Heinrich Federer
Lachweiler Geschichten
Heinrich Federer

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Die Manöver

Leonz Faller schnallte den Säbel ab und legte das Käppi des Artilleriehauptmanns auf die Sofalehne.

Dann schaute er sich in der grossen, niedrigen Stube um und schnupperte wie eine Katze, die etwas Verdächtiges merkt, ihre stille, nach dem gewichsten Boden riechende Luft ein.

War das seine oder eine fremde Stube?

Er schüttelte den Kopf und warf sich missmutig in die Sofaecke.

Ihm war, es müsse eine andere Stube sein als diejenige, in der er unter dem Lächeln der Mutter Anna und dem Tabakräuchlein seines Vaters Meinrad gespielt, wo er seine Schulaufgaben mit unzähligen Seufzern und Fehlern erfüllt, wo er dann an ruhigen Sonntagen sich in die Kriegsbücher vertieft und so früh es nur eben anging, sich für die Artillerie angemeldet hatte. Dort im Kasten ruhten die Urkunden, die ihn vom Gemeinen in rascher Auszeichnung zum Leutnant und dann zum Batteriehauptmann beförderten. Sie lagen in der Hauptlade. Aber in einer versteckten Nebenlade, zu der nur er den Schlüssel führte, befanden sich noch andere Papiere, die ihn erröten machten, so oft er sich ihrer erinnerte. Es waren die Briefe Rosinens, seiner Geliebten, die er zwar alle auswendig wusste, allein immer wieder las, so oft er sie in die Hand nahm, als könnte er darin immer noch etwas Neues entdecken. In diesen mit überaus kleinen und reinen Buchstaben beschrieben, nach Lavendel duftenden Blättern war von allen grossen Dingen gesprochen, die Liebende zu Hilfe nehmen, wenn sie ihre Gefühle auszusprechen versuchen. Da schwamm der Mond gleichzeitig mit der Sonne und einem Schweif von muntern Sternen herum; es blühten ganze Wiesen von Vergissmeinnicht und die saftigsten Viehweiden von Veilchen und Männertreu; Reime von ›welken und Nelken‹, von ›Liebe und Triebe‹ wechselten mit ›rosenroten Herzen und Schmerzen‹, und zwischendrin lag ein vertrocknetes und verküsstes Gänseblümchen oder ein fünfblättriges Kleeblatt, das er ihr oder sie ihm an einem schwärmenden Abend gepflückt hatte.

Am Ende dieser Briefe stand immer ein Notabene: »Habe Geduld mit meinem Vater! – Unsere Liebe ist stärker als Fleisch und Blut.«

Dieses Notabene vergällte dem jungen Manne jedesmal den ganzen Trost der Briefe. Das hiess mit anderen Worten: der alte, ausgediente Oberst Bleuler, der gegenüber dem Fallerschen Bauernhof am andern Rheinhang im köstlichen Barocklandhaus ›Dignitas‹ wohnt und der so gut wie die Faller das langsame feierliche Brummen des Stromes aus der Tiefe immer im Ohr hat, ohne von hier oben auch nur das grüne Schwänzlein des prachtvollen Wanderers im Kessel zu erblicken: also dieser eingefleischte Patriot will sein einziges Kind nur einem Schweizer geben. Leonzens Grosseltern aber sind eingewanderte Preussen, von Bonn oder noch weiter unten herauf. Der kühne vaterländische Strom im Tobel geht zwar auch auf die Freite bis hinab ins Kölnische. Aber in diesem Stück darf man den treulosen Kerl mit seinem wilden Tropfen Reisläuferblut nicht nachahmen.

Nun haben die Faller sich ja freilich in den vielen Schweizerjahren das eidgenössische Bürgerrecht mit schweren Batzen und in aller Sinnestüchtigkeit erworben. Aber was gilt das dem Bleuler? Ein gekauftes weissrotes Nationalmäntelchen und darunter steckt noch der alte reichsdeutsche Mensch! Er jedoch entstammt einem uralten Züricher Geschlecht. Seine Vorfahren haben im Schwabenkrieg gegen den deutschen Maximilian und zu Pavia gegen den fünften Karl blutigen Leibes gefochten. Und als die Preussen wegen des kleinen Neuenburg die Pickelhaube in das Schweizerländchen schleudern wollten, da ist Bleulers Vater an der Spitze eines Fähnleins stramm mit Tornister, Käppi und Vetterligewehr am Rhein gestanden. Der Sohn marschierte wieder an den Strom Anno 1870, um die Grenze zu hüten, damit kein bewehrter deutscher Fuss auf Schweizererde trete. Man denke, nicht einmal auf Schweizererde, geschweige denn in seine Stube oder gar in die Kammer seiner einzigen Tochter, an deren Leben die Mutter den Tod nahm, und die ihm nun teuer war wie Gattin und Kind zusammen. Gar in diese Kammer sollte nie eine ausländische Sohle treten. Klipp und klar war das Rosinen verkündet worden. Dazu hatte der alte Herr seine weiche, weisse Hand geballt.

Dass zwischen Leonz und Rosinen der breite Rhein floss, das hätte die Verliebten wenig gestört; aber diese so sanfte, weisse Faust zwischen den zweien, die war ein gewaltiges Hindernis.

Herrn Bleuler lagen die Faller auch sonst noch schwer auf dem Magen. Zwar ihr Häuschen hatten sie über dem Wasser, aber ihre Reben grünten und reiften neben den seinigen auf der Mittagsseite des Flusses und, was das Verdriessliche war, sie grünten früher und sie reiften bälder, und das Blut, das man ihnen erpresste, war ein ganz anderes, viel edleres. Und doch hatten sie ebensoviel oder so wenig Sonne als seine Trauben. Aber diese verwünschten Rheinländer, sie haben einen eigenen Zauber in Händen. Sie hexen an der Rebe herum, bis es süss und dunkel wie Blut aus der Beere quillt. Der Bleulersche Wein dagegen hat immer etwas Herbes, das die Zunge zusammenzieht und die Nase zum Niesen reizt. An der alljährlichen Ausstellung landwirtschaftlicher Produkte in der behäbigen Hauptstadt des Kantons holt sich der Fallersche Tropfen immer die allererste Marke. Doch bei dem Seinigen bemerkt der Preisrichter, der doch als Stammgast jeden Sonnabend im Bleulerhause sitzt, jeweilen unter einem schwachen Ehrlichkeitshüsteln: »Herr Bleuler, entschuldigen Sie, aber Ihre Reben – Sie wissen, ich achte Ihre landwirtschaftlichen Verdienste sehr hoch – aber Ihre Reben, – nun, es kann besser kommen mit der Zeit, – viel besser – wenn Sie vielleicht mehr Humus, hm ...«

Dieses Jahr fand im Weinmonat in Zürich eine Ausstellung der Weine statt, die auf der mageren Schweizerscholle, in der geizigen Schweizersonne, unter den rührigen Schweizerhänden wachsen. Ohne Zweifel wird der Fallersche Saft wieder eine erste Prämie ziehen.

Gestern war der alte Bleuler, ein wahrer Riese an Grösse und Breite und behäbigem Querschnitt, endlich nach langem Herumsinnen mit dem Fährschiffchen hinübergerudert und hatte den Fallerschen Eheleuten geradewegs den Kauf ihres Rebberges angetragen. Ihr Weinberg liege ja auf seiner Seite, – die Faller wären bereits in hohen Jahren, – ihr Sohn betreibe, wie er höre, das Kriegshandwerk, – die beiden Rebhügel gehören sozusagen zusammen, – er halte viel fleissige Arbeiter und zahle bar einen guten Kaufpreis, – sie möchten nur sagen, was sie für den Goldacker fordern –.

Entrüstet erklärten die Faller hierauf, zwei Dinge würden sie auf Erden nie in fremde Hände veräussern: ihren Buben und ihren Weinstock. Darauf wurden sie beide rot. Sie dachten an Rosine und wussten nicht recht, ob das Mägdlein des alten Obersten eine Fremde oder Bekannte für sie sei.

Bleuler fing jetzt an zu feilschen. Er wollte den Weinberg ja gerne nur pachten, für zehn Jahre etwa.

Der alte Faller verneinte unbedenklich: »Zehn Jahre? – so lange leb' ich nicht mehr. Wenn ich tot bin, kommt wieder und bettelt meinen Jungen an!«

Frau Anna aber nickte nicht dazu. Sie schien mit sich zu Rate zu gehen.

»Sagen wir acht!« bat der Bleuler mit grosser Selbstüberwindung und strich mit seinem Daumen den linken Schnurrbartzipfel aus der Lippe.

»Ihr marktet ja um Jahr und Tag, als hättet Ihr dem Herrgott das ganze Jahrhundert abgekauft,« gab erbost der kleine Faller zurück.

Aber die Fallerin schaute hier missbilligend auf ihren kleinen erhitzten Mann.

»Fünf Jahre!« fragte der Bleuler und wandte sich nunmehr nur noch an die Bäuerin.

›Das Verpachten,‹ dachte sie mit ihrem witzigen alten Kopfe, um den sie ein rotes Tuch gebunden hatte, ›das Verpachten ist eine leichtere und bessere Sache. Der Goldacker gehört uns dabei doch immer. Doch Scherereien hätten wir zwei Alte nicht mehr mit den Winzern, – und der Oberst zahlt gut!‹

Laut aber sagte sie mit ruhiger Stimme: »Meinrad, wir könnten ja mit Leonz darüber reden. Morgen kommt er auf ein Stündchen in Urlaub aus den Manövern.«

Der Bleuler nickte zustimmend, und nun sorgte das kluge Weib sogleich weiter im stillen: ›Wer weiss, wenn wir dem Oberst mit dem Weinberg entgegenkommen, kommt er uns mit seiner Rosine entgegen, die nun einmal mein Leonz und kein anderer bekommen soll.‹

»Es ist ja wahr,« fügte sie bei, »wir zwei Alte sind über den Acker nicht mehr Meister, und der Leonz, Gott weiss, was dem im Sinn steckt.«

Der alte Faller sah wie erstarrt auf sein Weib. Er musste falsch verstanden haben. Die magere Hand legte er ans kleine vorgestülpte Ohr. Dass Anna nur eine Minute zweifeln könne, ob man das väterliche Erbteil in fremde Hände gehen lasse, schien ihm gänzlich undenkbar.

»Tut uns den Gefallen,« fuhr die Frau indessen fort, »und redet mit Leonz!«

»Leonz hin, Leonz her!« brauste jetzt der Bauer auf. »Weib, schweig!«

Gekränkt wandte sich Frau Anna ab. Diesen Ton des Gemahls kannte sie nicht. So etwas liess sich im Alter nicht mehr angewöhnen.

Doch der Bauer würgte noch mehr heraus. »Ihr,« richtete er sich gegen den Bleuler, gegen den er wie ein Zwerg aussah, »Ihr möchtet wohl heuer in Zürich ein Kränzlein ums Fass verdienen? Da wäre nun eben die Fallersche Sorte gut genug. Mein Wein passt Euch, aber mein Bub' nicht, he? –«

Der Bleuler stand auf, bleich vor Aufregung.

»Dass Ihr's nur einmal wisst,« endigte Meinrad und trat dann an den Riesen heran, »meinem Bub' red' ich nicht in solche Sachen ein. Aber heiraten seh' ich ihn mit Eurer Rosine gerade so gern, als meinen guten Wein in Euren sauren giessen.«

Darauf polterte der Oberst etwas Grobes los, das niemand recht in der Erregung verstand, und rollte wie ein Fels die Halde hinunter. Nicht rasch genug konnte ihn die Fähre hinüber auf sein Flussbord schaffen. Zornig spuckte er ins Wasser und schloss, sowie er in seinem Hause ankam, sämtliche Läden, die die Aussicht gegen den Hof der Faller öffneten.

Diesen stacheligen Vorfall hatte Mutter Anna nach ihrer heimlichen Weise dem Sohne ins Lager gemeldet, wo sich die Truppen auf die eigentlichen Schluss– und Glanzoperationen im Felde rüsteten, und ihn dringend gebeten, wenn immer möglich schon am Sonntag früh in Urlaub heimzukommen. Denn die Artillerie lagerte kaum zwei Stunden vom Rheine entfernt.

Das war am Donnerstag. Den ganzen Freitag und Samstag wurde im Fallerschen Hause kein lautes Wort gesprochen. Der erste Schatten schlich in dieses bisher so sonnige dreissigjährige Eheleben. Und je näher sich die beiden Eheleutchen die Sache besahen, die sie entzweite, um so dunkler stellte sich der Schatten zwischen sie.

›Wie,‹ fragte sich die bereits gebeugte Fallerin, ›wir sind alt – es ist mühsam, täglich hinüber zu fahren, zu hacken, aufzubinden und zu beschneiden. – Und stehe ich nicht selber bei der Kelter, so wird mir von den Knechten der Wein fassweise weggetrunken. – Dann hat der Küfer, dieses leichtsinnige Ruch, die Fässer noch schlecht ausgebrannt – man muss hernach die Ware zu Markte fahren und hat dabei nichts als Schreibereien und Mühsale. Bis in den Winter reicht die Not, und zuletzt ist man niedergetreten und ausgepresst, ohne Saft und Kraft, wie Träber, wenn man endlich einmal ein Gläschen vom abgeklärten Wein trinken darf. Und dann muss er erst noch gut geraten sein! – Aber die Missernten, der Maifrost, die Würmer und die Raupen, vorab die heillose Nonne! – Und der grosse Zoll! Ach was – mein Mann ist nicht bei Trost, wenn er die Pacht ausschlägt.‹

›Nein,‹ fuhr sie schärfer fort, ›nein, er ist unvernünftig. Wie ein Gaul zieh' ich am Wägelchen mit ihm. Ich hinke, er hinkt noch mehr. Das meiste ziehe ich noch. Es geht so nicht mehr. Meinetwegen! – Ich mache nicht weiter mit.‹

Sie sah den Mann beim Frühstück über den Tisch an wie einen Tyrannen, der Haus und Leute eigennützig verderben will.

Immer mehr schwoll der Zorn in ihr an. Sie beschaute ihre grossen, langen Arme, die sie bis zum Ellbogen ärmellos trug, diese magern Arme – sie waren von der Arbeit wie von einem gierigen Wolfe benagt, nur noch Haut und Knochen. Sie dachte an ihr Herz, das seit einiger Zeit so heftig und so ungleich schlug, wenn sie hügelan ging, im jähen Tempo eines Galopps. Dann musste sie innehalten, einen Rebstecken ergreifen und lange so stehen uns warten, bis der Puls wieder solider ging, Andante, und der Atem gemächlicher wurde. ›Tyrann,‹ wiederholte sie leise, ›haben wir nicht genug Geld auf der Bank, dass wir feiern können?‹ Und nochmals blickte sie und diesmal noch erzürnter über den Tisch.

