Heinrich Federer
Lachweiler Geschichten
Heinrich Federer

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Der gestohlene König von Belgien

Kapitel 1

Wie viele glänzende Fünffränkler sind mir schon durch die Finger gegangen! Rund sind sie und rollen weg und rollen zu, – und wenn einem am Abend des Lebens noch einer zur Zehrung der letzten Stunden bleibt, ist's gut und ist's auch genug. Aber ein ehrlicher muss es sein.

Springt mir – doch nein, es pressiert ihm ja nicht! – spaziert mir so ein Silbermond in die Hand, dann schaue ich flugs, was für ein thronendes Wesen er trägt. Ist es die freie Mutter Helvetia, so lacht mir mein eidgenössisches Herz im Leibe. Obwohl sie ein so rauhes und steifes Gesicht macht wie eine junge Stiefmutter, wenn sie zum erstenmal in die Stube voll Stiefbuben und Stiefmädchen blickt und merkt, dass dies Geschlecht schwer zu bändigen ist und gleich tiefe Augen macht und die Knochen hart in die Wangen springen lässt: – es muss eben doch meine richtige Frau Mama sein und wer's nicht glaubt, der sehe einmal ringsum die Urnerberge und vor allem dieses Weibes goldene Bernerzöpfe an! Ist das nicht helle, dicke Schweiz? – Die Welschlandkönige, Sohn, Vater und Grossvater lassen ihren Schnurrbart zugleich mit ihren Staatsschulden weit über die Münze hinauswachsen. Das stört mich wie alle Prahlerei.

Wogegen der dritte Napoleon mit seinem spitzen Bärtchen und Ludwig XVIII. im Behagen seines Doppelkinns mich weder kalt noch warm machen.

Aber gern seh' ich das lange, verlebte Gesicht des belgischen Leopold. Nicht als ob ich für diesen eisigen Monarchen schwärme, – da wäre ich wohl ein selten dummer Hans. – Aber an dieses Silbergeld knüpft sich ein sündiges Abenteuer meiner Jugend, das ich nie vergessen kann. Unter den Augen des belgischen Leopold habe ich meinen ersten Diebstahl verbrochen. So oft ich nun den Fürsten sehe, erröte ich, selbst heute noch, wo ich glaube, dass auch die Könige zuweilen vor uns erröten dürften. Und jedesmal wird mir doch wieder seltsam leicht. Denn es war auch mein letzter und schwer gesühnter Diebstahl.

Das schöne Silber lag im Papierkorbe von einem dicken, gelben Briefumschlag zugedeckt. Die Mappe unter dem Arm, wollte ich eben in die Vormittagsschule. Gerade hatte ich eine Rechnung, die ich selber nicht zu lösen vermochte, noch rasch aus dem entlehnten Hefte meines Mitschülers Jakob Bronn abgeschrieben und dabei wie immer den Daumen und den Zeigefinger mit Tinte beschmutzt. Solche Hände aber konnte Lehrer Philipp Korn nicht sehen. So spie ich denn recht bubenhaft in einen Fetzen Papier, wusch die Flecken vom Finger und wollte das zerknüllte Papier in den Korb werfen, als mir das gleissende Geld aus der Tiefe wie ein Dämon entgegenflimmerte.

Ich ging damals ins zwölfte Jahr. Meine Mutter führte nach dem Tode des Vaters ein ernstes, schweigsames Regiment über mich und meine beiden Schwestern. Wir liebten sie in aller Heimlichkeit. Nach aussen wagten wir aber nur Achtung und Furcht zu bezeigen. Ihr ebenmässiges Gesicht mit der leicht geröteten Wange, den ernsten Brauen, den dunkelsten Augen, die ich je gesehen habe, Augen, deren goldbrauner Stern sich mit seinem Lichte gleichsam nach innen wandte, und dazu eine Stimme, die jedes Wort deutlich aussprach, aber nie wiederholte, – das flösste von selbst Respekt ein. Besonders aber von der glatten, hellen Stirne, über der das schwarze Haar glatt den Scheitel hinaufgekämmt war, schien mir jene strenge, scharfe Luft zu wehen, die um die Gipfel der Berge herrscht.

Sie hatte viel Ungemach des Lebens ertragen. Aber wir erfuhren nichts davon. Das war für uns ein siebenmal versiegeltes Buch. Wir hätten uns nicht einmal getraut, das Siegel zu berühren.

Und diese Mutter hielt uns knapp. Wohl war der Tisch genügend, aber nie sah man eine Leckerei aufgetragen. Wir wurden in warme und dauerhafte Kleider gesteckt, aber nie durfte der Kragen meines Röckleins mit Samt besäumt oder mit Seide gefüttert sein, wie Jakob Bronn auf dem Gasthof zur Krone und andere Bürschlein die Jacke trugen. Für unsere Ausbildung waren die Mittel sogar reichlich bemessen, aber auch da gab es keinen Luxus, und sowie sich zeigte, dass ich auf dem Klavier nur ein höchst mittelmässiger Spieler und mit dem Pinsel nur ein Pfuscher würde, hörten die Stunden beim Kaplan sogleich auf.

Vor allem aber für die süssen Verlockungen der Kinder an den Buden und Kramladen und für kurzweiliges Spielzeug hatte die Mutter keinen Nickel übrig. Selbst auf dem Weihnachtstisch wieherte nie ein hölzernes Pferd und lagerten keine braunen Beigen von Schokolade, sondern da gab es Bausteine zum Zusammenfügen und geographische Rätselspiele, Zeichnungsvorlagen, neue Lesebücher und Federschachteln. Taschengeld erhielten wir nicht, und das schmerzte uns sehr. Denn die reicheren Kinder – und Lachweiler ist ein sehr vermögliches grosses Dorf – führten immer welches mit sich und behaupteten damit ein unbestreitbares Übergewicht über die Genossen. Nur am Sonntag nach dem Gottesdienst, wenn unsere Aufführung in der Kirche tadellos gewesen war, händigte uns dreien die Mutter je dreissig Rappen ein, woraus wir täglich in der Vormittagspause ein Fünferbrötchen bei der Bäckerei des Kronenwirtes kaufen konnten. Aber gewöhnlich hatte ich die Barschaft schon am Dienstag verprasst.

Doch da lag nun kein gemeiner Fünfräppler, sondern ein echter Fünffränkler vor mir im Korbe. Ich stutzte. Die Münze musste wohl meiner Mutter unversehens mit dem gelben Briefumschlag in diese Fetzen geraten sein. Sie würde also, wenn ich sie nicht bemerkt hätte, auf den Kehricht geworfen und wäre verloren. Ich könnte sie daher wohl zu mir stecken. Die Mutter litte keinen grösseren Schaden dadurch. So erwog ich rasch mit der wunderbaren Logik der Sünde, die den Kindern ebenso tüchtig wie den Ergrauten ins Gehirn schiesst.

Hastig schaute ich mich nach den Fenstern und der Türe um, ob jemand zusähe, langte blitzschnell hinunter und schob den Taler in meine Hose, indem ich dazu hüstelte, als ob mir was in der Kehle stecke. Es summte mir im Kopfe und mir ward heiss und schwindelig. Rasch sprang ich die Stiege hinunter, viel zu scheu, um nochmals zurückzublicken, und pfiff dazu, wiewohl mir die Lippen zitterten: »Ich hatt' einen Kameraden«. Das Singen lief mir leicht vom Munde, aber beim Pfeifen geriet mir die einfachste Weise falsch. Ich merkte es zwar nicht oder wollte es nicht merken. Denn ich wollte um jeden Preis pfeifen. Pfeifen war Bubensache, singen mochten die Zöpfe! Jetzt aber merkte ich selber erschreckt, wie ausser allen Noten ich das Marschliedchen spielte.

Ich ging nicht, nein, ich floh zur Schule, als könnte man mich zurückrufen und untersuchen. Das Geldstück hielt ich mit der rechten Hand in der Tasche fest; es wurde allmählich ganz warm. Weder nach rechts noch nach links wagte ich einem Fussgänger ins Gesicht zu blicken. Denn ich glaubte, alle sähen mich sehr argwöhnisch an. Ich fühlte ihre Augen, sie stachen mich förmlich. Würde ich den Blick erwidern, man sähe mir sogleich den Dieb an.

Wir wohnten am Kirchplatz nächst dem Schulhaus. Nun hatte man in den Herbstferien dieses gebrechliche Gebäude leidlich aufbessern wollen, wenngleich jeder rote Heller an diese Baracke wie weggeworfen schien. Denn die Lachweiler setzen ihren Stolz darein, seit hundert Jahren kein neues Haus errichtet zu haben. Ihre Privathäuser sind denn auch wahrhaft von festgefügtem Stein und dauerhaftem Holz gebaut; aber die stärkste Natur erliegt zuletzt dem Alter! Noch mehr gilt das von den Gemeindehäusern, die weit sorgloser erstellt und unterhalten wurden. Wollte nun die hinfällige Küsterei vornüberfallen, so wurde die Front auf jede erdenkliche Weise mit neuem Balkenwerk gestützt, bis das arme Haus nun hintenüber zu stürzen drohte. Jetzt wurde es im Tücken bearbeitet, gestossen, gereckt, wie ein buckliger Patient, bis es schliesslich wieder sich gegen die Strasse neigte. So hing auch das Schulhaus zwischen Leben und Sterben. Diesmal hatte es weder nach hinten, noch nach vorne, sondern mitten in sich selber vor Schwäche zusammenbrechen wollen. Es schwankten die Fussböden, es rissen die Balken, und die Stützen im Keller neigten sich schief, wie die Nase des Lehrers Philipp Korn. So war man denn mit Seufzen an eine gründlichere Erneuerung des Gebäudes gegangen. Man hoffte bis zum Schulbeginn damit fertig zu werden. Aber der undankbare Patient zeigte Tücken. War auf einer Seite geholfen, so offenbarte sich urplötzlich von der anderen ein boshafter Schaden, – und ward auch der kuriert, so platzten nun an zwei Stellen zugleich verborgene Gebrechen heraus. Man musste an einen Kranken denken, der Bauchgrimmen bekommt, wenn der Magen hergestellt ist, und Kopfweh spürt, sobald man die Bauchschmerzen gestillt hat, weil eben seine ganze Natur verdorben ist.

Uns Jungen war es recht, zu unterst ins Dorf hinunter zu laufen, wo eine Doppelstube im alten Schmithaus nun für den Notbehelf zur Schule eingerichtet worden war. Als der alte Schmitmatis ohne Erben starb, vermachte er das weitläufige Haus der Gemeinde, um darin ein kleines Dorfspital zu errichten. Aber das Haus blieb leer. Denn die Lachweiler sind sehr gesunde und zähe Leute und halten sich aufrecht, solange noch ein Knöchlein hält. Auch haben sie in ihrem fleissigen Sinne nicht Zeit, lange krank zu liegen. Legen sie sich nun hellen Tags zu Bette, so kann man hundert für eins nehmen, dass sie den Tod schmecken. Die letzten zwei, drei Tage würden sie aber um keinen Preis anderswo als in ihrer wenn auch noch so dürftigen Kammer zubringen, wo an der Wand ihr Taufbild in Glas und Rahmen hängt, wo über dem Kopfe ein geliebtes Porträt und ein alter frommer Kupferstich angebracht sind, und wo sie auch wissen, an welchem Nagel ihre Hosen hängen und unter welchem Stuhle ihre Schuhe stehen, um sie gleich für die lange Wanderung auf der ewigen Strasse bei der Hand zu haben.

Zwei Strassen führen in das Dorf hinunter: die Ringelstrasse schlängelt sich verschmitzt zwischen den Häusern zum linken Zipfel des Weichbildes, wo das Ammannhaus die Gasse beschliesst; auf der Hauptgasse aber gelangt man zum rechten Ende der Ortschaft, wo das Schmithaus in der äussersten Zeile steht. Ungefähr in der Mitte des Weges liegt der halb mit Gras, halb mit Kies bedeckte Marktplatz, ein grosses Viereck, wo zu Martini aus allen umliegenden Weilern und Dörfern das käufliche Vieh zusammengetrieben und unter haarsträubendem Lügen und Fluchen feilgeboten wird. Rechts hält sich mit verzweifelter Liebe zum Leben das alte Arresthüttlein noch in seinen morschen Knochen aufrecht, so gut es geht; links hatte der Dorfverschönerungsverein zwei Bänklein angebracht, die nicht mehr angestrichen wurden, weil die Martiniochsen die Farbe abgeleckt hatten und der Gemeinderat sich weigerte, auch nur eine Kupfermünze an die Möbel zu geben, die ganz gegen seinen hohen Willen dahergesetzt worden seien. – Über diesen Platz kam ich nun mit meiner Mappe und dem Taler in der Tasche.

Die Münze fing mich an zu brennen. Sollte ich nicht umkehren und sie wieder in den Papierkorb werfen? – Ich ahnte unklar, dass dieses Geld mir weit mehr Ungelegenheiten als Freuden verursachen werde. Wo konnte ich es auf die Länge verstecken? – Wenn ich es immer in der Hand behalte, immer in der rechten Tasche, so wird man merken, dass ich da etwas verstecke. Ich zog also die Hand aus der Tasche, aber sogleich wurde mir bange, ich könnte das Geld verlieren oder eine fremde Hand greife mir unversehens in die Tasche und zeige den Taler: »Seht da, einen gestohlenen Fünffränkler trägt das Bürschchen mit sich herum!« Sofort schlüpfte ich mit der Rechten wieder in die Hosentasche und umklammerte die Münze noch fester.

Gewöhnlich befanden sich auf dem Marktplatz während des Tages zwei Männer, ohne die wir Knaben uns diese Stätte so wenig vorstellen konnten, wie ein Zifferblatt ohne die beiden Zeiger. Der kleine Zeiger, das war ein Bettelmännchen mit krummen, kurzen Beinen, tauben Ohren, weinerlicher Stimme, einem vollständigen Kahlkopf und einem so verzogenen und verschnörkelten Munde, dass man glaubte, das Männchen könne ihn leicht zu einem Knoten oder zu einer Masche verknüpfen. Das ganze kleine Gesicht war so verschrumpft, aber noch hellfarbig, dass man an einen kleinen, wohlgelagerten Apfel im März oder April denken musste, der in der gerümpften Hülle noch Farbe und Geschmack bewahrte. Dieser Krüppel bettelte mit hergehaltenem Hute Almosen von den Vorübergehenden; auch von uns Knaben, die wir regelmässig mitleidslos vorübergingen.

Auf der andern Seite, dem Arresthäuschen entlang, spazierte der grosse Zeiger, ein alter, langer, pfeilgerader Polizist, mit einem ergrauten, dicken Schnurrbart, den er immer in den Mund zog. Sein Kinn war violett und in der Mitte gehackt. Unablässig, wie ein Vogel, bewegte er die kleinen, runden Augen. Die Hände in den Taschen, den Kragen aufgesteckt, den Schild seiner verblichenen Mütze aus den neapolitanischen Diensten in die Stirne gedrückt, musterte er die Vorübergehenden wie ein Gott, der Herz und Nieren durchschaut.

Es war ein kalter Januarmorgen. Der gefrorene Schnee knirschte unter meinen Schuhen. Über den Dächern lag ein feiner Nebel und verwehrte den Himmel. Allmählich floss er zwischen den Häusern wie ein weisser duftiger Vorhang herunter, und in seinem Zwielicht erschien mir der Polizist zweimal so gross als sonst.

Bisher war mir der »Herr Hauptmann« – so betitelte man ihn aus irgendeinem neapolitanischen Andenken – sehr harmlos vorgekommen. Ja, wir Knaben erdreisteten uns sogar, Witze über den Gestrengen zu verbrechen, wobei wir nicht am Hauptmannskäppi und am vergilbten Kragen stehen blieben, sondern sogar am Ledergürtel und dem gefährlichen Säbel rüttelten. – Nun aber, wie von selbst, fühlte ich, dass mich dieser Mann sehr viel angehe; er wuchs in meinen Augen sogleich zu einer ernsthaften Macht heran. Der Glanz seines Mützenschildes und seines Säbelgehänges war mir furchtbar. Jetzt kehrte er mir den Rücken. Wohlan, nun vorwärts! Vielleicht, dass ich unbeachtet durchkomme. O Gott, da wendet er sich auf dem Absatz, das eine Bein militärisch vorstreckend, und schaut geradeswegs auf mich. Nun wird er kommen und fragen: ›Junge, was versteckst du da in der Tasche? Heraus mit der Hand!‹

»Herr Hauptmann, es ist nur ein – ein Hosenknopf!«

»Zeige mir diesen Hosenknopf!«

»Ach nein, es ist nur eine – eine – eine Kupfermünze!«

»Her damit!«

»Das heisst, sie ist von Silber – ich habe sie gefunden – ich –«

Entsetzlich, es wird unmöglich sein, die Sache zu verheimlichen! – ich konnte sehr viel Schlimmes tun: schlagen, beissen, quälen, ausspotten – aber lügen konnte ich nicht. Nicht, weil ich es etwa nicht gewollt oder versucht hätte, – aber jedesmal fing ich an, rot wie eine Rübe zu werden, zu stottern, und das verriet mich.

Indessen kam es nicht zu dem gefährlichen Examen. Der Polizist drehte sich wieder mit energisch vorgestrecktem Bein nach der andern Seite.

Mit der Linken wischte ich über die Stirne. Sie tropfte von Schweiss.

»Ich friere und hungere, lieber Herr!« wimmerte es neben mir.

Obwohl der Krüppel sich kaum besinnen konnte, dass ihm einmal ein Knabe ein Kupferstück in den Hut geworfen hatte, der Walomer Theodor vielleicht an der Fastnacht im Übermut seines Reichtums und der verrückten üppigen Tage – so hielt er doch seinen vom Alter grünen, schäbigen Filz jedem Buben hin. Auch mir jetzt. Wie ich ihn so sah, huschte mir der Einfall durch den Kopf, das Fünffrankenstück in diesen Hut zu werfen und davonzuspringen. Da wäre ich der Last ledig, und die Sünde – die Sünde wäre wohl in Gnaden verziehen.

Aber der Bettler sah durchaus wie ein Ehrenmann aus. Er würde staunen, dass ein so geringes Bürschchen so schweres Geld hinwerfe. Er würde das Almosen zurückweisen. ›Das hast du gestohlen,‹ würde er unfehlbar sagen. ›Ich nehme kein gestohlenes Geld an!‹ Ja, er könnte wohl den Polizisten herüberwinken, und dann wäre alles verspielt. Nein, das ging nicht!

»Ich hungere und friere,« rief es geduldig nochmals.

Gott! und ich hatte einen Fünffränkler und wusste nicht, was damit anfangen und konnte ihn ihm doch nicht geben.

Mächtig hatte ich gefrühstückt, und ich trug unter dem schottischen Wams ein wollenes Leibchen. Meine Kappe aus echtem Fuchspelz liess sich infolge eines beliebten Schneiderwitzes wie ein Visier über Ohren und Kinn herunterziehen, so dass nur die Augen, die Nase und der Mund noch ein wenig hervorguckten. Dennoch hatte ich gestohlen! Aber der Krüppel hier trägt ein fadenscheiniges Röcklein, das er vorne, wo die Knöpfe abgerissen sind, vor dem Luftzug immer wieder mit den gichtigen Fingern zusammenklemmen muss. Seine Schuhe sind rot und schief getreten und die Hosen aus elendem Zwillich. Er hat vielleicht noch nichts Warmes genossen. Dennoch, er stiehlt nicht. Nicht einmal für ein Fünferbrötchen oder ein Süppchen! – Er hält lieber den Hut her und wiederholt zum hundertstenmal seine demütige Bitte: ›Ich hungere und friere, lieber Herr!‹

Und ich stehle!

In diesem Augenblick kam ich mir so schlecht und so niedrig vor, dass ich Mühe hatte, das Schluchzen zu verhalten, das mir die Kehle heraufwürgte. Eine Übelkeit stieg mir vom Magen auf wie nach einer schlechten Speise.

Es war Samstag. Wie schade, dass ich schon am Montag mein Wochengeld für drei Marken, das Braunschweiger Rösslein, den persischen Löwen und eine Amerikanerin, die sich nachher als eine unechte Stempelmarke entpuppte, ausgeworfen hatte. Alles hätte ich dem Bettler hingereicht.

»Ich hungere und friere, junger Herr,« rief es zum drittenmal im Rücken nach, genau so geduldig wie die ersten Male.

Plötzlich erscholl ein schriller Pfiff. Ich zuckte zusammen. Dann lief ich weiter. Das galt sicher mir. Ich wollte tun, als merke ich nichts.

Ein noch schärferer Pfiff.

