem Jenseits nach und nach ein ungehöriger Spaß und Übermut an. Er wollte den Geist necken und ließ einmal das Feuer ausgehen.«
Ernst verzog das bleiche Gesicht zu einem glücklichen Lächeln. »Prachtvoll!« schrie er. »Das ist ein großartiger Fink!«
»Aber sobald das Stühlchen krachte, fühlte Peter sich von einer Kälte umfangen, wie nie in der Silvesternacht, wenn er zu Ilgis um zwölf Uhr aus der Glockenstube herab das ›Nun danket alle Gott!‹ ins neue Jahr hineintrompetet. Es war, als hingen ihm nichts als Eiszapfen am Leib. Rasch fachte er das Feuer an. Den Spaß hat er nicht wiederholt.«
»Hm, hm, wär' er in die Sonne hinausgerannt!« belehrte Eisen trocken.
»Aber Förnli hatte eine lange, rote, tapfere Nase, und als ihn der Fürwitz wieder stach, wagte er nochmals eine Tollheit. Er versteckte das Stühlchen unter den Küchenscheitern. Das ward nun lustig, wie der Geist Melks in der Hütte herumsprang. Da flog ein Brett auf, dort zerrte etwas in den Balken, da klapperte es die Leiter hinauf, wirbelte im Heu herum und riß endlich die Beige auseinander. Gleich stand das Sesselchen wieder am Feuer und krachte behäbig. Aber der Peter fuhr sich mit einem Schrei ins Gesicht. Er hatte eine majestätische Maulschelle bekommen. Das machte ihn wild. Sobald der Geist fort war, zersägte er die Stabelle und warf die Stücke ins Feuer. Aber zur nächsten Vesperzeit rutschte und beinelte etwas ratlos um den Herd herum, seufzte und wisperte, und plötzlich saß etwas Eiskaltes rittlings wie ein Schneemann auf seinem Nacken und ließ die Beine vornüber hangen. Dem Peter ging aller Humor aus. Aber er hielt still und merkte, wie der kalte Alp auf ihm nach und nach wärmer und leichter wurde und endlich fröhlich absprang. Aber nicht ohne einen verflucht groben Rupf in sein schönes blondes Haar. Ein ganzer Büschel fiel weg!«
Ernst fuhr dem Mimeli lachend in den dicken Zopf. Aber die Kleine schrie auf und faßte das Schwänzlein sorglich in beide Hände.
»Von nun an herrschte gute Kameradschaft zwischen den Zweien. Der Jahrestag von Melks Absterben rückte heran. Am Vorabend war nur noch der Schafbock mit dem Gespenst zur Hütte gekommen und dann freundlich zurück zur Herde getrottet, als wäre es diesmal nur ein Respektsgeleite gewesen. Als aber am Jahrestag die Türe aufging, sah man die gesamte Herde vor der Hütte, fromm und lustig alle zusammen und etliche so zutraulich, daß sie hereintrippelten und Melks Stabellchen umstrichen. Die Hirten hatten heute etwas Besonderes erwartet und saßen zahlreich ringsum an den Hüttenwänden. Wieder krachte das Schemelchen zweimal, beim Absitzen und Aufstehen. Die Flamme blieb hoch, und die Schafe duckten und schoben und bogen sich, als streichle sie jemand und kraue ihnen den Hals. Dann fühlte jeder Senn einen mächtigen, warmen Händedruck, einer nach dem andern, wie zum Abschied. Von nun an war es ruhig auf der Alpe. Aber die Schafe trugen in diesem Jahr zweimal soviel Wolle wie sonst. Nur dem Peter wuchs dort, wo der Büschel ausfiel, kein einziges Härlein nach. Kahl ist er an jenem Fleck bis heute geblieben, und kahl bleibt er in alle Ewigkeit,« schloß ich mit der Feierlichkeit aller alten Sagen.
Kaum hatte ich den Satz verpufft, so rief mir der Führer von der Küche herauf etwas zu. Ein wenig Sonne scherbte durch die Balken herein. Aha, jetzt gehen wir doch noch auf den Basodino!