Aber der Faller begegnete ihrem Zorn mit gleicher Münze. Wie eine Treulosigkeit am Heiligsten kam es ihm vor, dass sein Weib das liebste, ehrwürdigste Stück Heim gegen Geld weggeben konnte. Ihm würde es das Herz in den tiefsten Wurzeln umdrehen, sähe er fremde Hände seine tiefblauen Trauben pflücken. Es wäre ihm nicht anders, als risse man ihm die Kleider, ja die Glieder vom lebenden Leibe. Niemals würde er es ertragen, dass andere seine Beeren auspressen, in einen fremden Becher schütten und die violettdunkeln Gläser auf das Wohl des wackern Weinherrn Bleuler anstossen würden. Niemals!

Wie die tiefste der Reben war er in den Weinberg eingewachsen und keine Gewalthand als die allmächtige des Todes sollte ihn aus diesem Grunde reissen.

Er hatte sich mit der Frau vertragen, als es sich um die erste ungleiche Meinung zwischen den Eheleuten handelte, ob man ihrem einzigen Buben Weissbrot oder Schwarzbrot reichen sollte. Die Mutter trug mit dem Weissbrot den Sieg über das väterliche Schwarzbrot davon.

Und als entschieden werden musste, ob Leonz in die Realschule oder ins Gymnasium gehen sollte, da opferte Frau Anna ihrerseits den langgeträumten süssen Wunsch, einen Lateinschüler mit blauem Käppi ihr eigen zu nennen, den landwirtschaftlichen Neigungen des Gemahls. Kein Widerwort fiel von ihrer Lippe.

Als endlich Leonz unbekümmert um Real– und Lateinkurs sich für das Militär entschied, da hatte der Vater wiederum auf die Gründe der Mutter mehr noch als auf jene des Sohnes gehört und Leonz in die Artillerie gelassen, obwohl er von Kindesbeinen an das Militär und vorab das Kanonierwesen schwer hasste.

Jetzt aber, da es sich um den Weinberg handelte, den sein Vater mit dem Schweisse seines Antlitzes angebaut und mit Schösslingen vom mittelrheinischen Mutterland besteckt hatte, den Weinberg, den er wie ein junges Leben vom Sterbenden übernommen, der den Stolz und Verdienst seines Mannestums bildete und dessen Tropfen die Milch seiner Greisenjahre geben sollten, jetzt konnte Faller nicht mehr nachgeben. Sein ganzes Innere empörte sich gegen die Unbarmherzigkeit seines Weibes. Dass der Gedanke an die Verpachtung auch nur für einen Augenblick wie ein hastiger Schatten sich auf ihre Seele hatte legen können, war schlimm genug. Was sollten sie Alte denn in Zukunft treiben? – Etwa am Fenstergesimse sitzen und in den Fluss hinunterschauen? – Oder das Pachtgeld ein dutzendmal im Tage von einem Beutel in den andern hinüberzählen?

Faller hoffte, die Frau komme schnell zur Einsicht ihrer Herzlosigkeit. Als sie ihn jedoch bei Tische wie eine unschuldig Verfolgte ansah, da wuchs der Ingrimm in ihm. Er warf den Suppenlöffel weg und kehrte ihr schweigend den Rücken, bis sie gegessen und das Mahl hinausgetragen hatte.

Vielleicht wird sie am Abend beichten, in der gemeinsamen Schlafkammer, wenn es so still und so spät ist, dass vom Tage nichts mehr übrig bleibt und man deutlich die leisen Glocken hört, die das Gewissen im Herzen läutet.

Aber Frau Anna ging ins Bett, wandte sich nach der Wand und sagte kurz: »Gutenacht!«

»Nacht!« machte Meinrad und dachte für sich: ›Wenn du, Weib, so schlafen kannst, ich bin ein Mann, ich kann es auch.‹ – Dann pfiff er ein sehr freches Lied, ging in die Kammer seines Sohnes hinüber und legte sich dort zur Ruhe – oder besser zur Unruhe nieder. Diese Nacht hat sich im Fallerhof kein Auge geschlossen.

So ging es noch einen Tag und noch eine Nacht, bis Sonntags Leonz mit dem Briefe der Feldpost auf seinem Togo dahertrabte. Mehr aus dem, was die holperige Bäuerinnenschrift verschwieg, als was sie sagte, erriet er das Unheil.

Zwar konnte er nicht glauben, dass es sich um etwas Ernstes handle. So weit er zurückdachte, nirgends lag eine Erfahrung von streitenden Eltern vor. In seinem Gedächtnis sah er sie immer so, wie die Photographie die zwei gleich in der ersten Stunde nach der Hochzeit zeigte, die Hände ineinander geschlungen und das eine bräutliche Augenpaar in das andere getaucht.

Aber wie er nun in die Stube trat und nirgends ein eiliger Fusstritt der Mutter über die Stiege, noch ein Willkommen des Vaters von der Tischecke her ihn begrüsste, sondern da er die Stühle so verlassen und die Gemälde an der Wand so nichtssagend ihn betrachten sah, als wäre die Seele des Hauses ausgefahren, und da er aus der dumpfen Luft etwas Fremdes und Bösartiges herausfühlte, da begann er das Unglaubliche zu glauben und zu merken, dass er dieser neuen Situation gegenüber rat– und hilflos dastehe. Mit einem zornigen Seufzer warf er sich aufs Sofa. Er wagte niemanden zu suchen. Das Unglück schien ihm immer noch früh genug da. Warten wollte er, bis jemand von der Dachstube hinunter oder vom Garten herauf käme. Scharf, als ob ihn jetzt nur das angehe, sah er den vielen Fliegen auf dem Tische zu, wie sie mit den Brotkrümchen, die vom Mittagessen noch dalagen, eine bald mutwillige, bald ernsthafte Arbeit machten. Indessen ihm schien, sie stritten alle. ›Es steht schlimm,‹ dachte er, ›wenn die Mutter den Tisch nicht mehr scheuert.‹ – Doch ganz gefährlich dünkte ihn, dass der Teller des Vaters oben, der mütterliche unten am Tische stand. Nebeneinander hatten die sonst immer gegessen, Teller friedlich neben Teller, und Leonz hatte gar oft gegenüber auf seinem erhöhten Stuhle gesehen, wie Vater und Mutter die Klösse und das Fleisch teilten und wie wohl auch der eine Teil dem anderen lachend ins Schüsselchen langte, weil er sonst zu kurz käme. Nun starrten die Teller einander an wie zwei Hassende, die sich meiden, so weit es auf einem Tisch nur möglich ist.

Unter dem schlecht verschlossenen Fensterchen hörte Leonz jetzt zwei grobe Schuhe über das Pflaster schlürfen. Diesen langen, müden Schritt kannte er nicht recht. ›Das ist nicht die Mutter, gewiss nicht!‹ sagte er sich und sperrte die Türe gegen den dunklen Flur auf. Aber es war doch die Mutter. Den finstern Gang kam sie herauf mit einem Wasserkessel links und rechts in der Hand. Schon hatte sie das am Gartenzaun angebundene Pferd gesehen und den Besuch geahnt. Nun, da Leonz im Rücken des vollen Stubenlichts stand, konnte sie ihn nur am runden, weichen Kopf und an den kleinen, starr aus dem geschorenen Haupte vorstehenden Ohren, aber auch am schlanken Hals und den breiten Schultern erkennen. Sie stellte die Kessel mitten in den Flur ab und sprang wie ein hurtiges Mädchen auf ihn zu. Erst wollte sie ihn an der Achsel fassen, stutzte aber, da sie die glänzenden Achselschnüre und den hellen Armstreifen ihres Uniformierten bemerkte. Eilig suchte sie ihre wasserfeuchten Hände an der Schürze abzutrocknen. Aber Leonz gab ihr keine Frist. »Mutter, Mutter!« machte er mit verhaltener Stimme, während er die beiden Hände zusammenflocht und an seine Brust presste. »Komm herein! – Wo ist der Vater? – Was ist mit euch?«

Er riss sie in die Stube und suchte ihr beleuchtetes Gesicht zu lesen. Das Weib bewegte die Lippen wie im Krampfe. Leute, die etwas Ungeniessbares verschluckt haben, keuchen so und mühen sich ab, den Unrat wieder herauszustossen. Annas Wangen brannten dabei vor Not und Scham.

»Es ist nur eine Kleinigkeit, Leonz,« sprach sie endlich undeutlich. Aber sie erstickte fast an dieser Kleinigkeit. »Nur wegen dem Goldacker haben wir Streit.«

Leonz vermochte seine Mutter nicht anzusehen. Er blickte gegen das Fenster, durch dessen Scheiben die Weinberge vom jenseitigen Uferhang und besonders der Goldacker in die Stube guckten. Verblasst und verfallen sah die Rebe dort drüben aus, so dass die Rebstecken und die blauen Trauben bis herüber sichtbar wurden. Der Hügel herwärts schnitt die reifen Hänge drüben schon in der Mitte halben Leibes ab. Aus der unsichtbaren Tiefe stieg bis in die Stube herauf das schwere, vielgemischte Rauschen des Rheines.

Neben dem eigenen Weinberg sah Leonz in gleichen Streifen den Bleulerschen zur Rheintiefe hinabfallen. Oben stand das umfangreiche Wohnhaus mit einem Balkon gegen den Fluss und hatte nichts als den blauen Himmel hinter sich. Aber mit den verschlossenen Läden stand es düster und gewalttätig da wie sein Herr.

Nur mit halbem Ohr hörte Leonz zu, als die Mutter endlich Worte gewann und erzählte. Um seine Aufmerksamkeit zu bezeigen, runzelte er hie und da seine helle, etwas niedrige Stirne, die um so niedriger erschien, als ihm das dichte dunkle Haar tief ins Antlitz hineinwuchs. Als einziges und früher ziemlich verwöhntes Kind hatte er sich die Gewohnheit angeeignet, bei ungefälligen Reden der Eltern eine krause Stirne zu ziehen. Dies tat er auch jetzt, obwohl er weder aufmerksam noch beleidigt war. Vom Goldacker, der so flott in der Sonne lag, sah er zum Nachbarn hinüber und mit einem ganz kleinen Gedankensprung war er auch schon beim Nachbarstöchterchen angelangt. Am Rebhügel lag ihm wenig. Er war zuerst Kanonier, dann erst Winzer. Aber Rosine ging ihm nahe. Ihretwillen hätte er auf alle Rebstöcke der weinseligen Welt verzichtet. Nur die Uniform hielt noch neben der Geliebten stand, die würde er selbst ihr nicht opfern. Aber Rosine verlangte kein Opfer von ihm. Wie es in so mancher Liebe einen herrschenden und einen dienenden Teil gibt, so war sie vor der gesunden, glänzenden Erscheinung des Hauptmanns die dienende Seele. Sein Lieben war ein genussvolles Regieren, das ihrige ein ebenso genussvolles Gehorchen. Doch keines von beiden merkte von diesem Unterschied etwas. Jeder Teil war in seinem Element und glaubte niemanden glücklicher als sich.

Als nun die Fallerin die Kleinigkeit des Streites immer grösser schilderte, je mehr sie Atem zum Reden erschnappte, und von den invaliden Füssen und dem Herzklopfen, wodurch die bückenden Verrichtungen in den Reben schwierig würden, geradewegs auf Rosine überging und haarscharf bewies, dass Leonz nie und nimmer das Mädchen kriege, wenn dem Bleuler mit dem Goldacker nicht zu willen geschähe, da fand sich endlich der junge Faller seiner Mutter gegenüber zurecht und lächelte überlegen.

»Mutter, nur keinen Kummer, die Rosine hab' ich in Händen.«

Dazu öffnete er seine Hand, die gross und behaart war wie die bäuerliche der Mutter; nur bot sie keine Schwielen oder Narben. Sie war eher fein und nur wenig von der Sonne des Marsfeldes verbrannt.

Gleich schloss er die Finger wieder zusammen, als könnte ihm sonst der gefangene Vogel entschlüpfen.

»Was vermögt ihr ohne den Alten?« widerstand das Weib. »Nichts wird daraus!«

»Bis zum Jüngsten Tag könnt ihr warten,« machte die Frau spöttisch, als Leonz unverändert lächelte. Doch verlor ihr Auge nichts von der Zärtlichkeit, mit der sie dem Jungen die ganze Zeit gleichsam im Gesichte lag.

»Ja, dann warten wir bis zum Jüngsten Tag,« versetzte Leonz fest und ging in den knarrenden Reiterstiefeln die Diele auf und ab.

»Mutter,« begann er wieder und stand vor ihr still, »sei nicht böse! – Sieh, um meine Rosine habe ich kein Stümpchen Angst. Du, du machst mir bang, du und der Vater! – Wo ist er denn?«

Sie wurde dunkel im Gesicht bei diesem Worte. Wie zur Entschuldigung nahm Leonz ihr Kinn in seine weiche Hand.

»Draussen, drüben!« erklärte die Frau halb verweisend, halb über seine Liebkosung ergriffen.

»Ich gehe hinüber,« entschied der Hauptmann und nahm die Mütze von der Lehne. »Komm mit, Mutter – das ist doch eine Dummheit, das ist euch nicht ernst! – Ihr fangt zu spät an zu zanken, das hättet ihr früher lernen sollen. Komm,« fuhr er eindringlicher fort, »wir wollen den Vater küssen – zu nimmst die rechte und ich die linke Wange! Komm!«

»Geh du nur allein,« versetzte die Frau mit ungeahnter Härte, »rede mit dem Murrkopf, wenn du's kannst. Ich habe es satt!«

»Aber Mütterchen –« betroffen hielt der Hauptmann inne. In den kleinen grauen Augen dieses Weibes lag eine so tiefe und rüstige Streitbarkeit, dass Leonz sogleich verstand, hier sei mit jener alten, kindlichen Zutraulichkeit, mit der er früher alles erzwingen konnte, nichts zu erreichen.

»An dich denkt er gar nicht, unser Alter!« rief die Frau, »immer nur an sich. Nimm eine Magd mit schmutzigen Händen! Wenn sie nur den langen Tag wie ein Gaul für den Hof arbeitet, dann ist sie ihm schon recht. Was versteht er die Rosi? – So ein fein Ding! – Er will sie nicht herüber haben und darum schickt er den Oberst so sackgrob heim. Da hat alles Ziel und Ende!« –

Wieder runzelte Leonz seine saubere Stirne, aber diesmal war nichts Verwöhntes, sondern eine tiefe Schmerzhaftigkeit schuld daran.

»Mutter,« sagte er, und seine Mundwinkel zitterten, »so hab' ich dich noch nie gehört über den Vater schimpfen!«

Rasch wandte er sich nach der Türe, schamrot darüber, dass er seine Mutter gescholten hatte. »Ade!« tief er noch von der Stiege herauf.

