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Nach Ilgis schickte ich in kleinen, fest verschnürten Paketen alles, was ich in der Apotheke zur Erleichterung des Kranken aufzubringen wußte. Immer schrieb ich dazu ein Brieflein an Regina. Ich tat es gern. Sonst haßte ich alles Briefschreiben, hier war es mir Labsal. Die ernste Frau im Gebirge antwortete nie.
Wir gingen damals aus einem lustigen März in einen wilden April. Einmal föhnschwüle, einmal schneeharte Tage. Es war die Saison der Brustfell- und Lungenentzündungen. Erst spät am Abend kam ich gewöhnlich dazu, das Paket zu schnüren und eine Karte dazu voll zu schreiben. Aber das verdroß mich nicht. Regina hatte eine merkwürdige Gewalt über mich gewonnen. Ich schrieb ihr genau so unbefangen und vertraulich wie einem Duzkameraden. Aber erst nach dem ersten Satz. Der schuf mir immer große Beschwerde; denn er hatte jedesmal gegen mein schweres Blut und meine alte böse Scheu zu kämpfen. War einmal der einleitende Satz geschrieben, dann lief es leicht vorwärts. Ich wußte mir nun nicht besser zu helfen, als immer den schlanken Schlingel Eisen vorne ins Brieflein zu stellen. Entweder meldete ich seine Größe oder schilderte eine Spitzbüberei von ihm oder klagte, wie wenig erzieherische Gewalt ich über den Bengel besitze. Von da ging ich auf Theodor und mich und sie, die große, feierliche Regina, über.
Gewöhnlich schrieb und packte ich in der Küche und aß zwischen hinein mein spätes Nachtmahl. Neben mir strickte die alte Else. Ihre Nadeln läuteten gemütlich, im Herd knisterte noch ein Scheit, und in einem Kessel summte das Wasser. Es war hier hübscher als im Eßstüblein.
»Wer ist denn dieses Fräulein Regina Lob, Herr Doktor?« fragte mich die Alte einmal und schaute unter der Hornbrille hervor mich überaus schalkhaft an. »So viele Brieflein und Paketchen! Euer Schatzeli etwa?« Und sie grinste mit ihren siebenhundert Rünzelchen dazu; lachen konnte sie nicht.
»Was Ihr denkt!« machte ich verwundert.
»Heiratet nur!« fuhr die Else unbeirrt fort und ließ den Strumpf in den Schoß fallen. »Schon lange dachte ich, das Alleinsein bekomme Euch nicht gut . . . Seht da, na, da haben wir's ja!« Kraft ihrer haushälterischen Allmacht langte sie mir an die Schläfe und rupfte ein Haar aus. Indem sie es mir vor die Augen hielt, zeterte und zirpte sie weiter: »Da, schon ein graues Haar! Und ums Ohr habt Ihr noch mehr solche! Wie alt seid Ihr, Herr Doktor?«
»Zweiunddreißig!«
Else streifte jetzt die Brille hoch in die Stirne und sagte voll ehrlicher Altjungfern-Entrüstung: »Was? Und da wollt Ihr vergrauen! Ein Weib müßt Ihr nehmen, so ein scharmantes junges Gespons! Sonst seid Ihr katzengrau, eh' das Jahr um ist!«
»Ich denke, gerade von den Weibern bekommt man das graue Haar, von den scharmanten vorab!«
»Narretei! Vom Alleinsein, das ist einmal nicht anders! Heut habt Ihr nicht drei Worte mit den Kindern geredet. Ihr kommt herein und geht hinaus wie ein Schatten. Das ist traurig für Euere zwei Gofen!«
»Was macht der Ernst eigentlich?«
»Ich sag' nichts Böses und nichts Gutes; es ist besser,« meinte Else sehr milde.
»Habt ihr Waffenstillstand?«
»Wir haben noch nie Krieg gehabt.«
»Holla, Else, führt er Euch schon an der Nase herum?«
»Dieser Kreideteufel? Mich? An der Nase? Daß er sich so was unterstände! In der Küche bin ich Meister, Herr Doktor. Um so einen kümmere ich mich so wenig als um eine Fliege!«
Das konnte sie sagen. Aber der Eifer war nicht ernst zu nehmen. Sie lachte beinahe und schloß die Augen dazu. So oft sie Ernst Eisen sagte, ward ihre hohe Stimme tiefer und warm.
»Schlaft einstweilen darüber!« sagte sie und erhob sich. »Aber bitte gebt mir noch ein leichtes Schlafpulver! Ich bin seit einiger Zeit nachts so aufgeregt wie eine Hochzeiterin . . . Pst, pst,« schloß sie, über den Flur zur Apotheke trippelnd, »die Kinder schlafen!«
Einige Wochen später saß ich wieder neben der strickenden Else. Ich war etwas früher heimgekehrt; aber die Kinder waren schon in ihren Kammern. Ein Poststück mit dem Stempel Ilgis lag auf dem Tisch.
»Ich muß Euch etwas sagen; aber macht nur erst fertig, hm!« sagte Else. Ich sah wohl, daß sie etwas Schwieriges auf dem Herzen trug. Neugierig öffnete ich das Paket. Drei Paar schwarze Socken kugelten heraus. Ein Brief lag wieder nicht dabei.
»Gott du mein Trost, welche Socken!« rief Else, den Strumpf allenthalben in der Dicke befühlend. »Hat man schon so was gesehen! Das ist echte Schafwolle, von Hand gesponnen, seht, welch ein warmer, starker Faden! Und auch von Hand gelismet; man sieht es diesen ungleichen Maschen an. Das hält Euch über die Sechzig aus!«
»Es sind tüchtige Socken!« gestand ich. »Legt mir ein Paar aufs Bett! Ich will sie gleich vor dem Schlafen probieren!«
Als die Magd hinausgegangen war, schlüpfte ich mit einer Hand in so einen Socken bis zur Fersenspitze hinein. Es war behaglich wie in einem Vogelnest. Eine große Wärme floß von den Fingern durch meinen ganzen Leib. Da drin hatte wohl Reginens Hand auch gesteckt. Ob auch ein wenig von ihrem Herzen?
