Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Sybille studierte den Ortsnamen, den ihr Soldat da hingekritzelt hatte, mit immer ungefüger werdender Hand – ach, wen konnte das wundern, wo diese Hand doch seit langem der Feder entwöhnt war und statt dessen die blanke Waffe trug. Cambrai? Natürlich ... Cambrai.
Sybille hatte die Zeitung mit dem großen Plan von Frankreich neben sich auf dem Tisch liegen. Sie las jetzt immer die Zeitung, sie verfolgte alle Angaben des Heeresberichts auf der Karte. Die Jungens machten es so, und das war wohl selbstverständlich. Aber Sybille fand, daß es für die Mädels nicht weniger selbstverständlich sei.
»Einmal«, überlegte sie, »werde ich eine Frau sein und Kinder haben, und ... oder, sehr viel später, da bin ich eine alte, verhutzelte Oma, und ich werde Enkel haben, die mich besuchen, und sie werden mich fragen, sie werden wissen wollen: Omi, wie war das alles, damals, in dem zweiten großen Krieg, als Deutschland wieder frei wurde und groß und mächtig? Du hast das damals doch miterlebt, du mußt das doch wissen. Ja, so werden sie fragen, und wenn ich dann nicht antworten kann, wenn ich dann gestehen muß, ich wüßte wenig oder nichts davon, ich hätte andere Sorgen gehabt und andere Dinge im Kopf gehabt, dann werden sie das nicht begreifen.«
Es machte ihr Spaß, sich das auszumalen: sie, Sybille Beise, eben noch ein Backfisch, eifrig bemüht, mit einem Soldaten draußen im Felde einen lebhaften Briefwechsel zu unterhalten, mit verbissenem Eifer Dinge lernend, die sie nie richtig begreifen würde und die ihr nie nützen würden, und dann, mit einem Male, eine ehrwürdige Großmutter, umschwärmt von einer Schar von Enkelkindern, und mit grauem Haar, vor der all die andern Menschen, die jungen, aufstanden, in der Straßenbahn und im Zug, damit sie sitzen konnte. »Peter sagt«, dachte sie, »daß wir ein paar Jahrzehnte später überhaupt keine Straßenbahn haben werden und auch keine Eisenbahn mehr, daß da jeder ein kleines Flugzeug in der Wohnung stehen hat wie vielleicht heutzutage ein Fahrrad, und mit dem in der Weltgeschichte herumsaust. Ich bin neugierig, ob das wohl so auskommen wird – Peter hat immer solch komische Einfälle.«
Aber gleich war sie wieder bei dem Brief, den sie im Schoß hielt. Alles war so seltsam. Mit einem Male nannte die Zeitung täglich Namen, die sie aus der Schule, aus der Geschichtsstunde kannte, die sie hatte lernen müssen, als man die Geschichte des Weltkrieges durchnahm. Das hatte mit Lüttich angefangen und mit Lille und war dann so fort gegangen, mit der Lorettohöhe und der Marne, mit Arras und der Somme und der Aisne und in der Champagne.
Und nun: Cambrai!
Sie dachte an Onkel Hermann, an den »großen Bruder« ihrer Mutter. Sie hatte ihn lebend nie gesehen. Aber das konnte natürlich nicht anders sein. Er war gefallen, zehn Jahre bevor sie, Sybille, geboren wurde. Als blutjunger Mensch war er ins Feld gezogen, und er war gefallen – gefallen bei Cambrai.