»Wohin gehst du?« stiess das Weib heraus, ohne sich von der Mitte der Diele, wo es immer gestanden hatte, zu entfernen.

»Zum Vater!« scholl es herauf. Dann vernahm man ein leises »Hüp!«

»Zum Vater!« wiederholte Frau Anna leise, aber mit einem anderen Ton, den sie fälschlich aus Leonz' Ruf herausgehört hatte. Es klang aus diesen zwei Wörtchen wie Abfall des Kindes, wie Übergang zum Feinde. Lange noch vernahm sie den Hufschlag des Togo über den Holperweg zum Flusse hinunter. Als es endlich ganz still wurde, ging sie mit ihren langen, müden Schritten zum Sofa hinüber. Doch da fiel ihr mitten in aller Seelenpein ein, dass sie die beiden Wasserkessel noch auf dem Flur hatte stehen lassen. Seufzend erhob sie sich und trug das Geschirr mit der Gewohnheit einer Sklavin auf das Bänklein in der Küche.

Als Leonz den Vater endlich zwischen dem dürren Weinlaub, selber ein dürres Männchen, sitzen sah – er hatte nur noch ein Stündchen Frist bis zum Einrücken – empfand er ein Gefühl, das nichts mit dem gemein hatte, was er bei der Mutter verspürt hatte. Dieser zusammengesunkene, kleine, von unzähligen Kerben des Alters, der Arbeit und des Schicksals im tiefbraunen Gesicht und in den mageren Händen gezeichnete Mann stellte dem Sohne etwas ganz anderes vor, als die immer zärtliche und nachgiebige Mutter. Auch jetzt in seiner Schmächtigkeit und eingefallenen Figur musste man ihn unwillkürlich respektieren. ›Unser Meister!‹ dachte Leonz, ›unser Oberhaupt!‹

Während die Fallerin bei allem, was sie schelten oder loben wollte, unmässig viel Worte verschwendete und damit beides gleich entwertete, redete der Vater knapp. War er im Geldausgeben mehr als sparsam, im Münzen der Worte war er geradezu geizig. »Man sollte meinen, jedes Wort koste ihn einen Franken!« spotteten die Vielschwätzer. Aber diese fränkigen Wörtlein hatten dafür Sinn und Kraft. Wie ein gutes, gar nicht abgenutztes Werkzeug richtete es heute noch so viel wie vor vierzig Jahren aus, wenn Meinrad sagt: ›Das gefällt mir nicht‹ – oder ›Das darf nicht wieder vorkommen!‹ Nein, es kam wirklich nicht mehr vor.

Jetzt sass er auf einem Bänklein, das er mitten in seinen Weinberg gezimmert hatte. In halber Höhe stand es. Man sah hier die grünen Reihen der Rebstöcke sich in ihrer sommerlichen Herrlichkeit oder in ihrem herbstlichen Reichtum nach unten und nach oben wie ein niedriges Wäldchen verlieren. Man glaubte, dass es kein Ende habe. Vom Wohnhaus drüben bemerkte man hier nur den Kamin und das vor zwei Jahren mit zündroten Ziegeln in das tiefbraune Getäfel geflickte steile Dache. Hier fühlte sich der Alte seit zwei Tagen daheim. Das Haus war ihm gründlich verleidet.

Im Überfahren und Emporsteigen hatte Leonz genau bedacht, wie er mit dem Vater reden wolle. Zuerst die alte Mutter recht mitleidig schildern, dann seine Freude und seinen Willen für das Militär in allen Farben malen, endlich den scharfen Vorsatz aussprechen, die Tochter des Nachbarn und keine andere zu erobern. So stehe die Sache. Den Weinberg gehe das nichts an. Ob der Vater ihn verkaufe oder verpachte oder behalte, das sein ihm gründlich einerlei. Nur solle er nicht auf ihn rechnen! Nicht aus Gleichgültigkeit für den Vater und das Hauserbe sage er das. Aber es sei nun einmal so. Einer wolle das Althorn blasen, ein anderer vergnüge sich, Klee und Hafer zu säen, ein dritter aber begehre nach den Waffen. ›Ich habe,‹ wollte er sagen, ›mich ja nicht selbst gemacht. Ihr habt mich so in diesem Kanonenfieber auf die Welt gebracht. Was kann ich dafür –‹ Diesen Trumpf wollte er zuletzt ausspielen.

Aber nun verfiel dieses ganze Gerede vor dem grauen Männchen da, das ihn ohne ein Zeichen der Beachtung ganz nahe treten liess. Nein, wie hatte er nur so Waghalsiges erfinden können? Keine Silbe davon liess sich hier brauchen. »Vater,« begann er, ohne es zu wissen, was er eigentlich sage. Er griff an den Waffenrock, als wolle er sich damit ermannen.

Mit einer unnennbaren Überlegenheit betrachtete der Bauer jetzt seinen Sohn. Seine grossen, braunen Augen, die noch so stark aus dem ledernen Antlitz sahen, hatten einen unbewegten Glanz. Ein leiser Spott umspielte seine übel rasierte Wange. In den Mienen dieses Bauern lag etwas vom Adel des ältesten Standes der Welt.

»Wenn du vom Weibe herüberkommst, so schwatz' dich anderswo aus!« murrte er.

»Vater, morgen beginnt das Manöver. Jetzt muss ich zu meiner Batterie. Sie liegt dahinten in Haselrieden. Da wollte ich dich noch im Vorbeigehen grüssen.«

»Wann beginnt ihr?« fragte der Alte nachlässig und stopfte aus dem vergilbten Lederbeutelchen Tabak in seine kurze Pfeife.

»In aller Frühe! Aber die Artillerie hat schon Marschweisungen für die Nacht.«

»So!« Der Alte schaute gleichgültig über die Reben hinaus.

Leonz wusste schon nichts mehr zu sagen.

Plötzlich funkelten die Augen des Bauern auf. »Hierher wird doch das Getümmel nicht kommen?«

»Das müsste seltsam gehen! – Der Gewalthaufen operiert drüben auf unserer Seite. So weit hinunter wird aber das Gefecht nicht reichen. Dazu, Vater, die Weinberge sind aus dem Plane geschieden.«

»Hoffentlich!«

Meinrad zündete das Pfeifchen an.

»Ich habe das Ross unten bei der Fähre angebunden. Also, gute Weile, Vater!«

»Ade,« erwiderte der Bauer und blies fest in die Pfeife.

Salutierend trat der Hauptmann zurück. Was sollte er noch sagen? – ›Vater, vertragt Euch mit der Mutter!‹ – etwa das? Oder: ›Vater, ich weiss alles, alles, Ihr –‹ nun wie denn weiter? – Dummheit, das alles geht nicht. Da muss man wieder von vorne anfangen. Aber eben der Anfang, der schwierige Anfang!

Plötzlich wendet er sich nach einigen Schritten wieder zurück. Er dringt auf den Vater ein, presst ihm die kleine Hand und sagt: »Vater, auf gutes Wiedersehen!« – Er legt einen eigenen Ton auf das Wörtchen ›gutes‹. Das übrige, was er nicht sagen darf, sprechen seine Augen aus, eindringlich, schmerzlich, mit leisem Vorwurf.

Der Faller ist auf diesen Überfall nicht gerüstet. Seine grossen und so klugen Augen senken sich vor dem Sohne.

»Auf gut Glück!« spricht er, ohne aufzusehen, und müht sich, eine Traube, die fast am Boden liegt, in ein Ästchen emporzurecken.

»Auf gut Glück!« antwortete Leonz und springt in grosser Bewegtheit den Hügel hinunter zum Pferde. Auch der Greis in den braunen und gelben Rebenblättern hat schwer gegen die unvermutete Erschütterung zu kämpfen.

Blaue und gelbe Trauben glänzen allenthalben aus den Ranken hervor. Hie und da schwärmt eine Wespe oder eine braunhaarige Hummel daran herum. Es riecht nach trockener Erde, dürrem Laub und fettigen Beeren. Ziemlich hoch über den Reben streicht in zerrissenen Kringeln der blaue Rauch vom Bleulerhause empor und nimmt die Richtung über den Rhein. Jetzt steigt ein schweres, wasserkühles Lüftchen vom Flusse auf. Wie es die an eine hohe Stange gehängten Hosen den Vögeln, den Schelmen zum Schrecken leise bewegt, möchte man wahrhaft glauben, es stecke ein Lebendiges in den Beinkleidern und ertappe irgendeine spatzenhafte Dieberei. Aber das Lüftchen steigt höher und vermischt sich leis mit dem ganzen wundersamen Gemengsel der Herbstgerüche, und nun ist es, als atme man den Duft ein, der von den Salben, Blumen und Lichtern eines Leichenbettes so müde, so nerventötend strömt.

Der Faller scheint das auch zu spüren, dieses Sterbensmüde. Das Feuer ist ihm ausgegangen. Umsonst streicht er seine drei letzten Zündhölzchen an den dicken Hosen an. Er kommt damit immer zu spät an den Tabak.

»Ist es schon so weit?« machte er mürrisch, als er weder im Kittel noch in der Weste ein einziges Zündholz fand. Er sagte es nicht laut, sondern dachte es nur. Es war nicht seine Gewohnheit mit sich selbst zu reden. Missmutig steckte er sein vollgestopftes Pfeifchen in die Tasche. So etwas war ihm noch nie begegnet.

Die hellen weissen Trauben schienen ihn naiv anzustaunen und zu fragen: ›Was ist mit dir, Freund? Bist du krank?‹

Die dunkelblauen machten ein Gesicht voll tiefer Erfahrung und lispelten geheimnisvoll: ›Nein, er ist nicht krank. Da fehlt es ganz wo anders, Schwestern! Aber das versteht ihr nicht.‹ Und die Gelben verstanden wirklich nichts. Unschuldig und töricht wie Kinder schauten sie einen Augenblick aus ihren goldenen Gesichtlein hervor den armen Mann und die klügeren blauen Schwestern an.

Langsam führte Leonz seinen Togo am Flussbord entlang. Zum erstenmal ging er an den Reben der Bleuler vorüber, ohne an Rosine zu denken. Sonst hatte er beim Anblick der Trauben sich stets des geliebten Mädchens erinnert. Die grünen Beeren gemahnten ihn an ihre einfältige Jugend; die gelben an ihr sonniges Haar und die blauen an ihre strahlenden dunkler Augen. Bei dem zierlich geformten Rebenblatt aber, das sich da zitternd im Wind bewegte, empfing er die Vorstellung von der grünen, seidenen Schleife, die sie im Haar trug und die ihr bald in den Nacken, bald über die Stirne und das kleine, ganz leicht gebogene Näschen fiel.

Dieses seidene Band war eigentlich an allem schuld, was mit Leonz und Rosine geschehen war. Wie es jetzt auf die rechte, jetzt auf die linke Schläfe fiel und jedesmal mit ihren weissen, feinen Händen über den Scheitel zurückgestrichen wurde, so hatte der Jüngling sie zum erstenmal gesehen bei der Auerstätter Kilbi. Und zwar hatte er zuerst nur das Band gesehen, darnach erst die helle Stirne, die Augen, die fast vor tiefer Bläue schwarz schienen, und die ganze grosse Jungfrauengestalt, in der alles doch noch etwas Kindliches und vom Leben Ungetäuschtes aussprach. Sie plauderten eine Weile mitsammen und stritten, ob der Rhein bei grossem Wasser oder bei geringem poetischer sei. Leonz trug in jenem verhängnisvollen Augenblick eine grüne Krawatte. War es nun diese Eintracht der Farben oder dass sie sich beide auf den niedern und dann allergrünsten Wasserstand als das Poetischere geeinigt hatten, oder war es sonst etwas Gemeinsames, was sie heimlich band: sie gingen heim und entschliefen, eins die grüne Krawatte, das andere die grüne Haarschleife im Sinne. Ihr Tag und ihre Nacht, alles, was sie dachten und schafften, erschien ihnen nun grün. Sie lebten in einer stillen, unausgesprochenen, festlichen Hoffnung. Ohne sich zu beichten, kannten sie ihre Seelen.

Als die Väter beide ungern genug diese übermässig grüne Welt ihrer Kinder bemerkten und sie mit einer anderen Farbe anzustreichen suchten, da geschah, was in der echten Liebe immer geschieht, sie wurde jetzt erst recht selbstbewusst. In den vielen Hindernissen, die sich bald einstellten, begannen Leonz und Rosine sich nun über die Wahrheit und Festigkeit ihrer Gefühle klar zu werden. Und wie in einem heimlichen Trotze verbanden sie sich und beschworen die Treue für alle Zeiten.

Das war vor einem Jahre geschehen.

Während Rosine immer Angst um ihren Leonz hatte, wie das Schwächere sich um das Stärkere stets mehr kümmert, war ihm wirklich nie der Gedanke gekommen, dass Rosine die Braut eines anderen werden könnte. Diese Sicherheit löschte zwar die Sehnsucht, die er stets nach ihr empfand, nicht aus. Aber es war eine glückliche Sehnsucht, und er litt nicht darunter wie sein Mädchen, das sich um ihn heiss abquälte. Wie in einem Fieber beobachtete sie ihren Geliebten von ihren Fenstern aus, wenn er die Rosse vorspannte oder in die rückwärts gelegenen Gärten wanderte, bald im Laubgebüsch untergehend, bald in einem bläulichen Ausschnitt des Himmels wieder herrlicher auftauchend. Sie hatte ihn auch heute erspäht, wie er drüben ans Haus ritt, dann sah sie ihn zum Flusse niedersteigen. Sie zitterte vor Aufregung. Die Uniform erhöhte ihre Begier, ihn nahe zu sehen und zu wissen, dass er sie gerade sie liebe wie am ersten Tage. Leonz ging gemächlich unten am Wasser hin. Er dachte nicht an Rosine. Weiss Gott, wie das kam. Aber immer noch sah er seine scheltende Mutter und seinen gekränkten Vater und dazwischen eine schwere, breite Wolke wie ein Gewitter liegen.

›Ich muss sie zueinander bringen, fertig!‹ sagte er sich; ›sobald die Manöver zu Ende sind. So hält ja keines das Leben länger aus, keines von uns dreien.‹

An das Vierte dachte er immer noch nicht, und doch führte jetzt der einzige Feldweg auf dieser Seite am Rebhügel des Obersten hinauf und liess bereits über den obersten Rebstöcken den ausgeschweiften Giebel des Bleulerhauses sehen.

Husch! Husch! – Schoss eine Wachtel aus dem Laube? Auch schon vorgekommen!

Etwas so Schüchternes war es gewiss, das da vor Leonz stand; und wie ein solches wildes Huhn im scheuen Eifer das Gefieder sträubt, so sah Rosine aus. ›Dürfte ich? – Dürfte ich?‹ schienen ihre Augen und ihre am hellblauen Rocke zupfenden Finger zu fragen.