Was war denn das? Was duftete so? Mir war, ich rieche etwas Gutes aus dem Geschenk, Schnee, Tannenreisig, Harz, Ofenwärme . . . Ach, das war ja jener Augenblick, da Regina den dicksten Bengel ins Feuer geworfen hatte und mit solchem Duft zu mir in die Stube zurückkehrte . . . Alle diese Maschen hatte sie gestrickt. Gewiß in solchen Nächten, am Bett des armen schlafenden Mannes. Die Fenster standen offen, der Schnee sah herein, die Kinder träumten lange schon in den Federn. Sie aber sorgte und liebte und lismete, diese mächtige Frau! Sie wollte mir nicht aus dem Denken. Endlich erhob ich mich und sagte: »Gute Nacht, Else!«
»Ach, Herr Doktor!«
»Ja, richtig, was wolltet Ihr mir denn noch sagen?«
»Hm . . . ts . . . ts . . . Ach, ich kann den Haushalt so nicht mehr führen!« platzte sie ehrlich heraus. Ihr hundertfach gerümpfter und verschrumpfter Mund zuckte bitter her und hin. »Der Bub macht dreimal mehr Arbeit als das Mimeli!«
»Plagt er Euch denn immer noch?«
»Das nicht! Das wäre das Mindeste . . . Aber man ist eben nichts mehr in meinem Alter. Bei jedem Dingchen bin ich nervös wie eine Gluckhenne. Ihr wißt, ich wollte doch schon letztes Jahr aufkünden. Ihr braucht eine starke Magd, eine frische, wenn Ihr doch keine Frau nehmen wollt . . . Auf den ersten Brachmonat künd' ich. Ich hab's den Kindern heut' schon gesagt. Nichts für ungut! Und gebt mir jetzt noch ein Schlafpulver!«
Ich gab es ihr. Dann ging ich an mein Schreibpult und schrieb sogleich an Vater Eisen, den Witwer und Großkaufmann, es sei mir nachgerade unmöglich, seinen Buben zu behalten. Er mache zu viel Lärm und Mühe in einem Doktorshaus. Ich zählte seine Lümmeleien auf, aber bekannte, daß ich neben einem Flegel auch einen Ritter in ihm entdeckt habe. Ich wolle ihn daher ins Landeserziehungsheim Edelbach schicken. »Du hast,« schrieb ich weiter . . .
In diesem Moment ging leise die Türe auf. So öffnete nur Else, wenn sie mich nicht stören wollte. Sie hat hier wohl etwas liegen lassen. Ich fuhr fort: »Du hast deinen Knaben nie geprügelt . . . niemand hat ihn geprügelt . . . ich kann's auch nicht . . . aber das Prügeln . . .«
Jetzt fühlte ich über meine Stirne herab einen frischen, warmen Atem gehen, blickte auf und sah geradeswegs wie in den Mond ins bleiche Gesicht Ernsts mit dem halboffenen Mund und den silbergrauen Wölklein in den Augen. Er beugte sich über mich und das fatale Papier herab.
»Vetter Götti,« sprach er zornig, »so schreibst du dem Vater von mir! Das ist nicht schön, nein, wahrhaft gar nicht schön!«
Seine rundgesperrten Augen sprühten kleine, harte Silberfunken, seine Brauenbogen krümmten sich zackig zusammen. Er stand hinter mir nur in Hemd und Hose.
»Es muß einmal sein, Ernst!« sagte ich verlegen. »Lies das nur fertig!«
»Ich habe schon gelesen. Jetzt bist du beim Prügeln. Aber schau', ich gehe doch nicht fort, Vetter Götti! Noch nie und an keinem Ort ist mir so wohl gewesen wie bei dir und Mimeli. Das Hundli ließe mich auch nicht gern gehen. Und die Else, die dumme Ente, hat mich ja auch schon halb und halb gern . . . Warum soll ich nun fort?«
»Du kommst in ein viel gemütlicheres Haus.«
»Werd' ich etwa besser, wenn du mich wegschickst? Von dir und Mimeli weg? Nein, nein, nein! Dann will ich gerade erst recht schlecht werden! Mach' du mich besser statt mich fortzujagen! Ich halte schon den Buckel her. Warum prügelst du mich nicht? Ich glaub', das Prügeln würde ich eher fürchten. Ich weiß ja nicht, wie es tut. Bitte schreib' das anders! Gib her da!«
Mit einem behenden, glanzvollen Schwung riß er mir den Briefbogen mitten durch.
»Gut,« sagte ich in einem Gemisch von Spaß und Zorn, »so diktiere du mir jetzt, was ich dem Vater schreiben soll. Vorwärts!«
»Bravo,« frohlockte Eisen, »fang nur an! ›Lieber Vater! Mir gefällt es beim Doktor Walter großartig‹ . . . Hast du's? Also weiter: ›Ich mache noch ziemlich viele Schurkenstreiche; aber ich bin doch schon ein wenig besser geworden, sagt die alte Else, die Gans . . .‹«
»Davon habe ich nichts bemerkt. Ernst!«
»Aber ich, aber ich! Ich muß doch das zuerst merken . . . Schreib weiter: ›Ich gehe jetzt in die Realschule; denn ich schäme mich, daß hier alle so gescheit‹ . . . Hast du ›gescheit‹ geschrieben?«
Ich nickte und verbiß mühsam das Lachen.
»›Freilich mache ich dem Vetter Götti und noch mehr der alten Else, der Gans . . .‹«
»Was soll denn das immer, das von der Gans?«
»Das gefällt mir einmal; sie ist eine gute, liebe, alte, wüste, dumme Gans, watschelt wie eine Gans und sträubt das Gefieder um die Ohren so und so weiter . . . eben eine Gans! Aber schreib fertig: ›Vater, Du mußt das alles, was ich da unten koste und verderbe, gut zahlen, verstanden . . . der Else extra! Ich hab' ihr schon ein paar ihrer Lieblingstassen zerschlagen‹ . . . Vetter Götti, ich führ' dir die Hand beim Schreiben, wenn du das nicht alles genau notierst . . . ›Der Doktor muß wegen mir eine Magd mehr anstellen, ich weiß es; ich hab' das Gespräch an der Türe belauscht. Sonst geht die treue Else fort . . . Und ich bin gesund und mager und bleich und lustig wie immer. Mimeli und Vetter Götti lassen Dich grüßen . . . Ernst Eisen.‹«
»Fertig?«
»Nein, schreib nur noch: ›Notabene, daß ich noch immer ein Schlingel bin, das siehst Du aus dem: Heut hab' ich im Garten ein großes, fettes Huhn erschossen, das mächtig viele Eier legte. Der Doktor weiß noch nichts. Ich konnte nicht anders. Das Huhn spreizte sich so bequem vor mir aus, und ich hielt eben die gespannte Pistole in der Hand . . . Aber dafür krieg' ich Prügel!‹ . . . Schreib, lieber Doktor, schreib nur: ›Der Vetter Götti will mich nämlich in Zukunft prügeln, wenn ich letz tue.‹«
Ich ließ die Feder fallen. »Was, die Bruthenne, die gesprenkelte, die Zischga?«
»Ja, die Zischga! Sie hielt hübsch her, verdrehte die Augen und fiel tot um. Ich habe sie fein getroffen.«
Nun sprang ich doch vom Stuhle auf. »So komm, jetzt hau' ich dich durch!«
Ich zerrte den langen Kerl an einem seiner kleinen zierlichen Ohren zur Türe hinaus in den Flur.