»Halt' ihn!«

Wie atmete ich auf! Das waren ja meine Kameraden Theodor Walomer und Joseph, die eine Seitengasse heraufsprangen, Joseph voran. Der kleine schmächtige Bursche packte mich am Ärmel, während der befehlshaberische Theodor hinterher kam und mich am Genick fasste. »Gefangen!« schrie er. »Hörst du nichts? Kannst du nicht warten, wenn wir pfeifen? – Strafe!«

Mit einem kräftigen Ruck riss ich mich los.

»Strafe!« wiederholte der willige Joseph Ilsig, ein wahres Knechtlein seines Herrn und Gönners Theodor Walomer.

»Hast du die dritte Rechnung gelöst, Heierli?« fragte nun viel milder der Walomer. »Wir haben den Schund nicht fertig gebracht.«

»Ich hab' sie,« entgegnete ich etwas verlegen.

»Sicher vom Jakob abgeschrieben! He?«

»Ja.«

Theodor wagte darauf nichts zu sagen, doch rümpfte er hochmütig sein Näschen.

»Wie ist's denn mit dem Apfel?« fragte er weiter.

»Ja, wie ist's?« wiederholte Joseph.

Man sollte nämlich drei Achtel Apfel so teilen, dass die sieben Schüler unserer Klasse ein gleich grosses Stück und der Lehrer ein doppelt so grosses empfinge. Ich erklärte nun, wie Jakob die Aufgabe ausgeführt hatte.

Theodor zog seine schwere, silberne, am Rücken mit einem Jägersmann und seinen Hunden gezierte Uhr, um die ihn alle zwölfjährigen Knaben und ich wohl am meisten beneideten, nachlässig aus der Westentasche. »Noch zehn Minuten!« las er ab. »Hier,« gebot er und legte die Mappe auf die Gartenmauer des Bauern und Ratsherrn Jeremias Sonder. »Diktiere uns schnell die Rechnung! Wir haben noch hübsch Zeit dazu!«

Beide Knaben zogen ihr Heft aus der Mappe und schrieben meine Angaben nieder.

»Mein Lebtag hab' ich noch nie auf gefrorenem Schnee geschrieben, das ist lustig,« sagte Theodor lachend.

»Aha, drei Achtel in neun Teile zerlegen,« sagte Joseph, »wie einfach!«

»Gibt drei Zweiundsiebzigstel,« las ich vor.

»Da muss man abkürzen,« bemerkte Theodor, der die Sache nun begriffen hatte. »Jeder Schüler erhält einen Vierundzwanzigstel.«

»Faule Buben!« schrie der Ratsherr lachend. Er ging eben zum Bienenstand. »Müssen die Aufgaben noch auf dem Schulweg machen!«

Ich und Joseph erröteten, Theodor aber fuhr unbekümmert fort: »Der Lehrer erhält ein Zwölftel vom Apfel. – Dass er ihm doch im Halse stecken bleibe!«

Auch diese Kürzung schrieb ich nach.

»Und bei der vierten Rechnung, was hast du da herausbekommen?« fuhr jener fort.

»Drei Kühe, vier Ziegen, fünf Schweine und sechs Schafe, wovon du das grösste bist,« fügte ich schnell ohne alle Bosheit hinzu. Wenn mir etwas Spassiges in den Sinn kam, musste ich es herausrülpsen, mochte es mir noch so grosse Beschwerden verursachen.

»Immer noch lieber ein Schaf als ein Schwein!« versetzte Theodor und zeigte neckisch auf meine Tintenkleckse. »Die Rechnung hab' ich auch so!« fügte er bei, während ich eifrig mit Schnee die Hand zu reinigen versuchte und noch immer auf eine gesalzene Erwiderung sann.

Aber Theodor war viel gutmütiger als ich und fragte nun, den Arm über meine Schulter schlagend, mit versöhnlich einlenkendem Tone: »Was macht Elschen? Gestern kam sie wieder nicht in die Schule.«

»Bah, ein wenig Kopfweh! So ein Mädchen hält dir keinen Floh aus!« machte ich grossartig, obwohl ich ganz gut wusste, dass meine jüngere Schwester diesen Winter immer leidend war und es sich nicht bloss um einen Floh handelte. »Blase, und die fallen dir alle um!«

Wir lachten alle drei. Es gehörte zum guten Ton, die Mädchen recht stark zu verunglimpfen. Doch während die Buben von der fünften Klasse dies ausnahmslos taten, sonderte sich der Sechstklässler bereits etwa eine Rosa oder Klara oder sonst eine Bevorzugte aus dem grossen Haufen ab. Die Siebentklässler jedoch nahmen schon nicht mehr an den Schimpfereien gegen die Zöpfe teil, – eine gewisse männliche Ehrfurcht begann sich in ihnen gegen das Weibliche zu rühren.

»Kommt sie bald wieder?« fragte der Walomer.

»Sie ging ja schon hinunter. Ich band mir gerade die Schuhe, als sie an der Kammer vorbeiging. Weisst du, sie geht wie ein Mäuschen, aber ich höre sie doch.«

»So?« machte Theodor gedehnt, augenscheinlich hätte er gern noch mehr von Elschen gehört. Überall, wo er konnte, gab er meinem Schwesterchen, das zur vierten Klasse zählte, Beweise seiner bäuerlich groben, aber treuen Galanterie.

Wir hatten unsere Mappen zusammengeklappt und näherten uns dem Schmithause.

»Kommst du mit heute nachmittag?« fragte neuerdings Theodor, der nie ruhig sein konnte und sich gerade eine Flocke von der vollen roten Backe wischte.

»Was gibt's denn?«

»Wir gehen über den Melzberg zum See. Vielleicht ist er gefroren.«

»Aber du musst den Schlitten auch mitnehmen,« fügte Joseph bei.

»Denn,« erklärte Theodor, »wir fahren über den Holzweg zum See hinunter. Meinst du, der See sei wirklich gefroren?« fragte er und schob seine roten geschwollenen Hände in die Tasche.

»Er ist jedenfalls gefroren,« bemerkte ich, »es ist ja furchtbar kalt.«

»Ja, sieh nur!« rief Theodor und zog den Atem an. Mit geschlossenen Lippen schnaubte er jetzt aus aller Macht, und siehe, zwei dichte blaue Wölklein flogen aus den aufgeblasenen Nasenlöchern.

»Hhhhhhoaaa!« machte er und blies eine dritte Wolke nun aus dem aufgerissenen Munde dem kleinen Joseph ins Gesicht, der ihn verwundert über seine Künste angestarrt hatte.

»Ach was!« klagte der Bursche und wischte sich die Augen.

»Ich komme,« entschied ich indessen.

»Mit Jakob?« fragte Joseph endlich, der in jedem Stärkeren einen Feind witterte.

»Den brauchen wir nicht!« rief Theodor barsch.

»Doch, Jakob muss mitkommen,« meinte ich, »es wird lustiger.«

»Meinethalben, ich fürchte ihn nicht,« entgegnete der Walomer grossmütig und spuckte aus zum Beweise, dass er den Gegner wirklich nicht fürchte.

Wir traten in den dunklen Gang des Schmithauses. In meinem knabenhaften Sinn hatte ich alle Besorgnisse wegen des Diebstahls auf einmal verloren. Jenes muntere, unternehmungsfrohe, mit hundert Kleinigkeiten so wichtig tuende Leben eines Jungen von zwölf Jahren hatte mich beim Geplauder mit Theodor und Joseph wieder in seine frische, kräftige Zugluft gerissen und mir alle Nachdenklichkeit genommen. Besonders beim Anblick des gross und schön gebauten Theodor, der von Kopf zu Füssen von Gesundheit und Mutwillen eigentlich leuchtete, war der Geist der Gasse, der Bubenstreiche, des knabenhaften Leichtsinns wieder über mich gekommen. Meine vorigen Ängste versanken in nichts, ich schämte mich ihrer. ›Da hab' ich nun einen Fünffränkler in den Hosen, der nicht mir gehört, das ist freilich wahr,‹ dachte ich; ›je nun, es wird sich schon zeigen, was sich damit machen lässt.‹

Kapitel 2

»Ruhe, oder ich will euch!« schrie der Theodor, sowie er die Türe der Schulstube öffnete und in den Staub sah, der wie gewöhnlich über den Stühlen und Bänken der Knabenseite gleich einem unentwirrbaren Wolkenknäuel lagerte. »Ruhe, ihr Schlingel! Sind wir hier in einer Judenschule oder auf dem Rindermarkt? – Na, wie denn?«

Meisterlich ahmte Theodor die immer etwas belegte, mit Heiserkeit kämpfende Stimme des Lehrers nach, die in der Aufregung sich nicht senkte, sondern so hoch hob, dass die letzte Frage: »Wie denn?« fast wie das Zirpen einer Grille erklang.

Die Buben verbreiterten ihre Gesichter vor Lachen. Dann ging die Hetze über Stühle und zwischen Bänken hindurch aufs neue an. Federn zerbrachen, Tintengeschirre liefen über und Papierrollen flogen durch die neblige Luft.

Theodor warf hurtig seine Mappe auf die nächste Bank und spähte in den Staub, wo Jakob wohl fechte. Er wollte durchaus zur Gegenpartei halten.

Jakob war um einen halben Fingernagel kleiner als Theodor, nicht so stramm gebaut, dafür schlanker und geschmeidiger. Er hatte blondes Haar wie Theodor und besass ebenso blaue Augen. Aber Theodor liess sein Haar in Locken schiessen, während Jakob es kurz schor. In den Augen Theodors lag etwas vom reinen, braven Morgenhimmel; aber Jakobs Bläue blendete wie der Mittaghimmel. Auch gab es da schon Wölklein neben grellen Lichtern. Theodor besass das bessere Gedächtnis, Jakob das raschere und hellere Erfassen. Theodor war mutig bis zur Frechheit, Jakob mutig bis zur auserlesenen List. Theodor war bei allen beliebt, er hatte keinen Feind unter uns; aber Jakob wurde von den meisten gefürchtet, von allen respektiert, doch nur von mir herzlich, ja begeistert geliebt. Von den Tagen unserer ersten Schuhe an hatten wir miteinander verkehrt und hingen so fest zusammen, als es unsere durchaus verschiedenen Gemüter nur zuliessen. Mit Theodor hatte sich wohl schon jeder von uns einmal überworfen, aber auch wieder am gleichen Tag ausgesöhnt. Wer indessen mit Jakob, den wir wegen seiner Herrschereigenschaften nur den Rex nannten, uneins geworden war, hatte es lange zu büssen, wenn überhaupt das frühere Einverständnis je wieder zurückkehrte.

Der Kampf zwischen Jakob und Theodor hatte etwas Grossartiges. Die übrigen Schlachtreihen zogen sich dann respektvoll zurück und liessen den Häuptlingen die Ehre der Walstatt. Noch nie war das Gefecht entscheidend ausgefallen, teils weil der Lehrer immer zu früh eintrat, teils weil die freche, aber ungekünstelte Kraft Theodors sich an dem biegsamen und zähen Jakob nie recht auslassen konnte. Im Freien hatten sie noch nie den Kampf gewagt, so oft wir sie auch aneinander gereizt hatten. Jeder misstraute sich ein wenig und fürchtete, den Ruhm der Unbesiegbarkeit, den er jetzt in der Unentschiedenheit für sich behielt, für immer zu verlieren.

»Hat niemand meinen Jungen gesehen?« rief Theodor herausfordernd, während er die Arme spannte und einen Fuss zurückbog.

»Hier, grosser Hase!« gab Jakob zurück und sprang mit einem Satze über die vordersten zwei Bänke zum Gegner heraus. »Da, reib' es gut ein!« sagte er und gab ihm einen blitzschnellen Box in die Hüfte. Dann suchte er Theodor um den Rücken zu nehmen.

Der aber versetzte dem Kronenwirt einen solchen Knuff mit dem Ellbogen, dass Rex bis ans Lehrerpult taumelte. Der Walomer folgte ihm auf dem Fusse, packte ihn und riss den Feind zur Bank zurück. Dabei spreizte er die Beine, um festen Stand zu behalten. Gleich schlug Jakob den Haken ums rechte Bein und bog, den Arm um Theodors Hals geschlungen, den Gegner tief nieder. Der Walomer schwankte und fiel mit Jakob zu Boden, doch kam er auf seinen Gegner zu liegen und versuchte jetzt auf alle Weise, ihn auf den Rücken zu wälzen. Aber Jakob wand sich unter ihm wie eine Schlange und drehte sich immer wieder aus den Armen Theodors heraus.

Die hinteren Knaben standen auf den Bänken, die vorderen sassen auf ihren Pültchen. Wie im Amphitheater sah man dem Ringen zu und feuerte die Kämpen an. »Jetzt ums rechte Bein, Thedi – Nicht so! – Dreh ihm den Arm um! – Bravo, Rex, noch mehr! – Auf die andere Seite, – jetzt ums Knie! Das war falsch! – Nicht das, nicht das!« – Man sprang auf, beugte sich über und machte die Bewegung vor, die man seinem Helden riet.

So weit war das Kampfspiel schon oft gegangen. Hier aber wurde es für mich langweilig. Ich wusste, dass keiner gegen den anderen unterläge. Der eine war zu listig und zu flink, der andere zu wild und zu stark. Ich ging daher auf meinen Platz, spitzte mir den Bleistift und überlas noch einmal das Gedicht, das wir aufsagen sollten. Es war die kleine Ballade von Uhland: »Der Knecht hat erstochen den edlen Herrn«.

Während sich auf der Bubenseite das heisseste Kampfinteresse zeigte, boten die Mädchenbänke ein ganz anderes Bild. Da war nichts als Ordnung, Sauberkeit und Sitte. Bescheidentlich sassen die Zöpfe in den Stühlen. Ihre Bücher lagen bereits auf Blatt und Seite richtig aufgeschlagen. Die Kopfkapuzen und Halstücher hatten sie abgezogen und sorglich in die Banklade geschoben. Jetzt tuschelten sie zu dreien oder vieren miteinander, indem sie so leise sprachen und die Nasen so nahe zusammenhielten, auch hier und da so geheimnisvolle Augen über die Achseln hinweg auf die Buben hinüberwarfen, als hätten sie ein Geheimnis zu verhandeln, wie sich seit Weltentstehung ein grösseres nie über Weiberlippen getraute. Es betraf indessen nur die Schülerin Ella, die wegen der Hochzeit ihrer Schwester für heute dispensiert und – was die Hauptsache war – in einem roten Kleide, man denke, aber auch ganz roten Kleide, dazu mit Ärmelspitzen und ausgeschnittenem Halse – in der Kirche erschienen war.

»Es ist zu grell,« sagte Theresia Lammer abweisend.

»Die Zigeuner tragen eine solche Farbe,« fuhr eine andere giftig hinein.

»Wenn es wenigstens mattrot gewesen wäre – so etwa!« lehrte Lene, die Tochter der Dorfschneiderin, und stülpte ihren Ärmel um, worauf ein ganz verschossenes Futter hervorguckte.

»Oder dunkelrot,« sagte Hedwig, das Gemeindeschreibertöchterlein. »Ihr wisst, wie das Kleid, das ich zu Ostern bekommen werde.«

Dieses Kleid auf Ostern war schon so oft genannt und geschildert worden, dass jede Schülerin genau wusste, wie es aussehen würde.

»Dunkelrot mit braunen Streifen, das ist vornehm, sagt meine Mutter,« schloss Hedwig zufrieden.

»Das ist freilich vornehm,« gaben die anderen zu, teils weil sie das Kleid noch nicht gesehen hatten, teile weil sie sogar zweifelten, ob Hedwig ein so vornehmes Röcklein je bekommen würde. Trägt sie es aber wirklich zu Ostern so, gut, dann würden sie bald herausgefunden haben, wie abgeschmackt dunkelrot mit braunen Streifen sei.

Als die beiden Kämpen mit einem dumpfen Plumps zu Boden fielen, blickten die Mädchen nun doch halb ängstlich, halb neugierig hinüber. Sie teilten sich sogleich in zwei Parteien. Die grössere stand zu Theodor, obwohl nicht seine Schwester Berta, sondern Jakobs Schwester unter ihnen beliebt war. Aber Theodor verhielt sich gegen die Mädchen immer so umgänglich und bäuerlich artig, während Jakob sie gar nicht beachtete. Das ärgerte sie mehr, als wenn er sie von Herzen verspottet hätte.

»Dein Bruder hat natürlich wieder angefangen,« schmollte Agnes, meines Bedünkens die weitaus Lieblichste unter den Schülerinnen und Jakobs ältere Schwester.

»Jakob ist um kein Haar besser,« antwortete ein Mädchen, das so stattlich und so schön wie der Bruder gewachsen war und ihm in jeder Linie des Gesichtes glich. Und doch fehlte ihm alle Lieblichkeit Theodors, weil ein strenger, unweiblicher Zug darüber lag.

»Sie müssten mir beide nachsitzen, solche Flegel!« setzte sie hart hinzu.

»Sieh nur, Berta, Jakob klemmt ihm den Arm,« redete die kleine Hedwig ein, »das sollte nicht sein!«

»Aber Theodor hat ihn am Ohr gerissen,« klagte Agnes, »– schon wieder! – wenn nur der Lehrer bald käme!«

In diesem Augenblick rannte wirklich der Küferbub Franz zur Türe herein und schrie: »Obacht, – er kommt!«

Sogleich rutschten sie Knaben in ihre Stühle hinunter. Franz war Türhüter. Jakob und Theodor zahlten seine Wächterdienste mit Äpfeln, wenn er das Amt willig versah, mit Ohrfeigen, wenn er unbotmässig diente.

»Der Lehrer, der Lehrer,« rief Agnes voll Kummer, »steh auf, Jakob!« Doch die beiden Fechter überhörten die Warnung. Eben hatte Theodor den Arm unter die Brust des Feindes geschoben, um ihn so auf den Rücken zu legen, wie man mit dem Bratschäufelchen den Kuchen wendet, wenn er auf der unteren Seite braun geschmort ist, und Jakob hatte listig nur auf diese untergeschobene Hand gewartet, um sich seitlings aufs Knie zu heben: da stand auch schon der Lehrer auf der Schwelle, lang, hager, das dürftige Haar vom Wirbel aus gleichmässig nach vorn und hinten gekämmt, im schwarzen abgeschabten Rock und in grauen, an den Knien glänzenden Beinkleidern.

»Ruhe, ihr Schlingel! – Sind wir hier in einer Judenschule oder auf dem Rindermarkt? – Na, wie denn?«

Die beiden Ringer lösten sich mit Mühe aus dem Knäuel und erhoben sich mit roten Gesichtern, entzündeten Augen, das Haar schwitzend nass. Jakob, der bei jeder Anstrengung die Zähne heftig aufeinander biss, hatte blutigen Schaum auf den Lippen.

»Wie das stäubt, – Agnes, mach' das Fenster auf!« Lehrer Philipp schnappte nach Luft. »Eine Luft zum Ersticken!«

Nach diesen Worten zog der Lehrer die im heissen Zimmerdunst angelaufene Brille von der Nase und sah sich mit seinen schwächlichen und kurzsichtigen Augen die Übeltäter genauer an.

»Natürlich, natürlich, unser herrlicher Herr Oberdorf und der nicht minder herrliche Herr Unterdorf!« spottete Lehrer Philipp. »Unsere Müsterchen! – immer die nämlichen! Sollten und könnten der Schule ein gutes Beispiel geben und tun lieber das Gegenteil! Wartet – ich will euch!«

Der Lehrer setzte sich die abgeriebene Brille wieder auf und nahm den Stecken vom Pulte. Als wollte er sie geschmeidiger machen, fuhr er mit seinen glatten weissen Handflächen an der Haselstange hinunter, ähnlich wie ein berühmter Geiger seinen Bogen bestreicht, um ihn besser über die Violine tanzen zu lassen.

»Wer hat angefangen?« fragte er und rückte mit der Linken die Brille bequemer.

Die Übeltäter schwiegen einhellig.

»Der Theodor,« rief eine wunderliebliche Mädchenstimme herüber. Es war Agnes.

»Der Jakob,« schrie die kleine Gemeindeschreiberin für Berta, die zu stolz dazu war.

»Ja, der Jakob,« bekräftigte nun auch die dünne, von einer Mädchenzunge nicht zu unterscheidende Stimme Josephs, des getreuen Bundesgenossen Theodors.

»Wem soll ich glauben?« sagte der Lehrer unschlüssig und den Stock senkend, »Heierli, hast du gesehen, wer angefangen hat?«

»Nein,« sagte ich kurz.

»Eine ganze Antwort!«

»Nein, Herr Lehrer, ich habe es nicht gesehen!« ergänzte ich widerwillig.

»Der Jakob hat doch angefangen,« riefen jetzt viele von beiden Stuhlseiten.