Nein, es war der kleine Wirtssohn von All' Acqua, der schnelle Clemente Forni, mit einer Depesche in der Hand.
»Gestern abend ist Theodor bei Sonnenuntergang zufrieden und schmerzlos verschieden. Regina.«
Überwältigt sank ich auf einen Sitzblock. »Bei Sonnenuntergang! Wie eigen!« dachte ich.
»Gehen wir jetzt nicht auf den Basodino?« fragte Eisen ungestüm. »Schau', wie die Sonne kommt! Morgen ist's sicher hell!«
»Nein, jetzt wollen wir sogleich nach All' Acqua zurück! Vielleicht bin ich noch zeitig genug zum Begräbnis«
»Vetter Götti, wo sinnst du hin? ›Gestern‹, sagt die Depesche. Das ist für uns vorgestern. Du bist ja viel zu spät! Nein, wenigstens zum Tosafall hinunter wollen wir gehen! Ich tu's, und wenn ich allein muß!«
»Aber wie können wir zum Tosafall,« fragte ich, »mit so einer Depesche? Wenn Theodor gestorben ist?«
»So laß ihn im Frieden ruhen! Aber wir wollen zum Tosafall. Theodor Weggisser wäre sicher an unserer Stelle auch hinunter gegangen. Das soll ja ein großartigeres Wasser als der Rhein bei Laufen sein. Ich geh', ich geh', es langt noch vor Nacht!«
Wirklich, zur Leiche konnte ich nicht mehr gehen. Da war mir einerlei, wohin wir jetzt marschierten. Ich war müde vom schlechten stacheligen Heulager. Ein Bett, ein sauberes Bett für diese Nacht schien mir im Augenblick das Beste. Und so schritten wir drei ohne Führer den steilen Geißenpfad hinunter und kamen nachts in einem feinen, unsäglich milden Mondlicht zum Gasthaus am reißend schönen, dreistufigen Heldensturz der Tosa, den Jahrtausende hindurch nur die stillen Berge und die Vögel bewundert und so geheim behalten haben, daß ihn noch heute die wenigsten Menschen kennen.
Eine leichte, schmale Bretterbrücke hängt genau vor dem staunenswerten Fall über dem Wasser. Rechts und links naht sich das steile Gebirge und will das kleine Hochtal abschließen. Nur ein enger Paß bleibt dazwischen am südlichen Ausgang. Aber was ist das für ein Ausgang? Wie eine breite Schwelle hängt er hoch oben, und keine Stiege führt von da hinab in die Tiefe. Jäh stürmen die Felsen mit glatten, verwaschenen Wänden anderthalbhundert Meter tief in ein neues Tal. Und dort oben nun muß die Tosa durch die Bergenge zur Schwelle hinaus. Leise rauscht und erschauert ihr Wasser und wird grau vor Angst, sowie es die Leere vor sich erblickt. Aber dann rafft es sich im Angesicht der schwindelnden Tiefe heldenmütig auf – was sein muß, sei also! – und schmettert sich, so großartig es kann und all sein Blut weithin verschäumend und verspritzend, die Wände hinunter. Und sieh da, Mut ist besser als Verzweiflung. Es stirbt nicht. Es lebt weiter. Es sammelt seine zerstreuten und erschöpften, aber immer noch von Daseinsfreude blitzenden Glieder und gewinnt wieder einen neuen, von Schritt zu Schritt wachsenden, zuversichtlichen Gang. Doch wenn es den alten, großen Heldenschritt auch wiedergewonnen hat, es wird sich hüten, dieses Abenteuer nochmals zu probieren. So etwas gelingt nur einmal.