»Rosine!« machte er und lächelte.

Ermutigt tat sie den letzten Schritt zu ihm und ergriff seine Hand.

»Geh nicht da oben vorüber! Mein Vater sitzt am Weg. Er ist furchtbar böse – weisst du, dass –«

»Ich weiss, ich weiss!« sagte Leonz und schlug den Arm über ihre Schulter.

»Alles ist verspielt!« seufzte sie mutlos.

»Gar nichts!« erwiderte Leonz. Im Anblick dieses zaghaften Mädchens gewann das Bewusstsein seiner Männerkraft gewaltig die Oberhand.

»Gar nichts!« wiederholte er, »und ich gehe bei deinem Vater hart vorbei.«

»Das tust du nicht, Leonz, um alles, bitte, bitte, nein!« Wie zum Beten erhob sie ihre Hände gegen ihn. Aber er stiess sie sanft weg.

»Ich will aber!« versetzte er entschlossen und drückte sein Kinn eigensinnig in den hohen Mantelkragen.

»Aber wenn er dir Grobheiten macht!«

»Lass uns nur, wir kommen schon aus!« Dabei regte er seine geschmeidige Gestalt.

»O Gott,« bangte das grosse Mädchen in seine vorgehaltenen weissen Hände hinein.

Sie gingen schweigend ein Stück hinaus. Schon tauchten die hellen Fenster des Hauses und der Stamm der Linde davor auf.

»Er sieht uns sonst,« sagte Rosine und entwand sich dem Artilleristen, der sich vergeblich abmühte, sie nochmals zu erhaschen, da er das Pferd auf dem jähen Weg nicht freigeben konnte.

»Warte, ich will dir –! Geht man so auseinander?« drohte Leonz.

Aber sie war bereits entschlüpft. Immer ferner im Gesträuch raschelte es wie bei der Flucht einer Wachtel.

Nun kamen oben unter dem niedrigsten Laub des Baumes eine Ledermütze mit schwarzem Schild und ein breites, vornehmes Gesicht mit wenigen, aber tiefen Furchen in der Stirne und an beiden Wangen herunter, dann die starken Schultern, eine weisse Weste zwischen den schwarzen Rockstössen und endlich eine gewaltige Zeitung. Tief unter sich hielt der fernsichtige Alte sein Leibblatt mit ausgespannten Armen und las. Der braune Hund, der zu seinen Füssen lag, hob knurrend seinen schönen Wolfskopf auf. Bleuler blickte über die Zeitung hinaus und erkannte sogleich den Nachbarssohn. Zu einer unschönen Grimasse verzog sich sein sonst so würdiges Gesicht. Er zögerte noch, den aufspringenden Hund zurückzuhalten.

Aber Hektor hatte nun erst Leonz erkannt, und zum Ärger des Alten lief er, mit dem Schwanz aufgeregt wedelnd, dem Hauptmann ans Knie und suchte seine Hand mit dem Kopf zu streicheln.

»Hektor!«

Ungern, aber unverzüglich gehorchte der wohldressierte Hund dem Kommando und kehrte zu seinem Herrn zurück.

»Guten Abend, Herr Oberst!« Leonz grüsste und hob militärisch zwei gestreckte Finger an seinen Mützenschild.

»Guten Abend auch!« versetzte der Bleuler ungehalten und tat, als ob er weiterlesen wolle.

Aber das Soldatische des strammen Artilleristen steckte auch sein altes Kriegerblut an. Diese straffe, graue Hose, das Säbelgehänge, das hübsch aufgezäumte Ross und die vollendete Haltung des Hauptmanns, von dessen Mütze drei Goldstreifen über den Mann fielen, das liess sich nicht so leicht abtun. Dafür war er zu lange selber Oberst gewesen. Er hatte den jungen Faller bisher meist im Bauernkittel oder auch im Sonntagsstaat gesehen. Da war er ihm gleichgültig und seit der Geschichte mit Rosine verhasst gewesen. Doch jetzt im eidgenössischen Wehrkleid, umgeben von jenem unsagbaren Zauber des Kriegshandwerks, den verliebte Mädchen und ausgediente Obersten am deutlichsten empfinden, jetzt schien ihm Leonz ein anderer Mensch, ein Schweizer, ein Ebenbild seiner eigenen jungen Offiziersjahre zu sein. Dass dieser junge Mann schon Batterieführer war, vollendete den guten Eindruck, und Bleuler versuchte, den Hauptmann Faller vom Winzer Faller zu trennen. Seine Miene klärte sich bei diesen Bemühungen unverweilt auf.

»Da lese ich von Ihren Manövern, Herr Hauptmann!« begann er um vieles wohlwollender als vorhin und suchte mit diesem Worte den Nachbar zum Stehen zu bringen.

Leonz stand in tadelloser Haltung vor dem Obersten.

»Der Plan ist natürlich noch geheim; wie ich sehe, bis morgen früh!« fuhr Bleuler fort.

»Die Artillerie hat ihre Weisungen schon diesen Abend,« versetzte Leonz ziemlich wichtig.

»Ah, die Artillerie,« machte der Oberst mit jenem fröhlich überlegenen Gefühl, das alle Kavalleristen haben, wenn sie mit einem Artilleristen sprechen.

Eine kleine Pause trat ein. Leonz wollte weiter gehen. Aber er fühlte sehr wohl, dass hier noch ein gutes Wörtchen gesprochen, sozusagen ein neuer Faden in das zerrissene Gewebe der nachbarlichen Beziehungen gesponnen werden könnte. Das immer freundlichere Auge des Obersten tat ihm wohl. Er regte sich in seinem Scheine zuerst behaglich, dann immer strammer und dreister wie ein sehr schöner und glänzender Kater im Wohltun der Sonne. Und die wirkliche Sonne, schon im Untergehen begriffen, funkelte jetzt über seine Metallknöpfe, über die Achselbänder und über den Handgriff des Gewaffens, sowie auch über das glänzende Leder am Mützenschild. Leonz wusste, dass er jetzt sehr schön sei, obschon er eine etwas niedrige Stirne und die Brauenbüschel etwas zu tief in die Augen hangen habe.

»Wir haben Oberst Seiler auf unserer Seite,« sagte er stolz. »He, he, Togo!« – er wandte sich rasch an sein Pferd, das mit gestrecktem Hals einen tiefen Lindenzweig erstrebte, »da wird nicht genascht!« – Und er fuhr dem lieben Tier schmeichlerisch mit seiner behaarten, grossen Hand zwischen Hals und Rücken herunter, so dass der vergnügte Togo den Zweig aufgab und sich fröhlich unter dem Streicheln schüttelte. Den Namen hatte er vom japanischen Seehelden, der zur Zeit im Kriege mit den Russen sich gewaltig hervortat. Fast alle Pferde seiner Kameraden waren nach japanischen Generälen getauft. Da gab es einen Oku und einen Kuroki und wie die schlitzäugigen Herren alle hiessen.

›Er versteht die Pferde,‹ dachte der Oberst; ›sonst hat die Artillerie das Rossmaterial immer nur zuschanden gehetzt.‹

»Ja,« meinte er laut und strich einer übeln Gewohnheit zuliebe den eisgrauen Schnurrbartzipfel in die Mundwinkel, »ja, den Oberst Seiler habe ich noch als Büble übers Knie geritten. Hat schon früh Pulver gerochen. War Freiwilliger bei Metz. – Kennen Sie ›Leitfaden der schweizerischen Gebirgstaktik‹?«

»Zu Befehl!«

»Hat er geschrieben!«

»Ausgezeichnet!«

»Nur wohl gar zu defensiv. Vermisse kühne Attacke, was?«

Herr Martin Bleuler war in den alten Schneid der Oberstensprache geraten, jener wunderbaren Sprache, die die notwendigen Wörter grundsätzlich auslässt, aber die kleinen, unnützen schwer markiert und doch zum Ohr geht und im Nu verstanden sein will.

»Aber der Herr Oberst haben die Manöver noch immer gewonnen!« entgegnete Leonz.

»Defensiv! – Doch Angriffssieg doppelter Sieg!« widersprach der Alte eifrig.

»Aber die alten Schweizer –«

»Richtig, – Murten, Grandson, Morgarten, – immer Attacke! Selbst Sempach, ein Angriff – erste Attacke zurückgeworfen! Neuer Angriff wieder geworfen, wieder attackiert und so fort unter qualifiziert schwierigen Umständen. Endlich den Feind aufgerissen, die Reihe zersprengt, die Viktoria erzwungen!«

»Es ist wahr«, gestand Leonz bescheiden und selber vom Hauch der alten eidgenössischen Kriegsblätter, die der greise Bleuler da aufwirbelte, etwas ergriffen.

»Ja, mein Lieber, Defensivsieg, na, für den Feind nicht halb so schlimm! – Bezieht gute Stellung und hat Frist für zweite Schlacht. – Attackesieg putzt ihn weg! – Sucht den Kerl! – Selbst Hühner picken nichts mehr auf.«

In diesem Augenblick schlug es irgendwo von einem der sechs Kirchtürme, die man hier in den Obsthügeln nicht sah, während man doch je nach den herrschenden Lüftchen deutlich aus ihren weiss Gott wie friedlichen Wiesenmulden herauf die Stunde läuten hörte, – sechs Uhr.

Der Hauptmann schrak zusammen. »Zu Befehl, Herr Oberst!« machte er und salutierte schneidig. »Um sieben Uhr muss unsere Batterie beisammen sein. Werde Ihnen den Verlauf melden, sobald Offizielles vorliegt.«

»Sehr dankbar, Herr Hauptmann! – Apropos, Sie stehen zu den Japanern?« fügte er bei und deutete auf den klug zuhorchenden Fuchs, in dessen Sattel Leonz sich kühn emporschwang.

»Durchaus!«

»Ich auch!«

Leonz lächelte und salutierte nochmals. Dann wandte er den Togo und ritt im schönsten Trabe landein.

Der Oberst ausser Dienst hatte sich nach wohlwollender Nachschau wieder auf sein Bänklein gesetzt. Vor seinen Augen ging die alte Zeit vorbei wie eine Prozession. Graue Knäuel von Pulverdampf zuerst, dann Achselklappen, wiehernde Rosse, mächtiges Feuer im feuchten Gras, sein Zelt, der treue Schritt seiner Adjutanten. Dann wieder ein frostiger Morgen, Ross und Reiter durch den herbstnebligen Rhein schwimmend, weissgekreuzte Fahnen, überraschte Feindesbataillone, die Reiter wie eine Hagelwolke darüber, Trompeten jetzt von rechts, nun auch von links, dann von allen Seiten wie am Jüngsten Tag: Sieg! Sieg!

»Sieg! Sieg!« lispelte der Greis und schlummerte, den Kopf an den Stamm der Linde, in eine wohlbekannte und bequeme Rindennarbe legend, in einen traumlosen Schlaf ein.

Schlau und neugierig trat jetzt Rosine hinter der Gartenecke hervor, die den Weinberg vom eigentlichen Hausgarten trennte. Nichts von allem war ihr entgangen. Dennoch begriff sie nichts. Aber als sie nun herzutrat, sich neben den alten Vater setzte und die Schulter gegen sein geneigtes Haupt hielt, damit er da ein liebes Kissen finde, und als sie nun gar sah, wie sich hinter sein derb geschnitztes Gesicht ein seltsames, fast verschmitzt friedliches Lächeln geschlichen hatte, da begann ihr so schnell verzagtes und schnell wieder aufjubelndes Herz sich mit einer unbestimmten Freude zu füllen, einer Freude, die noch nicht weiss, wie und was sich ereignet, aber die weiss, dass etwas sehr Glückliches geschehen und sich geradeswegs auf ihr Haupt entladen muss.

Hie und da fiel ein gelbes Blatt vom Baume auf die Knie des Vaters oder eine Fruchthülse auf die Achsel der Tochter. Sie bemerkten es nicht. Wie das weisse Haupt sich an den blonden Scheitel der Jungfrau schmiegte, wie sie mit ihren kleinen, zarten Händchen die breiten väterlichen Tatzen zu decken und warm zu halten suchte, und wie beide unbeweglich sassen und schwiegen, glaubte man, sie wären zu einem Leben miteinander verwachsen, in einer Ruhe, einer Seele, einem Herzschlag.

In die Stille des frühen, reinen, fast noch sonntäglichen Montags griff die unheilige Militärfaust ein, schwang Bajonette und lud Gewehre oder jagte die glänzend geputzten Rosse durch die faltige Landschaft. Eine Stunde früher, um vier etwa, war es ringsherum still gewesen wie in einer Witwenstube. Sowie aber vom Heroldinger Turm die fünfte Glocke schlug, wimmelte es plötzlich stundenweit von Leben. Als hätte er sich ins feuchte Gras geduckt und wie ein lauernder Hund nur auf das Zeichen geharrt, so erhob und bewegte sich nun der Krieg in den prachtvollen Linien und Figuren seiner verschiedenen Waffengattungen übers Feld. Da rollte ein Fähnlein auf, dort blitzten im marschierenden Trupp die gelben Trompeten über die Achseln, hier wurde Schar auf Schar der schlanken, beweglichsten Infanterie in den tiefbraunen Wald geschickt, der sich gen Osten wie ans Ende der Welt breitete. Hinter seinen dunkeln Säumen ging ein Korps nach dem anderen verloren wie Gedanken im schlafenden Kopfe. Zu Tausenden zogen sie ein, eine viertelstundenlange Reihe von Wagen folgte, alles verschwand, und wieder träumte er dann im Zwielicht des Morgens wie in der grössten Menscheneinsamkeit weiter, der uralte Jegisdorfer Wald.

Wer indessen die Bewegung der Truppen studieren wollte, konnte durchaus nicht erraten, um was für ein Gefecht es sich handle, wo der Feind stehe, ob man angreife oder abwehre, weiche oder vordringe. Man sah nur Truppen, Reiter, Artillerie und hie und da zwischen schönen Uniformen eine besonders schöne zu Rosse unter einem Kirschbaum oder auf der Höhe eines Hügelvorsprunges prangend. Und zwischen solchen vornehmen Häufchen flogen zuweilen Adjutanten her und hin, den Schweiss des Gehorsams auf der Stirne, Pomade im feingeschnittenen Haar und im Herzen das Gefühl, in dieser Militärwelt so wichtig zu sein wie Luft und Licht.

Nein, man konnte wahrhaft nicht erraten, ob oder wo gekämpft wurde. Gar die Soldaten schienen es nicht zu wissen; die nicht, die in gehetztem Schritte durch den Wald vordrangen, und die ebensowenig, die zwischen Grashaufen und Hecken sich verstecken mussten. Am wenigsten aber die Artillerie Leonzens, die in der Nacht ihre Stellung in den Absamer Höhen bezogen hatte, um fünf Uhr infolge eines unversehenen Befehls hinunter in den weichen Lehmboden der Feilerschen Güter gefahren war und jetzt schon vier Stunden in diesen trübseligen Stoppelfeldern des geizigen Grossbauern festhockte, wo ein fauler Ziehbrunnen den frischen Tag verstänkerte. Tatlos mussten die Männer neben ihren Geschützen harren, ohne eine Zigarre zu rauchen oder eine Feldküche zu rüsten. Die wussten am wenigsten vom Gang der Manöver.