Jetzt erhob Theodor sein Haupt, – bisher hatten beide mit tiefgebogenen Hälsen in den Boden geschaut, – er schüttelte die Locken aus dem Gesicht, auf die eben von der Morgensonne ein sehr niedriger Strahl fiel. Er öffnete die übergrossen, blauen Augen, man glaubte, es gingen zwei mächtige Fenster gegen den blauen Himmel auf, und indem der Walomer den Lehrer mutig anblickte, sagte er sehr laut: »Nein, ich habe angefangen!«

Dem guten Philipp Korn wollte vor Verblüffung das Stecklein entfallen. »Du – du – du habest – du habest – du selber habest –« stotterte er.

»Glauben Sie ihm nicht, Herr Lehrer!« sagte nun Jakob wie befehlend und trat mit finsterem Stolze vor Theodor hin. »Ich habe ihn zuerst gestossen, hier, in die Hüfte!«

Darauf streckte er sogleich seine blasse, feine Hand, an der man die adelige Abstammung der Mutter, einer geborenen von Sallingen, erkannte, dem Lehrer zur Züchtigung flach entgegen.

»Er lügt!« schrie Theodor zornig, und wenig fehlte, so wäre er wieder auf Jakob losgestürzt.

»Genug, genug, meine Löwen!« machte nun der Lehrer, schon von ganzem Herzen versöhnt. »Ich werde jedem vier Tatzen geben! Ordnung muss sein!«

Achtmal sauste der Haselstecken nieder. Der Lehrer strafte diesmal wahrhaft nicht in der Aufregung; er hätte den Prügel lieber in den Winkel geworfen, aber Ordnung musste sein. Er war im Innersten stolz auf diese beiden tüchtigen Zöglinge seiner Erziehungsmethode. Und so lächelte er denn immer, bei jedem Schlage, den er über die harrenden Hände seiner Lieblinge fallen liess, als wäre es Honig, was er da austeilte.

Ohne mit den Wimpern zu zucken, hielten die zwei aus. Theodor besass eine harte, abgestumpfte Haut. Die Arme lässig schlenkernd, lachte er im Zurückziehen den Kameraden gutmütig ins Gesicht, als sagte er: ›Gäbe es nichts Schlimmeres!‹ Aber Jakobs Hände empfanden die Streiche schmerzlicher. Doch auch er lachte im Zurückgehen, freilich war es das Lachen des Stolzes, das besagte: ›Es tut zwar sehr weh, dieses barbarische Schlagen; aber ihr sollt nicht sehen, dass ich leide, das täte noch viel mehr weh.‹ So schritt er lachend in die Bank neben mich und schleuderte einen zornigen Blick hinüber, wo Agnes den Kopf in die Hände stützte und weinte.

»Strafe musste sein,« erklärte der Lehrer nochmals, den heissen Stecken in den Winkel werfend, »denn ihr waret fehlbar. Aber euer ehrliches Bekenntnis hat mich gefreut! Wie nennt man eine solche Handlungsweise, Joseph Ilsig?«

»Man nennt sie –«

»Georg Abender! – Noch neulich hab' –«

Ich streckte den Finger.

»Heierli! Wie nennt man das?«

»Ritterlich!«

»Bitte, einen ganzen Satz!«

O wie gerne wiederholte ich, dass man Jakobs und Theodors Handlungsweise eine ritterliche nennen musste. Meine kleinere Schwester, die so bleich in den Bänken der Kleinen sass, schaute stolz auf mich, das war mir wert! Aber Agnes trocknete sich die Augen und versuchte, ob sie noch lächeln könne, und siehe, sie konnte es noch prächtig, das war mir noch werter!

»Gut,« versetzte der Lehrer mit einem halbverliebten Blick auf seine beiden Helden, »offen seine Sünde bekennen, das ist männlich! Aber seine Sünde verheimlichen, sie gleichsam in der Tasche verbergen, wie ein Dieb das Gestohlene, und dabei vor allen Menschen ehrlich sein wollen, das ist – he, Walter!«

Bei diesen Worten glaubte ich nicht anders, als der Lehrer wisse, was ich verbrochen habe. Plötzlich fühlte ich wieder mein Silberstück in der Tasche, es drohte, mich zu Boden zu ziehen, so schwer wurde es auf einmal. Deutlich spürte ich, wie mein Antlitz die Farbe wechselte vor Schrecken.

»Nun also, Heierli, das ist?« drang der Lehrer in mich.

»Das ist unritterlich,« sagte ich mit einer Stimme ohne Blut und Leben.

»Mehr noch, es ist geradezu –?«

»Schlecht« ergänzte ich. Es war mir genau so zumute, als müsste ich meinem Henker helfen, mir die Schlinge um den Hals zu ziehen.

»Richtig! setze dich!« gebot Philipp Korn.

Gut, dass ich sitzen durfte, es war die höchste Zeit. Alles drehte sich mit mir im Kreise herum. Es dauerte lange, bis ich mir sagen konnte: ›Ach, das ist nicht auf dich gemünzt, zufällig trifft es sich so eigentümlich, niemand weiss um dein Verbrechen.‹

Aber als ich mich vor dem Lehrer und den Schülern sicher wusste, da fing ich erst recht an, unsicher vor mir selber zu werden. Ich konnte nicht vergessen, wie Theodor gerufen hatte: ›Ich habe angefangen!‹ und wie darauf Jakob vor ihn hin getreten war und die Hand hergehalten hatte: ›Da, ich schlug zuerst, – er lügt!‹ Welche Kerls waren doch die zwei! Vor der ganzen Schule und vor dem geschwungenen Stecken sich schuldig zu geben! Ich beneidete sie. Wie klein war ihr Fehler gegen den meinigen gehalten! Gerne würde ich mit ihnen tauschen. Welche Strafe würde ich verdienen, wenn meine Freunde schon vier strenge Hiebe bekamen! Eine ganze Tracht Prügel! Denn was waren etliche Knüffe und Püffe gegen meinen silbernen Diebstahl!

Als Theodor mit Jakob in der Pause wieder lachte und spielte, als ob gar nichts vorgefallen wäre, da betrübte mich das sehr. Die durften natürlich jetzt wieder fröhlich sein, alles war vorbei! Aber ich? – Konnte ich je wieder lustig sein? – Das kann man erst, wenn man gebeichtet und gebüsst hat, wie meine Freunde. Ich aber fürchtete beides wie den Tod.

In der Spielpause sprang und lärmte ich mit. Doch geschah es nur, um den Lärm und die Unruhe meines Gewissens zu überschreien.

Es begann die zweite Stunde. Joseph, unser bester Deklamator, musste die »Rache« von Uhland aufsagen. Wie schön und ergreifend tat er das! Doch mit neuem Entsetzen bemerkte ich, dass dieser Knecht, der seinem Herrn den Panzer geraubt hatte, mich mehr anging, als irgendwer vermuten konnte. War denn alles gegen mich verschworen? Musste denn heute immer von Raub und Diebstahl gesprochen werden!

Joseph hatte eben mit mächtiger Lebhaftigkeit gesagt:

»Und als er sprengen will über die Brück',
Da stutzet das Ross und bäumt sich zurück.«

»Heierli, schliesse!« befahl mir der Lehrer.

»Mit Arm, mit Fuss er rudert und ringt,
der schwere Panzer ihn niederzwingt.«

»Richtig,« endigte Lehrer Philipp, »seht ihr, Kinder: Unrecht Gut tut nicht gut!«

Nun stand es fest: gleich nach der Schule wollte ich den Schwestern voraus heimspringen und das Geld wieder in den Papierkorb legen. Sicher, ich tue es!

Nach diesem Vorsatz fühlte ich mich etwas erleichtert. Doch rutschte ich noch immer unruhig auf meinem Bänkchen hin und her und konnte den Schluss der Stunde kaum erwarten. Und doch erzählte der Lehrer mit Begeisterung den Sieg der Eidgenossen über Österreich bei Sempach, und ich hatte ein warmes Blut für solche Geschichten.

»Die geharnischten Männer standen da wie eine Mauer, und Eidgenosse auf Eidgenosse fiel vor ihr,« erzählte Herr Philipp mit dunkler Stimme.

›Ach was,‹ dachte ich, ›ich bin ja auch übel bestellt!‹

»Da stürzt sich Winkelried in die Speere und begräbt eine Reihe in seiner Brust. Die blutigen Schäfte umfangend, sinkt er nieder und öffnet so dem Freund die Gasse.«

›Genau an das alte Plätzchen werde ich den Taler legen, halb unter den gelben Umschlag, meinetwegen gehe er dann verloren!‹ sann ich weiter.

»Und durch die Gasse hausen sich die Eidgenossen in den Feind und richten ein grosses Blutgericht über die stolzen Grafen und Ritter an.«

›Wenn ich damit fertig bin, ist mir erst recht wieder wohl,‹ erwog ich. ›Dann aber soll es eine wilde Bergfahrt mit den Kameraden geben!‹ Leise rückte ich zu Jakob hinüber und schrieb auf den Umschlag seines Heftes mit Bleistift: »Kommst du heute mit zum Tannensee?«

»Nein!« schrieb Jakob zurück.

»Warum nicht?« fragte ich unter seiner kurzen Antwort.

»Weil ich meinen Kaninchenstall fertig bauen will.«

»Das kannst du später tun.«

»Wer kommt mit?«

»Theodor!«

»Ich komme!«

»Um halb zwei Uhr beim Arresthäuschen!« notierte ich noch. Vom Turme schlug es eben zwölfe.

»So hatte Leopold Schlacht und Leben verloren,« endigte der Lehrer und winkte zum Schulgebet.

›Leopold?‹ machte ich leise bei mir, ›steht er nicht auch auf dem verdammten Fünffränkler in meiner Tasche? Der freche Kerl!‹ Deutlich erkannte ich jetzt, dass nicht ich, sondern dieser fürstliche Mann da mit dem schmalen, langen, bärtigen Gesicht der eigentliche Schurke sei. Dieser Glaube tat mir ausserordentlich wohl. Jetzt wollte ich erst recht nichts mehr mit diesem Silberbatzen zu schaffen haben.

Kapitel 3

Zu Hause warf ich rasch meine Bücher ins Schlafzimmer, das in einer stillen, kleinen Ecke des oberen Stockes lag. Dann lief ich zum Esstübchen hinüber, betrat es aber nicht vom Flur aus, sondern ging durch die grosse Stube, um erst mein Vorhaben auszuführen. Sonderbar, je näher ich dem Papierkorb kam, um so unschlüssiger wurde ich. Auf einmal, da ich mich nun von ihm trennen konnte, wurde mir das Geld wieder lieber. Hatte ich bisher sein hässliches Gesicht gesehen, so zeigte es mir nun die andere Seite, jenes reiche, glänzende, verheissungsvolle Antlitz, das tausend hübsche Sachen zu verschaffen versprach, besonders auch eine grosse Überlegenheit über meine Kameraden. Um dieses letztere war es mir am meisten zu tun, denn ich war sehr, sehr eitel und ehrgeizig.

Zögernd trat ich an den Korb und hätte den Taler wohl doch, wenn auch widerwillig hineingeworfen, als ich halb mit Schrecken, halb mit Freude bemerkte, dass der Behälter geleert war. Richtig, das geschah ja an jedem Samstag. Nun konnte ich doch unmöglich das Silber da hineinlegen. Das hätte jetzt keinen Sinn mehr. Was tue ich also?

Doch da war keine Zeit zur Erwägung. Paula, meine ältere Schwester, sprang zur Türe herein und rief: »So komm doch zu Tische! Die Suppe wird ja kalt!«

Mutter und Elschen sassen schon an ihren Plätzen.

Schnell grüsste ich die Mutter und forschte in ihrem Gesichte, ob sie wohl etwas von meiner bösen Heimlichkeit wüsste.

Aber die Frau mit dem dunklen Haar und den nur ganz in der Tiefe leuchtenden Augen sass so ruhig oben an der kleinen Tafel wie immer. Man konnte also einen Fünffränkler stehlen, darum ging doch alles im alten, behaglichen Geleise! Wie unnütz hatte ich mich geängstigt.

Ich durfte rechts von der Mutter sitzen, links sass Paula, die braune, und etwas tiefer Elschen, die dunkelbraune Schwester. Beides waren ziemlich stille, sanfte, kleine Mädchen von neun und elf Jahren. Sie waren so brav wie Mädchen nur sein können. Der Lehrer rühmte ihre Fortschritte und noch mehr ihr züchtiges Betragen. Der Mutter machten sie keinen anderen Verdruss, als dass sie beide etwas kränkelten und ihr daher nur noch teurer waren. Besonders Elschen hatte einen bedenklichen Winter durchgemacht und kaum zur Hälfte die Schule besuchen können.

Sowie ich mich niedergesetzt hatte, warf ich mich hungrig über die Suppe.

»Isst man so bei Christenleuten?« fragte die Mutter ruhig und sah mich ernst an.

Beschämt erhob ich mich, während meine Schwestern feinfühlig in den Teller blickten, um mir nicht weh zu tun. Dann begann ich stockend:

»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast,
Segne, was du bescheret hast! Amen.«

Eilig schlug ich das Kreuz und setzte mich wieder.

»Sei so gut und mache das Kreuz noch einmal!«

Ich errötete noch tiefer und bekreuzte nun vorsichtig Stirne, Mund und Brust, wie es Sitte ist.

Danach ward es stille am Tische. Man hörte nur das Hantieren mit Messer und Gabel, bei den Schwestern sehr leise, bei der Mutter regelmässig und mit jenem Ernst, mit dem sie das Gewöhnlichste tat; bei mir aber laut, klappernd und ungestüm, wobei die Unruhe wegen des Geldes mitwirkte.

Später erzählte die Mutter, indem die Magd eben Kartoffeln auftrug, wie gut sich diese Erdfrucht heuer hielte. Nicht eine sei bisher angefault. Auch der Most habe eine seltene Kraft, es sei doch ein gutes Jahr gewesen. »Heierli,« wandte sie sich dann zu mir, »du könntest diesen Abend der Barbara helfen, einen Korb voll Erdäpfel zu den Küfersleuten zu bringen. Schon gestern dachte ich daran.«

›Sie hat den Fünffränkler noch nicht vermisst,‹ dachte ich, ›sonst käme es ihr nicht in den Sinn, Geschenke zu machen.‹

Laut sagte ich nur: »Diesen Abend?«

»Ja, nach dem Nachtessen; es braucht's niemand zu sehen.«

Gegen Ende der Mahlzeit fragte sie mich wie üblich, was in der Schule vorgekommen sei. Ich erzählte den Kampf zwischen Jakob und Theodor. Es machte mir Lust, die Wut der beiden recht saftig zu malen. Je besser es mir gelang, ihre Schlägerei zu erschweren, desto leichter schien mir die eigene Schuld. »Sie haben sich,« eiferte ich, »an den Ohren und Haaren gerissen, Jakob hat geblutet und dem Theodor in den Arm gebissen. Es war nicht mehr schön!«

Immer trauriger schaute mich die Mutter während dieser Schilderung an. »Warum erzählst du das?« fragte sie schliesslich.

»Ich meine nur – weil – weil Ihr gefragt habt –; sie sind übrigens gestraft worden.«

»Aber – aber – aber,« sagte Elschen, das immer stotterte, wenn es zum Reden gedrängt wurde, »aber der Theodor hat dem – dem Lehrer gesagt: Ich habe angefangen! – Ja, – das hat den Mädchen gefallen.«

Sie lehnte sich nach dieser Bemerkung wieder in den Stuhl zurück und sah schrecklich bleich aus.

»Und dann sagte Jakob: Nein, Herr Lehrer, ich habe angefangen!« fügte Paula zaudernd hinzu und blickte darauf Elschen an. »Nicht wahr – das hast du noch vergessen?«

Elschen nickte bloss.

»Und du, Grosser, hast du denn das nicht gehört?« fragte die Mutter mich ernst.

»Ja schon! – Das war ritterlich.«

»Aufrichtig, willst du sagen!«

»Ja, aufrichtig!«

»Aber hat es dir denn nicht gefallen, das du es ausgelassen hast?«

Ich wusste nichts mehr zu sagen. Meine Augen röteten sich vor Hitze.

»Also wenn die Buben etwas Wüstes tun, erzählst du es deiner Mutter; aber das Schöne verschweigst du!«

»Lasst Ihr mich nur ausreden, Mutter, ich hätte vielleicht –«

»Aufrichtig sein, Heierli, aufrichtig gegen mich!« warnte die Mutter mit einer fast feierlichen Stimme.

Ich senkte die Augen. ›Was meint sie wohl?‹ dachte ich ganz erschüttert von diesem eigentümlichen mütterlichen Tone. ›Weiss sie am Ende doch?‹ Mir wurde wieder unbehaglich und unsicher zumute. Ich tastete mit der Hand über die Hosen und fühlte das Geldstück noch in der Tasche. Dann blickte ich wieder auf und bemerkte, dass die Augen meiner Mutter mit einem unnennbaren Ausdruck auf mir ruhten. ›Sie liest mich wie ein Buch!‹ dachte ich. Tiefer beugte ich mich nun über den Teller, aber aller Appetit war mir vergangen, obwohl es Äpfel, und zwar meine Lieblingsäpfel, die rundum roten Weinbächler waren, die Barbara zum Nachtisch auf den Tisch trug.

Kurz vor dem Aufstehen fragte die Mutter wie zufällig: »Hat keines von euch etwas gefunden?« Dann schaute sie ruhig von einem Gesicht zum andern hinüber.

›Jetzt gilt's!‹ dachte ich.

Meine Schwestern schüttelten den Kopf. Ich aber nahm alle meine Unverfrorenheit zusammen, schaute die Mutter möglichst unbefangen an und sagte mit erkünstelter Lässigkeit: »Gefunden? Ich finde nie etwas, ich kann nur verlieren!« Ich lachte laut dazu. Heimlich staunte ich über den guten Ausweg, den ich da aus dem Stegreif erlistet hatte.

»Ihr wisst, Mutter,« fuhr ich fort, »da hab' ich noch letzte Woche den Kapselrevolver verloren.«

Die Mutter lehnte sich in den Lehnstuhl zurück, schloss die Augen ein bisschen und sagte. »So etwas kann man wieder kaufen; aber,« hier hob sie den Finger, »wenn du mir etwas verlierst, was man nicht mehr kaufen kann?«

»Was habt Ihr denn verloren, Mutter?« schrien nun aus einem Munde die Schwesterchen. »Was, das man nicht mehr kaufen kann?«

»Ich fürchte, so etwas!« erwiderte die Gefragte wehmütig.

»Gibt es denn so etwas?« mischte ich mich ein. Ich verstand die Worte der Mutter nicht. Aber ich hatte eine Ahnung, dass es sich um etwas handle, was mit dem Fünffränkler zusammenhänge. Nicht um den Fünffränkler selber, sondern um etwas viel Grösseres.

»Wenn ich zum Beispiel dich verlöre, so hätte ich etwas verloren, was ich mit keinem Gelde wieder kaufen könnte.« Das sprach die Mutter so einfach, so ruhig und darum so ergreifend, dass ich im innersten Wesen erbebte.

»Mich wirst du nie verlieren,« rief ich, dem Weinen nahe, ohne zu denken, dass ich im Begriffe war, der Mutter schon jetzt ein Stück von mir zu nehmen.

»Wir wollen beide acht geben!« ermahnte sie. »Doch was ist mit Elschen?« fragte sie rasch mit einem Blick auf den noch halbvollen Teller der Kleinen.

»Ich kann nicht fertig essen,« sagte Elschen, »es ist mir schwindelig.« Elschen hatte sich wacker bemüht, die Speisen hinunter zu bringen, ich hatte es wohl gesehen. Aber es gelang nicht.

»Leg' dich ein wenig aufs Sofa!« sagte die Mutter.

Leise schlich ich unterdessen in mein Zimmer und schnallte mir die Schlittschuhe an. Als ich die Treppe wieder hinunter stieg, rief mir die Mutter von oben her nach: »Um sechs Uhr wirst du zurück sein!«

»Sicher!«

Sie kam einige Stufen herunter und fragte sanft: »Brauchst du kein Geld? Die andern werden wohl zum Vesperbrot etwas kaufen.« Hierbei griff sie in die Tasche.

»Nein, ich will kein Geld, ich brauche keines,« schrie ich unmässig aufgeregt und stürzte zur Türe hinaus. Draussen überliefen mir die Augen vor Scham und Reue. Meinem Gefühl nach mussten sie ganz feurig sein. Während ich den Schlitten aus dem Holzschopf zog und damit die Hauptgasse hinunter eilte, strich ich bald da, bald dort Schnee vom Hag, und legte ihn auf meine brennenden Lider. Ebenso suchte ich meine innere Aufregung durch gute Vorsätze zu beruhigen.