Wir sahen vom Fenster unserer Schlafzimmer die schneeweiße Gischt über die Borde hinausschlagen. Bald wie Silber, bald wie Gold sah der ungeheure Flutensturz im Mondlicht aus. Totenstill und schwarz standen die Berge rechts und links, und das Schweigen des unermeßlichen, alle Gipfel überspannenden Himmels paßte seltsam dazu. Das müdgelaufene Mimeli schlief beim ersten Zudeckeln seiner Äuglein ein. Der Wasserfall wollte ihm nicht behagen. Er war zu unordentlich, zu wild, zu böse. Aber Ernst und ich standen noch lange barfuß und halb entkleidet am Gesimse und konnten, wie wir auch vor Kälte zitterten, einfach nicht von diesem mörderischen Unwesen der Tosa weg. Aber jeder redete mit sich selber und in einem ganz andern Gedankengang. Ernst sagte zur Tosa wie zu einem geliebten Wesen: Bravo, das hast du mal fein gemacht! So hab' ich dich gern. So muß man kobolden, wenn man mir gefallen will. Ich liebe dich, Jungfer Tosa, und will dich überall rühmen. Küssen würd' ich dich, wenn ich könnte, und so kalt und scharf küssen, wie du küssest, Schätzlein! Schau', ich werd 'es machen wie du, donnern und zischen und die Hasen erschrecken, aber die Frechen noch frecher machen und immer ein bißchen toben und poltern und großartig tun wie du! Aber so zahm will ich danach nie werden wie du da unten, sondern immer ein wenig Kaskade, immer ein wenig Kaskade muß ich spielen!
Ganz anders als dieser lose, junge Recke redete ich mit mir. Alles fing da mit Tod an und hörte mit Tod auf. Und mitten drin sah ich immer Theodor. Er hatte auch gerauscht und geschäumt wie der Fluß hier und war dann gestürzt und zahm geworden und kläglich in der Tiefe des Siechbettes versandet. O, wie klein endet gerade immer das, was großtut und nach allen Winden kommandiert!
Noch lange konnte ich im Bett nicht einschlafen. Dieses allmächtige Rauschen vor dem Fenster störte mich. Aus so einem Wasser kann man alles hören, was man will, ein ganzes schreiendes Volk und auch immer einen ganz alleinigen besonderen Menschen. Ich hörte nur immer Theodor. Was rief er doch? »Zu Ende, Freund, zu Ende! Schon verbraust bin ich! Schon verschäumt! O Himmel, o Erde, schon vernichtet!« Dann wieder meinte ich, es rufe vom Fall herüber: »Zu Hilfe! Rettet mich, hebet mich! Noch nicht sterben, o, noch nicht sterben! Bin ja noch so jung! Hab' ich doch erst angefangen, ein Mann zu sein, ein Mann mit Weib und Kindern! O, wie schön ist die Sonne! Lasset sie mir! O, wie süß ist der Atem! Lasset mir Luft, Luft, Luft! Kinder, haltet mich fest, Regina, starke Regina . . . laß mich nicht los! Ich will nicht, ich will nicht hinunter . . . Regina, halte mich!«
Träume ich schon oder hab' ich Fieber oder lärmt es da wirklich so furchtbar menschlich und erbarmungswürdig? Und es hört nicht auf. Oft kommt es nahe bis ans Fenster und rüttelt am Laden. Oft tritt es zurück bis an den Berg. Es ist eine furchtbare, laute Unruhe hin und her. Mir wird die Stirne naß, und doch fröstelt mich, wenn ich die Decke nicht bis ans Kinn hinaufziehe . . . »Walter, wo bist du? Wo bist du . . . während ich zugrunde gehe? Walter, ich bin allein, ganz allein . . . Hilf mir leben oder sterben . . .«
Ich springe zum Bett hinaus und laufe zu Ernst hinüber. Meine Pulse hetzen sich wie tolle Hunde. Ich habe eine merkwürdige Angst; etwas wie die Gespensterfurcht in der Kinderzeit macht mir den Rücken schaudern. Ich will Ernst fragen: »Hörst du denn gar nichts?« Aber der Bub schläft so mächtig und sicher, als wäre er der einzige Kerl auf Erden. Er würde mich ausspotten. So geh' ich ins Nebenzimmer, wo Mimeli viel bescheidener, aber noch viel sicherer schläft. Ich fasse seine kleine Hand an. Wie kühl sie ist! Das macht mich ruhiger. Aber die Türöffnung in meine Kammer ist schwarz wie ein Grab. Um keinen Preis kehre ich in dieses verhexte Zimmer zurück. Behutsam rücke und schiebe ich mein Amselchen gegen die Wand und lege mich vorne über die Decke. Und ich gebe furchtbar acht, daß zwischen uns beiden ein Zwischenraum bleibt, wie zwischen Kummer und Sorglosigkeit oder zwischen Seelennot und Seelenfriede. Nur die kleine kühle Hand lasse ich nicht los. Sie macht mich immer sicherer. Stiller und friedlicher wird es um mich von einem Atem zum andern. Dieses Kind ist mein Schutzengel. Ich höre das Schreien und Heulen von außen nicht mehr. Ich höre nur noch das eintönige große Wasser und schlafe unversehens bei dieser Nachtmusik ein . . .