»Nicht hauen! Nicht hauen!« rief es da hinter mir . . . Ist denn heute alles verhext? Wahrhaft, Mimeli im Nachthemdlein kroch hinter dem Ofen hervor! Es hatte alles belauscht und warf sich mir mit furchtbarer Angst entgegen.
»Aha, ihr steckt unter einer Decke!« schrie ich heiser vor Empörung. »Er kriegt doch Prügel!«
Gehorsam und wohl zum erstenmal in seinem Leben zitternd, bog Ernst seinen schlanken Rücken vor dem Stecken und verbiß sich mit den zwei vorspringenden, spitzigen Oberzähnen tief ins Kinn.
Nun ging es nicht unter einem Dutzend wohlgezielter Hiebe ab. Der Bub schrak jedesmal zusammen, zuckte auf, brüllte ungeheuer, biß mir in die Hosen vor Schmerz, aber verteidigte sich nicht im geringsten. Noch wilder lärmte Mimeli und suchte rechts und links den Freund zu schirmen. Nun sprang auch noch das Mägdezimmer auf, und Else in Nachtrock und Nachtjacke lief mir geradeswegs in den hochgeschwungenen Stock hinein und rief: »Sie schlagen das Herrlein ja tot. Hat man so was gesehen? Drischt man so auf einen feinen, jungen Menschen los? Na, danke!«
Ich ließ ab und sagte schwitzend und verschnaufend: »Sie wollten mir doch wegen dem feinen Herrlein davonlaufen?«
»Ei was! Ich? Davonlaufen? Sie hören wohl die Flöhe husten! Erst recht bleibe ich jetzt am Posten!«
»Und das Huhn, Else? Davon habt Ihr mir auch nicht eine Silbe gesagt.«
»Bah, die Zischga hätte im Herbst doch keine Eier mehr gelegt . . . So ein altes Huhn! Du lieber Gott, man sollte meinen, es wäre mehr wert als so ein schönes, vornehmes Menschleinleben!«
»Aber Else, Else!« machte ich verblüfft.
»Kann man denn so ein zwölfjähriges, wildes Herrensöhnlein gleich im Galopp heilig machen? Jeder verübt seine Seitensprünge. Sie haben's gewiß seinerzeit auch nicht besser gemacht! Na, das ist mir eine Art . . . Kommt, Kinder, kommt mit mir!«
Mit meiner Weisheit war ich zu Ende. Ich sah noch, wie die Haushälterin Ernst streichelte und ins Zimmer führte, während Mimeli ihm ihr Nastuch gab, um sich abzutrocknen. Als ich schon im Bette lag, hörte ich irgendwo Wasser sprudeln. Es klatschte und prustete etwas lustig herum, und dazwischen lachten lose Mäuler. Else hatte also dem Prinzen noch ein Bad gerüstet. Ich kehrte mich fassungslos auf die Wandseite und schlief mit einem gewaltigen Fragezeichen ein.
Aber am Morgen sprang der Knabe in mein Zimmer, würgte und herzte mich unbändig und sagte mit seinem kecken, metallenen Bubensopran: »Vetter Götti, das Prügeln hat gut getan! Vivat der Stecken!«
An diesem Abend hatte ich nichts nach Ilgis zu befördern. Da sandte ich zum erstenmal ein Brieflein ohne Medizinen ins Bergdorf. Und zur Einleitung berichtete ich Reginen, wie unser Göttibub sich gestern sein benommen habe und wie ich froh sei, durch diesen Wildling mit ihr in ein gemeinsames Interesse gekommen zu sein, in das Interesse, das man immer habe, ein uns liebes, anvertrautes Wesen recht köstlich und sauber aufzuziehen. Ob Regina mir für den schwierigen Burschen keine guten Ratschläge geben könne? Ein Patinnensprüchlein voll Salz und Segen!
Mit dem jungen Eisen war ein wilder, aber erfrischender Zugwind in meine eintönige Wohnung gefahren. Ernst machte alle wütend und wurde doch allen bis zur Unentbehrlichkeit lieb. Auch die Schüler begeisterten sich für den Neuling, der gleich an ihrer Spitze ging und sie in die drolligsten Abenteuer führte. Im Aufsatz war er ein Esel, in der Mathematik ein Talent, im Turnen und Reiten und Fechten ein Genie. Er unterjochte uns alle langsam und unmerklich mit dem Zauber seiner Bubenhaftigkeit . . .
Eines Tages fragte er mich: »Warum schreibst du immer meiner Gotte so hübsche Brieflein? Hast du sie denn so gern?«
Sofort antwortete Mimeli für mich: »Ja, Vater hat sie sehr, sehr gern. Wenn sie keinen Mann mehr hat, dann bist du ihr Mann, gelt, Vater!«
Ernst lachte unverschämt heraus: »Aha, steht es so mit dir, Vetter Götti! Schau, schau, ganz rot wirst du schon!«
»Vater muß das so machen,« belehrte die Kleine voll Ernst. »Ich habe dann wieder eine Mutter, und Arnoldli und Klärli haben wieder einen Vater . . .«
»Aber ich möchte sie nicht zur Mutter,« sagte Eisen spaßig. »Gotte, ja, da ist sie fein! Zu Neujahr und am Geburtstag beschert sie mich großartig. Aber Mutter? Am besten ist es, ohne Mutter sein, so ganz wild!«
»Hoppla, Ernstli, man muß doch eine Mutter zum Küssen haben!« wandte Mimeli ein.
Ernst spuckte aus. »Guten Appetit, Mimeli, zur Mutter Zigeunerin!«
In diesem Augenblick hatte er eine Ohrfeige.
Aber auch sogleich hätte ich mir selbst eine geben mögen . . .
Den Tag über redete der Knabe kein Wort mehr. Auch Mimeli wich mir aus. Beim Vesperbrot sah es mich lange nachdenklich und fast mitleidig an. Es glaubte mich im Unrecht und wollte mich doch aus Respekt auf irgendeine Art entschuldigen. Eisen saß mir still gegenüber. Er beobachtete mich mit den kalten silbernen Augen ohne Unterlaß und wartete und wartete auf etwas. Diese vier Kinderaugen peinigten mich. Es waren vier unwiderstehliche Kläger. Ich sann umsonst nach einem Worte, das diese Blicke versöhnen und mich doch nicht erniedrigen würde.
