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Die Umdrehungen der Himmelskörper

Kein Werk, das unsterblich geworden ist, das in den bleibenden Besitz der Menschheit eingegangen ist, wurde je in der kurzen Spanne einer einzigen Nacht geschaffen. Das gilt im Bereich der Dichtung und der Kunst ohne weiteres, und es gilt mehr noch im Bereich der strengen, unnachsichtigen Wissenschaft. Auch der Genius ist ein Kärrner in seinem Beruf, in seiner Berufung. Und wie ein Kärrner so mühselig trägt er Stein um Stein zusammen, bis sich das Einzelne zum Ganzen strahlend zusammenfügt, bis aus dem tief in den Boden versenkten Fundament sich die mächtigen Mauern und Streben dem Himmel entgegenheben, sich über dem kühnen Bau kühner noch die abschließende Kuppel wölbt.

Allen ist es so gegangen, seit die Menschen zu denken anfingen, seit sich dies Denken loslöste von den unmittelbaren Bedürfnissen des nackten Daseins und des Kampfes um dieses Dasein. Kopernikus konnte darin also keine Ausnahme bilden. Er konnte es umso weniger, als seine Zweifel und seine Kritik sich ja von Anbeginn nicht nur gegen das Ptolemäische System gerichtet hatten, sondern auch gegen seine eigenen Gedanken und Erkenntnisse. War er doch immer auch hart und anspruchsvoll gegen sich selbst. Und nur langsam keimte und wuchs und blühte das Saatkorn, das in sein Inneres gelegt worden war.

Siebenunddreißig Jahre mußte er alt werden, mindestens zwanzig Jahre mußte er sich mit dem astronomischen Wissen seiner Zeit beschäftigen, ehe er es wagte, eine erste Niederschrift seiner Gedanken in Angriff zu nehmen. Und weitere zweiundzwanzig Jahre währte es, ehe sein Lebenswerk wenigstens im Entwurf abgeschlossen war (1532). Ehe es aber veröffentlicht, ehe es gedruckt der Menschheit in die Hand gelegt wurde, verging mehr als ein weiteres Jahrzehnt.

Niemand kann dem Menschen, dem Wissenschaftler, dem Astronomen, niemand dem Genius gerecht werden, der unter der sterblichen Maske von Nikolaus Kopernikus über diese Erde ging, der nicht den wesentlichsten Inhalt seiner sechs Bücher über die Umdrehungen der Himmelskörper kennt, der sich nicht das grundsätzlich Neue, das sie enthielten, klar zu machen bemüht ist. Handelt es sich doch hier um ein Werk, das, ganz wie Goethes Faust, die Arbeit eines vollen, runden Manneslebens, die Arbeit von mindestens fünfzig Jahren, also eines halben Jahrhunderts, in sich umschloß.

Daß ein Leben nötig war, um dieses Buch zu schreiben und zu vollenden, erklärt sich neben der gewaltigen Aufgabe, der sich Kopernikus verschrieben hatte, auch aus der Art, wie er sich dieser Arbeit entledigte. Langsam, Schritt für Schritt nur, tastete er sich in seiner Forscherarbeit weiter. Um sie bewältigen zu können, mußte sich der ausgezeichnete Kenner des Altertums, der historisch durchgebildete Humanist mit dem Mathematiker und Philosophen, mit dem unermüdlich beobachtenden und berechnenden Astronomen – all das war ja Kopernikus! – verbinden. Kopernikus hat später selbst in der an den Papst gerichteten Vorrede seines Werkes sich eingehend über seine Arbeitsmethode geäußert, hat die verschiedenen geistigen Schichten seines Werkes mit rückhaltloser Offenheit dargelegt. Er verschwieg auch keineswegs die Anregungen, die ihm aus den Schriften einiger Philosophen und Astronomen des Altertums, der Griechen vor allem, gekommen waren und ihn zu seinen Forscherarbeiten und zum weiteren Ausbau seines Werkes ermutigt hatten. »Ich begann«, so schrieb er an den Papst Paul den Dritten, »es überdrüssig zu werden, daß man sich nicht bei den Philosophen, die doch sonst die geringfügigsten Dinge ihres Gebietes mit solch auserlesener Sorgfalt zu erforschen pflegen, über eine gültigere Theorie der Bewegungen des Weltalls (als die ptolemäische!) einigen konnte, das doch unseretwegen von dem besten und zuverlässigsten Werkmeister erbaut worden ist. Ich nahm mir daher vor, die Schriften aller Philosophen, deren ich habhaft werden konnte, zu erforschen, um festzustellen, ob niemand auf eine Vermutung gekommen sei, daß die Bewegungen der Weltkörper andere sein müßten, als es die schulmäßigen Mathematiker annehmen … Später las ich auch bei Plutarch, daß noch einige andere der Ansicht von einer Bewegung der Erde gewesen seien. Dies gab mir die Anregung …«