Der nächste Tag war heiß und erst gegen Abend zogen wir über den Giacomopaß, an den vielen, so verschiedenfarbigen, fischreichen Alpenseelein vorbei, nach All' Acqua zurück. Häupterreiche Herden grasten in der Alpe und sammelten sich langsam an den Hütten um die Melker. Eine reine, schmerzlose Abendstimmung lag mit den feinen Golddünsten der späten Sonne auf den Höhen, und immer durchsichtiger wurde die Luft und immer näher und klarer das ganze Gesicht der Gegend. Es war wie eine Seelenläuterung durch die Landschaft gegangen, und nun stand sie wie eine Heilige da, die das letzte Stäublein von sich geschüttelt hat. Auch mir ward es sonderbar leicht zumute . . .
Da, als wir zu Füßen des hohen, verschrundeten Marchhorns über den feuchten Sammet der Alpe und, ohne es recht zu wissen, mit einem leichten Schritt aus dem Königreich Italien in unsere liebe, kleine und doch so großherrliche Schweiz setzten, erklang irgendwo von einem der vielen kurzgrasigen Abhänge eine prachtvoll starke Singstimme. Sie hob in gewaltigem Aufschwung an wie ein emporfliegender Adler, schwang dann die Weise durch lange, wortlose und aller Sprache fremde Hebungen und Senkungen majestätisch weiter, so daß man meinte, den Adler ohne Flügelschlag im schönsten Bogen auf- und abschweben zu sehen, und ward dann unsäglich schön, wenn sie tief in den Abgründen des Basses versank . . .
Augenblicklich stand ich still. In diesem Moment fielen Witz und biedere Klugheit und Wissenschaft wie Lappen eines Narrenkleides von mir, und ich wußte, daß Theodor jodelte und von einer Anhöhe auf uns niedersah. Es war seine Stimme, es war seine Weise und es war seine kühne Art, aus einem hohen Jauchzer jählings in die schlummernden Tiefen eines urweltlichen, wunderbar trostreichen und kräftigen Basses hinunterzusinken und langsam, langsam mit gedehnten Noten gleichsam zu verdämmern und zu verwehen wie der tiefe müde Tag.
»Theodor,« flüsterte ich, starr wie ein Stein, »Theodor hat uns gefunden!«
Meine Jungen äugten mich an, als spaße ich oder rede im Traum, und Ernst riß den Mund zu einer Bosheit schon mondsichelhaft in die bleichen Backen hinauf.
»Still! Laßt es . . . das . . . das Wesen erst fertig singen!« sagte ich feurig und ganz übernommen von der Geisterhaftigkeit dieses Augenblicks.