Schnell trank ich meine Tasse aus und ging auf die Krankenrunde. Unterwegs dachte ich: Wenn der Bengel gesagt hätte ›Mein Vater, die Bohnenstange‹, hätte ich ihm etwa auch eins gehauen? Oder ›Der Pfarrer Wässerli‹, wie der Dorfwitz den Ilgisserpastor wegen seiner dogmatischen Halbheit taufte, oder ›Pauline, die Hyperpflaume‹, wie Gonzal mein Elfchen als ältliches, rundes Fräulein auszeichnete – hätte ich Ernst beohrfeigt? Gelacht hätte ich. Warum hat mich denn die ›Zigeunerin‹ so erbost? Geht mich Regina mehr an als meine eigene Schwester? Du denkst zu viel an sie, warf ich mir vor. Wenn ich daheim ein Pflaster in die Büchse strich, um armen Patienten die Apotheke zu ersparen, oder wenn ich Verbandstoff zusammenwickelte, es ist wahr, dann fiel mir immer Regina ein, wie sie in einem Silberlöffel Butter schmolz und damit dem halberwürgten Theodor das Herz einrieb, oder ich sah, wie sie die blaue Krampfader des Gemahls mit einer weichen Wadenbinde in den schönsten Schleifen umwand. Was ich braute und schäufelte und mischte und nähte, immer dachte ich: Ach, Urselchen hat mir alles verpfuscht, hat immer zu viel oder zu wenig gerührt, hat immer zu stark oder zu locker gebunden, hat immer zuviel gelacht! Aber Regina würde ganz genau halb und halb mischen, würde weder hart noch lose knüpfen, würde wunderbar sorgen. Sie wäre das Ideal einer Apothekers- oder Doktorsfrau. In Urselchen habe ich mich getäuscht. Hier sicher nicht . . .
Als ich mit solchen Gedanken ins Krankenzimmer des Karl Hori trat, der am Rückenmark litt, und ihn allein und unbequem im Bett traf, entfuhr es mir: »Ei, wo habt Ihr denn die Regi . . . Eure Frau?«
»Meine Frau heißt doch Katherine!« sagte der Sieche stolz. »Das sollte man wissen! Es gibt nicht zwei solche Katherinen!«
Ich kam zur Besinnung. Frau Katherine Hori war Glätterin im Hotel Carlino Linz. Von dort brachte sie zehn Minuten nach zwölf dem kranken Eheherrn und ihren zwei Jungen das Mittagessen warm im Töpfchen heim. Dann rüstete sie das Bett auf, ordnete das Zimmer und gab dem Fritzli und Leo das nötige Geld für die Einkäufe. Ein Viertel vor zwei Uhr ging sie wieder ins Hotel, von den beiden Knaben begleitet, die um diese Zeit in die Nachmittagsschule mußten. Sie war mir oft in der Mitte der beiden sorglosen Schüler begegnet, ein kleines, aufrechtes, rundliches Weib mit einem Hauch von Mut und etwas wie immer frischem Wind um sich. Sie tat ihre Pflicht am Haus und Gemahl vollkommen, aber war in so vielen Jahren, da sie das Krankenbett sah und das Hüsteln und Seufzen hörte, gegen das Siechtum abgehärtet worden und konnte lachen und pfeifen am Feierabend und die Nacht hindurch neben dem gequälten Gatten prächtig schnarchen. So hatte sie den Mann bald daran gewöhnt, nicht unnützes Mitleid und unnötige Dienste zu fordern. Es kommt vor, daß sie nach dem Nachtessen noch mit den Söhnen ein wenig spazieren geht und in einer Gartenwirtschaft ein Bier trinkt. Sie muß sich verluften, sagt sie.
In seiner Art war der Hori ebenso großartig. Er verehrte seine Frau heute noch mehr als am Hochzeitstag. Acht Stunden im Tag blieb er allein. Von halb zwei bis sechs Uhr mußte er Hunger und Durst ertragen. Dann kamen die Buben heim und kochten Kaffee. Oft rutschten ihm die Kissen weg, oft fehlte ihm ein Nastuch, oft vergaß man ihm das Tagblatt auf die Decke zu legen. Und das war das Ärgste. Er sah sein Leibblatt ganz nahe auf der Kommode und konnte es doch nicht holen. All das mußte er leiden, bis ein Erlöser kam. Aber er klagte nie.
»Wollen Sie mir das Fenster schließen?« sagte Hori. »Da ist eine große Bremse hereingeflogen. Was die mich geplagt hat . . . Na, sehen Sie, da . . . da! Jetzt, jetzt, packen Sie sie! Bravo, Herr Doktor!«
»Ach was, Eure Frau sollte besser achtgeben!« zürnte ich. »Wer läßt bei solcher Schwüle und so vielen Stechmücken das Fenster offen! Sie sollte ein bißchen weiter denken . . . Und das Bett ist vernestet, daß ich mich wundere, wie einer noch darin liegen kann! Die Frauen gehören heim. Ich weiß eine, die ginge keinen Schritt vom Bette ihres Mannes. Und Ihre Frau ist in allem so geschickt. Sie fände Heimarbeit genug . . .«
»Das könnte sie haben, ich weiß . . . Aber sie ist mal ans Glätten gewöhnt. Mit den drei andern Glätterinnen im Hotel steht sie per Du. Ja, sie hat es dort kurzweilig. Man spaßt den ganzen Tag. Das gönn' ich ihr. Ich mach' ihr doch nur Langeweile. Zwar der junge Hotelier tätschelt ihr manchmal die roten Backen und hat ihr Küsse geben wollen und was weiß ich. Das peinigt mich. Aber Katherine ist tapfer und läßt sich eine Kleinigkeit von Amts wegen gefallen, aber lacht sich den Buckel voll über so einen Schmarotzer. Das weiß ich. Sie hält mich aus bis ans Ende. Wenn ich dann tot bin, kann sie machen, was ihr gefällt . . . Übrigens, Herr Doktor, hab' ich es schön genug. Wenn nur die Fliegen – da, husch! – nicht so eine Plage wären . . . Sehen Sie, schon wieder und immer auf meine Nase, immer!« Er blies nach Leibeskräften.
Wie hoch steht doch dieser kleine, ungescheite Mann, der vor der Krankheit Packträger war, über dem Gemeinderat und Dorfaristokraten Theodor Weggisser! Ich salbte ihm den Rücken ein, so einen kleinen, höckerigen, magern Rücken. Wieviel mehr Heldentum trug dieser Buckel als Theodors Riesenschultern! Ein schiefes Kissen würde den schon unglücklich machen. Aber wie hoch steht dafür Regina über dem frohen Weib hier! Die tapfere Frau Hori gefiel mir gar nicht mehr. Sie schien mir herzlos und selbstsüchtig. Aber Regina war selbstlos wie eine Heilige . . .
Und was ich immer noch für Patienten aufsuchte, überall fehlte den Frauen etwas, was Regina reichlich besaß, und überall hatten die Männer etwas, was dem Theodor Weggisser abging. Mein ehemaliger Freund verkleinerte sich von Besuch zu Besuch zu einem Zwerg, meine ehemalige Feindin wuchs zur Riesin auf. Unzufrieden und aufgeregt lief ich nach Hause, wo mir vor den stummen Gesichtern der Kinder ordentlich bange war.