Indessen, das sollen eben die richtigen Schlachten sein, war den Rekruten oft erläutert worden: Entfaltung der Heeresteile in die weitesten Auszüge, in eine unendliche Verzettelung der Kräfte, als bliese der Wind sie nach allen Anfängen der Welt; dann wieder ein Durcheinander von so verzwickten und so ungeahnten Bewegungen, dass man zu träumen glaubte; plötzlich ein Sausen über die Köpfe weg, ein paar Salven aus den Verhauen, dann wieder Totenstille! – Und endlich, nachdem der Soldat bis zum Abend von einem Ort zum anderen gerannt ist, ohne einen Feind gesehen zu haben, verliest der General, nachdem alles zusammengetrommelt ward, von einem dicken Papierzettel: dieses nämlichen Soldaten Division habe gesiegt, und gerade seine Kompanie sei ausschlaggebend gewesen. Am Ende wird der Bursche noch ehrend ins Militärbüchlein gebucht.

In der Tat, es war eine sehr ernste Schlacht. Ein Stück Weltgeschichte wandelte sich hier auf diesen dürftigen Moorböden ab, nur merkte es niemand.

Freilich, den Gesichtern der Befehlshaber hätte man es ablesen können. Sie gaben sich gerade so feierlich wie die alten, steinernen Männer auf den Brunnen unserer gemütlichen Landstädtchen. Ihre Schnurrbartzipfel gingen himmelan, ihre Stirne lag in urweltlichen Falten; spärlich und langsam kamen die Worte von ihren gepressten Lippen, und das Bewusstsein einer unerhörten Verantwortung umgab sie mit einem unverletzlichen Panzer.

Das Volk, das in ungezählten Scharen von ferne zusah, fühlte die Bedeutung des Augenblicks wohl. Man hungerte und dürstete zu Tausenden, wenn man nur diese Schlacht zwar nicht mitansehen, aber doch miterleben durfte.

»Da, am Zaune bin ich dabeigestanden,« wird nach Jahren noch der Bauer Jeremias sagen. »Es ging ziemlich nahe!«

»Und ich,« meint der Bauer Isidor, »ich stand beim Rotacher Brücklein, das war viel näher.«

»Nein, hier entschied es sich!«

»Nicht doch, hier!« –

Bei der Artillerie hatte nach und nach der Humor überhand genommen und um Mittag machte man es sich bequem, fing an zu spassen, kochte und hielt sich für abseits gelassen, vergessen und verloren. Auf der Welt hat niemand ein so derbes, aber so gutes Spassmaul wie der Kanonier. Seine Witze fliegen so rund und glatt wie seine Kugeln und machen ebenso tiefe Löcher.

Der Batteriehauptmann stand mitten in diesem scherzhaften Geschwätz und half auf seine Weise mit. Witze machte er selber nicht. Aber er lachte. Und sein Lachen war soviel wert, wie ein guter Witz. Er trug die ganze Gesundheit des Menschen in sich. Es steckte förmlich an und übernahm die Zuhörer wie starker, echter Wein.

Der Kanonier von Nr. 3 war ein besonderer Spassvogel. Er hatte es in der Gewalt, sämtliche Obern in Stimme und Gebärde vorzutäuschen. Er rülpste das »r« wie Oberst Leo, atmete zwischen halben Wörtern wie Major Max, sagte das »bezugnehmend und fussend auf gestrigen Erläuterungen« genau mit der unermesslichen Wichtigkeit und mit der Nachahmung des Napoleonblickes wie Oberst Örtle. Aber am köstlichsten war er doch als Oberstbrigadier Dubois, der aus dem welschen Greyerz stammte.

»Wie aissen das Flügelmann?«

»Joseph Zeuglin, Herr Oberst!«

»Schoseph Säugling, tretest vor!«

Der Flügelmann tritt mit dem unrechten Bein vor.

»Wo ist der rechte Bein?«

»Hier, Herr Oberst.«

»Ssör gut. Und wo ist der linke Bein?«

»Hier, Herr Oberst.!«

»Pourquoi! – Wossu ist Sie denn promeniert mit die rechte Fuss?«

»Herr Oberst, ich bin mit dem linken –«

»Mit die rechte – ich sehe alles, alles. Das bin ich mit Schmerze gesehen. Die rechte Bein! Voilà, mit die rechte Bein wir sind battu – nur mit die linke Bein hat die victoire.«

Ein unermessliches Gelächter wollte über diese Leistung ausbrechen. Aber Leonz hatte kaum mit seinem Bass den Grundton gegeben, als ein Trompetensignal ertönte.

Augenblicklich stellte man sich in Zugordnung.

Eine fliegende Botschaft ritt heran. Die Batterie habe sofort über den Wängerwald nach Peidenmühl am Rhein vorzurücken. Auf dem Wege seien Batterie 27 und 45 mitzunehmen. Denn alle Reserven müssten aufgeboten werden, um die Operation der blauen Armee am Rheine zu unterstützen.

Hei, wie eilig das durch den Wald ging! Dann über weite Felder! Die Züge der Höhen, diese bewaldeten, blauen Linien vor dem Himmel, sanken nieder, eine um die andere, vor dem Anmarsch des Zuges. Aber der Boden verdross die Wackeren. Bald hatte man sich durch dichtes und dorniges Gestrüppe zu reissen, bald die schweren Wagen aus den von seichten, aber beharrlichen Wässerchen durchweichten Wiesen zu schaffen. Oft bis hoch an die Wagenachse sanken die Fuhrwerke ein. Die Rosse dampften, die Reiter tropften von Schweiss, die Fuhrknechte fluchten noch holperiger als der wurzelknotige Weg aussah. So gingen drei Stunden hin. Von ferne hörte man bereits das eigentümliche Rollen und Grollen der feindlichen Geschütze. Manchmal sprengte ein beschmutzter grüner Guide daher und machte unter heftigem Kopfnicken klar, dass man sich noch mehr beeilen müsse. Dann erhielt der Zug jedesmal einen heftigen Ruck vorwärts und das Gestrampel nach dem Rhein wurde noch weit ärger. Soviel man hörte, hatte die Hauptschlacht sich über den Rhein zuungunsten der Blauen entwickelt, und nun war es gar dem roten General gelungen, den Kampf nicht bloss von den flachen Ufern des unteren Rheines hinaufzuspielen, wo das Bett sich zwischen jähe Halden hinabsenkte, sondern um drei Uhr nachmittags war ihm auch mit beträchtlichen Heeresmassen der Übergang geglückt. Im Rücken gedachte er nun die Blauen zu überrumpeln. Konnte er nicht binnen einer halben Stunde von der Reserve zurückgeworfen werden, so war der Tag für die Blauen verloren.

Als die Mannschaften mit ihrem Park ein letztes Buchenwäldchen durchbrachen, hatten sie vom Ranfte aus ein unvergessliches Bild vor sich. Von den Hängen des Rheines kletterte und krabbelte es rot und ameisendicht von Feinden in die Talstufe empor. Ein geordnetes, starkes Viereck hatte bereits die blaue Infanterie an den nächsten Hügel gedrückt, und die blaue Reiterei war auf dem steinbrockigen Terrain in die misslichste Untätigkeit versetzt.

Als Leonz, dem diese Landschaft so vertraut wie sein Suppenteller war, das Kriegsbild nach allen Seiten gewürdigt hatte, stellte er mit den übrigen Zugführern, die ihm gerne das Oberkommando überliessen, die Geschütze ein, schätzte die Distanzen, sichtete und befahl unter heftigem Visieren: »Feuer!« Zugleich wurden Signale zu den bedrängten Infanteriekörpern entsandt. Der von keiner Artillerie behütete Feind stutzte, sei es über die unerwartete Kanonade, sei es über die entschlossene Attacke, zu der die bereits flüchtige Infanterie der Blauen in schneller Umkehr sich nochmals ermannte.

»Feuer!« gebot Leonz wieder, die Hand schräg über die Augen haltend, um die Wirkung des Geschützes besser zu erspähen.

Verheerend prasselte das Geschoss in den engen Feind. Breite Strassen des Todes riss es jede Minute in diese vom verfrühten Sieg hochmütigen Massen. Unruhe entstand, die blauen Bataillone griffen den bestürzten Feind mit der ganzen Gewalt an, die man in eine letzte Hoffnung setzt. Von Baumreihe zu Baumreihe, von Hecke zu Hecke wich der Gegner zurück, immer mehr vom Tale räumend, in einer Richtung mit dem hier unsichtbaren Strome. Schon nahte er den Rebbergen. In diesem Augenblick schnellte die Reiterei der Blauen zwischen den Tannen hervor. Jetzt hatte sie Hufweite und Anlauf. Im Schutze der befreundeten Artillerie rückte sie dem Feinde von der Flanke her heftig an den Leib. Und jetzt war es nur die Überlegenheit des feindlichen Führers, wodurch die völlige Niederlage der eben noch so Glorreichen verhindert werden sollte. Er stellte drei Schützenregimenter vor, formierte dahinter längs den steilen Rheinhöhen kleine, feste Vierecke und zog unter unablässigem, falkenhellem Spähen nach einem guten Übergang, noch ehe die Rebhügel kämen, mit diesen Scharen unter zäher Verteidigung stromabwärts.

In dem so entstehenden Nahgefecht konnte die Artillerie nicht mehr zu Worte kommen. Sie würde sonst ja unterschiedslos Freunde wie Feinde schädigen. Leonz, auf die Lafette einer Feldkanone gestützt, fühlte sich jetzt wohl wie nach einem Bade. Jeder Nerv seines Wesens spielte freudig im Leben des ganzen Heeres mit. Er spürte den Kriegsmann bis in die Knochen. Da blieb kein Rest von Winzer oder Feldbauer. Der Krieg, so wie er sich da unten heldenhaft in Abwehr und Angriff abspielte, schien ihm das grösste und würdigste Kräftespiel der Völker. Alles Grosse musste von ihm kommen, alles Kleine musste er ersticken.

Er vergass jetzt seine Eltern und seine Rosine. Oder vielmehr, er vergass sie nicht, sondern verschmolz ihr Andenken mit seinen kriegerischen Freuden. Vater und Mutter waren ihm zwei feindliche Armeekorps, und die Braut glich der Siegesgöttin, die über alles Gezänke und Leiden zuletzt ihr versöhnendes und segnendes Lächeln ausgoss.

In diesem Moment bemerkte Leonz, wie der rüstige Feind nun wirklich durch die Einsattelung zweier bewaldeter Hügelkuppen einen Durchschlupf gegen den Rhein hinunter gewann. In geordneten Reihen zog er durch dieses natürliche Tor ins gesicherte, weil jäh abgeschlossene Bett des Flusses hinunter. Die waldigen zwei Höhen, die wie Bollwerke oder Walltürme einer Befestigung dastanden, ermöglichten den Roten die leichteste und längste Verteidigung ihres Rückzuges.

Wie ein Jäger, dem ein sicher verfallenes Wild nun doch noch zu entkommen droht, so wild und heiss spürte Leonz bei diesem Anblick das Blut zu Kopfe steigen. Mit der Ruchlosigkeit, die dem Kriegswissen eigen ist, erwog er hitzig, wie man diese ärgerliche Flucht zuschanden machen könnte. Ein sieghafter Einfall durchzuckte ihn plötzlich wie ein Blitz. Er hatte der vordersten Weinberg unten in der Talung bemerkt, den Goldacker seines Vaters. Aus seiner mittleren Höhe, er wusste es genau, konnte man, weil sie einen Vorsprung im Stromlauf bildete, bis ans Wassereck sehen, wo der Feind vermutlich übersetzte. Von dem Goldacker aus hatte man den Feind völlig im Rohr.

Nur einen Augenblick schien er noch zu schwanken, sei es, weil dies denn doch das Gut seines Vaters war, sei es, weil er da ohne höheren Befehl eigenmächtig aus dem Programm der Manöver herausfiel. Dann aber stützte er das Kinn fest in den Kragen und gab rasche Weisung, die Batterie in den Wald zurückzuschieben.

Dies geschah. Leise teilte Leonz sein Vorhaben den Zugleuten mit, unbemerkt das Tal unten zu durchqueren und vom Goldacker aus die feindliche Rettung zusammenzudonnern.

»Aber die Weinberge sind ja aus der Operation geschieden!« betonte man ängstlich.

»Es ist mein Weinberg!« entschied Leonz trotzig.

»Aber die Trauben, die schönen, blauen, der heurige gute Wein –«

»Es ist mein Weinberg!«

Aber der Staat werde keine Entschädigung geben. Man werde sagen: Ihr habt gegen das Statut gehandelt und verbotene Wege betreten. Da wird also kein Rappen bezahlt.

»Es ist mein Weinberg!«

Und jetzt hackte Leonz sein Kinn in den Kragen, wie ein Adler seinen Schnabel einhackt, bevor er ihn zum kühnsten Pick wieder öffnet. Er gebot in aller Stille den Marsch.

In diesen Wäldern war ihm jeder Fleck Boden bekannt. Hier hatte er Hasen gejagt, dort einem Fuchse nachgegraben, der Baumschlag drüben gehörte seinem Vater, da war ein Stück Lichtung, wo er zweimal für seine fiebernde Mutter Lattich gesucht hatte, und da führte ein Nebenweglein zur Talsohle und im Gebüsch eines Bächleins hinüber zum Goldacker. Mehrmals stiess man mit den Geschützen an die schlanken Baumstämme, mehrmals scheuten die Pferde vor der Steilheit des groben Prügelweges, aber es ging.

Allen voran zog Leonz mit ein paar Augen, die vor Freude und Helligkeit durchsichtig erschienen. Er dünkte sich ein Held, der das Vaterland in einer schwarzen Stunde aus der Not hebt. Die Erinnerung an die alten Schlachtfelder erfüllte ihn. Er dachte an Tells Geschoss, an Winkelrieds lanzendurchstochene Brust, an Waldmanns, des Zürchers, Zweihänder und an das blutige Banner, das der Zuger Kollin sich um den sinkenden Leib wand. Er sah diese Helden ihm vorausleuchten, und ganz voran da schwebte wie ein Sonnenbild die edle Helvetia, die mächtig ausschreitenden Füsse gepanzert, die Brust im festen Koller, das Haar eine Seidenfahne flatternd und auf der Stirne jene jungfräuliche Unberührtheit, wie sie sonst nur noch die höchsten, weissesten Gletscher und die Morgensonne darüber zeigen. Sie schien mit ihrer grossen offenen Hand zu winken: ›Sohn, folge mir, das Vaterland braucht Männer, die nicht bloss Birnbäume okulieren und Flachs schneiden, sondern auch ein neues Gewehr handhaben können, wenn im Wirrsal der Zeiten ein strammer Fechtergang an die Grenze nottut.‹ Und immer herrlicher glüht ihre Wange, immer heisser blüht ihr Auge, immer sonniger wallt ihr Haar, immer majestätischer wird ihr Schwung, ganz und gar ist sie Rosinens Bild. Nur grösser, fester, stolzer! Und Leonz ist wie berauscht. Gut und Blut, seinen ganzen Mann schenkt er ihr, ihr, der reichen, schönen, lieben Helvetia–Rosine.