Die Schatten der Marchhornkette vom Pizzo Giacomo bis zur Bocchetta di Val Maggia fielen jetzt tiefblau über die Alpe. Drüben im Norden, jenseits der Taltiefe von Bedretto, verglommen leise die höchsten Spitzen der Gotthardgruppe, der herrische Piz Rotondo und die vornehme, einsame Gallina. Wir gingen wortlos weiter. Feierlich schön stieg der Hüttenrauch über die Steindächer. Das Vieh stand sonderbar still und haftete unbeweglich und wie verzaubert an seinem Platze. Nur läutete manchmal eine langsame Kuhschelle. Die Seelein lagen stumm da und zitterten mit keinem einzigen Tröpflein ihres Wassers. Und so war meine Seele: ganz Stille und ganz Aufmerken . . .
Ich muß sehr ernsthaft ausgesehen haben; denn Ernst und Mimeli rührten sich nicht mehr neben mir. Folgsam und mit möglichst leisen Schuhen schritten sie und standen sie still nach meinem Wink. Droben fing das Jodeln wieder an. Kein Italienermund kann so jodeln! Das ist Eigentum aus unsern nordischen Bergen, das kommt von Ilgis, das ist niemand anders als Theodor. Er sagt mir, er sei erlöst . . . Gott Lob und Dank, erlöst! Wahrhaft, es klingt wie ein Halleluja, was er singt, ein Auferstehungslied aus Staub zum Licht! Ja, das ist's.
Wir marschieren weiter, eines leiser als das andere. Die Zinken verglühen, alles wird blaue Nacht. Aber oben am Grat begleiten uns die Sänge.
Jetzt bricht Ernst die Ehrwürdigkeit dieser Stunde. Er habe Touristen oben an der Kette gesehen. Drei oder vier, deren dunkle Gestalten vom bleichen Himmel scharf abstechen. Er wollte sogar den Sänger aus ihnen am Spiel seiner Figur herausfinden. Nun haben sie, die vom Dunkel auf so gefährlicher Bergschneide Überraschten, gar noch ein Laternchen angezündet. Sieh, sieh, wie es langsam vorwärtstastet und zittert! Aber sie fürchten sich darum doch nicht. Der eine singt königlich weiter, das muß ein verdammt feiner Kerl sein!
Torheit, Ernst! Du hast kein Auge heut! Du selber gaffst jetzt ins Irre! Das redet mir keine Seele aus: dort jodelt Theodor, unsichtbar ob uns, und kann es uns nicht genug, noch fertig sagen, wie er jetzt ein anderer, ein Neuer, ein Seliger sei!
»Gebt mir die Arme, Kinder! So! Wie warm sich so marschiert! Ach, Ernst und Mimeli, die Kette sollte größer sein! Es sollten sich noch andere einhängen, das gäbe einen Schritt und Marsch! Zum Beispiel das Weggisser Klärli, das Waislein, nicht?«
»Und der Arnoldli!« rief meine Kleine so hurtig, als könnt' es ihr sonst verloren gehen.
»Und die Gotte Regina in der Mitte!« flüsterte Ernst mir deutlich ins Ohr und drückte meinen Arm dabei fester. Ich wußte nicht, war es Spaß oder Ernst. Sein Gesicht und seine Stimme waren unentzifferbar dunkel.
Ja, Regina, die verlassene, arme, in der öden Stube, im Leichengeruch dieser schwarzen Tage, Regina vor allem sollte aus allem Jammer heraus hier oben sein, Arm in Arm in unserer warmen, tröstlichen, liebevollen Kette! Ich dachte das, und bei diesem Gedanken preßte ich Mimeli und Ernst so heiß an mich, daß ich jäh erschrak, die Kinder loslöste und sagte: »Gehen wir einzeln! Es ist doch viel bequemer!« . . .
Nach drei unerträglichen Tagen kam endlich ein Brief aus Ilgis.
Lieber Bruder!