Als ich am Stadttheater vorbeiging, sah ich einige Studenten zur Kasse eilen. Da fiel mir ein, daß ich Ernst schon lange einen Theaterbesuch versprochen hatte. Meinen Jungen wollte ich durchaus wieder gut haben. Was wird diesen Abend gespielt? Richard III. Gut! Ich kaufte mir drei vornehme Plätze der ersten Reihe, damit auch Mimeli gar alles sehen könnte, und trat nun beruhigter ins Haus.
Beim Nachtessen strahlten mich wieder die zwei seltsamen, schonenden und doch so uuerträglichen Entschuldigungen Mimelis an. Ernst nahm keinen Löffel Suppe. Nun, das war kein Heldenstück! Mehlsuppe! Aber er würdigte auch die Erdbeerschnitten keines Blickes und ließ sogar die blutroten Scheiben Bündnerfleisch, die er unheimlich liebte, großartig an sich vorüberziehen. Mit harter Miene lehnte er alles ab, was Else ihm besonders höflich bot, und wartete.
»Vetter Götti?« klang es plötzlich ruhig gegenüber. »Warum hast du mich am Morgen geschlagen?«
»Du hast eine edle, feine Frau beschimpft!«
»Ich habe nur gesagt ›Zigeunerin‹! Aber diesen Übernamen habe ich doch von dir!«
»Was? Wieso? Von mir?!«
»In ganz Ilgis sagen doch die Leute meiner Gotte nur ›Die Zigeunerin‹. Du habest ihr den Namen gegeben an der Hochzeit oder noch vorher, wo ihr noch Bub und Meitli waret. Man denkt nichts Böses dabei. Die Zigeunerinnen sind doch schöne Jungfern! Mir gefallen sie. Und dir, Mimeli?«
»O mir auch, so schwarzes Haar und so lange Augen und so große Ohrenringe und . . .«
»Aber zur Mutter oder zur Frau möchte ich sie doch nicht. Sie wollen regieren. Sie sind frech. Mir muß die Frau folgen wie ein Hundli!«
Mimeli lachte und schüttelte den Kopf. Es würde gerne folgen, diesem feinen Eisen herzlich gern. Aber denken würde es doch, was es selber wollte. Eigensinnig und demütig zugleich hob es seine Stirne zum Knaben auf.
»So ist es also! Und jetzt Vetter Götti, warum hast du mich geschlagen?« fragte Ernst unerbittlich und wurde bleicher, so oft er ›schlagen‹ sagte. Seine Augen füllten sich mit kalten Silberflöcklein. »Das sollst du mir doch sagen. Wenn du mich prügelst, will ich wissen warum!«
»Vater!« bat Mimeli leis und nahm mich teilnehmend am Arm. Zu Ernst warf sie ein flehentliches Auge, das deutlich sagte: »Lieber, es ist genug!«
Ernst sah meine ungemütliche Lage und weidete sich noch ein göttliches Augenblickchen daran. Dann wurden seine Blicke wärmer, Gold floß in die Pupillen, und er sprach: »Du mußt es uns halt sagen, wer dir lieb ist, Vetter Götti! Wenn ich ja gewußt hätte, daß du meine Gotte heiraten willst, so hätte ich ihr nicht Zigeunerin gesagt; aber ich dachte, das sei alles Spaß vom Mimeli.«
»Ach, seid ihr dumm,« fand ich endlich das Wort, »so was zu schwatzen, und ich bin noch dümmer, mich darob zu erhitzen! Wißt ihr was: Wir wollen das gründlich vergessen, und darum hab' ich soeben drei famose Plätze fürs Theater gekauft!«
»Wilhelm Tell?« schrie Ernst und fing an, aus allen Schüsseln zugleich zu essen. »Geßler? Hohle Gasse?«
»Nein, Richard der Dritte!«
Und ich erzählte den Kindern, was das für ein böser, kalter, falscher und unermeßlich gescheiter Mensch gewesen und wie fein ihm jedes Verbrechen gelungen sei. Aber zuletzt hätten ihn die Sünden so schwer geplagt von innen und die unschuldigen und gekränkten Leute seien so tapfer gegen ihn zu Felde gezogen, daß er zusammenbrechen mußte.
Ich glaube dennoch nicht, daß die Kinder den tiefen Geist des Stückes begriffen haben. Aber sie unterhielten sich an den farbigen und gewaltigen Einzelheiten köstlich genug. Oft lehnte sich Mimeli vor Grauen an mich an, oft knirschte Eisen mit den spitzen Zähnen vor Wildheit. Die Ritter und Waffen und das mächtige Zelt und die Totengesichter und die Schlacht freuten ihn unendlich. Aber Mimeli fand immer wieder seine Zufriedenheit daran, wenn mitten in allem Gelärm der großen Herren eine Frau kam und auch ihr festes Sprüchlein zur Sache fügte. Und als gar die alte Margaretha vor dem königlichen Unhold stand und ihm Wahrheit auf Wahrheit wie Blut ins Gesicht schleuderte, da klatschte es mit seinen breiten Händchen und flüsterte: »Welch eine gute Frau, welch eine liebe Frau!« Für seine Arglosigkeit gab es nur ganz brave und ganz schlechte Menschen, nur Himmel und Hölle. Das gute Kind wußte nicht, wie in jedem Menschen sich das von oben mit reichlich viel von unten mischt und wie auch in dieser leidtragenden Großmutter auf der Bühne ein stattliches Stück Teufel sich ausgetobt hatte. Ich aber sah und hörte nur immer die eine Szene, wo die Prinzessin Anna hinter der Bahre Heinrichs VI. schreitet. Das war für mich Regina Lob hinter dem Sarge Theodors. Es störte mich gar nicht, daß die Geschichte auf der Bühne ganz anders als die Geschichte meines Herzens verfaßt war. Für mich war es die gleiche. Da lag der Tote, und so schwankte Regina der Leiche nach, trostlos, hoffnungslos:
Und immer, wenn ihr müde seid, ruht aus, Derweil ich klag' um meines Königs Leiche . . . |
Ihr König, gewiß!
Regina schrieb nie. Aber der alte Eisen hatte noch jüngst berichtet, daß Theodor nur noch einem Schatten gleiche, niemand mehr kenne, von Tag und Nacht und von Leben und Tod nichts mehr unterscheide, daß es nur noch einen kleinen Hauch brauche, minder stark als eine Mücke wegzublasen, um auch dieses letzte Stümpchen Leben auszulöschen. Morgen, übermorgen, geht Regina auch schwarzbeflort hinter dem Sarge . . .