Binnen einer kurzen halben Stunde war man auf der Höhe des Goldackers angekommen. Sogleich rückte man in die Mitte des Hügels hinunter, die einer vorspringenden Nase gleich alle Aussicht auf den Übergang des Feindes öffnete.

Durch die zarten, mädchenhaften Reben fuhren nun die ungeschlachten Eisenungeheuer, nachdem die Pferde ihre erste Scheu vor dieser wunderbaren Strasse überwunden hatten. Es krachten die dürren Holzstecken wie die morschen Knochen eines Sterbenden, und mit ihnen sanken wie mit gerungenen Armen die Reben, und das rote Blut sprang ihnen aus allen Gliedern. Der purpurne Saft der zertretenen Früchte zischte an den kotigen Stiefeln der Kanoniere und den wüsten Rädern der Protzenwagen empor, und eine dunkle Beere spritzte dem Hauptmann ihren Wein mitten ins Gesicht. Wie ein barbarisch verwüstetes Leben waren diese mit Splitterwerk und dürrem Laub in den Boden gestampften Trauben anzusehen. Weitum roch es von dem so elend verprassten köstlichen Weine! Trotz der vielen Menschen summten alsogleich zahlreiche Wespen und Mücken in der Luft herum, wie betäubt von dem wilden Weindufte, der jetzt über der Erde lag. Nie sah, sicher nie, ein trinkseliger Mann ein trüberes Bild der Zerstörung, und die leeren Fässer, die noch des neuen Mostes harrten, spürten in jenem Augenblick der Vergeudung einen heimlichen Schmerz wie von einer bevorstehenden grossen Dürre durch ihre dürstende Seele gehen.

Sechs Kanonen waren durch das schmale Rebstück hinunter gefahren, damit vierzig Rosse und ein halbes Hundert Menschen. Kein Weinstock der obern und bessern Hälfte blieb ganz. Im Nu sah alles einem ausgerauften und zerstossenen Erdstück gleich. Aber weder Leonz, noch seine Begleiter empfanden bei dieser jähen Vernichtung eines schwer gereiften, durch Jahre erwachsenen und erarbeiteten Gutes Mitleid oder Reue. Sie waren in einer Art Rausch. Nur wie sie die Geschütze postieren und am besten die Flucht des Feindes mitten in den dichtesten Lebenskern treffen könnten, beschäftigte ihre Kriegsseele. Der Feind hatte zwei Notbrücken geschickt hergestellt und eilte darüber in unbesorgter Eile ans andere Ufer, wo man sich bereits einen Weg hinan gebahnt hatte. Wie von Fliegen wimmelten die steilen Halden mit ihren Gesteinlagen von den Emporkletternden. Ein Schock mochte wohl schon oben sein. Unten aber, auf der herwärtigen Seite, drängten sich viele Hunderte am Wasser zur Überfahrt. Eine wunderbare Geschäftigkeit herrschte. Da plötzlich, mitten hinein, erdröhnten die Wände der Rheinschlucht von einem stürmischen Schiessen. Wie ein Gewitter brach es in die unbeschirmten Reihen der Feinde. Die drei oberen Kanonen feuerten in die emporkletternden Scharen, die das jenseitige Ufer erstrebten. Mit den übrigen Geschützen war man noch tiefer in den Rebhang hinunter gefahren und schoss jetzt mitten in das schwankende Brückenwerk, in die zusammengekoppelten Überfahrer und in das diesseitige ins Wasser hinuntersteigende Volk. Die Überraschung war so heftig und so mörderisch, ein Ausweg so unmöglich, dass der Feind, ob er wollte oder nicht, den Weg zurücknehmen musste, auf dem er daher geflohen war. Aber unterdessen hatte die Infanterie die Schüsse Leonzens gehört und den wundervollen Vorteil ihrer Lage wahrgenommen. Unwiderstehlich drängte sie den schwindenden Feind in die Schlucht hinunter, in der ein Echo dem andern die völlige Vernichtung dieses Armeeteils verkündete. Oberst Eugen Sulzer streckte die weisse Fahne von der zitternden Brücke über die Fluten empor, und im selben Augenblick ertönte das Trompetensignal, das den Schluss dieser erdichteten – denn es war eben doch nur Manöver – Metzelei ankündete.

Von den beiden Gehöften, die rechts und links auf dem Rheinhang lagen, hatte der Hauptmann Beobachter gehabt, die mit fieberhaftem Eifer seiner patriotischen Hantierung zusahen. Auf dieser Seite war der alte Oberst mit seinem Feldstecher von der Terrasse aus dem feindlichen Übergang gefolgt. Alle kriegerischen Erfahrungen der eigenen Waffenfahrten erwachten dabei in seiner Seele. Er bewegte die linke Hand, die von der Gicht eher als die rechte verschont blieb, in jenen gebietenden Zeichen, mit denen man einem Ereignis beiwohnt und seine Entwicklung zu bestimmen glaubt. Ausgezeichnet gefiel ihm, wie der marmorbleiche, feine Oberst Sulzer den schwierigen Rückzug ordnete und wie die Pontonniers sich dabei tüchtig ins Zeug legten. »Das hat Adel!« brummte er, »ist fast wie ein Sieg zu achten.« – Rosine hatte ihm den Kaffee auf die Terrasse gestellt und stocherte die zwei Zuckerbröcklein mit dem silbernen Löffelchen hin und her. Kein Tröpflein des plattvollen Tässchens vergoss sie dabei. Denn weder der marmorne Oberst, noch die raschen Brückenbauer, die so hurtig Pfähle einrammten und Kähne in die Fährseile knüpften, noch die Hauptleute, die das herunterströmende Wehrvolk im Nu in kleine, saubere Trüppchen formten, um bequemer überzusetzen, nichts von all dieser grossen Soldateska interessierte das Mädchen. Sie hatte nur für einen Artilleristen Sinn; der aber war hier nirgends zu erblicken.

Aber horch, was ist denn das? – Rossgetrappel! Wagenknirschen! Ha, da kommt Artillerie in den Goldacker gefahren! – Wahrhaftig, sie bricht in die Nachbarreben ein. Ist's möglich – sollte das Leonz sein? Der schlanke Mann, der zwischen den Rebstöcken vom Pferde herabspringt und mit begeisterter Eile nach allen Seiten Befehle erteilt! – Rosine vermag nur zu rufen: »Papa! Was macht er nur? Papa, der schöne Weinberg!« Dann staunt sie wieder hinaus, ohne eine Antwort zu erwarten.

Aber mit dem besten Willen könnte sie der alte Oberst auch nicht geben. Was er sieht, ist zu stark, um im Moment begriffen zu sein. Das ist also die Ernte seines grimmigen Feindes da drüben! Da hat er nun seine Kelterbuben! – Da fliesst jetzt sein guter Tropfen in kleinen Bächlein zwischen die Erdschollen, der Tropfen, der eben noch auf die erste Prämie hoffte! – Ein Gefühl von Schadenfreude will den Alten übernehmen, aber sogleich spinnt sich der Gedanke weiter, ob diese rohe Mannschaft nicht ebenso in sein Land einfallen und die reiche Jahressorge mit den Huftritten einer einzigen wilden Stunde zermalmen werde.

»Papa, sieh, Leonz!« entschlüpft es dem Mädchen wieder, das ratlos vom Geländer zurückkehrt. Sie merkt nicht, wie unbehutsam dieses zu vertraute ›Leonz‹ klingt. Aber auch der Oberst merkt es nicht. Er hat mit sich zu viel auszurechnen. Wahrhaftig, da sehe mal einer, wie er den ganzen Weinberg des Vaters bis hart an den seinen durchbricht. Jetzt stellt er die ersten Geschütze auf. Die Höhe ist gut gewählt. Aber um die Brücke zu treffen, muss er wohl weiter hinunter! – Na ja, das tut er auch! Zum Kuckuck mit dem ganzen Weinberg! Schade um ihn! Aber welch ein Kriegsstreich! Was werden die Alten dazu sagen?

Er kommt nicht dazu, sich den Grimm des alten Meinrad, wie er ihn sich mit den bewegten Haarbüscheln, den harten grossen Blicken und den schweren Worten dachte, so richtig vorzustellen. Denn die Kanonade hat begonnen, und das schlägt ein wie ein Riesengewitter.

Der Oberst, wie alle Kriegsleute, hat sogleich seine Seele auf die Seite der Siegenden geworfen. Mit einer Teilnahme, die ihn das Fernrohr nicht mehr vom Auge nehmen lässt, verfolgt er den gewaltigen Wandel da unten. »Das nenn' ich ein Zielen! Bei der gnädigen Barbara, mitten in die Brücke! Jetzt eine Ladung in die Brombeeren hinauf. Das tut gut.« – So entfährt es ihm zwischen den weissen Borsten seines Schnurrbartes.

»Es ist Leonz,« flüstert das grosse Mädchen wie mit einer leisen Empfehlung ihres Geliebten.

»Die Artillerie ist Meister! Eine ganze Division gedroschen, ha, das nenn' ich ein Manöver.«

»Leonz! – Vater!«

»Dacht' ich's doch, dacht' ich's doch! Die weisse Fahne! Kapitulation auf Gnade und Ungnade. Das ist ein bitteres Fähnleinschwingen, Herr Oberst!«

Der Kanonenlärm verhallte. Von allen Seiten ertönten jetzt Trompetenstösse, die die Truppen an ihre Lagerstätten zurückriefen. Die Sonne stand schon am Rande eines fern gegen Westen zeigenden Ufers. Ein rotes, langes Feuer ward schräg von Westen in die Wasser geworfen, und wie gewundene, brennende Kerzen sah das nun im beweglich fliessenden Spiegel aus. Dazwischen schwammen tiefblaue, breite Fluten daher, in deren Tiefen die Nacht zu schlummern und allmählich aufzuwachen schien. Denn immer schattiger fiel es über das Wasser, so dass die Felsen und die Reben und die kleinen, jungen Kiefern in eins verschwammen, das Tobel sich mit Finsternis füllte, und nur noch hier und da ein kleines, weisses Wellenblitzen sich zeigte, ähnlich dem Zwinkern der immer tiefer und tiefer fallenden Lider eines Schläfers.

Jenseits auf der Höhe brannten die Fenster des Meinrad Faller noch im letzten, tiefsten Rot des Horizonts.

»Es war Leonz, Vater!« lispelte das Mädchen und zeigte auf jene roten Fenster im Hause drüben.

Jetzt erst schien der Oberst seine Tochter zu verstehen. Seine vollen grauen Augen richtete er ins Gesicht des Mädchens, das im Abendschatten vor ihm stand. Lange musste sie diesen Blick aushalten. Weder verheissend, noch versagend, sondern wie ein gütiges: ›Geduld, Kind!‹ sah dieses Auge aus. Dann richtete er sich an ihrem starken Arme auf, ächzte unter dem Zwicken seiner gichtischen Rechten und ging durch die offene Altantüre in die beleuchtete Stube hinein.

»Gib mir den Dufour herunter, Rosine! Ich möchte wieder einmal die Grenzbesetzung von Anno 1857 nachlesen.«

»Hier, Vater,« sagte Rosine und wischte den Staub von dem alten, wunderlich riechenden Buche.

Und während sich nun der Vater, die Füsse in breiten Tuchschuhen und die Knie, an denen er auch in der Sonne immer fror, von einem dicken Fuchsfell gewärmt, in die alte Zeit dieser vergilbten Blätter vertiefte, vertiefte sich Rosine ihrerseits, die Hände bei ihrer fleissigen Strickarbeit rührend, in einen anderen, heimlichen Krieg. In diesem Kriege zog sie wie eine fliegende Artillerie aus und richtete ihr schwerstes Geschütz gegen die Herzen der verfeindeten Väter. Wie Schwerter rasselten ihre Nadeln. Und sie liess nicht ab, bis die Alten das weisse Fähnlein erheben und sich auf Gnade und Ungnade ergeben wollten. Jetzt wirkten die Nadeln gelassener und legten sich langsam wie feiernde Waffen in den Schoss der Sinnenden. Sie war zum gnädigsten Pardon geneigt.

Ein anderer Geist ging in der Stube der Faller um.

Den ganzen Tag hatten die beiden kein Wort getauscht. Als aber Frau Anna vom Fenster aus, an dem sie Kartoffeln schälte, zufällig hinübersah und da ein plötzliches, schwarzes Gewimmel von Wagen und Mannsleuten erblickte, als sie dann die Brille hervorzog, aber noch ehe sie recht durch das Glas sah, vom Donner drüben, der alle ihre kleinen Scheiben in den Rahmen erzittern und klirren machte, aufgeschreckt in die Höhe sprang, da lief sie mit der Gewohnheit des früheren ehelichen Lebens hinaus, um in der besonnen und mutigen Auskunft ihres Eheherrn ihr Heil zu suchen. Erst auf der Treppe fiel ihr ein, dass dies unter den jetzigen Umständen nicht so leicht zu machen wäre wie sonst. Und während sie so, Schuss auf Schuss im Rücken, an der Stiege noch zögerte, ob sie den Mann aus der Küche rufen dürfe, wo er Flaschen für den Abzug des neuen köstlichen Weines putzte – sieh, da hatte der alte Meinrad bereits den Wasserhahn geschlossen und keuchte den Gang herauf, indem er an der Frau vorüber etwas schneller eilte und den Kopf zur anderen Seite neigte. Anna folgte ihm rasch ans Fenster. Beide rissen gleichzeitig einen Flügel auf und schauten mit entsetzten Augen in den grossen Schaden da drüben. Kam ein Feind ins Land? War das ein wirklicher Krieg? – Die runzeligen Hände des Alten, die sich am morschen Gesimse halten, zittern, und die blauen Adern schwellen darin wie Bäche an. Die Augen kugeln gleichsam unter den Lidern hervor.

»Frau, siehst du's auch?« schreit er. ›Wenn sie es nicht sieht, so ist es auch nichts,‹ denkt er.

Frau Anna springt von ihrem Fenster an das seine herüber, fasst Meinrad heftig unter dem Arm und schluchzt.

»Der Goldacker?« fragt er wild.

