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Die Spange bringt es an den Tag

Am andern Tage, beim Abendbrot, das wieder einmal wie so oft durch einen leidenschaftlichen Meinungsaustausch zwischen Sybille und Peter über die Frage, wer von ihnen beiden eigentlich der Dümmere sei, seinen Reiz erhielt, wurde Sybille plötzlich und etwas unerwartet still.

»Na, ist dir dein Mund mit einem Male zugewachsen?« spottete Peter. Aber Sybille ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. »Pah«, meinte sie hochmütig und schaute verächtlich auf ihren Bruder, »mit dir werde ich mich überhaupt nicht mehr abgeben. Du bist in meinen Augen ein ganz dummer kleiner Junge.«

»Und du bist in meinen Augen eine dämliche Pute«, erboste sich Peter, der nicht sehr zahm in seinen Ausdrücken war, wenn er einmal gereizt wurde.

»Kinder ... Kinder«, mahnte die Mutter. Sie hatte ihre Mühe mit den beiden, die sich oft so schlecht miteinander vertrugen wie Feuer und Wasser. Aber im tiefsten Herzen waren sie sich wohl doch gut, das tröstete die Mutter ein bißchen. Sie waren eben nur zu stolz und zu sperrig, als daß sie es jemals zugeben würden.

Einen kleinen Augenblick war es still. Das hielt meist nicht sehr lange vor, leider – aber diesmal sagte Sybille plötzlich in das Schweigen hinein sehr leise, sehr sanft: »Ich habe eine Überraschung für dich, Mutsch – du wirst sie erleben, nachher, wenn du schlafen gehst. Aber du mußt dann nicht traurig werden.«

»Aber Kind«, sagte Frau Beise und tat wundervoll ahnungslos, »wie soll ich denn traurig werden, wenn meine Tochter mir eine Überraschung bereitet? Das kann doch keine schlimme Überraschung sein, nehme ich an.«

»Nein, natürlich nicht«, wehrte Sybille ab. »Nur ... nun, du wirst ja sehen.« Dann, nach einer kleinen Pause: »Mein Soldat hat mir heute geschrieben, der Ludwig. Aber das weißt du ja. Bei ihm mußt du dich später auch bedanken, er hat mir geholfen bei meinem Vorhaben. Übrigens« – und nun blitzten ihre Augen triumphierend zu ihrem Bruder hinüber, der seelenruhig seine Stulle kaute – »mein Soldat hat eine Auszeichnung erhalten. Er hat die Spange zum eisernen Kreuz erhalten, jawohl. Er ist ein Held! ...«

»Das ist schön«, sagte Frau Beise leise. »Das freut mich sehr – wir wollen alle zusammen ihm einen Glückwunsch schicken, was meinst du dazu?«

»Fein! Prima!« Auch Peter war begeistert, man sah es ihm an. Und er war fast stolz darauf, daß Sybille, daß seine Schwester mit einem Soldaten Briefe wechselte, der diese hohe Auszeichnung erhalten hatte. Es war ihm so, als fiele dadurch von dem Glanz, der sich um des Soldaten Stirn legte, auch auf ihn ein kleiner Schimmer ab.

»Und weißt du, Bille«, meinte er dann noch, »wenn der Krieg noch länger dauern sollte, wer weiß, vielleicht kriegt er noch einmal das Ritterkreuz. Das wär' vielleicht knorke ...«

Sybille strahlte. In diesem Augenblick fand sie, daß Peter eigentlich ein ausnehmend netter Junge sei, und daß man ihn gut leiden könnte. Ja, sie verstand nicht, wieso sie sich sonst doch so oft zankten.

Der Augenblick verging leider sehr schnell, viel zu schnell. Peter schluckte plötzlich den letzten, ziemlich umfänglichen Bissen seiner dicken Klappstulle fast gewaltsam herunter, ja er würgte ihn herunter, wie eine Riesenschlange ein Kaninchen oder gar einen Ziegenbock runterwürgen mag, und dann schaute er stier vor sich hin, mit einem Gesicht, von dem man nicht genau sagen konnte, sah es ausnehmend dumm oder ausnehmend tiefsinnig aus.

»Du machst ein Gesicht, Peter«, meinte Frau Beise sehr erstaunt, »als hättest du eben Amerika zum zweitenmal entdeckt.« Sie war als Mutter natürlich ohne weiteres bereit, den fragwürdigen Gesichtsausdruck ihres Jungen auf die bestmögliche Art auszulegen.

Peter gab keine unmittelbare Antwort auf diese halbe Frage. »Sag mal«, wandte er sich an Sybille, »hat dir dein Soldat das selbst geschrieben, das mit der Spange ...?«

»Natürlich!« Sybille wunderte sich – der Himmel mochte wissen, worauf Peter hinauswollte.