Sie und Peter, sie wußten alles von ihm, von seinem kurzen, schönen, flammenden Leben. Auf dem kleinen, weißen, zierlichen Schreibtisch, oben im Zimmer der Mutter, stand sein Bild, ein schmales, schönes Gesicht, das von einem Stahlhelm überschattet wurde, und jedesmal am Heldengedenktag pflegte die Mutter einen kleinen Kranz von Immergrün oder Immortellen um den Bilderrahmen zu legen und lange vor dem Bilde zu sitzen und es anzustarren. Sie mußte ihren Bruder furchtbar lieb gehabt haben, so lieb, daß sie ihn nie, selbst nach so langer Zeit nicht, vergessen konnte. Sie wurde nicht müde, von ihm zu erzählen, von seinen vielen lustigen Jungenstreichen, und wie er malen und zeichnen konnte. »Sicher wäre er einmal ein ganz großer Künstler geworden«, pflegte sie zu sagen, und dabei schaute sie dann irgendwo ins Leere, und ihre Augen glitzerten feucht – und wie begeistert er gewesen sei, als er von der Schulbank weg habe ins Feld ziehen dürfen. Ja, die Mutter sprach fast mehr von ihm – oder doch wenigstens ebensooft von ihm – wie von Papsch, der doch auch schon viele Jahre tot war, leider, und an den sich genau zu erinnern Sybille manchmal bereits etwas Mühe bereitete. Peter übrigens auch, und man mußte sich eigentlich schämen, wenn man das bedachte. Es war merkwürdig – oft konnte man im Zweifel sein, wer den größeren Platz in Mutters Herz einnahm, der Onkel Hermann, der sehr weit weg von hier in französischer Erde lag, oder Papsch, dessen Grab auf dem alten Friedhof man aufsuchen und pflegen konnte. Aber das lag vielleicht daran, daß Papsch so viel älter gewesen war als Mutti, und daß er so früh, so plötzlich gestorben war. Während Muttis Bruder, der Onkel Hermann ... mit dem hatte sie doch ihre ganze, lange, schöne und unbeschwerte Jugend gemeinsam verlebt.
Mit einem jähen Entschluß stand Sybille auf, ging zu ihrem Spielschrank, holte die Sparbüchse hervor. Mit einer ungestümen Bewegung haute sie das tönerne Sparschwein auf die Tischplatte, daß es in lauter Stücke zersprang.
Ein paar Münzen rollten herum, die Sybille eilig ergriff und dann mit gerunzelter Stirn betrachtete. Es waren sehr armselige und bescheidene Münzen, eine winzige Summe alle zusammen, und nun fiel Sybille ein, daß sie vor etwa drei oder vier Wochen den Inhalt dieses Sparschweins sehr behutsam mit einer Messerklinge herausbefördert und alles Geld, das sich darin befand, ausgegeben hatte. Für ziemlich dumme Dinge, wie sie sich jetzt, vor sich selbst errötend, gestand. Für ein paar Näschereien, deren Geschmack sie längst vergessen hatte, für ein paar Filmphotos, weil sie doch solche Photos sammelte und nie genug von ihnen bekommen konnte. Nein, das Sparen war nie Sybilles starke Seite gewesen. Jetzt, in diesem Augenblick, tat es ihr leid, und sie nahm sich ernsthaft vor, daß es nun anders werden sollte.
Freilich, dieser löbliche Vorsatz änderte nichts an dem Sachverhalt. Sybille zählte die Münzen, Kupfer und Messing und Aluminium oder was das war, immer wieder durch. Neunundneunzig Pfennige. Es wurde nicht mehr, da half all das viele Zählen nicht.
»Ich könnte mir von Mutti einen Vorschuß geben lassen auf das nächste Taschengeld«, entschloß sie sich. »Damit wenigstens zwei Mark voll werden. Zwei Mark, das sind doch sicher mindestens zehn Frank, und dafür bekommt man drüben in Frankreich schon einiges. Besonders jetzt im Sommer, wo die Blumen doch billiger sind. Natürlich wird sie wieder wissen wollen, weshalb und wieso und wofür – Mutti ist immer so komisch neugierig, wenn es sich um Geld dreht. Aber ich darf es nicht sagen, ich muß mir irgend etwas ausdenken, was sie glauben wird, denn sonst ... die ganze Überraschung wäre dann hin.«
Sie war froh, daß sie nun mit ihren Gedanken und Plänen halbwegs ins reine gekommen war. Und sie begann zu schreiben, langsam, zögernd, man konnte es ja nicht wissen, wie ihr Soldat die Bitte aufnehmen würde – der doch sicher nirgend recht zur Ruhe kam bei dem ungestümen Vormarsch und kaum Zeit fand, etwas zu suchen, was vielleicht nicht leicht zu finden war.