Wir alle im Weggisserhaus haben sicher gerechnet, daß Du Deinem Baldur die letzte Kameradschaft zum Grabe leisten würdest. Als man das Kopfschieberchen am langen Sarg zuschrauben wollte, bat Regina die Träger, nur noch ein Viertelstündchen zu warten. Warum das? fragten sie schwerfällig. Man gebe ja schon vom Kirchturm das erste Zeichen. Da wußte Regina nichts zu sagen, und ich entgegnete schnell: Du kommest sicher noch zu Roß oder per Auto, und Du würdest trostlos sein, nicht noch einmal das schöne Angesicht des Freundes, das jetzt so still und schneebleich aus dem schwarzen Gehäuse leuchtet, mit Deinen treuen, grauen Augen für immer in Dich aufzunehmen . . . Aber da läutete es schon mit der zweiten und dritten Glocke. Man mußte ohne Dich auf den Weg zur Kirche und zum Friedhof gehen . . . Walter kann immer noch eintreffen, entschuldigte ich; er ist ja zur Hochzeit auch zu spät gekommen! Still, still, wehrte Regina ab; ich glaub' er straft mich für jenen Empfang . . . Ich konnte ihr das nicht ausreden. Übrigens hat die liebe Frau das und alles übrige nur so beiläufig gesagt. Denn ihre Gedanken waren anderswo. Ob sie allein oder mit Hunderten hinter dem Sarge ging, war ihr einerlei. Sie wußte es gar nicht. Wir aber, die wir hinter dieser schwarzen Trauerkönigin einherschritten, wir alle wissen jetzt, daß wir das Rührendste und Erhabenste in unserm Leben auf diesem Leichengang erlebt haben. Walter, das hättest Du sehen sollen! Es ist nicht auf so ein elendes Papier zu schreiben . . . . Regina trug einen langen, schwarzseidenen Rock und den Karfreitagsschal; aber wir mußten sie zwingen, auch noch den langen Trauerschleier, den vornehmere Frauen nach einer strengen Übung hier im Leid aufsetzen müssen, über ihr schönes Gesicht zu werfen. An ihrer rechten Hand lief der Bub, an der linken das Kind, Arnold mit düsterm Aug' und gefurchter Stirne wie ein reifer Mann, Klärli bald weinend, wenn die Blechmusik aufhörte und der Leichenwagen still stand, bald lächelnd, wenn die Trompeter wieder anfingen zu blasen. Hinter der Witwe folgte die weitläufige Basen- und Vetternschaft des Weggissergeschlechts, alle große ältliche Leute und alle schon ein wenig die Schulter vornübergebogen. Aber Regina hielt sich hoch und aufrecht wie eine Standarte. Ihre Augen sahen weder auf die Kinder noch auf den holperigen Weg, sondern wie zwei unbewegte, heiße Flammen immer zum Sarg, der häuptlings gegen sie gerichtet war. Ohne Frage, sie sah durch das dicke, harte und vergoldete Brett bis zum Toten hinein. Und da ihr schien, sie fange das liebe Bild nicht scharf genug auf, schlug sie schon nach zwanzig Schritten ohne Rücksicht auf alle naserümpfenden Tanten den Schleier zurück, und nun sah ich, daß nicht eine einzige Träne an ihren Wimpern hing. Trocken und hart und still war ihr wunderbares Gesicht. Nicht ein Härchen bewegte sich an ihr. Sie ist im Sarg, sagte ich mir, sie hat ihre Seele zwischen die sechs Bretter neben Theodor hingelegt, und was da hinter dem Wagen geht, ist nichts als steife, mechanische Puppe. Als wir vom Friedhof zurückkamen, nicht mehr im strengen Kirchenzug, und man leise plauderte: die Frauen von den Kränzen auf der Bahre, sieben, acht, oder neun waren es bestimmt gewesen, und vom zurückgeworfenen Schleier und vom tränenlosen Gesicht: Tot ist tot, das steht einmal fest, darein sollte man sich ergeben, sich lieber beugen als aufstemmen und mit Krach zerbrechen – die Männer von der verdächtigen Kuh Pelagis auf der Fennalp, die sicher die Seuche hat, und vom