Da kommt Richard. Seltsam, ich sah den Schurken nicht, ich sah nur mich. Die Verse glitten sinnlos an mir vorbei. Ich war ja kein Richard und sie keine Anna. Aber soviel gilt: Da, im Sarge liegt ihr König Theodor, und da durch die Straße kommt schon ein neuer Freier, eine neue Liebe gegangen. Und sicher, auch das andere Weib tut seinen Kelch auf und trinkt die Sonne eines frischen zweiten Tages ein! Ja, wenn Theodor stirbt – wie jung ist Regina, wie schön! Welch ein starkes Blut hat sie noch! O, sie wird nicht immer schwarzhaubige Witwe bleiben! Sie wird wieder etwas lieben müssen. Sie ist, solange ich sie kenne, immer wie ein großes, hungriges Feuer gewesen. Wenn es nichts mehr zu verbrennen gibt, erlöscht und stirbt sie. Sie muß immer etwas zum Verbrennen haben. Aber wer wird dieses Reisig sein? Gott, o Gott, was ist das? Warum überläuft es mich so heiß? Was füllt mich für eine seltsame, unheimliche Angst vor mir selbst? Da horch! Wie eigen Richard und Anna reden!
Richard: »Gewährst du Frieden mir?«
Anna: »Das sollt Ihr künftig sehen.«
Richard: »Darf ich in Hoffnung leben?«
Anna: »Ich hoffe, jeder tut's.«
Richard: »Trag' diesen Ring von mir!«
Anna: »Annehmen ist nicht geben!«
Ach, Torheiten, so hager und knochig und eifersüchtig, so wachsam wie ein Habicht, so scharf wie Essig und so bitter wie Galle – welch ein furchtbares Weib! Walter, Walter, bist du denn krank?
* *
*
Ich hatte vor, meine drei Ferienwochen mit Mimeli und Ernst in einem der hohen, wasserreichen und dabei so milden Gebirgstäler des Tessin zuzubringen. Die Kinder freuten sich endlos, als ich ihnen von dem kostbaren Nest Fusio an der kühlen, weißbeschaumten Maggia redete und es ordentlich ausmalte, wie das Dorf aus einem Tobel sozusagen den Berg hinaufkriecht, so grau und weiß und steinig, mit holperigen Gassen und wundervollen Menschen, heiß wie Italien und ernst wie der Gotthard. »Wir werden den Naretpaß machen und ein paar leichte Berge, vielleicht sogar die zweigipfelige Cristallina besteigen. Ihr werdet über kleine Gletscher schreiten, grüne, glasige, oft mit Schnee wie mit einem Pelz überzogene Gletscher. Aber, Ernst Eisen, dort mußt du immer genau vor mir her gehen und du Mimeli, genau hinter mir. Und wir halten uns alle drei am Seil fest. Du, langer Held von einem Ernst, darfst auch einen Eispickel führen, und Mimeli und ich werden recht demütig in deinen Tritten gehen. In Schneebäche tunken wir unsern Zucker und weichen unser Brot auf, und den Murmeltierchen schenken wir unsere Wursthäute und . . . und . . .«
Ach sieh, da redete ich ja mit mir allein! Fortgeschossen waren meine Zuhörer. Aber aus den Kammern erscholl ein Hämmern und Klopfen und Nageln, als würden ein Dutzend Pferde beschlagen. Und zwischenhinein übten sich die beiden im Jodeln und im Buon giorno! Buona sera! Si, si, gentilissimo Signore Ernesto, Signorina Mimeletta!
Noch nie hatte ich selbst so ungeduldig die Tage bis zur Abreise gezählt. Ich war dieses Frühjahr nervös geworden, unruhig, voll dummer Ängste, die ebensowohl als Hoffnungen gelten konnten. Keinem Menschen, mir selber nicht einmal hätte ich dartun können, wie wirr es in mir aussah. Doch mit zwei so lieben, jungen Leutchen dort im welschen Gebirge, bei so neuen Gesichtern und Orten und in so kummerlosen Tagen würde ich sicher wieder meine ehemalige, hochgepriesene Ruhe kriegen . . .
Ich war nie mehr nach Ilgis gegangen. Regina hatte mich nie eingeladen. Die Medikamente sandte ich, je nach der Anwendung, ins Weggisserhaus oder zum alten Bersolt. Mehr konnte ich auch nicht helfen, wenn ich immer droben stände. Geschrieben, getröstet, ermutigt hatte ich in vielen, vielen Briefen. Allein, bevor ich ins Tessin ging, wollte ich nun doch noch einmal an Theodors Bett eilen, wohl zum letztenmal. Immer plagte es mich, daß mein Herz seit langem dem alten Freund Unrecht zufüge. Dennoch mußte ich mir mitten in den Vorwürfen gestehen, daß ich noch viel begieriger darauf war, mit Reginen wieder ein paar gute Worte zu wechseln. Mimeli und Ernst, das fühlte ich wohl, wären mir diesmal ein geringer Schutz. Darum schrieb ich Elfchen, es möge doch einmal mitkommen. Aber meine Schwester erwiderte, ihre Mädchen schwitzten jetzt eben in den strengsten Examen. Da könne sie nicht weg. Vierzehn Tage später, dann gern, ja, dann unbedingt! Sie wolle gleich die kurzen Ferien alsdann bei Regina zubringen . . . Natürlich lag wieder eine große Photographie bei, sechzehn lange, schmale, magere Töchter wie unfruchtbare Rebstöcke und in der Mitte auf einem Armstuhl breit und lustig dasitzend, mit dem runden Kinn und dem Rosenblattmäulchen: Fräulein Direktorin Pauline.
So ging ich allein. Regina nahm mich ernst auf und begrüßte mich mit etwas leiserer und heiserer Stimme. Sie nötigte mich, zuerst ein bißchen in der Stube zu warten, und trug mir Most und Birnenwecken auf. Aber immer wieder ging sie hinaus und kehrte jedesmal voll Unruhe zurück. Mir war, sie habe etwas zu sagen und getraue sich nicht recht. Eine außerordentliche Sauberkeit und Ordnung herrschte in der Stube. Das fiel mir sogleich auf. Es war wie ein neues Haus und ein neuer Haushalt.
»So komm!« sagte sie endlich. »Er schläft nicht mehr. Sonst schlummert er jetzt meistens, und es ist ihm so am wohlsten . . .« Sie schien noch etwas beifügen zu wollen. Aber da rauschte schon ihr weites, braunes Kleid, das ihrem Bronzegesicht so herrlich anstand, zur Kammer, ihr Kinn zitterte ein wenig, schon öffnete sie die Türe . . . Was gab es wohl?
Theodor lag im Bett in jener eindringlichen Art, wie Kranke, die längst keinen andern Platz mehr kennen, denen das Bett Stube und Spaziergang und Vaterland und Welt geworden ist, auf ihrer Matratze liegen. Es läßt sich nicht erklären; aber solche Menschen bilden mit Kissen und Decke und dem ganzen Lager eine eigene, strenge Persönlichkeit. Man kann sie voneinander nicht mehr trennen.