»Lieber Ludwig«, schrieb sie, »Du schriebst in Deinem letzten Brief, über den ich mich wieder furchtbar gefreut habe, Du wärest bei Cambrai. Das haben wir in der Schule gelernt, deshalb war mir der Name auch gar nicht so fremd und neu. Vielleicht bist Du jetzt schon sehr viel weiter, wo Ihr doch immerzu marschiert und marschiert und marschiert. Aber vielleicht erreicht Dich mein Brief auch noch dort, oder Du hast irgendeinen Kameraden, der zurückbleiben mußte, ich weiß das selbstverständlich nicht. Nur, wenn Du noch dort sein solltest, oder es sonst geht, dann suche doch auf dem deutschen Soldatenfriedhof das Grab von meinem Onkel Hermann. Hermann Vierhuff heißt er, ja, das hätte ich beinahe vergessen, und Du mußt es doch wissen, um das Kreuz zu finden. Er war der Bruder von meiner Mutti, und sie hat ihn sehr, sehr lieb gehabt, sie kann ihn nie vergessen. Sie denkt noch jetzt so oft an ihn, und sicher gibt es dort viele Kreuze, sicher sind dort im Weltkrieg sehr viele gefallen, es war doch eine große, schlimme Schlacht. Aber manchmal hat man Glück, nicht wahr, und wenn Du das Kreuz finden solltest, das Kreuz mit seinem Namen, dann nimm bitte die zwei Mark, die ich Dir beilege, und kaufe ein paar Blumen, kaufe so viele Blumen, wie Du für das Geld erhältst – es ist sehr wenig Geld, ich weiß, aber ich habe kurz vorher alle meine Ersparnisse ausgegeben, und das tut mir nun schrecklich leid. Nimm also das Geld und kaufe Blumen und lege sie auf den Hügel. Wenn es einen Hügel gibt, was ich auch nicht weiß. Oder kaufe einen Kranz und hänge ihn um das Kreuz, und wenn Du das Grab photographieren könntest, das wäre schön, ich würde meiner Mutter das Bild schenken und ihr damit sicherlich eine ganz große und unverhoffte Freude bereiten. Wenn Du es aber nicht findest, das Grab, bei aller Mühe, oder wenn Du nicht soviel Zeit hast, es zu suchen, was ja auch sein kann, dann bitte lege die Blumen auf irgendein anderes Grab. Am liebsten auf das eines Soldaten, von dem man nicht einmal den Namen mehr weiß. Dann wollen wir hier denken, daß dieser Blumengruß für alle Soldaten gilt, die dort gefallen sind, und damit natürlich auch für meinen Onkel Hermann, der mitten unter ihnen liegt. Mitten unter seinen Kameraden, die mit ihm gekämpft haben und mit ihm gefallen sind. Würdest Du das tun wollen? Oder würdest Du wenigstens einen andern bitten, es an Deiner Stelle zu tun, wenn es Dir selbst nicht mehr möglich ist? Das wäre schön. Mir fällt ein: ich würde Mutti das Bild von dem Grab auch gar nicht geben, sondern ich würde es in einen Rahmen tun und ganz heimlich neben das andere Bild auf Muttis Schreibtisch stellen, das dort schon immer steht, und auf dem man Onkel Hermann sieht als Soldaten, mit Stahlhelm und so. Peter und ich, wir stehen oft vor diesem Bild und schauen es an. Und dann verstehen wir, daß unsere Mutter ihren Bruder so furchtbar lieb gehabt hat und daß sie ihn nie vergessen kann. Wir haben ihn auch lieb, und das wundert Dich gewiß, wo wir ihn doch nie kennengelernt haben und noch gar nicht lebten damals. Aber es ist wirklich so, und erklären kann ich Dir das natürlich nicht.«
Mit einem Seufzer legte Sybille den Federhalter beiseite. Die Hälfte der Tinte saß wieder, wie üblich, an ihren Fingern, das war immer das gleiche, und sie konnte es sich nicht erklären, wie es geschehen konnte. Aber jetzt war ihr das ganz unwichtig.
Sie hätte noch mehr schreiben können, gewiß, der Brief war nicht sehr lang. Und es gab ja natürlich auch noch manches zu erzählen, was sich inzwischen ereignet hatte, in der Schule und zu Hause und überhaupt.
Aber »nein« entschloß sie sich, »er soll nicht denken, daß ich immer nur von mir zu schwatzen weiß. Und es ist ja auch wichtig, daß er den Brief ganz schnell bekommt – schade, daß man ihn nicht mit Luftpost schicken kann. Aber wenigstens will ich ihn heute noch in den Kasten werfen.«
Und Sybille stand auf, um ihre Mutter zu suchen und mit ihr das große Vorschußgeschäft zu regeln. Es würde noch einige Mühe kosten, ehe sie ihre Mutter weich und nachgiebig machen konnte.