geringen Obst und von dem dreierlei Wein, den man am Leichenessen in der »Krone« bekommen wird – glaubst Du, lieber Walter, es hätte jemand gewagt, mit Regina ein Wort zu reden? Auch ich getraute mich nicht. Nur die Kinder ein- oder zweimal. Aber sie erhielten keine Antwort und schwiegen dann furchtsam. Da wurde es mir noch klarer, daß sie ihre Seele mit Theodor beerdigt hatte. Was da zurückkehrte, schien nur noch ein Echo von ihr zu sein, ein kalter, gleichgültiger Schatten. . . . Es wurden zwei schwierige Tage nach dem Begräbnis. Am zweiten kam endlich Dein Brief, woraus wir ersahen, daß Du die Depesche zu einer Zeit erhalten hast, wo Theodor schon in der Erde lag. Regina nahm den Brief mit sich auf die Kammer und kam nicht mehr herunter. Vor dem Schlafen ging ich hinauf, um ihr gute Nacht zu sagen. Da lag der Brief offen und verknittert vom vielen Lesen und Wiederlesen auf dem Stuhl; Regina aber war angekleidet über das Bett hingestreckt. Sie setzte sich auf, wie mir schien, etwas milder im Gesicht, und hielt den Finger an eine Zeile der zweiten Seite. Lies das! sagte sie. Ich las es vor. Du erzählst, wie seltsam Dir in der Alphütte und an jenem Wasserfall zumute war, gerade als hörtest Du Theodors Seele jauchzen wie einst auf den Bergtouren: ›Er ist erlöst, ich wußte es jetzt, von der Sklaverei der Erde frei, selig und jung wie ein Engel. Und Du, Regina, wenn Du eines solchen Toten würdig sein willst, wie Du des Lebenden so überaus würdig warst, darfst Dich ja nicht weiter grämen, sondern mußt Freude haben, daß er aus dem Dunkel in ein so schönes, unsterbliches Licht gelangt ist. Du betest ja. Ich hab's gesehen. Also hast Du eine Sprache, die man drüben in jenem Licht hören und verstehen kann. Was fehlt Dir noch? Edle Tote wollen kein schwarzes, sie wollen ein helles, frohes Andenken! Vergiß das nicht! Dein Walter‹ . . . Noch einmal, bat sie, das vom Licht und vom Beten! Welch einen lieben, tiefen Bruder hast du doch, Elfchen, sagte sie dann und umschlang und küßte mich wie in ihren heftigsten Mädchentagen. Und nun wußte ich, daß ihre Seele aus dem Sarge Theodors zurückgekehrt ist in ihre liebe, große, starke Person und daß sie sich erholen und vielleicht bei ihren jungen Jahren noch einmal völlig froh werden kann. Schreibe ihr öfter, ich bitte Dich! Du kannst so gut trösten. Und das tut ihr wohl. Du stelltest ihr schon lange etwas Wichtiges vor, das merke ich jetzt; aber so viel wie in diesen Tagen hast Du ihr noch nie gegolten . . . Du hast gefragt, wie Theodor starb. Ich kann nichts anderes erzählen, als daß er schlief, immer schlief und daß er einmal, als Regina ihren Mund auf seine Lippen legte, kalt geworden war wie Schnee. Vielleicht hatte er schon lange tot gelegen. Aber bis zur Beerdigung blieb er wie ein Schläfer, auf dessen Gesicht ein stilles innerliches Licht und eine große, schöne Sorglosigkeit ausgebreitet lag. Ja, er ist sorglos gestorben, wie er sorglos gelebt hat, ein Kind von der Wiege bis zum Sarg!«
Hier schloß ich Paulinens Brief. Sein Inhalt ging wie ein Gewitter durch meine Seele, eine himmeldeckende Last von Wolken, Blitze und Donnerschläge, die über mir rasselten und sich dann in die Ferne verzogen, zuletzt dann und wann ein kleines, aufleuchtendes Stück blauen Himmels! Trauer und Freude spannen sich ineinander. Am Ende kannte ich mich nicht mehr, oder vielmehr ich fürchtete mich vor mir selber und wich gleichsam meiner armen Seele aus, weil ich sie nur zu gut kannte . . .
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