So lag Theodor im Bett! Aber was hatte er doch für einen kleinen Kopf! Er verschwand beinahe im Kissen. Die herrlichen Locken waren ausgefallen, fast kahl sah der runde Schädel aus. Die einst vollen Wangen waren jetzt nur noch eine dünne, hart über die Backenknochen gespannte, farblose Haut und bebten bei jedem Atemzug. Die schönen, stolzen Lippen hatten sich braun und dürr wie Herbstrinde in den Mund hinein verzogen, und die weißen Zähne traten grinsend hervor. Die Stulpnase blinkte wie Wachs und war schmal und spitz geworden. Selbst der Schnauz und Bart schienen dürftiger, und viele, viele graue Fäden spannen darin. Nun sah ich den Kern meines Jugendideals. Alles Eitle war wie Vergoldung von einem Götzenbild gefallen, und entsetzt erkannte ich jetzt, wieviel an meinem Götzen nur blitzende Tünche gewesen war.
Theodor lag auf der rechten Schläfe und lachte mir beim Eintritt zu, ohne die geringste Bewegung zu machen. Da sah ich, daß seine Augen noch voll der alten, großen, blauen Herrlichkeit schwammen. Allein, wie ich nun herzutrat und »Grüß' Gott, lieber Thedi!« sagte, da erschrak ich bis ins Mark. Dieser blaue, herrliche Augenhimmel war leer! Es gab keine Sonne mehr darin. Es war eine öde, unbeseelte Herrlichkeit daraus geworden. Ich wußte sogleich: der Arme hatte den Verstand verloren.
Er brachte kein sauberes Wort hervor. Alles ward Gestammel und Gestotter wie von einem Kind, das sprechen lernt, nur daß dieses große Kind gerade umgekehrt daran war, die Sprache zu verlernen. Doch selbst in diesem widrigen Geplapper erkannte ich ab und zu den melodischen Klang heraus, der früher aus dieser stolzen Glocke geschwungen worden. Jetzt war sie zersprungen.
Theodor sah mich beständig an. Aber er kannte mich nicht und suchte und dachte auch nichts dabei. Von Zeit zu Zeit öffnete er den Mund und wartete so ein Weilchen. Er meinte, man müsse ihm etwas eingeben. Dann schloß er die Lippen wieder und kaute und leckte, als hätte er wirklich etwas bekommen. Im ersten Moment wollte mich dieser Anblick fast umstoßen; doch da hörte ich Regina sagen: »Thedi ist müd'; aber er hat Freude, siehst du, er lächelt. Ganz deutlich hat er dich wieder erkannt.«
Nein, nein, er kannte mich nicht. Er hätte auch vor einem Stein so gelächelt. Glaubt Regina das Märchen, oder redet sie es sich bloß ein?
Sie wischte dem kranken Gatten behutsam die nasse Stirne ab und flüsterte dazu: »Schatz! Immer schwitzen, immer schwitzen! Schau', du bekommst jetzt einen Eiergrog!«
Theodor murmelte etwas wie im Schlaf, lallend, halblaut, durcheinander, ein silbenloses Zeug.
»Du magst nicht, wie? Aber in einer halben Stunde, gelt?«
Wieder ein Gebrummel und die leeren, glänzenden Augen und ein stilles Lächeln übers ganze Gesicht. Er spürte gewiß nichts mehr von seinem dürftigen Dasein und nichts von uns am Bette. Dieses Lächeln war wie ein tierischer Rest des einstigen jubelnden Menschen Theodor.
»Walter hat dir allerlei zu erzählen. Aber jetzt bist du noch müde. Später vielleicht, gelt, Schatz!« Und sie drückte ihm einen Kuß auf die Wange; aber das Lächeln des Armen blieb starr und gleichgültig wie vorher. Wieder stotterte Theodor etwas, das keinem Ohr verständlich war. Soviel aus der Klugheit des Lebens hatte sein Instinkt gerettet, daß man auf eine Ansprache etwas antworten müsse; aber was sein Ohr empfing und sein Mund zurückgab, berührte seine eingeschlafene Seele nicht mehr.
So ging es zwischen Regina und Theodor hin und her in einem sonderbaren, ergreifenden Betrug. Die arme Frau wollte sich und mich täuschen. Diese Täuschung war noch ihr letzter Trost. Und ich tat es ihr zu Gefallen und benahm mich, als merke ich nichts von so rührender List und glaube alles steif. Aber ich wußte, so ein Bild würde ich keine Viertelstunde aushalten.
Später saß ich neben Regina in der Stube. Die Kinder waren in der Schule.
»Er sieht recht ordentlich aus!« log ich.
»Das sagen alle, und jetzt bei dieser milden Luft wird es immer besser!«
Ich nickte angestrengt.
»Er hat dich sogleich erkannt. Hast du gesehen, wie er lächelte und die Hand aus der Decke zog? Aber es ist besser, wenn er sich nicht aufregt.«
»Ich habe ihn gut verstanden. Oft, wenn ich in seine Studentenbude trat, hat er so ein Gebaren gehabt, ein wenig gelacht, den Arm ein bißchen entgegengestreckt und dann für sich gebrummt. Ich aber setzte mich irgendwo in eine Fensternische vor ein Buch oder ein Bild, und wir konnten alsdann stundenlang schweigen und zufrieden sein.«
Regina billigte meine Worte mit dankbaren Augen. »Schmerzen hat er wohl gar keine mehr?« fragte sie vorsichtig.
»Verlaß dich darauf, Regina, er leidet weniger als wir!«
»So ist es recht!«
Bei jedem Satz wollte ich der schönen Frau zuschreien: Regina, Regina, was nützt dieses Lügen? Ich sah wohl, auch sie sprach ihre Sätzlein schnell und scharf aus und schloß mit dem letzten Wort immer so heftig, als schiebe sie damit einen Riegel vor, daß ich nicht noch schnell mit einem ›Nein‹, ›Es ist anders‹, ›Es ist gelogen‹ dazwischenspränge.
Ich mußte Regina immer wieder anschauen. Nie sah ich Geduld und Heldenmut schöner im Weib beisammen. Sie war wie eine Verklärung zu schauen. Alles war zarter und weicher an ihr geworden. Ihr Antlitz hatte etwas Feierliches und Gereinigtes, ihr ganzes Wesen etwas wie durch große Prüfungen Geläutertes angenommen. Wohl schimmerten ihre Augen noch immer wie eine Sommernacht; aber in diese blitzenden Sterne war ein mildes Öl gekommen. Sie loderten nicht mehr wie Mars und Venus, sie glommen still, sanft, ergeben wie ein treues, heiliges Altarlicht. Die Lider waren freilich entzündet und fielen immer wieder halb über die Augen herab. Ihre feinen Lippen zitterten nervös. Dieses Weib war todmüde, es schlief nicht mehr . . .
O, man mußte Regina lieben, so, wie sie dasaß, wunderschön und wunderrein! Sie trug ein einfaches, dunkelbraunes, weites Gewand und hatte das herrliche Haar glatt gekämmt. Ihre ganze große Figur atmete eine neue Ordnung aus . . .