›Ich werde den Fünffränkler niemals ausgeben,‹ beteuerte ich; ›so wie er ist, will ich ihn behalten. Für die Mutter werde ich ihn gleichsam aufbewahren. Jedes Jahr lege ich fünfundzwanzig Rappen dazu. So viel betragen ja doch die Zinsen, wie uns Philipp Korn letzten Sommer gelehrt hat. Und alles soll der Mutter gehören. Wenn es zwei Fünffränkler sind, gebe ich das Geld zurück. Dann ist alles Schlimme daran vergessen. Man sieht dann nichts Gestohlenes mehr, man sieht nur noch zwei Fünffränkler.‹

Dennoch war ich nicht gänzlich befriedigt.

Der Weg führte mich an der Metzgerei vorbei mit ihren rotbraunen dicken, glänzenden Würsten, dem geräucherten Schinken, dem harten Schlegel Büdnerfleisch, das ich besonders liebte, und mit den langen, in Silberpapier und verknotete Schnüre eingebundenen Salami. Wie das alles hinter den blanken Fenstern lockte! Daneben stand eine Zuckerbäckerei mit Eierküchlein, Leckerli aus Basel, Zimtsternen, Zwieback und Apfelfladen. Zu ebener Erde ging es weiter in den Laden der Witwe Ilsig, Josephs Mutter, hinein. Hier sah man Spezereien aus Arabien und Indien, wie der Nachtwächter oft versicherte, wenn er der Witwe ein Gläschen Nusswasser abschmeicheln wollte. Wächst so was wirklich in Indien, so beneidete ich die dortigen Buben, die auf dem Schulweg das Köstliche gleich von den Ästen pflücken können. Jedenfalls blüht in ganz Lachweiler kein Geschäft so wie das der umsichtigen Witwe, und das geflügelte Wort des Nachtwächters wurde berühmt, dass weder im Kirchensäckel, noch in der Gemeindetruhe so viel Geld aus– und einfliesse, wie in die Krämerlade der Friederike Ilsig–Fahnder.

So oft ich an ihren Scheiben vorbeiging, packte mich ein verzehrender Appetit nach diesem Kanaan der Wittib. Ich wünschte mit dann wenigstens so ein grosses Geldstück, dass ich einmal eine ganze sechsteilige Schokoladenplatte oder einen Sack voll Haselnüsse kaufen könnte. Sonderbar, jetzt hielt ich in der Tasche eine Münze umklammert, womit ich mir ein volles Dutzend solcher Schleckwaren verschaffen konnte, und verspürte doch nicht die mindeste Begehrlichkeit. Wenn nicht mit deutlichem Ekel, so ging ich doch mit voller Gleichgültigkeit am Laden vorüber. Niemals wollte ich die Münze aus Begehrlichkeit münzen, niemals!

Am Arresthäuschen warteten Jakob, Theodor und Joseph bereits auf mich und vertrieben sich die Zeit damit, Schneeballen nach dem Kamin des Schmithauses zu werfen. Jakob traf ziemlich nahe, Theodor fuhr weit darüber hinaus und Joseph erreichte kaum das untere Dach.

»Langweiliger,« zürnte Jakob, »nun einmal vorwärts!«

Kapitel 4

Wir nahmen den Weg hinten um das Dorf herum durch einen Feldweg auf den nahen Funkenbühl und von da weiter die langen Halden empor zu den tannbestandenen Höhen des Melzberges. Wir trugen weder Mantel noch Mantelkragen, nicht einmal eine Jacke, sondern jeder hatte sich um die Weste ein fest aus selbstgesponnenem Garn gewirktes Wams wie einen biegsamen Harnisch umgetan, worin man nie fror, aber zu allen Streichen gelenk war, fast mehr als in der Sommerbluse. Um leichter zu steigen, zogen wir die Schlittschuhe ab und banden sie auf den Schlitten.

Der Schnee lag, je weiter wir kamen, um so höher auf dem Boden; aber er war fest gefroren. ein hoher Nebel hing über der Gegend und verschleierte den Himmel wie ein feines, graues, von der Hügelkette in die weite Fläche hinausgesponnenes Gewebe. Eine dunkelbraune, kleine Wolke kroch quer darüber, gerade wie eine Spinne, die über ihre Fäden füsselt. Unser Dorf war von da oben im weissen Schneekleid ganz anders als im übrigen Jahr anzuschauen. Die Häuser schienen verschoben, in ihrer Grösse und Höhe verändert. Der Schnee, der auf allen Dächern mit der gleichen Farbe und Schwere ruhte, hatte alle Unterschiede sozusagen ausgewischt. Nur das Kirchendach, steil und hoch wie es war, ragte auch jetzt noch über die andern Dächer hervor. Die Luft war ruhig und kalt. Die fernen Gehölze in der Ebene trugen keinen Schnee mehr und sahen verwaschen aus, ohne eine bestimmte Farbe. Je weiter wir über unser Dorf hinausschauten, desto grauer wurde die Farbe des Schnees, bis sie an irgendeinem unsichtbaren Saume mit dem grauen Himmel unlöslich verschmolz.

Jedoch, auf dies alles gaben wir jetzt wenig acht.

Nach langem erreichten wir endlich die Höhenwaldung. Zwischen den dichtgestellten Bäumen war der Schnee nicht hoch und nicht hart. Wie aus einer Stube wehte uns die warme Luft entgegen. Die Stämme dampften und rieselten von Feuchtigkeit, und der Duft ihrer harzigen Nadeln stieg uns kräftig in die Nasen. Mitunter fiel eine Handvoll Schnee von einem Ast herunter. Eine solche Bescherung traf Joseph ins Genick, so dass er aufschrie. Wie unbarmherzig lachte ihn Jakob aus!

Stets dämmeriger wurde es im Gehölze, immer stiller, immer feuchter. Wir mussten hintereinander gehn, so schmal war der Durchpass. Theodor schritt voraus. Er allein hatte Kniestrümpfe an. Wir anderen schnallten die Hosen unten an den Schuhen mit einer Schnur, wovon wir immer die Taschen voll hatten, wasserdicht zu.

Nur die Fusstapfen eines einzigen Menschen gingen uns voraus. Wer mochte hier allein gegangen sein?

»Wenn jetzt Räuber kämen oder Zigeuner oder anderes Diebsgesindel!« machte Joseph.

»He! – Habt ihr gesehen, wie der Heierli erschrocken ist?« lachte Jakob.

Ja, ich war bei dem Worte Diebsgesindel zusammengefahren, es ist wahr. Aber nicht vor den Dieben da aussen in den Wäldern, sondern vor dem Diebe in mir hatte ich Angst.

»Beruhigt euch!« foppte uns zwei der heillose Kronenwirt, »das war wenigstens kein Mann, so kleine Schritte!« Er bog sich zu den Fusspuren nieder und versuchte dann, seine Schritte in die engere Spanne jener unbekannten Füsse zu zwängen, was äusserst drollig anzusehen war. »Ach was, ich merke, das sind Mädchenschritte!«

Ich hatte mich indessen gefasst und sagte zu Jakob: »Vor Dieben fürchte ich mich wahrlich nicht. Ja, ich glaube, es gibt Diebe, die gar nicht so schlecht sind.« Mir war, das Wort Dieb müsste von seinem garstigen Klang verlieren, wenn die Kameraden mir beistimmten. »He, was meint ihr?«

Theodor raffte eine Scholle Schnee auf und warf sie hintenüber, ohne zu beachten, wen sie treffe.

»Lass das bleiben!« drohte Jakob.

Theodor lachte nur.

»Was meint ihr also?«

»Jeder Dieb ist ein schlechter Mensch! Pfui doch!« Theodor spuckte verächtlich aus, stand dann aber doch still und prüfte recht bubenhaft, wie tief er in den Schnee gespuckt habe.

»Die Holzmarie stiehlt zum Beispiel,« rief Joseph.

Dieses freche, wilde und arme Mädchen genoss wirklich den übeln Ruf, nicht bloss Obst und Holz im Freien, sondern auch mancherlei Geräte aus fremden Stuben gestohlen zu haben. Wieviel daran wahr war, wusste ich freilich nicht.

»Ja, die!« begann Theodor lustig, »sie stiehlt gar nicht so gross! Federn und Griffel etwa, und mir hat sie einmal einen Gummi stibitzt, den ich aber schon ganz abgerieben hatte. Mag sie ihn doch behalten! Das ist alles nicht so schlimm! Aber es geht doch nur darum schon kein Mädchen mehr mit ihr, und niemand traut ihr über den Weg.«

»Möchtest du nun eine solche Schwester haben, Heierli?« fragte mich Joseph triumphierend.

Die Blutröte stieg mir ins Haar hinaus. Sie war eine Diebin, ich war ein Dieb, waren wir da nicht Geschwister?

»Friss sie nur nicht gleich, Kleiner,« sagte Jakob darauf zu Joseph, und sein blaues Auge blitzte wunderbar gescheit auf. »Es kann jemand stehlen und doch gar nicht verdienen, dass man nach ihm speit. Ich kann mir das leicht vorstellen.«

»Nicht wahr? Ja, ja,« rief ich erfreut über diese Hilfe. Es wurde mir wieder ganz leicht, so wenig brauchte mein Gewissen, um sich zu beruhigen.

»Wenn zum Beispiel einer am Verhungern ist,« setzte Jakob stirnrümpfend fort, »und gerade neben Theodors Haus vorbei will, wo sie Brot backen und auf dem Gesimse verkühlen. Die Bettlerin klopft und bittet um ein wenig Brot. Da jagt man sie weg!«

»Das tun wir nicht,« widersprach Theodor eifrig.

»Man jagt sie weg,« fuhr Jakob boshaft fort, »Theodor schlägt ihr die Türe vor der Nase zu.«

»Nein, – oder? Vielleicht! Je nachdem!« antwortete Theodor und warf die volle Lippe auf. Es dünkte ihn plötzlich grossartiger, kein Mitleid zu verraten.

»Da geht das Weib um die Ecke und sieht die Brote auf dem Gesimse. Wie sie dampfen! Der Geruch – ha! –«

»Du meinst euere ›Kronenbrötchen‹, Mehlbube,« höhnte der Walomer wütend.

»Der Geruch,« fuhr Jakob beharrlich fort, »steigt dem Weibe in die Nase, – Bauernbrot! – potztausend, das ist doch dreimal besser als das Gebäck der ›Mehlbuben‹ –« Hier fiel der Rex aus der Rolle. Nicht imstande, den Schimpf länger zu ertragen, versetzte er mit der Faust dem vorausgehenden Theodor einen schweren Stoss in die Seite.

»Zurückgeben ist Gott lieb!« sagte der Walomer und erwiderte den Stoss. Aber Rex wich geschickt aus, und Theodor fiel durch die eigene Heftigkeit gerade vor Jakobs Füssen aufs Knie. Einen Augenblick schwankte der Kronenwirt, ob er sich auf ihn werfen wolle. Aber er bezwang sich; diesmal wollte er anders siegen, mit Witz und Geist. –

»Also die Bettlerin sieht das Brot, flink wie alle Diebe nimmt sie gleich das schönste vom Laden und streicht damit um die Ecke. Nun hat sie drei Tage zu essen. Sonst wäre sie verhungert. Das ist eine ehrliche Diebin gewesen, sie mag wohl Holzmarie heissen.«

»Ja, da darf man sicher stehlen«, bestätigte ich kleinlaut. »Aber auch sonst noch.«

»Ich würde sie aber doch durchprügeln,« drohte der Walomer, die Fäuste ballend. »Und die, die ihr helfen, gleich auch dazu! Verstanden?«

»So, so, würdest du?« spottete Jakob.

»Ich habe jetzt nachgedacht, – ach, so streitet doch nicht immer!« flehte Joseph mit seiner kindlichen Stimme, »ich weiss noch einen solchen Fall. Der Schreiner, ihr wisst, der Vater von unserem lieben Valentin selig, hat seinem Gesellen fast keinen Lohn gegeben und immer noch am Samstag etwas davon für Tabak oder sonst was abgezwackt. Bei Tisch bekam er nie genug zu essen.«

»Das weiss man ja,« unterbrach Theodor, »was dann?«

»Nur Geduld,« bat Joseph, der sehr gut erzählte, wenn man ihm Zeit liess, »der Geselle hat nun oft in der Küche nachts Brot abgeschnitten und ein wenig Speck dazu gelegt, hie und da auch etwa ein Fränklein aus der Schublade genommen –«

»Das durfte er,« sagte ich.

»Ja, das Gericht hat ihn freigesprochen,« fügte Joseph hinzu.

»Nein, es hat den Fall einfach – ver – verkaress – verkat – ach was, wie sagt man nur –« Theodor kam nicht weiter.

»Kassiert!« verbesserte Jakob ruhig; ihm waren solche Wörter vom Gespräch an den Wirtstischen her vertraut.

»Ja, kassiert!« wiederholten wir.

»Was ist denn das?« fragte der Walomer finster. Jedes gelehrte Wort machte ihn böse.

»Es hat kurz und gut die Klage abgewiesen, – pack dich, Schreiner! Der Valens selig hat auch oft gehungert, wenn er schon so rotbäckig aussah.«

Valens war unser liebster Kamerad gewesen und letztes Jahr, als er sich mit uns die Ohren und das Haar mit Kirschen überhängt hatte, im roten Sommerschmuck vom Baume gefallen und alsogleich vor unseren Augen verschieden, ohne sich nur zu mucksen. Wir konnten ihn nicht so leicht vergessen.

»Aber den Gesellen hätte ich doch durchgeprügelt«, betonte Theodor wieder, »er konnte mir klagen, dass er hungere –«

»Nein, du grosser Prügler, es war erlaubt!« herrschte ihn der Kronenwirt an. –

Mildes Licht brach herein durch die obersten und hintersten Stämme des Forstes. Bald mussten wir also die Höhe erreicht haben. Die Helligkeit, die von der anderen Seite kam, schien sich vor dem dichten Walde fast zu fürchten und nur wenig vorzuwagen.

»Aber wenn zum Beispiel der Joseph auf der Strasse einen Zwei- – einen Fünffränkler fände,« setzte ich das vorige Gespräch fort, indem mich das Vorige durchaus nicht beruhigt hatte, »und du würdest – sei still! – du bist es ja nicht, – ich sage nur so zum Beispiel –«

»Nimm einen andern, – ich mag das nicht hören!« flehte Joseph.

»Also du, Theodor, wärest das gewesen und würdest das Geld nicht –«

»Ich will nichts damit zu tun haben, äh, – solche Diebereien!«

Immer verzagte wandte ich mich nun an Jakob. »Nimm an, nimm bloss an, du sähest ein Silberstück dem Ammann aus der Tasche auf die Strasse fallen. Du hebst es auf, es gefällt dir je länger, je besser. Es wäre ein ganz anderer Fünffränkler als die übrigen, – ich meine runder, silberner, ach, – wie sag' ich's nur? – mit einem ganz fremden Bild darauf und anderen Buchstaben –«

»Eine alte Münze!« erklärte Rex.

»Ja, eine alte Münze, und du wollest sie behalten, weil sie dir so gut gefällt, du gäbest sie nicht mehr – einstweilen – nicht mehr zurück!«

»So, ich gäbe sie nicht mehr zurück?« fragte Jakob drohend und sich mir nähernd.

»Hab' ich gesagt, du wollest sie stehlen? Du willst sie nicht verkaufen oder ausgeben, nur weil sie so schön und selten ist, wolltest du sie ein wenig behalten?«

»Einen Fünffränkler behalten? Probier' und sag' das noch einmal!« rief Rex entrüstet und hob den Arm.

»Das ist so gut wie gestohlen!« rief auch Theodor.

»Schwer gestohlen!« echote Joseph.

»Ihr versteht mich ja nicht, so hört doch!« eiferte ich in einer wahren Verzweiflung.

»Nichts da, ich würde schon einen Fünfräppler zurückgeben,« betonte Jakob.

»Und nun erst einen Fünffränkler!« rief Theodor, »Heierli, bist du toll? Du lehrst uns hübsche Sachen! So ein Dieb, was denkst du denn eigentlich?«

»Reden wir nichts mehr von diesen Diebsgeschichten, das geht uns ja nichts an!« sagte Jakob. »Seht, da sind wir gleich auf dem Grat! – Juhe!«

Ich verstummte. Aber mir wurde nun so trostlos schwer, als wöge der Taler in der Tasche einen Doppelzentner. Mit Mühe stieg ich die letzte Erhöhung bergan. Gottlob, nun waren wir auf der Höhe und durften verschnaufen.

Siehe, da wurde von der anderen Seite herauf ein Kopf mit übelsitzender Kapuze sichtbar, nun das Haar, das wild unter dem Tuche hervorhing, jetzt ein rotes, freches Mädchengesicht von derber Schönheit, das aber sogleich eine ängstliche Miene annahm, sobald es uns gewahrte. Das grosse, schlanke Mädchen trug einen mächtigen Haufen Reisig auf der Schulter und hatte noch die Schürze voll kurzer, dicker Bengel.

Wir Buben schauten uns überrascht an, das war ja just die Holzmarie.

»Hast wieder einmal Holz gestohlen,« machte Theodor gutmütig, als sie zwischen ihm und Jakob vorbeiging. Sie presste die Lippen aufeinander, ihre Stirn wurde dunkelrot, nur Scheu blieb auf ihrem Antlitz in diesem Moment bestehen, nichts von Frechheit oder Trotz. Hastig ging sie in den Wald hinunter, woher wir gekommen waren, und zog im Vorübergehen die Achseln ein, als fürchte sie, hinterrücks geschlagen zu werden.

»Vorwärts!« befahl Jakob, der das Mädchen keines Blickes gewürdigt hatte. »Was geht uns die an?« Kräftig riss er Joseph vor sich her.

Nun ereignete sich etwas Seltsames. Sobald nämlich Theodor sah, wie Jakob ihm den Rücken kehrte, würgte er einen ungeheuren Apfel, eine Goldreinette von wunderbarer goldbrauner Farbe, aus dem Hosensack, hustete verlegen und warf den Apfel in einem wohlgezielten Bogen über den Kopf des eilenden Mädchens voraus in den Schnee. Die Holzmarie blickte verblüfft zurück, sah Theodor freundlich winken, bückte sich und schaute, während sie die Hand mit dem Apfel wie dankend an den Mund legte, noch einmal lachend zu Theodor. Auch er lachte nun still. Dann eilte sie und verschwand in der waldigen Tiefe.

»Aber Thedi,« sagte ich fassungslos, »was zum –«

»Pst!« Der Bursche legte mir seine rotgeschwollene Hand auf den Mund. »Willst du gleich schweigen, oder! – Der Rex da vorne soll mich nicht auslachen!«

Die Aussicht auf die hintere Seite ging in ein ziemlich schmales Tal und an einen dem unsrigen ebenbürtigen, gleichlaufenden Hügel hinüber. Die Mulde dazwischen füllte zur Hälfte ein kleiner, fischförmiger See. Mitten in den Schneefeldern und zum Teil in der niedrigen Fichtenwaldung lag er grauschwarz und hart da, wirklich wie ein toter Riesenfisch.

»Er ist gefroren, seht!« schrie Theodor voll unbändiger Freude und setzte sich schnell auf den Schlitten.

Im Nu hatten wir die Schlittschuhe angezogen und fuhren geschickt zwischen den wenigen Bäumchen auf dem gefrorenen Schnee den Abhang hinunter. Es war ein wunderbares Jagen. Zuerst ging es sanft wie auf einem Kissen abwärts; dann wurde die Fahrt steil und so rasch, dass man wie auf einem wild gewordenen Rosse der Sache den Lauf lassen musste. Büsche und Strünke sausten wie Schatten an uns vorüber. Die Luft peitschte uns förmlich ins Gesicht und füllte das Ohr mit Brausen. Von unserem Schlittengeklingel und Hurragebrüll stoben die Krähen aus den Bäumen, aber wir liessen sie weit hinter uns zurück: die Krähen, den Wind, ja sogar die Zeit. Selbst mein böses Gewissen schien zurückgeblieben zu sein. Nichts betrübte mich in dieser Minute, als der Gedanke, dass der See immer näher rücke und dieser Schlittenspass zu Ende gehe. Weit unter mir sah ich einen dunkeln Punkt. Das war Theodors fliegender Mützenzipfel, der eben eine scharfe Halde hinuntertauchte. Von Jakob, der den Gegner überrannt hatte, sah ich gar nichts. Hinter mir folgte Joseph, doch hörte ich ihn nicht vor den brausenden Ohren und dem Sausen meines leichten, vorn stolz geschnäbelten Davosers.

O wunderbares Vergnügen auf dem Schlitten! Schöner kann nur noch das Fliegen sein.