Gerade rumpelt die zweite Artillerie den Weinberg hinunter, um die Uferlinie zu beschiessen. Dem alten Faller ist, als ob diese eisernen Räder und Hufe ihm ins Eingeweide fahren. Oben beim Winzerhäuschen tritt jetzt der Befehlshaber auf, mit gebietendem Finger in die Schlacht weisend. So oft er die Hand schwenkt, donnert es von den Höhen, und alle Scheiben der Bauernstube klirren mit.

»Der Leonz, Meinrad, der Leonz!« ruft das Weib aus. Es hat schärfere Augen, auch wenn es nicht mit Mutteraugen sähe.

Jetzt wird es beiden klar: Das sind die Manöver. Hier geht ein Treffen der Artillerie vor sich, und seinen Goldacker, gerade seinen Goldacker hat der Bub ausgelesen.

»Aber die Reben sind doch nach der Manöverordnung ausgeschieden!« stöhnt der Alte. »Gott verdamm' meinen Buben.«

»Fluch' nicht, Vater,« bittet das Weib; und ihr erschrecktes Gesicht entfärbt sich noch mehr.

»Sieh da, sieh da, alles zertreten, – o, –« gurgelte er wie aus einer gewürgten Kehle hervor.

»Meinrad, die Trauben werden bezahlt!« beschwichtigte die selber trostlose Frau. »Aber recht ist es doch nicht!«

»Wer zahlt?« nimmt der Greis das Wort auf und ringt die mageren Finger. »Niemand zahlt mir die Freude am Heurigen. – O Bub, Bub!« röchelt er und tastet mit der zitternden Hand wie ein Verlorener am Fenstergetäfel.

Ihm wird übel. Er steift sich, rutscht über die Bank hinunter dem Boden zu.

»Aber Meinrad!« jammert die Frau und richtet mit ihren roten, knochigen Händen seinen Oberleib gegen das Gestühl auf. Dann springt sie zum Wandschrank, öffnet das oberste Türchen und nimmt zwischen einer Schicht alter Kalender ein unter dem Staub wasserhell leuchtendes Fläschchen hervor. Damit kniet sie bei Meinrad nieder und bespritzt die offenen, blauen Lippen und die trockene Zunge des Ohnmächtigen. Dann reibt sie seine kalten Schläfen ein und unterbricht die Arbeit nur, um seine eingeschrumpften, stacheligen Wangen zu küssen. Sonst ist das Küssen nicht Brauch unter diesen derben Leuten. Aber jetzt tritt das zarteste Weib aus dieser rauhen Bäuerin, und sie küsst ihren Mann und küsst ihn mit der Inbrunst einer Braut am Verlobungstage. Alles vergisst sie dabei, den argen Zwist, den geschändeten Weinberg, den grausamen Jungen, ihr steht nur eines im Sinne: den lieben alten Ehegemahl nicht zu verlieren.

»Meinrad, was machst du? Tu ein Aug' auf! – Ich bitt' dich, so hör' doch!«

In ihren dringenden Bemühungen merkt sie gar nicht, dass sie nicht mehr allein ist.

Die paar hundert Infanteristen, die noch zeitig vor dem Angriff Leonzens die Halde gewannen, waren indessen in rat– und führerlosem Marsche über die nächsten Wiesen hinunter ins Gehöfte der Faller geraten. Ein bärtiger Oberleutnant, ein Wachtmeister und ein Felddoktor aus ganz verschiedenen Truppenteilen traten zusammen ins Haus. Sie wollten sich nach dem nächsten Weg ins Hauptquartier bei Sissingen erkundigen, aber schon hier etwas Löbliches für den Hunger tun, wenn's menschenmöglich war. Den dreien drängten sich andere über die Stiege hinauf nach. Aber Frau Anna hörte weder das Schuhgetrappel, noch das feste Pochen an der Türe. Erst wie sich die niedrige Stube mit verwunderten Kriegern füllte, blickte sie auf und stiess einen leisen Schrei aus. Dann hielt sie wie schützend die langen Arme über ihren starren Mann.

»Wir tun euch nichts!«, sagte der Offizier schnell. »Aber da ist ja ein Unglück passiert. Sanität vor!«

Sachte nahmen zwei Soldaten den kleinen Greis vom Boden auf und trugen ihn flach auf die Fensterbank. Der Arzt untersuchte den Herzschlag, öffnete dann seine Taschen–Apotheke und hielt dem Patienten die scharfe Essenz eines zierlichen Fläschchens unter die Nase. Gleichzeitig rieb er ihm die Brust mit einem befeuchteten Tuche ein. Frau Anna hatte zuerst wohl feindselige Augen nach den Uniformen geworfen. Aber unter der ehrlichen Arbeit des Doktors und der liebevollen Teilnahme der Offiziere milderte sich ihr Blick und gewann immer mehr einen vertrauensvollen und dankbaren Strahl. Es gefiel ihr auch, dass die übrigen Soldaten sich an den Wänden aufstellten und weder durch lautes Schwatzen, noch durch Lärm mit den Stiefeln die ängstliche Stunde störten.

Erst als der Alte das Auge auftat und mit unsäglichem Staunen die blauen Röcke und die blanken, gelben Knöpfe um sich sah, erst da fingen sie an, hörbarer zu reden, und einer, der aus dieser Gegend stammen mochte und die Faller sehr wohl kannte, meinte plötzlich: »Das ist die Mutter des Hauptmanns Leonz!«

Eine seltsame Erregung ging durch die Soldaten.

»Der uns über den Fluss bombardierte?«

»Der vom Weinberg herunterschoss?«

»Der die ganze Division zusammenschlug?«

»Der das Manöver entschieden hat, der, der Hauptmann von drüben?«

So fragte man sich untereinander mit allen Zeichen eines grossen, wenn auch feindlichen Respekts.

»Genau derselbe! Seht, da zieht er ab!« Durch das geöffnete Fenster wies der Sprecher zum Rebhügel hinüber, wo in der Dämmerung des Abends die abziehende Artillerie sich deutlich vom immer noch hellen Horizont abhob, so oft wieder ein Zug die schon schattige Lehne empor auf das oberste Ufer gelangte und dann im Wegschreiten über diese blaue Linie von unten nach oben langsam verschwand.

Zu oberst sass hoch zu Ross ein strammer Reiter.

Gegen den Himmel gestellt, war er ganz dunkel zu schauen. Aber die Umrisse seiner festen, schlanken Haltung, besonders die schmalen und steilen Achseln, waren gut erkennbar.

»Der Hauptmann Faller!« schrien die Soldaten und schoben sich ans Gesimse.

»Und der Weinberg gehört ihm, er liess ihn kaput stampfen!«

»Das macht ihn zum Major!« rief ein junger Unteroffizier mit gebürstetem, rotem Bärtchen.

»Mögen die Blauen sich nur nicht brüsten,« warf ein anderer hinein, »er hat alles allein getan!«

Anna hatte sich, nachdem sich ihr Mann, ohne ein Wort zu sprechen, auf der Bank aufgerichtet hatte, mit schneller Eitelkeit an dem Soldatengespräch satt gehorcht. Also ihr Leonz war der Held des Tages! Um des Sieges willen hatte er den Weinberg geopfert. Da sprachen sie alle mit einhelligem Lobe von ihm und waren doch seine Gegner! Lächelnd und glückselig sog sie Satz auf Satz ein, gleichsam tropfenweise die Worte verkostend – und dem Sohne war der zerstörte Herbst da drüben, wo nicht gar auch der in Ohnmacht geworfene Vater schon verziehen.

»Es ist mein Sohn,« sagte sie und reckte ihren dünnen Hals mit dem halb gelösten Tüchlein darum.

»Wir gratulieren, Frau Faller, wie gratulieren!« erscholl es durch die Stube.

An den Vater aber wagte sich kein Glückwunsch. Immer noch sass er wortlos auf der Fensterbank, aber er hatte sich umgewandt und hielt das düstere Gesicht halb zur offenen Scheibe heraus. Aus seinen Augen sprach eine grosse Verwirrung. Er hatte sich noch immer nicht zurecht gefunden. War es die Schwäche nach dem Anfall oder der Widerstreit von Zorn und Liebe, die er abwechselnd beim Gerede der Soldaten empfand? – Den Sohn hasste er fast gar, den Soldaten bewunderte er. Aber der Sohn lag ihm näher, und darum taute seine graue Miene nicht recht auf. So wie er nun wieder den Greuel in den Goldackertrauben sah, stiessen der Unwille und die habsüchtige Natur des Männchens frisch auf.

»Er hat mir den Weinberg verdorben!« fing er mit schwächlicher Stimme an. »Und der Bund wird den Schaden nicht zahlen. Und wenn er zahlt, den Heurigen zahlt er unter der Qualität!«

Dieses zänkische Wort, mit dem der Alte in die idealen Gefühle der Versammelten seinen bäuerlichen Geschäftsgeist als das Wichtigste von allem hineinwarf, ernüchterte die volle Stube. Ein Schatten zog über das feine Gesicht des Oberleutnants, und er zog die Lippen ein, um ein bitteres Wort zu unterdrücken.

»Herr Faller, nehmen Sie da ein Tröpfchen! Das wird Ihnen wohl tun,« befahl der Arzt liebenswürdig, aber bestimmt und hielt ihm sein Taschenbecherchen mit rotem, starkem Veltliner so gebietend hin, dass der Greis gehorsam, wenn auch widerstrebend, ein Schlücklein und dann, als Kenner eines tüchtigen Saftes, noch eines und weiter, eifrig und eifriger alles bis auf die blanke Schale austrank.

»Und nun hören Sie, Euer Sohn hat recht und unrecht, wie man will.«

Er räusperte sich und holte, die Brauen gleichsam lüftend, zu einem seiner schweren, mächtigen Sätze aus.

»Wenn Euer Leonz unter dem vaterländischen Rocke noch das enge Krämerröcklein trug, und wenn ihm ein Fässlein guten Weines über gerettetes, sieghaftes Schweizerblut ging – dann, ja wohl, dann hat er ganz unrecht getan, uns da unten im Tobel zusammenzuschiessen. Dann hätte er die Reben stehen und den Feind sachte und vollzählig über den Rhein ziehen lassen. Dann aber, lieber Mann, pfeife ich auf ein Vaterland, das im ersten besten Augenblick wegen ein paar Trauben, die nächstes Jahr wieder nachwachsen, doppelt nachwachsen können, sich Sieg und Freiheit muss entfahren lassen.«

Bei diesen Worten redete der Oberleutnant nicht mehr bloss zum alten Meinrad, der sichtlich ob diesem gewaltigen Sprechen zusammenfuhr wie ein verschüchtertes Kind, sondern zu der ganzen Mannschaft und vorab zur Frau, deren langes Gesicht wie von einer inneren Glorie erglühte und die ihn als aufmerksamste Zuhörerin auch am meisten begeisterte, patriotisch weiter zu reden.

»Wenn er aber unter seinem eidgenössischen Fähnlein allen Eigennutz vergisst und nur noch das Frommen der Heimat im Sinne hat, dann, lieber Mann, hat Euer Sohn nicht bloss recht, sondern einzig recht gehandelt. Denn es ist nicht eine blosse Gaukelei, was hier im Felde getrieben wurde, es ist kein Spiel, wie viele meinen, es ist der bare Ernst. Und gerade so, wie einer hier leichtlings seinen warmen Leib schirmen geht und Mutter Helvetia derweilen im Stiche lässt oder wie einer sich mannhaft hinwirft und jubelt: ›Zuerst gehöre ich dir, Vaterland, und dann erst mir, zuerst du, dann meine Hütte, meine Eltern, meine Reben‹ – gerade so wird er's im wahrhaftigen Kriege machen.«

Hier räusperte er sich wieder ein wenig und entsann sich, dass eine eigentliche Rede denn doch weder dieser Gelegenheit, noch seiner Eigenschaft als Flüchtling anstehe. Aber er trieb zu tief im Wellengang der allmächtigen, vaterländischen Rede und konnte daher nicht mehr ohne einen erschütternden Schlussatz auskommen.

»Hier,« rief er und erhob die Stimme um eine begeisterte Terz, »hier an der Markung des Vaterlandes, wo die eisernen Würfel des Krieges zuerst fallen müssen, hier möge sich jeder im Angesicht unseres lieben heimatlichen Stromes, der als das Gewissen des Vaterlandes unsere Geschichte von den alten Ahnen bis auf uns durch alle Erlebnisse begleitet hat, und – und – er – wir – hier –«

Man hustete. Der Redner hatte die Zuhörer ergriffen, und es peinigte sie, wenn er den schönen, wenn auch schwierigen Satz nicht zu Ende brachte.

»Hier möge –« flüsterte der Arzt hilfreich.

»Hier also wolle ein jeder seine kleine Seele erforschen, ob er so uneigennützig wie der edle Sohn dieses Hauses zu handeln vermöchte.«

Frau Anna musste sich doch die Augen wischen. Das war zu rührend. Aber auch der greise Gemahl war gegen so grosse Worte nicht stark genug gewappnet. Er verstand sie nicht recht, aber um so mehr Ehrfurcht hatte er dafür. Soviel er davon verstand – war er beinahe ein Sünder in den Augen dieser Wehrleute. Sein Sohn aber war ein Held der Schweizergeschichte. Zu diesem Glauben konnte sich der nüchterne Alte freilich nicht aufschwingen. Aber mit dem unterwürfigen Sinne des Bauern, der sich ein klein wenig schuldig weiss, nickte er zuweilen und senkte das Gesicht vornüber gegen die Brust.

Erfreut über sein berauschendes Bild vom Gewissen des Vaterlandes und ganz bedrückt von der Wirkung, die er auf den Gesichtern las, erhob in Ermangelung eines Bechers der Redner die leere Schale des Doktors und rief: »Kameraden, der Sohn dieses Hauses und Sieger dieses Tages, Hauptmann Leonz Faller, lebe hoch!«

»Hoch! Hoch! Extra hoch!«

Die ganze bewaffnete Stube stimmte unter tosendem Beifall mit in den Ruf ein, und unter diesem gewaltigen Hoch zitterten die Kastentürchen und Scheiben wie unter der Kanonade des Hauptmanns. Immer mehr taute das frostige Gesicht des Vaters auf. Aber das lange, gelbe Gesicht der Bäuerin schimmerte aus dem Abendschatten, der tief in die Stube fiel, wie eine Verklärung. –

Am folgenden Tag ward das Urteil des Höchstkommandierenden verlesen.