»Hm ...« meinte der brummelnd. »Eigentlich anständig von ihm, daß er so gar keinen Hehl aus sich macht.«

»Du redest in Rätseln«, erwiderte Sybille. »Ich möchte nur wissen, was der ganze Quatsch soll.«

Aber nun grinste Peter. Häßlich grinste er. Wenn sie so mit ihm redete, dann brauchte er schließlich auch nicht mehr mit der Wahrheit hinter dem Berge zu halten.

»Es ist nämlich so«, sagte er mit der stolzen Überlegenheit, die das Wissen verleiht. »Wenn er, wenn dein Soldat, die Spange zum Eisernen Kreuz bekommen hat, dann muß er doch Weltkriegsteilnehmer gewesen sein, nöch? Die Spange, die kriegen doch nur Soldaten, die schon im Weltkrieg das E. K. erhalten haben.«

»Na ja – und?« fragte Sybille harmlos. Sie begriff immer noch nicht.

Peter griente heftiger. Seine Meinung über das weibliche Geschlecht, die nie sehr hoch gewesen war, sank um einige weitere Grade.

»Mensch«, sagte er grob, »wenn er schon den Weltkrieg mitgemacht hat, dann ... na, dann muß er doch mehr als vierzig Jahre alt sein. Das kannst du dir doch an den zehn Fingern abzählen. Dann ist er vielleicht bald fünfzig und also fast ein alter Mann. Und du ...«

Sybille wurde erst sehr rot und dann schrecklich blaß. Erbarmenswürdig blaß. Sie schluckte heftig, als wäre ihr etwas in die falsche Kehle geraten, und es sah aus, als würde sie im nächsten Augenblick losheulen.

Das schien nun Frau Beise der richtige Augenblick zu sein, selbst einzugreifen und sich schirmend vor ihre Älteste zu stellen. »Vielleicht, überlegte sie, »hat Sybille ihn wirklich so als eine Art Jung Siegfried vor ihren Augen gesehen, diesen ihren Soldaten. Und daß sie nun erfahren muß, daß er älter, und so viel älter ist, als sie es sich dachte, das ist gewiß eine herbe Enttäuschung. Man muß ihr helfen.«

»Sybille«, sagte sie sehr ruhig und in einem Tonfall, der keinen Zweifel an ihren Worten aufkommen ließ, »Sybille hat sich nie gefragt, wie alt ihr Soldat sein könnte. Sie ist zwar erheblich älter und offensichtlich auch erheblich vernünftiger als du, mein Junge, aber« – und nun lächelte sie auf ihre schöne, bezwingende Art, »aber sie ist doch noch ein Kind, nicht wahr? Schließlich will sie ihren Soldaten ja nicht heiraten, so etwas gibt es wohl nur in Indien oder dort herum, denke ich. Sie hat an einen unbekannten Soldaten geschrieben, der einsam ist und keinen hat, der ihm zugehört, der ihn wirklich liebt außer seinen Kameraden draußen, und das ist wohl alles. Ob der nun zwanzig ist oder vierzig, das wird wohl für Sybille keine Rolle spielen. Auf solchen Unsinn kann nur ein ganz dummer und alberner kleiner Junge kommen, wie du einer bist, der sich nun schleunigst ins Bett verfügen muß.«

Sybille sah dankbar zu ihrer Mutter auf. In diesem Augenblick fand sie zum soundsovielten Male, daß sie die beste, die goldigste, die wundervollste Mutsch auf der ganzen Welt habe.

Peter erhob sich knurrend. Er war schwer gekränkt, und sein Gutenachtgruß war nur ein unverständliches Brummeln.

Frau Beise blieb mit Sybille allein im Zimmer zurück. »Weißt du«, sagte sie sanft und zog ihr Mädel dicht an sich heran, streichelte sie zärtlich, immer wieder, immer wieder, »dein Soldat, der wird gewiß nun bald Urlaub bekommen. Gerade die Älteren, so habe ich gehört, sollen jetzt auf einige Zeit nach Hause kommen dürfen. Aber er hat kein Zuhause, so schrieb er dir doch am Anfang, und es ist möglich, daß er, wenn man ihm Urlaub anbietet, darauf verzichtet zugunsten eines Kameraden. Aber wenn er wüßte, daß da irgendwo Menschen sind, die sich freuen würden, ihn aufzunehmen, ihm so etwas zu geben wie Heimat und Haus und Familie, dann würde er gewiß gern auf Urlaub kommen. Was meinst du, Sybille – er war immer, in all seinen Briefen, so furchtbar nett zu dir, er hat dich gewiß gern, und du hast ihn doch auch gern ... wollen wir ihm nicht schreiben, er solle hierher kommen, zu uns, wenn er Urlaub erhält? Wollen wir das tun, Sybille?«

»Ja«, nickte Sybille, und wenn sie auch noch ein wenig zitterte, wenn sie auch noch ein bißchen blaß war, sie vermochte doch schon zu lächeln, ein bißchen dünn noch, aber es würde bald sehr viel besser und leichter gehen. »Ja – das wollen wir!«


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