Jeder von uns erzählte am Seebord, indem er seinen Schlitten wie ein braves Pferdchen strich und oft nach Atem rang, wie fein das gewesen sei, wie es ihn am sogenannten Stachelbuck über die querliegenden Stämme geworfen habe, wie er aber famos das Gleichgewicht behalten und darauf die Strasse mit den zwei breiten Gräben glatt überflogen habe. Besonders aber der Stachelbuck, ja, nicht jeder andere würde –!

»Aber ich fasste meinen Hengst am Gebiss,« fabelte Theodor eifrig, »hockte mich fest und rief: heda, oder ich –!«

Jakob lachte nur. Er trug am wenigsten Schnee an den Hosen; er hatte also die Füsse fast nie gebaucht; unzweifelhaft war er am besten gefahren. Doch damit prahlte er nicht, das verstand sich doch für ihn von selbst.

Wir banden die Schlitten wie Pferde an einen Weidenstamm und tasteten uns vorsichtig durch das Schilf auf den gefrorenen Seespiegel hinaus. Wo das Schilf wegen der Tiefe aufhörte, hackte Jakob ein Loch ins Eis, um die Dicke der Decke zu messen. Doch Theodor schwenkte die Arme und warf das Bein zu einem prächtigen Anlauf zurück, als wollte er allein die weite Fläche nehmen.

»Halt!« befahl Jakob, »wir müssen doch wissen, ob uns das Eis trägt.«

»Zehn Zentimeter müssen es sein,« betonte Joseph.

»Sechs und die andern für Hasen!« hänselte ihn Jakob.

»Das sind Dummheiten,« erklärte Theodor, blies in die Backen und flog hinaus.

»So versauf, du Narr!« machte Jakob und bohrte noch ein Weilchen weiter. Plötzlich gab er es auf und meinte mit jenem vornehmen Tone, mit dem er am Morgen sich schuldig bekannt hatte: »Ach was, wir wollen's nicht besser haben als der Grosse!« Sprach's, schwenkte die Arme wie eine Schwalbe, wenn sie vom ebenen Boden auffliegen will, bog seine schlanke Figur halb vor und glitt nun mit einem leisen, feinen eisernen Geräusch in die dunkelnde Eisscheibe hinaus. Doch nahm er eine andere Richtung als Theodor.

»Wir wollen hier fertig bohren«, sagte Joseph, der dem gefrorenen See noch immer nicht recht traute. Binnen kurzem sickerte Wasser durch das vertiefte Loch herauf. Das Eis ging tiefer als mein Mittelfinger.

»Also doch ganz sicher«, sagte ich getrost, setzte mit den Schienen ein und zog frischweg in die Mitte hinaus.

Kapitel 5

Die Ufer wurden kleiner hinter mir, die Schilffelder verdünnten sich zu einer hellbraunen Linie, während das jenseitige Bord wie durch ein Vergrösserungsglas wuchs und immer deutlicher seine schwärzliche, von Stoppeln und Stauden spärlich bekleidete und von sumpfigen Wässerchen durchschnittene Figur enthüllte. Doch fuhr ich nicht näher, sondern nahm nun den Weg durch die Länge des Sees hinab. Im Schlittschuhlauf war ich unbestritten der erste von den vieren, sei es wegen der leichten und zähen Gestalt, sei es weil ich diese Kunst von früh an mit Leidenschaft geübt hatte. Immer rascher zog ich aus, immer heftiger nahm ich den Ansatz. Mir schien, ich fliege wie eine Seemöwe. Ein unbeschreibliches Behagen erfüllte mich. Das Gefühl, dass wir nur durch unsere Kraft und Geschicklichkeit so vogelleicht dahinschwebten, wirkte in uns eine unsägliche Freude aus, die sich nicht anders als in kurzen, grellen Schreien Luft machen konnte.

In dieser – ich kann nicht anders sagen – Berauschtheit meines zwölfjährigen Herzens raste ich den ganzen See wieder hinauf bis dorthin, wo er seine Fischflosse leicht seitwärts kehrt. Dieses kleine Stück See bildet gleichsam eine Bucht, die man vom offenen Wasser aus nicht erblickt und in die sich der Melzbach als Abfluss des obern Tales ergiesst. In meinem Ungestüm war ich fast bis an das Schilf gefahren, als es mit einem Male unter mir krachte und sich zwischen meinen Beinen ein schneeweisser Riss bildete.

Gleichzeitig hörte ich das Gurgeln des Melzbaches, der ganz nahe unter der Eisdecke vom See aufgeschluckt wird.

Da fiel mir als erstes ein, dass der See hier, wo ich stand, tief und das Eis wegen des bewegten Wassers sehr schwach sein müsse; mich dünkte schon, indem ich das bedachte, das die ganze Decke unter mir leise schwanke. Unverzüglich drehte ich mich, um zurückzufahren. Aber da krachte es zum zweitenmal und noch viel stärker, der Riss wurde breit wie ein Band und erschien jetzt grünlich, und hundert Verästelungen zweigten sich unter leiserem Geräusch, das wie ein Knirschen klang, von diesem Hauptast vorne und rückwärts in jener halb weissen, halb bläulichen Zeichnung ab, die jeder kennt, der schon einmal über gefrorene Gewässer fuhr. Die ganze Fläche drohte zu zerstücken. Ich fühlte sehr wohl, dass beim nächsten Schritt alle diese Stücke auseinanderreissen müssten.

Ohne weiteres Besinnen warf ich mich platt auf den Bauch, wie ich das aus den Erfahrungen der besten Schlittschuhläufer wusste. Noch einmal bei dieser Bewegung krachte es stark, dann nahm das unheimliche Geräusch ein wenig ab. Leiser wie von kleinen Scherben oder einer feinen Schraube tönte es unter mir. Ich schob, so behutsam und so weit als ich nur konnte, meine Beine und Arme auseinander, um die Last auf dem Eise zu verteilen. Meine Stirne dampfte von Angstschweiss. Wie ein Glockenschwengel an seine Erzschale, so schlug mir das Herz gegen die brüchige Eisdecke, auf die ich es presste.

Bis jetzt hatte ich keine Zeit für die Angst gehabt, nun aber hatte die Angst, die schauerliche Angst, genug Zeit für mich. Sie erfasste mich von oben bis unten wie eine Erstarrung, sie glich auf ein Haar dem Tode selber.

›Ich werde ertrinken!‹ sagte ich zu mir. Das war mein erster klarer Gedanke.

Doch gleichzeitig rutschte ich mit dem Instinkt des Lebens, das sich rauh oder schlau um jeden Preis erhalten will, sachte ein wenig vor. Es krachte stärker im Eise, und ich hielt inne.

Aber das tat ich unbewusst, und alle Geschicklichkeit, womit ich zuerst die Knie, dann die Arme, nun den Bauch vorschob und mit den Füssen sozusagen nachkroch, und alle Schlauheit, womit ich mich beim neuerlichen Krachen still zusammenduckte wie eine von der Katze berührte Maus, mich gleichsam tot stellend, ich sage, alles das war von mir weder bedacht, noch erkannt.

›Ich werde versinken,‹ wiederholte sich in mir klar der frühere Gedanke, ›und ich versinke allein wegen der gestohlenen Münze.‹

Immer tiefer fühlte ich die Decke sich neigen und ich war fest überzeugt, das Gewicht des gestohlenen Geldes drückte mich so schwer nieder. Indem ich wieder zu rutschen versuchte und sich dabei das Knistern und leise Klirren unter mir mehrte, schwor ich bei mir: ›Wenn ich da heil wegkomme, so laufe ich sofort heim und erzähle der Mutter alles uns lasse mich abstrafen. O gerne, gerne, wenn ich nur da wegkomme!‹

Wieder kroch ich ein wenig vor, und diesmal war ich nun mit Aug' und Seele dabei.

Das Eis unter mir war wie Glas. Bald mehr blau, bald mehr grün, aber immer unheimlich dunkel blickte das Wasser darunter herauf. Wie tief das sein muss und wie morastig im Grunde! Mir deuchte, ich sehe einen Fisch heraufschwimmen, sich drehen, das Maul aufsperren und kopfüber wieder verschwinden. ›Ah, ah, der geht und sagt es den andern, dass sie Besuch bekommen!‹ blitzte es mir knabenhaft durch den Kopf.

›Aus solcher Tiefe wird man mich mit langen Stangen und Haken herauffischen. Endlich bleibe ich mit dem schmutzigen Wams an einer Gabel hängen. Der Landjäger, der zugleich Sargträger ist, wird mich mit dem Nachtwächter auf die Bahre legen, und da fällt das Geld heraus. Gott im Himmel! Es fällt auf die Strasse, jedermann sieht es, auch der Lehrer, auch Jakob und Theodor, auch Agnes.‹

›Dem ist recht geschehen,‹ würde der Landjäger sagen, ›seht, er hat ja einen Fünffränkler gestohlen!‹

Wenn das alle Leute hörten und Jakob und Theodor einander anschauten und flüsterten: ›Aha, darum hat er soviel für die Diebe geredet, der Dieb!‹ – o dann würde ich mich auf der Bahre noch schämen und, wenn ich könnte, sagen: ›Legt mich auf das Gesicht, ich kann euch nicht ertragen.‹

Gar oft hatte uns der Kaplan gesagt, in der Todesgefahr solle man das Auge ganz für die Erde schliessen und nur noch ins Ewige blicken. Man müsse sogleich heiss um einen guten Tod beten. Und wir Schüler alle hatten das begriffen und für sehr leicht gehalten. Nun aber konnte ich gar nicht an die Überwelt sinnen. Mit doppelter Inbrunst musste ich nun erst recht an dieses so schöne, so gute und so junge Leben denken, das jetzt nur noch an einem Faden hing. Ich wollte beten, aber für ein gutes Leben, nicht für einen guten Tod.

Aber statt eines frommen Spruches kam mir, ich weiss nicht wie und warum, der Vers vom Morgen in den Sinn:

»Mit Arm, mit Fuss er rudert und ringt,
Der schwere Panzer ihn niederzwingt.«

›Jetzt ist es sicher, ich muss ertrinken! Deswegen hat man gerade heute dieses Gedicht gelesen und deswegen habe ich gerade diesen Vers vom Ertrinken hersagen müssen. O, – nun muss ich beten. Vater unser, der du bist im Himmel!‹

Wieder rutschte ich ein bisschen. Aber nun krachte es so entsetzlich, dass ich gleich mäuschenstill auf dem Fleck blieb und die Augen schloss, als wollte ich das Eis betrügen, oder wie so oft den Lehrer, wenn ich, bei einer Unart von seinem Auge ertappt, lammfromm vor mich hin ins Buch starrte: ›Herr Lehrer, ich bin's nicht gewesen.‹

Dann wieder wollte ich aufschreien. Doch wozu? Niemand konnte mich hier hören.

›Vater unser, der du bist im Himmel!‹ fing ich wieder an. Dabei dünkte mich, ich werde nass, wahrhaft, Wasser sickerte durch die gerissenen Spalten herauf.

Es hilft nichts, ich muss wieder rutschen! Ich klebte mich nun mit den Händen gleichsam an das nasse Eis und zog mich dann, ohne die Knie zu stellen, wie vorher, gestreckten Leibes einen Zoll weit vor. Wieder probierte ich es, indem ich die Arme so weit es ging, reckte, und siehe, es knisterte bei jedem Versuch weniger durch das Geäder des Eises. Wie ein Wurm wand ich mich so Zoll für Zoll vorwärts. Deutlich fühlte ich den Boden unter mir fester werden, die Spalten verloren sich. Zitternd versuchte ich es nun wieder mit den Knien, es ging. Nach einigen Minuten unendlicher Bangigkeit war ich schon vier Meter weit gekommen. Nun zog ich langsam und leise das eine Knie, dann das andere gegen den Bauch, erhob mich auf die Ellbogen und stand auf. Die Beine zitterten mir wie zwei Halme. Zurückblickend gewahrte ich einen trüben Wassertümpel an der Stelle, wo ich gelegen hatte. Ergrausend nahm ich einen Ansatz und jagte den See hinaus. Als könnte die Spalte mir folgen, unter meine Schuhe fahren wie ein Blitz und mich nochmals gefährden, raste ich unaufhaltsam über das Eis. Dabei war mir immer noch, ich liege mit den heissen Wangen auf dem Eis und höre das unterirdische Bohren und Knistern. Der Kopf tat mir weh, unter meiner Schläfe summte und brummte es wie von einem Neste Hornissen. In kleinen Bächlein rieselte mir der Schweiss aus dem Haar in die Stirne. Ehe ich die Kameraden erreicht hatte, fühlte ich mich noch nicht völlig gerettet.

Endlich erkannte ich Theodor und Jakob von weitem, jeden an der Art seines Fahrens. Dieser war aus solcher Ferne wie eine Schwalbe, jener wie ein Star anzusehen. Sie stiessen eben von unserem Ufer ab und machten den ›Zopf‹, indem einer die Linie des andern überschritt, so dass die Geleise sich immer kreuzten.

Ungefähr in der Mitte des Beckens traf ich sie, den Mund voll von meinem Abenteuer.

»Wie siehst du aus?« rief Theodor, »du bist ja ganz nass.«

»Er ist wahrhaft ins Wasser geplumpst!« rief Jakob lachend und öffnete dazu übermütig seine dichten, scharfen, gelben Zahnreihen. Zugleich schnitt er eine haarscharfe Kurve um mich, die ich selber ihm kaum nachgemacht hätte.

»Geplumpst!« Wie ernüchterte mich dieses Wort! So spassig fasst man meinen Todesschrecken auf!

»Das tut nichts, Fröschchen!« sagte Jakob wieder und rüttelte mich an der Schulter aus meinem Staunen auf. »Machen wir jetzt den Dreier!«

»Hei, den Dreier!« schrie Theodor und setzte sich schon in Bereitschaft.

Der Dreier hiess in unserer dörflichen Eissportsprache jene Verschlingung der Gleise zu Dreien, die genau wie ein schöner, regelmässig gebundener Zopf aussah. Der hinterste Läufer musste stets in einer weichen Schleife die zwei vorderen Geleise überfahren. Diese Figur forderte, dass man an der Spitze der Gruppe stets langsam, am Ende sehr schnell, aber überall durchaus verlässlich fuhr, besonders, wenn es sich traf, dass man am zufahrenden Führer vor der Nase vorbeizog, sich beinahe mit den Schuhen ineinanderhakend.

»Ich bin – ich habe – ich war –« stotterte ich fröstelnd.

»Bah, und wenn man auch mit einem Strumpf ins Wasser langt, man ersauft doch nicht gleich, das geht gar nicht so leicht, das Versaufen,« wiederholte Rex, mit besonderem Vergnügen beim letzten Gedanken weilend. Meinte ja doch sonst jeder Narr, das Ertrinken geschehe nur zu schnell.

»Los einmal!« rief Theodor, der vor Ungeduld die Schuhe ins Eis hackte.

Das trockene Lachen, die nüchterne, alltägliche Art meiner Kameraden, wie sie mein ungewöhnliches Schicksal abtaten, es nicht einmal genauer erfahren wollten, mich sofort wieder ins Altgewohnte trieben – merkwürdig – das brachte mich im Nu aus der heiligen Stimmung von Furcht und Reue, worin ich mich noch vor einer Minute befunden hatte. Ich war wohl in einem schweren Traume gelegen, und wie man dann durch das viele Licht des Morgens und das Gelärm auf der Strasse erwacht und sich über seine Erschrecktheit schämt, so wurde auch mir nun bei diesen Burschen, die nicht wie ich geträumt hatten. War ich wirklich in so grosser Gefahr geschwebt? War ich nicht eher feige gewesen und hatte mich zu früh der Angst ergeben? Wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich.

Als wir nun den glänzenden Dreier über die glatte Diele zopften, wobei ein jeder es dem andern an Eleganz zuvortun wollte und jeder spürte, wie wir drei zusammenpassten, einander ergänzten und benötigten, als wären wir dazu eigens geboren, als ich wieder den gesunden Hauch spürte, der über das Eis und die Wangen der Fahrenden fuhr und sie wie Äpfel im Hochsommer rötete, und als ich näher dem Ufer den verlassenen Joseph dort in den Stoppeln sitzen und sich ein verletztes Bein reiben sah: da fing ich an, verwegen zu fahren, die gefährlichsten, knappsten Furchen um meine Kameraden zu ziehen, es reizte mich, das harmlose Spiel möglichst verzwickt, das Leichte möglichst schwierig zu machen, kurz ich war berauscht, und zwar so heftig, wie es nur bei Leuten vorkommen mag, die in einem Schwächezustand schweren, wilden Wein trinken. Dem Leben und seinem Leichtsinn zurückgegeben, lachte ich über alles, was vorhin gewesen war, und kehrte ihm den Rücken.

»Was fehlt dem Joseph?« fragte ich Jakob, der eben die Schleife graziös um mich zog.

»Er ist umgefallen und – du weisst ja!« Spöttisch zeigte er nach dem weinerlichen Bürschchen, das sich so angelegentlich das Bein rieb.

Ich nickte grossartig. »O ja, ihn tötet schon ein Floh!«

Doch als wir ans Land gingen, hinkte uns Joseph entgegen und behauptete, er könne unmöglich über den Melzberg heimgehen, das Knie schmerze ihn bei jedem kleinsten Schritt.

»Probier' es!« befahl Jakob.

»Ich kann nicht!« beteuerte Joseph.

»Du willst nicht,« beharrte Rex.

Joseph war ein bleich und kränklich aussehender, sehr eingezogener Junge. Ihm fehlte indessen nichts als Mut und Ausdauer. Der einzige verzärtelte Sohn der Krämerin Ilsig, schleckte er immer vom Zuckerzeug des mütterlichen Ladens. Seine Taschen enthielten eine Musterkollektion der dortigen Spezereien. Von Zeit zu Zeit plünderten wir sie grünlich aus. Joseph liess es gutmütig geschehen. Er schmiegte sich immer an einen Stärkeren, früher an den mutigen Valens, nun nach seinem Hingang an den strammen Theodor, dem er von Herzen ergeben war. Josephs Betragen war so sanft und säuberlich, dass man ihn wohl oft ein Mädchen nannte, aber keiner wollte ihm übel. Wenn wir ihn ausgeplündert hatten und Theodor befahl: »Kehre die Taschen um!« so zog er die Futterzipfel mit einem so unschuldigen Lächeln heraus und sagte so mild: »Sieh nur, kein Brosame mehr!«, dass man ihn wie ein braves weisshaariges Kaninchen gern gestreichelt hätte.

Aber jetzt war weder Jakob noch ich selber gewillt, auf sein Knie Rücksicht zu nehmen. Doch da zog Theodor seine vielbeneidete Uhr hervor und sagte: »Halb fünf! Bevor wir zum Wald kommen, ist es dort dunkel wie in einer Kuh!«

Jetzt zog auch Jakob seine noch mehr beneidete Uhr hervor. Denn sie besass zum übrigen noch einen Sekundenzeiger. »Nein,« gab er widerwillig zu, »über den Berg können wir nicht mehr. Donnerwetter, wer dachte auch, dass es so schnell Abend wäre?«

»Aber zu Fuss auf der Strasse sind es drei starke Stunden, wisst ihr noch von dem Spaziergang der Schule her!«

»Da kommen wir eben um acht Uhr heim, was ist da weiter?« versetzte Rex gleichmütig.

»Aber ich kann nicht laufen, keine Viertelstunde weit,« wimmerte nun Joseph und hinkte mit dem Beine zur Bekräftigung. »Ihr müsst mich auf den Schlitten nehmen.«

»Und ich muss um sechs Uhr zu Hause sein,« wehrte ich mich nun gleichfalls.

»Du mit deinem Zuhausesein!« machte Jakob verächtlich, der in solchen Stücken eine unbeschränkte Freiheit genoss, über die meine Mutter sich oft aufhielt.

Da tat Theodor einen Luftsprung. »Ich weiss etwas!« schrie er wie verrückt und lief auf und davon.

»Ist er aus dem Häuschen?« lachte Jakob.

»Bravo, bravo!« Joseph klatschte nun in seine weissen, feuchten Mädchenhände. »Er holt einen Rosschlitten, bravo!«

Wirklich lief Theodor nach dem Stoppelhof.

»Der verdammte Kerl!« machte Jakob unwillkürlich vor Staunen und rannte ihm nach. Ich folgte. Weit hinten hinkte Joseph nach.

Als ich auf dem unsauberen Platze zwischen dem Stall und Gehöfte ankam, hatte Theodor das Geschäft mit dem Bauern bereits abgemacht.