Die rote Armee erntete ein sattes Lob. Der Rückzug der Sulzerschen Division sei meisterlich erdacht, und die Haltung der Führer der kritischen Lage durchaus gewachsen gewesen. Dagegen wurde ihre Entblössung von allem Artilleriepark und der Umstand, dass sie die jenseitigen Höhen zu blockieren unterliessen, strenge gerügt. Hierauf wandte sich der Gewaltige mit schmetternder Stimme an die Leitung der blauen Armee. Nichts als Tadel regnete es auf sie herab. Sie hätte sich am Morgen schon unsinnig verzettelt. Dem Terrain, das ihr so günstig lag, sei sie in keiner Weise gerecht geworden. Dass sie aber dem Feinde ermöglichte, sogar über den Rhein zu ihren Reserven zu dringen, sei ein so trostloser Fehler, dass darüber der gelungene Rückstoss gegen den Rhein gar nicht in Betracht fallen könne. Überdies habe man dies erst mit Hilfe der äussersten Reserven vollbracht.

Nun komme er auf einen merkwürdigen Punkt zu sprechen, und der dichte Ring der Zuhörer der verschiedenen Waffen wandte sich jetzt mit doppelter Aufmerksamkeit dem Sprecher zu. – Der Artilleriehauptmann Leonz Faller habe mit zwei Batterien eine selbständige Operation von den Rebböschungen aus gegen den feindlichen Rückzug über den Fluss vorgenommen. Diese Handlung sei vom Gesichtspunkt der militärischen Ordnung ein Vergehen. Sie sei ohne Befehl, ja, man dürfe wohl sagen, gegen den Sinn des Oberkommandos, das die Weinberge ausnahm, erfolgt und in dieser Hinsicht sei der Genannte entschieden zu tadeln.

Leonz wechselte die Farbe, das heisst, eine helle Blässe überzog sein frisches, rotes Antlitz.

Allein es gäbe Fälle, wo eine entscheidende Wendung oft nur durch den Einfall eines untergeordneten Führers und durch das gesonderte Vorgehen eines raschen, vereinzelten Armeekörpers erreicht werde. Der Sieg liege dann im Augenblick und bedinge ein eigenmächtiges Heraustreten aus der Oberleitung. Es frage sich hier nur, ob die Wichtigkeit der Lage ein solches Vorgehen entschuldige. In unserem Falle, wo Hauptmann Faller die ganze fünfte Division bis auf wenige Mann unschädlich und damit die rote Armee durch diesen entscheidenden Verlust für eine aussichtsreiche Operation untauglich gemacht habe, in unserem Falle scheine das tapfere Vorgehen des Artilleristen nicht unbegründet, und der Mann verdiene nicht bloss unbestritten das erste Lob im heutigen Manöverberichte, sondern es zieme sich, dass die Kriegsobern ein besonderes Auge auf das grosse Operationstalent dieses Soldaten richteten. Dass der Belobte den Weinberg seines Vaters zum Ausgangspunkt der Aktion genommen habe, verstosse ebensosehr gegen das Reglement, als es seiner Uneigennützigkeit Ehre mache. Kurz, man finde sich hier in der seltsamen Lage, mit dem Kopfe tadeln zu müssen, wo das Herz nur loben möchte.

Diese Rede, unter freiem, vaterländischem Himmel, inmitten der blauen und roten Armeekorps gesprochen und aus der Tiefe seines Bettes von dem fernen, feierlichen Rauschen des Rheines wie mit Orgelakkorden begleitet, wurde in alle Zeitungen des Landes gesetzt. Zum Mittagessen brachte der Briefbote sie auch in die Stube der greisen Eltern, und der Artikel wurde abwechselnd vom einen und anderen gelesen, einige Sätze sogar doppelt, je nachdem die Brille des Vaters oder der Mutter zuerst feucht und wieder zuerst abgetrocknet war. Zwar vermied es der Alte, den Blick zum zerschlagenen Rebstück ob dem Rhein zu werfen. Aber das Feuer seines vorgestrigen Zornes war erloschen, und was da noch in Brummen und Nörgeln sich Luft machte, war nur noch unschädlicher Rauch.

›Sie werden die Reben vergüten,‹ sagte er sich mit heimlicher, glücklicher Schlauigkeit. ›Nachdem sie den Hauptmann in den Himmel gerühmt, werden sie seinem armen Vater auch ein Gutes tun. Es wäre unehrlich vom grossen Vaterland, diese Kleinigkeit – und es ist eine Kleinigkeit für seine grosse Hand – nicht in goldenen Batzen hier auf den Eichentisch zu zählen.‹ Und er behielt diesen Gedanken und stärkte ihn den ganzen Tag mit einer stillen, sichern Genugtuung.

Frau Anna aber erwartete mit Sehnsucht ihren lieben Hauptmann. Warum kam er immer noch nicht? Waren die Truppen denn nicht entlassen worden? Fürchtete er etwa das gestrenge Antlitz der Eltern? Aber Furcht war Leonz doch fremd, und mit seinem zähen Eigenwillen hatte er noch immer, wo es ihn behelligte, Vater und Mutter widerstanden. Warum also kam er nicht?

Da wird die Haustüre aus dem Holzriegel geschoben. Jetzt kommt er. Fröhlich erhebt sie sich vom Stuhle, um die Stube zu öffnen, während der Alte in einer gewissen Beklommenheit sich noch nicht recht in die Sachlage findet und darüber nachsinnt, wie er den Sohn begrüssen soll.

Aber das sind nicht seine Schritte, er würde auch nicht anklopfen. – »Herein!«

In grenzenloser Verblüffung sahen die Gatten den hochgewachsenen Herrn Oberst mit gebeugtem Haupte über die Schwelle treten. Hinter ihm huschte wie ein rosiger Schatten Rosine in die Stube.

»Mein Vater möchte mit Euch reden,« sagte die grosse Tochter mit ihrer kleinen, heiteren Stimme. Ohne die Erwiderung des Mannes abzuwarten, ergriff sie die Hand der Frau Anna und führte sie, als ob sie hier zu Hause wäre, in die Nebenkammer. An der Türe legte sie den Finger schelmisch ans runde Kinn und rief den schweigsamen Männern zu: »Wenn ihr fertig seid, bitte, so ruft uns nur!«

»Ihr kommt doch nicht wieder wegen dem Goldacker?« fragte der Alte spitzig.

»Doch, Herr Nachbar, gerade darum bin ich da!«

Der Bauer schwieg. Hier ging ihm der Witz aus. Doch der Oberst fuhr mit feiner Miene fort: »Der Fallersche Wein ist für dieses Jahr zerronnen, und man kann nur vermuten, dass er Euch auch heuer alle Ehre gemacht hätte. Dafür kennt man jetzt das Fallersche Blut um so besser.«

»Wie meint Ihr?« machte der Bauer mürrisch.

»Alle Wetter, Nachbar, ich sag's bündig, wie es meine ungehobelte Art ist. Euer Junge hat es mir angetan. Was er gestern leistete, ist vom reinsten Schweizeradel.«

Meinrad wollte widersprechen, aber es geriet ihm nur eine Handbewegung.

»Ihr wisst, er liebt meine Tochter. Sie ihn. Nun dachte ich mir, einem besseren Schirmherrn kann ich mein Teuerstes nicht anvertrauen. Sind die zwei ja überdem so geartet, dass sie sich fänden, auch wenn wir beide den Rhein zwischen unseren Häusern noch einmal so tief und breit graben könnten. Wir haben es ja jüngst versucht und miteinander getobt wie Knaben. Aber darum haben sich unsere Früchtchen doch gefunden und, wie ich meine, nur noch fester verschworen. Darum, Herr Nachbar, wollen wir lieber mitmachen und den Jungen unseren fröhlichen Segen geben. Seid Ihr einverstanden?«

›Das klingt anders als früher,‹ wollte der nun plötzlich schier übermütig gewordene Winzer erwidern. Aber das schien ihm doch zu grob. – ›Grosse Ehre!‹ sollte er vielleicht so sprechen? Das passt wieder nicht. Mit der Bosheit war es einmal fertig. Hier bekam sie zu kurzen Atem. Er konnte nur das bescheidene Wörtlein sprechen, und er erbebte selbst da noch: »Herr Oberst, wie – was – ist Ernst dabei?«

»Blutiger Ernst! Und mein Vorteil dazu! Denn –« mit grosser, liebenswürdiger Verschmitztheit sagte Herr Bleuler dies – »denn wenn Ihr nun auch Euere Reben erst recht nicht verkaufen werdet, so wird doch dem Schwiegervater, denke ich, ein Gläschen Goldacker nie verweigert.«

Eine ungewohnte Rührung packte Meinrad.

»Und zudem, was unsern Kindern gehört, gehört auch ein bisschen den Vätern, – ist es nicht so?«

Mit herzlicher Artigkeit hielt der Oberst nach dieser Rede dem Bauer seine zweifach beringte Hand entgegen.

Zögernd gab der Bauer die seinige her. Es war nicht mehr Eigensinn oder Unfreundlichkeit, sondern Scham über seine früheren bösen Meinungen, die ihn so zaghaft zugreifen liessen.

»Ich glaube auch,« sagte er langsam und verwirrt, »dass wir unsere Kinder so am glücklichsten machen.«

»Und nun Pardon, dass ich Sie so wütend überrascht habe! Aber, lieber Nachbar, glauben Sie mir, Rosine hat mich nicht weniger stark überrumpelt. Und schliesslich bin ich dann gerne gekommen, so schwierig ich immer mit meinem elenden Fusswerk die Halde hinaufrutsche. Denn auch ich bin ein ganzer Soldat gewesen und sähe es zu gerne, wenn sich einige Tropfen Soldatenblut in unserer Nachkommenschaft vererben würden. Ein guter Wein in den Reben, ein tapferes Blut in den Enkeln! Hab' ich recht, Nachbar, hab' ich recht?«

Wie bei der Rede des Oberleutnants begeisterte sich jetzt wieder das alte Bauernherz, obwohl er die Worte des Obersten nicht in ihrer ganzen Herzwärme begriff. Dabei entging es seinem rasch arbeitenden, haushälterischen Verstande nicht, dass sein Leonz nun auch den anderen Rebfleck in das Fallersche Haus hineinheirate und am Ende sich ein Goldacker Nr. 2 erarbeiten lasse. So nickte er denn unter den Reden des Bleuler immer wieder und behielt die grosse, weisse Hand in seiner kleinen, braunen.

»Können wir kommen?« hörte man neugierig aus der Türspalte rufen.

»Kommt nur!« rief der Bauer. »Es ist alles im reinen!«

Lustig und doch das Gesicht von blutroter Scham erfüllt, hüpfte die Tochter aus der Kammer heraus, die Mutter mitzerrend, und reichte zuerst dem künftigen Schwiegervater und darauf dem eigenen Vater die heisse Hand.

Nun kam vom alten Goldacker eine Flasche aus dem Keller herauf, und die bestäubten, alten Kristallgläser auf der obersten Lage des Büfetts wurden unter Klingeln und Klirren heruntergeholt und mit dem sehr hellen, rosenroten Saft gefüllt. Schon wollte der Oberst anstossen, als das Fräulein ihre Finger gespreizt über seinen Kelch streckte und mit verstohlenem Zwinkern sagte: »Lasst uns auf den Hauptmann warten, – er muss bald kommen!«

Alle setzten ihre Becher wieder nieder.

»Woher weisst du denn, Rosine,« fragte Anna gemäss einer Verabredung, die vorhin in der Kammer zwischen beiden Frauen getroffen worden war, »dass Leonz diesen Abend noch kommt?«

»Verzeiht mir,« antwortete das Mädchen, und diesmal glaubte man einen Vogel schäkern zu hören, so hoch und neckisch nahm sie die Stimme, »aber gestern abend haben Leonz und ich auf dem Goldacker Kriegsrat gehalten. Ich richtete meine Artillerie zuerst gegen den Herrn Obersten, meinen sehr gnädigen Vater« – sie salutierte hier famos – »und dann ging es mitsamt den erbeuteten väterlichen Geschützen auf den Vater Meinrad los. Am Ende des Feldzuges wird Leonz erscheinen, so ist es ausbedungen, nicht früher!« –

Von den feuchten Wiesen her schritt um diese Zeit der Ersehnte schon dem Hause zu. Als er zwischen den unendlich verlängerten Baumschatten des Abends den letzten Steig emporklomm, mit unbeeilten Schritten, das Käppi vom dichten Haar gehoben, eine glänzende Sicherheit auf den starken Brauen, der niederen Stirne und den verschlossenen Lippen, und wie er den Hügel hinaufblickte und sein Haus und drüben das des Obersten und beide getrennten Ufer in einen festen Blick zusammenfasste, da fühlte man, dass dieser Leonz seine Zukunft mit sicherer Hand zum voraus abgewogen und gleichsam in seine Rocktasche genommen hatte.

In die Fäden, die sich immer inniger vom einen Ufer zum anderen spannen, mischte sich für Vater Meinrad zwar die Enttäuschung, dass weder eine Zeitung, nicht einmal das beliebte Lokalblättchen seines Bezirkes, noch sonst eine offizielle Stimme von irgendwelcher Entschädigung des zerstampften Rebberges sprach. Um so ermutigender war es, dass der Bauer aus der Verwüstung seiner Trauben doch noch soviel rettete, um ein ehrliches, bürgerliches Fässchen mit dem edelsten Moste, den der Goldacker je erzeugt hatte, füllen zu dürfen. Ein Fläschchen dieses Weines trug der glückliche Winzer am siebzehnten Wintermonat von der Weinausstellung aus der Hauptstadt nach Hause. Er fuhr aber diesmal zweite Klasse, nicht seinet– sondern der Flasche wegen, der um den schlanken Meernixenhals eine schwere goldene Medaille baumelte. Er liess sie jedermann sehen und erzählte jedem, der es nur hören mochte, die Geschichte des Goldackers von den ersten mittelrheinischen Schösslingen seines Vaters an bis zur heurigen Reife. Hier meldete er mit etwas dunkler, verdriesslicher Stimme, dass die Manöver mitten in seine Ernte gefahren und von hier aus die Geschicke des kriegerischen Tages entschieden worden seien. Indessen, fügte er triumphierend bei, hätten weder die Kanonen, noch Ross und Reiter das unverwüstliche Leben solcher Reben zu vernichten vermocht, und er sei in der Lage, wenigstens eine reiche und weitläufige Hochzeitstafel rein nur mit diesem Goldacker zu bedienen. – Dies letztere sagte er mit der ganzen Bosheit eines Geheimtuers.

Darauf meinte ein gegenübersitzender Herr, die Manöver seien wirklich eine Landesgefahr. Sie zehrten die Kraft der Schweizer auf und zertrümmerten dazu noch ihr kleines Haus.

»Ich bitte den Herrn,« meinte der Bauer, »die Manöver sind eine respektable Einrichtung, und ich lasse ihnen nichts geschehen. Meistens« – schmerzlich verzog sich nun sein hundertfach gefältelter Mund beim folgenden – »einige Ausnahmen abgerechnet, vergütet der Bund den Schaden mit seiner guten und batzengesegneten Hand, – meistens!«

 


 


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