Am Nachmittag begab ich mich zum Vater Eisen wegen der Ferien seines Sohnes. Der Mann, der keine Frau und eine üble Magd zu Hause hatte und vom Monat drei Wochen außer Land war, dankte mir unsäglich für meinen Vorschlag und erbot sich, unsere Auslagen zwei- und dreifach zu zahlen. Wenn nur sein heißgeliebter Schlingel endlich in eine fröhliche Gesetzmäßigkeit des Lebens käme! »Hau' ihn, bis er blutet, aber behalt' ihn und lieb' ihn; dann wird's schon recht mit dem Bengel!« Damit schloß er mich in die Arme und weinte vor Freude, daß sein Knab' so eine gute Fremde gefunden, und vor Jammer, daß er nicht daheim leben durfte.
Nach dem Nachtessen ging ich noch einmal ins Weggisserhaus hinauf, um von Regina Abschied zu nehmen. Die Stube war leer. In der Kammer hörte ich mehrere Stimmen in feierlich lautem Gerede. Mir war unwillkürlich, ich müsse leise eintreten, mit abgezogenem Hut, wie in eine Kirche . . .
Ja, wie? War denn das nicht eine Kirche!
Frau Weggisser saß vor dem Bett, und rechts und links standen Arnoldli und Klärli mit gefalteten Händen und horchten zu. Der Vater kehrte seine blauen, sinnlosen Augen der Gruppe zu und lächelte sein hölzernes Lächeln. Regina betete auswendig vor, wie es aus ihrem vollen Herzen kam. Sie hörte mich eintreten, aber fuhr ungestört weiter.
»O Herr, der du schlägst und wieder gesund machst, auf deine Kraft vertrauen wir ganz allein! Auf deine große Barmherzigkeit hoffen wir. An deine unendliche Liebe glauben wir. Gib unserem Vater und Ernährer ein langes, gesundes Leben zurück! Du, Meister der Jahrhunderte und Jahrtausende, was sind dir ein paar Menschenjährchen! Gib sie denn! Tue es meinen unschuldigen Kindern zulieb, die noch lange einen Vater brauchen, und auch mir zulieb, die sonst nicht leben kann!«
»Die noch lange einen Vater brauchen,« beteten Arnoldli und Klärli munter nach. Der Kranke lächelte fort und geiferte wie ein Kind. Gleich wischte ihm Klärchen mit dem Zipfel des Taschentüchleins den Mund ab.
»Im Glück haben wir nicht mehr an dich gedacht, o Gott! Jetzt spüren wir deinen Arm schwer auf uns. O strafe uns nicht länger! Von nun an wollen wir dir angehören. Unser Haus soll den Herrn anbeten. Unsere Kinder sollen zeitlebens nie von dir lassen. Denn ohne dich ist kein Halt und kein Segen. Ich verdiene es vielleicht nicht, daß du mich erhörst. Aber aus dem Munde der unschuldigen Kinder, o Herr, lässest du dich gern erbitten . . .«
»Der unschuldigen Kinder lässest du dich gern erbitten,« wiederholte Klärli hüpfend schnell, aber Arnoldli mit furchtbarem Ernst. Er fühlte, daß es sehr wichtig war, wenn er so zum lieben Herrgott redete.
»So hilf denn, o Herr! Du allein kannst es ja. Und wir wollen dir alle Tage dafür Dank sagen, ich und meine Kinder und er, den du gerettet hast, am allermeisten . . . Gelt, Theodor!«
Theodor nickte, als verstände er.
»Arnold!« rief die Mutter. Sie sagte nicht Arnoldli, wie sonst immer. Wie einem Manne rief sie dem Büblein. Frisch und rosig trat der kleine Bursche vor, blickte in die Höhe und begann mit seinen stolz erblühten Lippen ganz allein vorzubeten:
»Unser Vater, der du bist im Himmel . . .« Und als Klärli leise mitflüstern wollte, da warf er ihr einen zornigen Blick zu und betete noch viel lauter und noch erhobener und einsamer, als müßte er, er ganz allein, den Himmel und den lieben Gott meistern: »Unser Vater, der du bist im Himmel . . .«
Als das Gebet zu Ende war, schlief Theodor, und die Kinder trippelten mit vielen Scht! und Pst! und mit einem siegreichen Lächeln über den schnellen Erfolg ihrer Andacht auf den Zehen zum Krankenzimmer hinaus. Regina und ich blieben allein am Bette.
Dieses kleine gottesdienstliche Schauspiel hatte mich in einer heftigen und zugleich wundersüßen Art erschüttert. »Ich muß dich verehren, Regina,« sagte ich und preßte ihr die Hand. »Verzeih', daß ich es nicht besser sagen kann!«
Sie ließ alles geschehen und antwortete nichts. Ich glaubte, sie bete immer noch leise weiter.
Daß man bei Kranken betete, erlebte ich oft auf meinen Besuchen. Ich hatte katholische und evangelische Pfarrherren oft genug im Spital vorbeten gehört. Oft hatte es mich erquickt. Aber etwas so Einfaches und Mächtiges war es nie gewesen wie dieses Schreien der Mutter mit ihren respondierenden Kindlein.
Ist es etwa das, fragte ich mich, was eine solche Ordnung und eine solche Ruhe über Frau Regina verbreitet? Das Beten? Ich mußte es als Kind auch. Früh hat mir die Mutter die Finger ineinander geknotet und die uralte Sprache dieser Weisen vorbuchstabiert. Aber sie starb, wie ich sie kaum recht mit den Augen zu umfassen und zu begreifen anfing. Als Student mochte und konnte ich schon nicht mehr beten, und als praktischer Mediziner . . . Ach Gott, ich war kein Spötter und kein Gottesleugner; aber meine Rezepte waren meine besten Gebete! Anders wußte ich nicht mehr zu beten. Wenn das nichts half, half auch ein anderes Gebet nicht mehr. So meinte ich.
Aber jetzt hatte ich doch Respekt vor diesem Beten bekommen, und bevor ich gehen wollte, fragte ich: »Regina, seit wann betest du eigentlich?«
»Seit Theodor mir im Ersticken gesagt hat: Bete mir um Gottes willen ein Unser Vater vor!«
»Theodor? Er hat zuerst wollen?«
»Ja, Walter, als Bersolt nichts half und deine Künste nichts halfen, da bat er mich einmal im Anfall wie ein kleines Kind: ›Bete mir um Gottes willen ein Unser Vater vor!‹ Du mußtest schauen, wie er die Hände aufstreckte und sagte: ›Um Gottes willen!‹ Sogleich hat mich das auf die Knie gedrückt. Ich bete seitdem und habe nie etwas anderes gesehen, als daß es ihm wohltat. Meine Kinder, die sollen wieder beten lernen. Dann habe ich etwas hinter mir. Komme es, wie es wolle, ich habe etwas Festes, das weiß ich; du kannst lachen oder nicht!«
»Regina, ich lache nicht!«
»Um so besser!«
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