»Solche Jungens, na!« brummte der alte, bärtige Mann, als er mich und weit hinten Joseph erblickte. »Habt ihr denn auch das Geld?«

»Da fragt man doch nicht!« sagte Jakob, stolz die Lippen aufwerfend.

»Aha, das ist der Kronenwirt!« sprach der Bauer, und zeigte lachend einige schwarze Zähne zwischen Bart und Schnauz. Er ward nun um vieles zutraulicher.

»Also einen Franken zwanzig auf den Kopf! Und bis sechs Uhr ins Dorf!« bestimmte Theodor. »Seid ihr einverstanden?« Er richtete seine grossen, blauen Augen zugleich mit den kleinen, verschmitzten des Bauern fragend auf uns.

»Das ist zu viel!« widersprach ich. Mich erschreckte der Gedanke, nun am Ende den Fünffränkler münzen zu müssen. Ich wollte ihn nicht, nie verlieren! »Wir sind ja nur Schulbuben – seht Ihr, und so leicht!« Ich schlenkerte die Beine zur Bestätigung meiner Behauptung.

»Wenn euch das zu viel ist, so geht zu Fuss, sakerlott!« Mit diesen Worten drehte der Bauer uns den Rücken und ging zum Stall, wo der Knecht eben eine schöne tiefbraune Stute zum Schlitten herausführte. Die fetten Weichen des Pferdes zitterten vor Kälte.

»Führ' sie nur wieder hinein, August«, gebot der Bauer mit seiner unangenehm krächzenden Stimme, »die Burschen gehen zu Fuss.«

»Ich fahre, ich zahle!« schrie verzweifelt Joseph, der uns endlich erreicht hatte; er fiel dem Bauern in den Arm.

»Ich auch, ich auch!« sagten Jakob und Theodor.

Allein konnte ich und durfte ich den einsamen Weg nicht machen. Um sechs Uhr sollte ich ja auch heim gelangen. Die Mutter sah streng darauf. Es blieb mir nichts übrig, als nachzugeben. Wir legten das Geld auf die Bank neben dem Hause hin. Fast wagte ich nicht, mein Silber hervorzuholen. Doch es musste sein.

»Donner, er hat einen Fünffränkler und mag nicht einmal einen Franken zahlen!« rügte Theodor lustig. »Wie geizig!«

Jakob aber schaute mich prüfend an.

»Nein!« entgegnete ich und wurde ganz rot um die Augen, »ich münze ihn nicht gern. Hat man ihn einmal vernickelt, so ist gleich alles heidi!« Das sagte ich wie ein Grosser. So hatte ich nämlich den Nachtwächter oft reden hören, wenn er auf dem Zechtisch in der Sonne einen Taler wechseln liess. War ich doch ganze Nachmittage bei Jakob in der Wirtsstube.

Niemand kann begreifen, was ich empfand, als der hässliche Bauer meinen silbernen Leopold prüfte, in der Hand wog, ob er wohl echt sei und dann sorgsam mit den groben Fingern in seinen grossen, schmutzigen Beutel schob. Er hatte mir nur ein Silberstück und das übrige in Nickel aus den zusammengeklobenen Münzen meiner Kameraden zurückgegeben. Die ganze Westentasche hatte ich nun voll Geld, aber mir schien, das sei nicht mehr ein Zehnteil von jenem schönen, unwiederbringlich verlorenen Fünffränkler.

Erst als wir uns behaglich auf dem Schlitten zurechtgesetzt, die Knie ineinander geschmiegt und mit dicken Decken überlegt hatten, als die Peitsche knallte und in der tiefen Dämmerung des Winterabends die Bäume, die Hagstangen, die Heuschober Stück um Stück so rasch und doch so geräuschlos an der schmalen, bleichen Strasse verhuschten, erst da wurde mir wieder traulicher zumute. Bald blies der Knecht, der uns fuhr, ein blaues Zigarrenwölklein über die rechte, bald über die linke Achsel. Eifrig schnappten wir danach. Denn wir liebten den Tabakrauch der Grossen. Nun zündete der Fuhrmann die Laternen an beiden Wagenseiten an. Der Weg vor uns erschien jetzt gelb im Lichte, und der verschwommene Schatten des Pferdes schob sich darin wie ein schwarzes Ungetüm voraus.

»Er sollte mehr knallen,« meinte ich; der Wagenschlitten konnte mir nicht rasch genug fahren.

»Dummheit!« schalt Theodor voll grosser Erfahrung. »Ein rechter Fuhrmann braucht die Geissel nie!«

»Ich liesse sie aber doch um die Ohren tanzen. Donnerwetter, das Ross müsste mir ganz zappeln, das ist ja eine Schnecke!« zürnte Rex.

Seine Lippe schwoll, und die Stirn erhitzte sich bei diesen Worten.

»Du würdest die Pferde bald kaput reiten,« entgegnete Theodor gereizt.

Der Knecht neigte sich seitwärts und horchte mit halbem Ohr. Aber es schien ihm zu gering, uns zu widersprechen. Er murrte nur zwischen dem Stengel etwas Unverständliches hervor und blies uns dann eine doppelt schwere Wolke ins Gesicht.

Wir fuhren nun über den sogenannten Graugrund, ein wässeriges Ried, das in der Dorfsage ein wichtiges Blatt ausfüllte. Hier schlüpfen nämlich nicht nur die Kindlein ins Leben hinaus mit noch unfertigen Ohrläppchen und zu kurzen, nassen Hemden und werden vom Storch ans Strassenbord getragen – nun, das glaubten wir inzwischen nicht mehr – sondern hier geistern auch jene herum, die unselig aus dem Leben gefahren sind und keine Grabesruhe finden können. Sie stecken bis an die Knie im Moor und leiden unbarmherzig vom Frost und von den Blutegeln. Hier und da klagen sie wie Unken, dann sind sie noch tief in der Strafe; wieder bellen sie wie Hunde, dann sind sie erst ins Leiden gekommen; und manchmal pfeifen sie nur leise wie ein junges Vögelchen, das noch spärlich gefiedert ist, aber doch bald fliegen kann, die sind der Erlösung schon ganz nahe. Dann soll man den Hut abziehen und für ihre geplagte Seele ein Vaterunser beten.

Das glaubten wir noch halb und halb. Und wir fürchteten uns mit Ausnahme Jakobs, der seine scharfen Augen beständig in die schwärzlichen Gründe schickte. Joseph verkroch sich immer tiefer zwischen den Beinen seines Schützers Theodor.

»Auf dieser Wiese, dort bei der Esche, habe ich den Morlibub gesehen,« sagte Theodor etwas grosshansig.

»Hilf Gott, den Morlibub!« rief ich und war daran, das Kreuz zu schlagen. Denn dieser trunksüchtige, tückische und seiner Unehrlichkeit wegen allseitig gemiedene Bursche war vor einem Jahre an einem stürmischen Fieber gestorben, ohne Priester und Gebet, und die Leute behaupteten, seine Leiche sei gleich ganz schwarz geworden. Niemand durfte in den Sarg blicken, der Kopfschieber daran war zugenagelt.

»Hör' auf, Theodor, ich fürchte mich!« flehte Joseph und rutschte noch tiefer zwischen seinen Knien herunter. Der Wind erhob sich ein wenig und bewegte die Halme des Rieds leise.

Jakob machte das Gesicht eines Zweiflers.

»Wie war es denn?« fragte ich mit jener Neugier der Furchtsamen, die zu wissen wünschen, was sie grausen macht.

»Er hat mit einer glühenden Zange die Steine aus der Wiese dort drüben gelesen. Als Knabe warf er ja immer Steine in die Felder, dass die Sensen splitterten.«

»Ja, das tat er,« bestätigte ich, obwohl ich nie eine Spur davon gesehen hatte.

»Dreimal lief er um jeden Baum, dreimal warf er die Zange ins Gras,« log Theodor aus Gehörtem und Geträumtem weiter. Unser Schrecken mehrte seinen Mut. »Ja, dreimal, sag' ich und lüg' nichts dazu! Aber sogleich wieder musste er sie aufnehmen. Das brannte, sag' ich euch!«

»Kann sein,« bemerkte geringschätzig Jakob, »aber der Schlossvogt Michael –«

»Der vor tausend Jahren?«

»Vor tausend oder zweitausend Jahren, das weiss ich nicht mehr genau, hat er unser Dorf regiert. Alles hat ihm gehört.«

»Ja, das Korn hat er uns Bauern zusammengeritten, zwanzig Jagdhunde hat er mit sich hineingesprengt,« grollte Theodor.

»Es war ein grossartiger Herr!« schloss Jakob fast bewundernd.

»Hast du ihn gesehen?« fragte ich heftig.

»Sah ihn! Er bog das Schilf auseinander und stand bis hierher, wo ich den Gurt trage, nackt im Wasser. Am ganzen Leibe hingen ihm Blutegel und sogen an ihm. Aber die Toten haben kein Blut, und die Egel, die doch durstig waren, bissen sich darum immer tiefer in ihn hinein. Der Vogt drehte sich um und schüttelte sich vor Schmerz. Aber kein einziger Blutegel fiel weg. Die Arme waren ihm über den Kopf hinauf festgebunden. Man sagt, so viele Menschen habe er gequält, als ihn Blutegel beissen.«

Joseph verhielt sich die Ohren.

»Hast du mit ihm geredet?« fragte ich.

»Alle guten Geister loben den Herrn!«

»Das hast du gerufen?«

»Und mich schnell bekreuzt!«

»Horch!« Theodor legte den Finger an den Mund.

Wir hielten den Atem an. Ringsum war es still.

»Habt ihr's auch gehört?« fragte der Walomer.

»Wie ein Schwein hat's gegrunzt, nicht?« sagte Rex und blinzelte Theodor mit dem einen Auge seltsam zu.

»Gerade so! Schon wieder!«

Nun glaubte ich, es auch gehört zu haben, gerade wie ein Schwein.

»Ist es nicht, als reite da jemand hinter uns?« fragte Jakob wieder.

Ich wagte nicht, hinter mich auf die leere Heide zu schauen. Aber auch mir war jetzt, es töne Pferdegetrappel im Rücken. Alle Luft dünkte mich von Spuk und Gesichtern voll. Erleichtert atmete ich auf, als wir endlich von ferne die Lichter des Dorfes erblickten. Damit niemand von unserer Fahrt wüsste, liessen wir den Knecht vor den ersten Häusern halten und stiegen aus. Eben schlug es dreimal mit der kleineren Glocke vom Turme. Es war noch ein Viertel bis sechs. Das freute mich.

Theodor begleitete seinen Joseph heim, ich aber sprang schnell über den Kirchplatz zu unsrer Wohnung neben dem Schulhaus hinunter. Doch schon im Hausgang wurde mir wieder schwer. Ich fühlte, dass ich wieder in den Schatten meiner Sünde trat.

Auf halber Treppe sah ich oben die Mutter vor der Mädchenkammer stehen und sich an die Türe lehnen. Sie wandte sich nach mir und machte: »Pst!«

Ich erschrak. Was war los?

»Elschen hat wieder einen Anfall gehabt,« flüsterte die Mutter und ergriff mich an der Hand. »Gottlob, das Kind schläft jetzt schon zwei Stunden, das tut ihm gut.«

Immer noch an ihrer Hand trat ich in die Esstube, wo Paula bei einem Kerzenlicht Kartoffeln schälte. Meine Schwester hatte verweinte Augen. Zuweilen tropfte noch eine kleine Träne in die Schalen.

Nun liess die Mutter meine Hand los und musterte mich wie jedesmal, wenn ich lange fortgeblieben war, vom Kopf bis zu den Füssen, als wollte sie sich versichern, ob sie den gleichen Buben zurückbekommen habe.

Ich hielt den Blick mühsam aus und fragte. »Aber, was ist mit Elschen? Es war schon mittags – hat die Influenza –«

Die Magd öffnete die Türe und rief der Mutter.

»Sage doch, Paulchen!« schmeichelte ich.

»Als du kaum weg warst, hat sich Elschen erbrechen müssen,« erzählte die Schwester und war nahe daran, wieder zu weinen. »Wir legten es ins Bett. Da wurde es ganz rot und heiss. Bald fing es an so – ach so dummes – nicht schönes Zeug zu schwatzen –«

»Und dann?« fragte ich ängstlich. »So höre doch auf zu weinen und sag' mir, was dann?«

»Dann kam der Doktor – der Doktor!« Sie sperrte den Mund und die Augen auf, so weh tat ihr das Verschlucken der Tränen.

»Paulchen, was hat er gesagt?«

»Ein fremdes Wort, ein französisches, ich kann es nicht nachsprechen. Er redet ja nie deutsch.« Sie schluchzte.

»Aber er muss doch sagen –«

»Er sieht die Sache schwer an, behauptet die Mutter.«

»Wenn es nur nicht die Cholera ist!« sagte ich. Von ihr hatte ich viel Schlimmes gelesen. Sie allein hielt ich für eine böse Krankheit.

Die Mutter kam nicht zum Nachtessen. Paula und ich blieben allein und redeten und assen wenig. Einmal holte die Magd schnell wollene Tücher aus der Kommode, die zwischen den zwei Fenstern stand. Mich wurmte schwer, dass ich Elschen heute einmal rauh angefahren hatte.

»Ist Elschen erwacht?« fragte ich die Magd.

Barbara nickte.

»Und?« fragte ich leiser, im Glauben, man dürfe selbst hier nicht mehr laut reden.

»Wir müssen sie in nasse Tücher wickeln.«

»Darf ich –« ich sprang sogleich hinter der Magd her.

»Werdet ihr dableiben! Potztausend, der Doktor hat es streng verboten, hinaufzugehen.«

Paula und ich liessen die Teller halbvoll stehn und setzten uns auf das niedrige Ofenbänklein in der Ecke. Dies war unser Privatstübchen, der Ort, wohin wir uns immer begaben, wenn wir schmollen, grollen, weinen, eine Schlauheit aushecken, uns heimlich hinter der Mutter ausschmähen oder auch miteinander besonders lieb tun wollten. Zwischen Ofen und Wand zog sich der lauschige Winkel in die Ecke und konnte gegen die offene Stube mit einem geblümten Vorhängchen abgesperrt werden. Wie viele heimliche Zänkereien hatten wir da ausgefochten, wie manches Geschichtlein uns erzählt, wie oft einander hier die Schulaufgaben aufgesagt! Und wie oft hatte ich da meine beiden Schwestern durch die ungeheuerlichsten Drohungen eingeschüchtert, um ihnen in Zukunft das Ausplappern meiner Streiche zu verleiden! Wie oft aber auch hatten wir da in der Dämmerung getuschelt und gelacht und solche Dummheiten getrieben, dass es gut war, wenn der Winkel nie eine Silbe davon verriet. Dass er für uns drei kaum Raum bot, machte ihn in unsern Augen nur noch wertvoller.

Jetzt war uns selbst in dieser Enge zu weit und fürchterlich leer. Elschen fehlte ja. Wir fühlten uns sehr vereinsamt und wussten nichts zu tun, als dann und wann die Köpfe zusammen zu stecken und zu flüstern: »Du, wenn's nur bald bessert!«

»Ja, wenn's nur bald bessert!«

Plötzlich fuhren wir zusammen. Ein lauter Schrei ertönte, ein zweiter, dritter! Paula presste sich fest an mich.

»Heierli, was ist das?«

»Elschen stirbt!« rief ich. Wir fingen an bitter zu weinen über das sterbende Schwesterchen. Unser Haar und unsere Tränen vermischten sich.

»Sie war so gut, viel besser als wir zwei!« klagte und lobte Paula.

»Viel besser! Weisst du noch: der rote Ball!«

»Ja, sie hat ihn dir für den grauen gegeben, der gar nicht mehr hoch sprang.«

»Und sie hätte doch den roten auch lieber gehabt!« betonte ich.

»Nichts behielt sie für sich, die Gute!«

Darauf ergingen wir uns in neuen, heftigen Tränen.

»Horch!« Paula legte den Finger ans Ohr.

»Es ist nichts!« machte ich.

»Ich hatte es doch gehört, es weinte jemand da draussen.«

»Wollen wir nachschauen?« fragte ich, die Hand Paulas vom Arme lösend. Es war nun sehr dunkel in der Stube, denn die Magd hatte die Kerze mit sich genommen. Nur die Fenster blickten heller von den benachbarten schneeigen Dächern und dem lichten Winterhimmel.

»Bleib, Heierli, bleib!« flehte mich das Schwesterchen an und krampfte meinen Ärmel verzweifelt am Ellbogen.

Wir schmiegten uns fest zusammen. Zuweilen ertönten gedämpfte Schritte über der Diele, zuweilen krachte es in der holzigen Tafelwand. Die Gesichter mit den vertrockneten Tränen, Wange an Wange, schliefen wir unmerklich ein.

Kapitel 6

Elschen war nicht gestorben. Selbst kleine und zarte Mädchen sterben nicht so geschwind. Ich stellte mir nach dem Bilde, das mir der Kaplan am Namenstag geschenkt hatte, so etwas wie einen Wind vor, der da nur ein Flämmchen auszublasen habe. Aber Elschens Flämmlein hielt noch so fest am jungen Wachs seines Lebens, dass es wohl hitzig hin– und herflackerte, auf– und niederging, aber noch lange nicht erlöschen wollte.

Nach zwei Tagen waren die ärgsten Fieber vorbei. Das liebe Kind lag nun totenbleich und wie ausgebrannt in den weissen Kissen. Nur die Augen, die jetzt für ein so kleines Kind viel zu gross und angelweit aufgesperrt schienen, glühten noch eben mit jenem Lichtlein, das der Tod nicht auszublasen vermochte.

Ich und Paula gingen am Montag mit traurigen Gesichtern in die Schule, teils aus wirklicher Geschwisterliebe, teils auch aus kindlicher Wichtigtuerei. Denn es ist doch wichtig, ein tiefkrankes Schwesterchen daheim zu haben, wichtig, einen schwarzbefrackten Doktor täglich morgens und abends mit seinem Schimmel und seiner Kutsche vors Haus fahren zu sehen, vor allem aber wichtig, wenn der Lehrer in der Mitte zwischen Knaben und Mädchen steht, die trübe Brille putzt, sich feierlich räuspert und dann, den Blick schmerzlich auf den leeren Platz unseres Schwesterchens werfend, langsam sagt: »Kinder, unsere liebe Schülerin von der vierten Klasse, das brave Elschen Walter, ist schwer krank. Betet, dass es bald wieder gesund wird! Besuchen dürft ihr es jetzt noch nicht. Aber dem Heierli könnt ihr euere Grüsse und guten Wünsche mitgeben.« Und wichtig war es nun, wie alle Knaben und Mädchen auch auf den leeren Stuhl blickten, wo Elschen sitzen müsste, wenn es nicht krank wäre, mit seinen roten Puffärmeln, dem schlanken, geraden Hals und dem tiefbraunen, mit einem schildpattenen Kamm zusammengehaltenen, alles überflutenden Haar.

Paula wurde bei den Worten des Herrn Philipp Korn puterrot, ich aber lehnte mich in die Banklehne zurück und nahm mit souveräner Miene das Tuscheln und die vielen lieben Blicke als kameradschaftliche Teilnahme entgegen.

Die Krankheit Elschens hatt mich ernst gestimmt. Am Bette dieses Kindes mit den unschuldigsten Augen der Welt war ich mir so recht über meine Schuld klar geworden. ›Ist es etwa meinetwegen erkrankt?‹ fragte ich mich häufig. ›Kann es am Ende gar nicht mehr gesund werden, bis ich meinen gestohlenen Fünffränkler wieder zurückgestellt habe? Wohl möglich! Man hat auch schon derartiges erzählt, dass oft Unschuldige für Schuldige leiden.‹ Dieser Gedanke aber war mir von allen der furchtbarste.

Ich beschloss nun, täglich den Fünfer für das Brötchen auf die Seite zu legen. In der Woche macht das dreissig Rappen, in vier Wochen gerade hundertzwanzig Rappen aus, also genau, was mir zum vollen Fünffränkler fehlt. Nach vier Wochen werde ich mit den Münzen zum Stoppelbauer gehen und den Fünffränkler umwechseln. Wenn er ihn dann nur noch hat! Denn mich dünkte, es müsse der ganz gleiche Taler sein, den ich gestohlen habe, sonst sei mein Vergüten doch kein volles Vergüten, es bleibe immer noch ein bedeutender Rest Schuld, den man nur mit jenem silbernen Leopold ganz hätte tilgen können. Mir stand das Haar zu Berge, wenn ich mir vorstellte, der Stoppelbauer gebe inzwischen dieses unersetzliche Silber aus. Dass doch die vier Wochen rasch verstrichen!

Mit diesem Taler wollte ich dann zur Mutter gehen und sagen: ›Mutter, da ist das gestohlene Geld. Schlag mich, aber verzeih mir!‹

Standhaft hatte ich bereits vierzehn Tage hindurch gespart. Schon lag ein ansehnliches Häufchen Fünfer beisammen. Ich hatte meine Not, sie gut zu verstecken. Während des Tages trug ich sie in meiner rechten und linken Westentasche, am Abend band ich die vielen Batzen in mein Nastuch und legte den Schal wie ein Geizhals unter mein Kopfkissen. Oft griff ich beim Erwachen schnell danach, um mich zu vergewissern, ob mein Diebstahl nicht auch gestohlen worden sei.

Wenn um zehn Uhr die Schüler zum Bäcker in die Krone liefen und mit den frischen, braunrindigen, oft noch dampfenden Brötchen zurückkamen, und wenn ich dann meine Kameraden mit ihren braunen Zähnen hineinbeissen sah, dann lief mir die Gier heiss über die Zunge, und zweimal mehr als sonst hungerte ich. Aber ich blieb fest. Oft musste ich mich vor Paula verstellen, damit sie nicht merkte, dass ich gar nie mehr das Pausebrötchen kaufte. Dann kaute ich heuchlerisch und gab vor, wie das Brot doch heute vorzüglich schmecke.

»Ja, heute ist es sicher in Butter gebacken,« sagte mir einmal Paula nach einer solchen Verstellung. »Willst du noch ein wenig von meinem Brötchen?«

Sie hielt mir die Hände von der Schürze verdeckt entgegen.

»Nein, danke,« log ich, »ich habe selber noch das halbe in der Tasche.« Dabei verzehrte mich der Hunger.

Da streckte das Mädchen mir lachend die leeren Hände unter dem Tuch hervor. »Soviel könnte ich dir nämlich geben, nur soviel!«

»Soll ich mein halbes mit dir teilen?« sagte ich nun mit einer Frechheit, die ich sofort bereute. Ich griff an die Tasche, als wollte ich den Rest hervornehmen. Aber ich zitterte, dass Paula ja sagen könnte.

»Nein, nein, ich machte nur Spass, ich bin ganz satt!« sagte die Schwester, und ich atmete wie aus einer grossen Gefahr entronnen auf.

Eines Tages sagte mir Jakob: »Komm auch! Heute haben wir Zwieback!«

»So!« machte ich.

»Warum kaufst du keine Brötchen mehr? Meine Mutter sagt, sie sehe dich gar nie!«

Verlegen stotterte ich etwas wie: ›Ich weiss selber nicht, ich habe keinen Hunger am Vormittag, ich kaufe schon wieder,‹ und so weiter.

»Dummheiten, wenn einer einen Fünffränkler wechseln kann! Jetzt komm.« Damit fasste er mich unter dem Arm und zog mich vor das Fenster der Bäckerei, die seinem Vater gehörte. Er klopfte gebieterisch ans Schiebfensterchen: »Fritz, zwei Zwiebackbrötchen!«

Der Geselle im weissen Schurz, das lange Haar an nackten Armen mit Mehl bestäubt, wollte sogleich dem Sohne des Hauses willfahren.

»Ich nehme keines,« schrie ich so laut, als handle es sich da für mich um etwas Gefährliches. Ein Zwiebackschnittchen kostete nämlich zehn Rappen.

»Gut, so nehmen wir eines zusammen,« befahl Rex, »soviel wirst du doch aushalten – oder?«

Er warf einen Zehner aufs Gesimse und nahm eines der zwei Brötchen und biss hinein. Dann hielt er es mir hin.

Für mein Leben gern ass ich Zwiebackschnitte. Diese da aber war so eiergelb und duftete da, wo Rex abgebissen hatte, so köstlich nach frischer Butter, dass ich, vom Gelüste übernommen, gleichfalls einen Bissen nahm. Dann biss Jakob wieder ein Stück weg, und so wechselten wir ab, ohne dass einem vor dem andern geekelt hätte, bis ich noch den Rest kriegte.

»Fünf Rappen!« heischte Rex nun, der es in Geldsachen wie alle Knaben unseres Alters sehr genau nahm.

Ich griff in die Weste und gab ihm den Fünfer. Aber augenblicklich kam ich mir wie ein unverbesserlicher Verbrecher vor. Dieser verkrämerte Fünfräppler wog in meinem Gefühl so schwer, wie nur je der Fünffränkler. Als ich heimging, hatte ich die mutige Zuversicht verloren, die mir die vergangenen Wochen hindurch so wohl getan hatte. Ich kannte noch nicht die moralische Bedeutung von einem Rückfall, aber ich fühlte das Hässliche und Beschämende davon doch sehr deutlich. Auch verdross es mich unbeschreiblich, dass ich nun an jenem Samstagnachmittag, an dem ich zum Stoppelbauer gehen wollte, erst vier Franken und fünfundneunzig Rappen beisammen hätte, also gerade diesen verplemperten Fünfer zu wenig. Und dessentwegen musste ich dann eine volle Woche länger warten. Denn nur am Samstagnachmittag hatten wir frei.

Indessen war meine Schwester, wie mich dünkte, fast genesen. Sie trug keine roten Fieberflecken mehr auf den Wangen gegen Abend, wie vorher immer noch. Nein, das hatte aufgehört. Sie sprach wieder wie früher, nur etwas leiser und langsamer. Nichts tue ihr weh, sagte sie lächelnd. Dennoch ass sie beinahe nichts, ihre Lippen waren immer so trocken und zerrissen, und man musste Elschen führen, wenn es am Nachmittag ein Stündchen aufstehn und an der Sonnenseite der Stube, am wohlverriegelten Fenster sitzen wollte, das auf den grünen Kirchplatz sah. Wir lagerten uns dann um Elschen herum und erzählten, wie es heute in der Schule zugegangen sei, welche Mädchen aufsagen, welche an der Tafel rechnen, welche vorsingen mussten, welches den Aufsatz am besten gemacht habe, welches bestimmt sei, diese Woche die Tafel abzuwaschen und die Stube auszukehren. Und jedesmal fügte ich noch bei, welches Mädchen heute Schläge bekommen habe, und wollte in meiner bübischen Rauhigkeit gar nicht merken, wie wenig angenehm Elschen diese letzte Mitteilung war.

Von den Knaben erzählte dann Paula, denn ich galt als parteiisch. Ich rühme den Jakob zu sehr gegen Theodor, tadelten meine Schwestern. Elschen aber wie alle kleineren Mädchen hatte viel mehr Gefallen an Theodor. Er kam ihnen wie der Erzengel Michael auf dem Altarbild unserer Kirche vor, dem er in der Tat im Gesichte und in der Haltung auffallend glich.

Wenn er im vollen Golbgelock seines Hauptes, mit den sprühenden, blauen, aber so treuen Augen vor der Klasse stand, ein Bein ritterlich vorgestemmt und einen Arm in die Hüfte gespannt, und dann mit seiner hell erschallenden Stimme rief: »Heraus mit dem Georg, wenn er kein Zopf sein will, heraus mit dem Scheiwesepp! Heraus mit dem Helfermarkus!« dann staunten diese Kleinen still und andächtig ihn an. Wenn er aber rief: »Heraus mit dem Jakob!« dann jubelten sie unbändigen Beifall.

Die grösseren Mädchen dagegen schwärmten heimlich für Jakob. Sie erkannten in ihrem reifern Sinn, dass Jakob fähiger, klüger und selbst noch körperlich anmutiger sei. Seine schlanke, unendlich biegsame Gestalt, das zarte Rot seines schmalen Angesichts, das verhaltene Feuer seiner Augen, seine geschickten Worte und etwas Unfassbares, Gefährliches und sehr zu Fürchtendes in seinem Wesen, das lockte diese schon von allen möglichen weiblichen Ahnungen erfüllten Jungfrauen weit mehr, als die gesunde, tiefgebräunte, kräftige Schönheit des Walomer und seine überstürzende Kraft. Doch mein Elschen und auch Paula zählten sich noch nicht zu diesen weisen Jungfrauen.

Wurde nun erzählt, wie die zwei wieder gerungen hätten, und fügte Paula wie gewöhnlich hinzu, dass Theodor diesmal sicher gewonnen hätte, wenn nicht der Lehrer zu früh dazugekommen wäre, dann lächelte Elschen mit einer innigen Zufriedenheit. Während aber früher ihr Lächeln das ganze Gesicht von der Stirne bis zum Kinn ergriffen hatte, lächelte jetzt nur noch das Mündchen. Daran erkannte ich, dass mein Schwesterchen eben immer noch krank war; doch auch daran noch, dass sie schon in einem kurzen Satz innehalten und rasche Atemzüge tun musste, wie ein Vögelchen während des Trinkens.

Am Freitag der vierten Woche – zum Taler fehlten mir nur noch zwei Fünfer – blieb Elschen zu Bette. Schon gestern war ihr minder wohl gewesen. Der Arzt behauptete, das Wetter sei schuld daran. Denn seit drei Tagen hatte die strenge Kälte dem Föhn weichen müssen. Der Schnee schmolz in einem Tage vom Millionär zum Bettler zusammen. Die Dächer rauschten von kleinen Bächlein, über den Hügel hinunter liefen die Quellen wie kleine Flüsse, die ganze Natur sah wie aus der grossen Wäsche gekommen aus. Bei solchem Witterungswechsel, flüsterte uns die Magd zu, entscheide sich eine Krankheit gerne zum Bösen oder Guten.

Elschen klagte, dass sie wieder Schwindel habe, schon, wenn sie nur über das Bett hinausschaue. Sonst sah sie aus wie immer. Wir spielten um ihr Bett. Berta Walomer war da, und mit ihr war Theodor gekommen, der mit täppischer Hand Elschen über das seidenfeine Haar strich und immer sagte: »Krank, so krank!«

Meine Mutter brachte einen Teller voll Mandeln und Zitronensternen, die Elschen mit heissen Blicken ansah, aber wovon sie kein Krümchen kosten durfte. Während nun Berta eifrig ass, rührte Theodor nicht eine Mandel an.

»So nimm doch,« ermunterte ich ihn und stiess ihn an.

»Darfst du wirklich keine essen, Elschen?« fragte Theodor und bemühte sich nach Kräften, seine laute Stimme zu bändigen.

»Nein, Thedi, iss du die meinigen!« bat Elschen.

»Also!« machte Theodor und nahm nun hie und da ein Stück vom Teller. Aber ich sah genau zu, wie er es eine Weile in der hohlen Hand barg und dann unbemerkt, während er dazu hustete oder sich schneuzte, in der Tasche verschwinden liess. Ach, er wollte sie aufheben und dann einmal mit Elschen essen. Ich erzählte es hernach den Schwestern. »So etwas wäre deinem feinen Jakob nie in den Sinn gekommen,« meinte Paula. Elschen aber lächelte, und diesmal spielte die Freude nicht bloss um ihre blassen Lippen, sondern färbte ein bisschen sogar die Nasenspitze und drang in die grossen Augen. Sie lächelte wie in gesunden Tagen.

Berta erzählte, ihre Base im Bezirksort sei gestorben, und die Eltern, das heisst der Vater und die Stiefmutter, würden erst abends spät von der Beerdigung heimkommen. In unserer gesunden, kindlichen Unbefangenheit fiel keinem ein, dass ein solches Gespräch an diesem Bett unpassend sei, am wenigsten Elschen selber. Denn sie fragte nun sogleich: »Würdet ihr gerne sterben?« Dabei schaute sie uns alle zugleich an.

»Ich nicht,« fiel ich vorschnell ein. Bevor meine Fünffrankengeschichte nicht geregelt war, wollte ich überhaupt nicht sterben, und auch nachher noch ziemlich lange nicht.

»Wenn man wüsste,« bemerkte altklug die strenge Berta, »dass man nachher gleich einem Engel in den Arm fiele, ja, dann schon!«

»Das weiss man aber doch nicht!« bestritt ich.

»O ja doch, das weiss man!« lispelte Elschen.

Sie schloss glücklich die Augen, denn sie erinnerte sich, wie gestern der Pfarrer gekommen; wie man darauf alle Türen zugetan, so dass sie mit dem freundlichen Geistlichen ganz allein war; wie sie ihm dann das kleine Büchlein ihres Lebens ausplauderte, mehr Dummheiten als Sünden, mehr Unwissenheit als Übelwollen. Jetzt war ihr sehr wohl. Sie wusste, dass der liebe Gott alles verziehen hatte, selbst jenen bösen Augenblick, wo sie den Finger ins Honigschüsselchen getaucht und zweimal – oder war es dreimal? – sie will lieber sagen dreimal – daran geschleckt hatte. Längst hatte sie das der Mutter gebeichtet. Doch nun wusste auch der Pfarrer alles, nun hatte es keine Not mehr, nun war ihr wirklich leicht, so leicht, als zöge sie in einem durchsichtigen Wölklein durchs Blaue hinauf und immer noch höher hinauf. Engelchen sah sie bis jetzt noch keine, aber sie glaubte doch hinter der Tapete und mitunter neben dem Bette und zwischen dem gefalteten Vorhang hervor ein süsses Kichern und Summen zu hören, wie von Geisterchen, die sicher sehr bald etwas von ihrem himmlischen Wesen sehen lassen würden, sei es ein goldenes Haarschöpfchen, sei es einige Federchen von den kurzen, spitzigen Flügeln, mit denen sie an der Kirchenwand gemalt sind.

»Und du, Thedi,« fragte Elschen und strengte sich an, ihm ins Gesicht zu schauen, »möchtest du auch nicht sterben?«

»Was denkst du, ich?« antwortete Theodor bestürzt, »was soll dann aus dem Zuchtstier werden, der sich nur von mir füttern lässt? Und meine zwei Geissen, wo wollen die hin? Ich habe doch jetzt nicht Zeit zu sterben, ich – nein, Elschen – du lachst mich aus, aber –«

Elschen lächelte wirklich.

»Da sieh einmal unsern Tyras an! Wenn ich nur einen halben Tag fort bin, heult er zum Erbarmen.«

»Das ist wahr,« gestand Berta.

»Auch muss ich später für den Vater auf den Viehmarkt gehen und Rosse kaufen; und, eja ins Militär muss ich auch, zur Kavallerie, die reitet, ja, ja, das muss ich, siehst du, es geht schon nicht anders!«

Elschen hatte noch etwas auf der Zunge. Sie bedachte sich ein wenig, wurde rot, aber sagte dann rasch: »Aber, Thedi, mit mir sterben?«

»O mit dir sterben,« erwiderte statt des Knaben Schwester Paula, »sogleich wollte ich das!« Sie stand Theodor gegenüber auf der anderen Bettseite und schmiegte sich zärtlich an Elschen.

»Du wirst auch nicht sterben, dummes Zeug, so zu reden!« polterte Theodor nun und fuhr ihr wieder über das Haar, was sie nicht ungern zu leiden schien.

»Nein, wer denkt denn auch ans Sterben? Die Base, musst du wissen, war schon zweiundachtzig Jahre alt. So ein junges Vögelchen lässt man doch nicht schon ausfliegen!«

Überrascht blickte ich Theodor an. Woher hatte er dieses wunderbare Wort?

Der rauhe und doch feinfühlige Bube merkte sogleich, wie sich eine leise Traurigkeit wie ein durchsichtiger Schleier über das kleine kranke Gesicht legte, und fügte darum unmittelbar bei: »Aber wenn du und ich nach vielen Jahren einmal miteinander sterben dürfen, dann nehmen wir doch den Tyras mit. Man weiss ja nie, was einem auf dem Weg passieren kann.«

»Aber er dürfte nicht bellen,« bemerkte Elschen freudig.

»O er wird artig sein. Schau', ich machte nur so –« er hob den Zeigefinger – »und der Hund kriecht mir vor die Schuhe.«

»Ja, das ist wahr,« bestätigte Berta streng und beinahe zornig, weil alles so richtig war, was der Bruder sagte und sie in nichts widersprechen konnte.

»Aber ich würde doch gerne sterben,« seufzte Elschen, ohne irgend zu wissen, was eigentlich leben und was sterben heisst. »Ich würde euch dann zuschauen vom Himmel herab am Abend, ja, ja, durch den Abendstern wie durch eine Brille. Und ich würde schon sehen, was ihr treibt!« schloss sie vergnügt und schier ein wenig schlau, indem sie dachte, wie sie uns etwa auf einer Heimlichkeit ertappe.

Bei diesen Worten schrak ich zusammen wie von einer Wespe gestochen. Ah, sie würde wahrhaft wie jeder Geist alles sehen hier unten auf Erden, nichts könnte man mehr geheim halten. Wie ich das gestohlene Geld in der Tasche herumtrüge, wie ich es nachts unter das Kopfkissen schöbe, alles sähe sie. Die ganze Dieberei läse sie mir dann aus dem Herzen, denn diese Geister sehen auch in die letzte Falte der Seele hinein. Nein, das durfte nicht sein, Elschen musste leben, wenigstens, bis ich kein Dieb mehr war. Morgen ist Samstag, da gehe ich über den Melzberg zum Stoppelhofer und er muss mir bei Gott und Seligkeit den Belgier wieder geben. Es fehlen mir nur noch fünf Rappen daran. Die will ich ihm vierfach nachzahlen, wenn ich nur jetzt, um Gottes Willen jetzt das Silber zurück bekomme!

Das Kind fühlte sich sehr müde, als der Besuch ging. Es schlief fast den ganzen Abend, und wenn es die Augen offen hielt, schien es immer noch zu schlafen, oder es war so zerstreut oder versunken, als lebe es in einer anderen Welt.

Am Samstag kam mir die Mutter sehr ernst vor. Der Pfarrer und der Doktor waren schon früh beim Schwesterchen gewesen. Auch der Lehrer Philipp Korn kam noch rasch vor Beginn der Schule, und als er zu uns in die Lehrstube trat, blickte er zuerst auf mich mit einem seltsam roten Auge. Ich sah, dass er mir etwas sagen möchte, aber etwas, was er ebenso ungern sagte, als ich es ungern anhörte. ›Wenn er nur nicht zu meiner Bank herunterkommt,‹ dachte ich, ›wenn er nur nichts sagt! Es ist sicher nichts Gutes!‹ Philipp Korn schwieg denn auch.

Aber in der letzten Stunde, da wir ein kriegerisches Gedicht von Körner deklamieren sollten, schlug er das deutsche Lesebuch zusammen und fing an, uns Geschichten zu erzählen, was er sonst nur zweimal im Jahre tat: am Silvester und in der Fastnacht. Doch waren es eigentlich keine richtigen Geschichten, wie wir Kinder sie liebten und woraus wir ersahen, wie es einem lustigen oder traurigen Menschlein von den Windeln an bis zu einem goldenen oder doch gut silbernen Ruhebänklein des Lebens durch manche vorherige Fährlichkeit erging. Nein, nicht so plauderte Philipp Korn jetzt. Da, wo er bisher mit der Schilderung aufhörte, da begann er jetzt. Er redete vom Weggehen aus der Welt. ›Aha, das ist es, was er mir allein hat sagen wollen!‹ dachte ich dabei, ›aber das geht ja nur Elschen an, vielleicht nicht einmal Elschen!‹ Und ich las es den andern Schülern vom Gesichte ab, dass sie ganz gleich urteilten wie ich. Ja, ich hörte den Namen meines schwerkranken Schwesterchens mehrmals über die Bänke schweben.

Doch bald merkten wir, dass es uns alle gleichmässig berührte, weil wir alle ja sterben müssen.

Kapitel 7

Es war eine Geschichte vom losen Fräulein Leben und von der gestrengen Frau Ewigkeit, die auf einer Heerstrasse zusammentrafen und ein Stück weit mitsammen gingen. Jene war heiterblau, diese dunkelgrau bekleidet. Aber sie gingen nicht allein. In ihrer Mitte Arm in Arm, klapperte ein dürrer, hagerer Geselle mit, Gevatter Tod.

Nun entspann sich ein merkwürdiges Dreigespräch.

»Du bist ein Schurke, Tod!« sagte mit saftendroten Lippen frischweg Fräulein Leben. »Ich sollte dich eigentlich aus dem Arm schütteln.«

»Aber, ich bitt' schön, hübsche Jungfer Bas', man verschwärzt und verleumdet mich.«

»Nein, du bist der edelste Helfer!« rühmte die alte Mutter Ewigkeit mit ihrem pergamentgelben Gesicht und ihrem straff gescheitelten, silbergrauen dünnen Haar.

»Ahne, das ist zuviel Ehre – –«

»Was bist du denn,« fragten die Weiber, »wenn man dich weder loben noch schelten darf?«

»Ich bin nichts, gar nichts ohne euch. Ich bin der letzte Buchstabe von dir, liebes Bäschen, und bin der erste Buchstabe von dir, ehrwürdige Grossmutter Ewigkeit. Aber wenn ich nicht wäre, wäret auch ihr nicht. Du, regsames Jüngferchen, hättest keinen geruhigen Feierabend und du, stille Ahne, hättest keinen Morgen. Seht, ich bin euch so nötig wie der Abend dem Tag und der Nacht nötig ist.«

Die Greisin nickte, aber Bäschen Leben meinte. »Warum tötest du dann auch Kinder? Menschen mitten im Morgen? Sag', Lügner!«

»Sei höflich, Bäschen, ich lüge niemals! – Du wirst doch nicht glauben, dass ich eine so mechanische, stumpfsinnige, irre Uhr in der Weste trage wie ihr Menschen. Wenn ich sage: ein Tag, – so meine ich nicht durchaus den achtzigjährigen Gemeindeammann von Lachweiler. Das ist an der lebendigen Gottesuhr, nach der ich mich richte, vielleicht noch lange kein Tag. Und ich meine nicht durchaus ein zehnjähriges Kind von Heierlis oder Walomers. Das ist vielleicht an meiner Uhr schon viel mehr als ein Tag. Eure Uhren taugen alle nichts. Sie gehen alle über einen Leisten. Und doch hat kein Mensch die gleiche Zeit. Jeder hat eine andere Uhr, mit andern Stunden und Jahren. Du freilich, Bäschen, glaubst, jeder Mensch müsse so und so viele Paar Schuhe durchgetrampelt haben. Da irrst du. Die Schuhe sind nicht die Hauptsache. Das Seelchen im Leibe ist die Hauptsache. Das sagt von selbst, wie früh oder wie spät es ist. Ich habe schon Seelchen aus dreijährigen Körperchen entbunden. Die waren reifer, als viele Neunziger. Und ich habe Seelen aus Achtzehnjährigen geholt. Die waren welker als Sechziger. Ich,« sagte der Tod und klopfte klirrend an seine Knochenbrust, »ich mache sie nicht reif oder welk. Ich bin nur der Finger, der sie pflückt, der Rücken, der sie vom Diesseits ins Jenseits trägt. Gott winkt und ich hole die Gezeichneten. Gewiss, ich meine es gut. Aber ab und zu wollen die Seelchen nicht recht mitkommen. Sie schauen immer wieder zurück und vergaffen sich ins Hintenliegende und wollen nochmals Wurzeln in den verbrauchten Boden schlagen. Da muss ich sie zerren und reissen, oft mit Schweiss und Blut, bis sie gehorsam folgen. Doch deswegen bin ich kein böser Führer, sondern sie sind böse Gespanen.«

Nun nickte auch Fräulein Leben ganz wenig.

»Jetzt hör' noch, Bäschen, gerade deine Lustigen, deine Jungen, deine Kinderchen folgen mir am liebsten. Ein Greis mit seinem goldenen Feierabendgesicht ist gewiss ein prächtiger Himmelfahrer und tief senken die Patriarchen und Propheten vor ihm ihre Standarten. Aber wenn so ein süsser grüner Schlingel, Mägdlein oder Bübel, das noch wie ein voller, roter Rosenstock dasteht und lacht, wenn ich's anfasse, nun mit allen hundert Blumen und Räuchlein in den Himmel wirbelt, so dass der ganze Saal von solcher Jugend zu duften anfängt und es den grauesten Engeln schelmisch zumute wird und sogar unser alter Stammvater ein Schnadahüpferl aus dem weiland Paradies zu pfeifen probiert: na, meine Damen, das ist dann doch wahrhaft noch viel köstlicher anzuschauen!«

Mit dieser Erklärung war Bäschen Leben zufrieden und wollte dem Gevatter dankbar die Hand drücken. – Aber, denkt euch, meine Kinder, da stand schon niemand mehr zwischen ihm und der alten Mutter Ewigkeit. Sie zwei gingen allein Hand in Hand mitsammen.

Da sagte Jüngferchen Leben: »Liebe Grossmutter, ich habe dir die Hand gedrückt. Verstehe wohl, ich habe den Tod gemeint!«

Und die Ewigkeit darauf: »Bäschen, merkst du nicht, dass es nichts Drittes zwischen uns braucht! Das ist ja eben der Tod, wenn wir uns die Hand drücken. Jetzt gerade ist eine schöne liebe Seele wieder frei geworden und gen Himmel gefahren.« – – –

So ungefähr und weiter noch vieles erzählte der Lehrer in seiner seltsamen Art, die Augen bald schliessend, bald durch die Fenster hinaus weit, weit über das falbe Winterland in eine unendliche, ferne Gegend schickend. Die Bauern sagten, er sei ein Philosoph. Die reden nämlich so spiegelklares und spinnwebwirres Zeug durcheinander.

Wir Schüler meinten, solange Lehrer Philipp redete, seinen Satz haarscharf zu verstehen. Eine Minute später vernebelte sich uns wieder alles. Aber einen Klang von Trost hatte dieses Märchen doch in mein Bubenherz geläutet.

Als ich indessen auf dem Heimweg aus der Schule das dichtverhängte Kammerfenster wieder erblickte, hinter dem meine arme kleine Schwester lag, da kam mir das Kranksein und Sterben auch für so junge Geschöpflein, nach denen der Himmel hungert und die er mit Zinken und Flöten empfangen will, dennoch wie ein schwarzes Unglück vor. »Nein, nein, liebes Bäschen Leben,« sagte ich, »gib dieser grauen harten Grossmutter doch ja nicht deine warme Hand! Elschen soll noch auf Erden bleiben, und ich helf' ihm dazu, soviel ich kann. Ich und du, Base, wir selbander, werden doch sicher über das graue Weiblein Ewigkeit Meister.«

Kapitel 8

Von der Haustüre bis um Estrich ging eine heimliche aber grosse Unruhe durch unser Haus. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich meine Mutter mit ungekämmtem, scheitellosem Haar. Elschens Fieber stiegen so hoch, dass die Kleine uns nicht mehr kannte. Der Arzt hatte Eis verordnet. Aber bei diesem Tauwetter gab es ringsum nicht einmal mehr Schnee. »Mutter,« sagte ich wie erleuchtet, »ich hole am Tannsee einen Sack voll. Dort gibt es noch genug Eis.« – Und ohne ihr Ja oder Nein abzuwarten, sprang ich in meine Kammer und rechnete auf der Bettdecke nochmals genau mein Kleingeld zusammen: einen saubern Einfränkler, neun Zwanzigräppler und dreiundzwanzig Halbbätzler. Jeden dieser Fünfer kannte ich genau. Den verbogenen besonders gut. Mit ihm hatte ich das erste Brötchen gefastet. Und als ich den glänzenden hier mit der laufenden Jahreszahl in die Weste schob, da hatte ich schon einen Franken erspart. Der mit dem Rostflecken, ach, das war der unselige, den ich gegen das Zwiebackbrötchen herausbekommen hatte.

Dreimal zählte ich, ob die Summe wirklich vierhundertfünfundneunzig Rappen betrage.

Ich knüpfte den ganzen Haufen jetzt vorsichtig in mein Nastuch ein, dann lief ich ungestüm den Hügel empor, den Eissack auf der Schulter und den Pickel in der Hand. Der Marsch war mühselig wegen des kotigen Weges und überaus traurig, so oft ich an den gleichen Spaziergang vor vier Wochen in eitel Lust und Übermut zurückdachte.

Bald hatte ich den Sack gefüllt und sprang jetzt mit klopfendem Herzen zum Bauernhof hinüber, über dessen Dach ein niedriger, zerstreuter Rauch kroch. Es war Vesperzeit. Durch die Haustüre gelangte ich unmittelbar in die Küche. Hier sassen an der Seitenwand mitten im blauen, erstickenden Rauch der Bauer, sein Weib, eine ältere Tochter und das Gesinde beim Kaffee. Unter dem Tische hervor knurrte ein schwarzer Hund.

»Was will der Junge?« fragte der Stoppelbauer.

»Ich – ich möchte wohl – gerne mit Euch reden!« –

Mit grosser Scheu knüttelte ich meine Geldkatze aus den Hosen, »und – ja – eben – ich möchte gern den Fünffränkler zurück, den ich Euch vor vier Wochen gegeben habe, Ihr wisst wohl noch, wegen dem Heimfahren – da sind vierhundertfünfundneunzig Rappen. Es fehlt nur noch ein Fünfer,« fügte ich kleinlaut bei, »aber ich will Euch dafür am nächsten Samstag zwei Fünfer bringen.«

»So gib ihm den Fünffränkler,« sagte die Frau zum Manne, »wenn es so ist. Er wird eben lieber sein Stück wieder haben.«

»Ja, so wie die Frau sagt! – Ich möchte meinen Fünffränkler wieder.«

Der Bauer schnitt sich ein Stück Käse ab. »Ja – den Fünffränkler habe ich nicht mehr. Alles Silber ist am Dienstag auf den Markt in die Stadt gegangen.«

Bei dieser Eröffnung war mir wahrhaft, ich werde in einen Abgrund geworfen. Die Leute am Tische blickten mich mitleidig an.

»Was liegt dir denn am Fünffränkler?« fragte die Frau wohlwollend und führte mich zu einem Stuhl. »Sitz ab! Du kommst vom Dorf. Dort gibt dir der Pfarrer oder der Wirt zur Krone gern einen Fünffränkler für deine Münzen.«

»Aber, das ist dann nicht mehr der gleiche!« versetzte ich beinahe weinend.

Die Bäuerin schenkte mir eine Tasse voll und meinte zum Manne gewendet: »Es ist vielleicht sein Taufbatzen oder sein Zahngeld. Das wechselt man nicht gern.«

Mich beschämten diese guten Worte. Nein, es war nicht das Patengeschenk, es war einfach ein gestohlener Fünffränkler, und nur dieser gleiche Fünffränkler, meinte ich, könne mich vom Fluche der Sünde retten.

»Könnte ich ihn vielleicht wieder bekommen?« fragte ich in meiner Verzweiflung. »Es war der König Leopold von Belgien darauf, der mit dem Bart und langen Kopf.«

»Nein, Bub, wo der ist, weiss Gott allein! Vielleicht schon überm Meer! Aber höre, jeder Fünffränkler ist auf den Rappen gleichviel wert.«

Mir füllten sich vor Bitterkeit die Augen. »O ihr versteht mich nicht,« rief ich von Schmerz überwältigt und stand rasch auf.

»So trink doch aus!« bat die Frau. »Bist du nicht Walters, der Älteste?«

»Nein, ich muss heim,« sagte ich und riss mich eilends los. »Ich habe einen Sack Eis geholt.« Damit sprang ich unvermittelt aus der Küche, ohne Abschied. Nur auf der Schwelle rief ich über die Schulter zurück: »Danke!« – doch wusste ich nicht warum.

Ach, keinem kann ich beschreiben, wie elend mir um die Seele war auf diesem Heimgang. Als ich in unser Tal hinunterstieg – es war sehr neblig gegen Abend geworden – da sah ich schon von der Halde aus, dass in der Kammer Elschens helles Licht glänzte. Aber auch im übrigen Haus war überall Licht. Weitaus am stärksten glänzte es jedoch aus der Krankenkammer. Eine grosse Beunruhigung erfasste mich. Was ist das? Kein gewöhnliches Licht! In mächtigen Sätzen sprang ich den Hügel hinunter, rannte ins Dorf hinein und kam voll Schweiss und Angst über die Treppe zur Stube.

Die Tür war offen, aber die Stube stand leer, nur die Lampe brannte auf dem Tische. Auch die Türen der Küche und des Speisestübchens standen ordnungslos offen. Keine Seele herum! Ob der Diele hörte ich ein fernes Gemurmel, und nun glaubte ich auch reichlich Kerzenrauch zu riechen. Oben bei Elschen war man also!

Mit Eissack und Pickel erstürmte ich die Stiege. Im obern Stock flutete mir aus der offenen Kammer Elschens das Licht vieler Kerzen entgegen. Paula trug eine, die Mutter, die Magd, die Patin eine, und sie alle knieten mit den Kerzlein, hinten gegen das Fenster auch der Lehrer und seine alte Mutter und zwei Schülerinnen. Der Pfarrer stand am Fussende des Bettes und betete aus einem Büchlein mit rotem Schnitt. Aber das alles schwamm dunkel wie ein Haufen Schatten zwischen meinen Blicken und den Lichtern hin. Elschen konnte ich nicht sehen. Ihr Bett mit dem hohen Kopfende stand mir entgegen. Ich sprang über die Schwelle vor und stiess einen Schrei aus vor Schrecken.

Da lag ja mein Schwesterchen so tief und steif und so klein im Kissen wie eine Puppe von Wachs. Die Augen waren noch offen, aber sahen auf niemanden, sondern blickten, wie mir schien, statt heraus in sich hinein. Die Händchen waren gefaltet und pressten ein schwarzes Kreuzlein. Die kleinen, weichen Furchen an den Fingergelenken schienen weggewischt. Voll und faltenlos war alles Fleisch an ihr. Die bläulichen Lippen liessen eine Spalte offen, durch die man die weissen Oberzähne schimmern sah.

»Elschen!« würgte ich hervor und liess Pickel und Sack fallen. »Ist sie tot? Ist sie tot?«

Dann fiel ich neben den Leuten, die ihren Arm nach mir ausstreckten, auf die Knie und fing an, das Beten der Versammelten durch mein lautes, ungeheuerliches Weinen zu stören. Schliesslich drückte die Mutter mein Gesicht in ihre Schürze, und nun weinte ich stiller, wie man weint, wenn aller Widerstand gebrochen ist.

»Es ist jetzt bei den Engeln!« flüsterte mir die Mutter zu.

Da hob ich den Kopf ein wenig und betrachtete Elschen scheu. ›In der Tat,‹ dachte ich, ›es schaut und lauscht ganz anderswohin als wir.‹

Nun fing Paula wieder an zu weinen.

»Es ist ihm besser, als uns hier,« wandte die Mutter sich gegen meine Schwester. »Auch sieht es uns ja. Es ist ein Engel. Und die Engel sehen uns bis ins Herz hinein.«

Das sprach die Mutter gegen Paula gewandt. Aber ich fühlte es der Stimme förmlich an, dass mir allein diese Worte gelten konnten.

Furchtbarer als je erfasste mich jetzt im Angesicht der Leiche der Gedanke, dass Elschen in diesem Augenblick meine Sünde schon wisse – oder dass ihm der liebe Gott meine Schlechtigkeit erzähle.

›Weisst du auch, Elschenengelchen,‹ wird er sagen und mit seiner heiligen Hand den braunen Scheitel der Schwester streicheln, ›weisst du auch, dein Bruder da unten ist ein ziemlich schlechter Bube.‹

Elschen würde ganz beschämt seine Flügelchen, die ihm kaum recht angewachsen sind, hängen lassen.

›Was meinst du, wieviel der Erzdieb deiner Mutter gestohlen hat? Etwa zehn Rappen oder einen halben Franken? Schau, einen Fünffränkler!‹

Und jetzt würde Elschen vor Schrecken die Flügel sträuben wie ein geängstigtes Vögelchen, und wenn man im Himmel noch weinen könnte, so würde es nun sicher weinen. Und wahrlich, es wird eines Nachts herunterfliegen und an mein Fenster pochen und rufen: ›Heierli! gib das Geld zurück, ich darf mich ja sonst im Himmel nicht einmal neben den mindern Engeln zeigen!‹

Ja, es kommt und wird mich erschrecken und mir gar keine Ruhe lassen. Bald wird etwas im Kasten krachen, bald unter dem Bett liegen und seufzen, bald am Kissen vorbeihuschen, vor der Türe mit den Füssen scharren oder zum dunkeln Fenster bleich hereinschauen. Ich bekomme böse Träume, ich werde gar krank, ach Gott, wie schrecklich ist das!

Hätte ich doch den Fünffränkler beisammen!

Wieder sah ich aufs Bett. Rein wie Schnee war da alles, das Linnen, die Stirne, der Totenkranz. Wie durfte ich mit meiner Sünde neben diesem reinen Wesen stehen? Wird es nicht plötzlich erwachen und schreien: ›Mein Bruder da ist ein Dieb, schafft ihn doch aus meiner stillen Totenkammer!‹

Elschens Lippen waren jetzt so bleich, als wäre nie ein hitziges Wort darüber gekommen, und die kleinen Hände waren so weiss, als hätten sie nie etwas Schmutziges berührt, nie etwas Unerlaubtes probiert, vor allem nie gestohlen; und das hatten sie auch nie! Nein, diese Hände hatten immer nur gegeben!

Ja, einmal – wie kam mir das jetzt nur in den Sinn? – da ass ich mein Brötchen in der Pause mit einem so schnellen Hunger, dass Elschen herzulief und mir ihr noch unangegriffenes Brot herhielt und sagte: »Heierli, nimm meines auch, du hast Hunger!«

Und ich nahm es und ass es vor den Augen Elschens fertig. – O, welch ein Mensch war ich! Und ich bin nicht besser geworden, nein schlechter, jetzt habe ich gar gestohlen, ich bin ein Dieb neben diesem Engel, o! –

In diesem Augenblick überkam mich die Zerknirschung so wütend, dass ich alles vergass, was um mich herum war. Ich schrie laut auf, zerrte mich von der Mutter los und sprang in meine Kammer! – Dort riss ich das Geld unter dem Kissen hervor, lief zurück, stürzte vor der Mutter hin und rief: »Mutter, Mutter, da ist das Geld!«

Ohne auf sie oder Paula oder die Leiche mehr zu achten, gerade, als würde ich von einem innerlichen Sturme gerüttelt, knotete ich die Zipfel des Nastuches auf, riss es dabei in Fetzen und warf das Geld klirrend und weiterrollend vor uns auf den Boden. Dann hob ich die Hände und schrie mit einer Stimme, die ich selbst nicht mehr kannte: »Mutter, – es fehlen noch fünf Rappen! – Fünf Rappen – fehlen – noch!« wiederholte ich und brach dann über dem martervollen Geldhaufen zusammen.

»Nun hab' ich doch kein Kind verloren!« hörte ich die Mutter sagen, ich spürte ihr warmes Auge und ihre Lippen auf meiner Wange. Dann brauste es über mich wie ein Wind, und ich verlor die Besinnung.

Kapitel 9

Ich erwachte in meinem Bett, gerade als der Arzt seine weisse Manschette vom Handgelenk in den Ärmel zurückschob, um mir den Puls zu greifen. Sogleich fiel mir das Auge wieder wie von selbst zu. Aber ich hörte den Doktor leise zählen, über hundert hinaus.

»Jede Aufregung muss vermieden werden, Frau Walter,« sagte der Arzt und liess meine Hand los. »Lassen Sie niemand herein! Ihr Knabe muss die Krankheit schon lange mit sich herumgetragen haben.«

»Wird es schlimm kommen?« fragte die Mutter leise. Ihre Stimme sollte fest erscheinen, aber sie zitterte doch ein wenig. Ich hörte ungemein scharf.

»Es kann eine Krankheit zum Heile sein!« versetzte der Arzt ausweichend.

Das verstand ich nicht. Wie Fensterladen am hellen Mittag schlossen sich mir wieder die lichten Sinne, und dunkel wurde es wie früher. Aber doch schoss es mir noch durch den Sinn: ›Ich habe bekannt, zurückgegeben, mir ist wohl!‹ Und wie in etwas Weiches zurückfallend, schlief ich ein.

Als ich nach Wochen wieder aufstand, bleich, unsicher in den Sohlen und mit zitternden Fingern, da hatte man Elschen längst begraben. Ende März durfte ich an einem sommerlich warmen Nachmittag zum erstenmal mit Paula auf den Friedhof gehen. Das schmale Grab duftete von Veilchen. Paula erzählte mir, dass die Blümchen aus Kronenwirts Veilchenwiese stammen. Aber nicht Jakob, nein Theodor habe sie mitsamt den Wurzeln der Mutter gebracht, um Elschens »Totengärtlein« damit zu zieren. Der Walomer sei zu Jakob gegangen und habe seinen Gegner darum gebeten, was Theodor nicht so leicht geworden sei. Er bittet nicht gern, besonders nicht seinen Gegner!

Kaum hörte ich darauf. Auch die goldschnäbeligen Amseln, die zu oberst auf den Friedhofbäumen sassen und süss wie eine Orgelpfeife sangen, und das leise Geflüster im heimlich ergrünenden Geäst beachtete ich nicht. Sondern ich blickte von Elschens Grab suchend über die anderen Gräber hin, als müsste da irgendwo neben dem guten Schwesterchen auch der alte böse Heierli begraben sein, jener Heierli, der fünf Franken gestohlen hat. Nirgends sah ich das gesuchte Grab; dennoch fühlte ich mich als ein anderer, neuer Heierli.

 


 


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