Er nannte auch die Namen, ganz ohne Scheu, in voller Ehrlichkeit. Er nannte Nicetas, von dem Cicero schrieb, er habe eine Bewegung der Erde angenommen. Er nannte Heraklides von Pontos und den Pythagoräer Ekphantus. Brauchte er sich dessen zu schämen? Stand nicht jeder Forscher, jeder Entdecker, jeder, der eine neue Wahrheit fand, immer auch zugleich auf den Schultern jener, die vor ihm gewesen waren? War nicht das Wissen gleich dem Leben eine Fackel, die aus einer Hand an die nächste weitergereicht wurde?

So also, alle Gedanken der Früheren in sich aufnehmend, wägend, immer wieder überprüfend, sie bald bejahend, bald verwerfend, an sie anknüpfend bei dem ungeheuren Vorstoß in geistiges Neuland, entstand dieses weltbewegende Werk. Immer wieder wurde in der Handschrift geändert, jedes Wort zweimal, jeder Satz zehnmal überlegt und neu geformt, ehe der Forscher sein endgültiges Ja dazu sagte. Jenes ließ eine falsche Ausdeutung offen, dieses erschien nicht reif, nicht durchgefeilt, nicht gegen alle Kritik gefeit genug und mußte fallen. Die eigenen Beobachtungen, so gewissenhaft, so sorgfältig sie auch gemacht worden waren, bedeuteten in ihrem Ergebnis keinen Fortschritt gegenüber den Vorgängern. Das konnte nicht anders sein, denn seine Instrumente waren schlecht. Sie waren dürftig, bescheiden, sie waren schlechter, um vieles schlechter, als sie den Wissenschaftlern an den Universitäten und einigen reichen Privatforschem zur Verfügung standen.

Aber was tat das? Nicht in den Beobachtungen, nicht in den Berechnungen lag die Größe dieses Werkes, sondern in der ihr zugrundeliegenden Idee. Und die Größe von Kopernikus selbst war ja nicht etwa in dem bloßen Beobachten und Berechnen zu sehen und zu suchen, sondern in der Verbindung der verschiedenen geistigen Kräfte, in der Anschauung und in der Kritik, im Trennen und Folgern. Ja, in dem vor allem: in der zähen und gewissenhaften Folgerung aus dem Gegebenen.

Eine feine, schmale Hand, die Hand eines Gelehrten und Geistlichen und Domherrn, griff zur Feder, zum Gänsekiel, und mit ein paar krausen Schriftzeichen, mit zehn, zwölf Seiten engbekritzelten Papiers – nicht mehr mochte die Niederschrift der ersten Nacht betragen – schleuderte diese Hand den Erdball, den Träger alles Lebens und der Menschen, aus dem Mittelpunkt der Welt hinaus in die Unendlichkeit des Raumes. Stürzte die Erde von ihrem angemaßten Thron und machte sie zu einem »Stern unter. anderen Sternen«. Aber es war natürlich nicht diese Hand, es war der Geist, der sie lenkte, der diese Tat vollbrachte.

Kopernikus hätte nun wohl stolz werden können, ja beinahe größenwahnsinnig um dessentwillen, was sein Geist wagte. Aber das hätte nicht seinem Wesen, seiner Bescheidenheit und Zurückhaltung entsprochen. Immer hielt er sich für einen Diener an der Wahrheit und nicht mehr. Niemals wurde sein Glaube an Gott erschüttert, nie freilich auch hielt er es für sträflich oder gar ketzerisch, der Wahrheit, die ja doch eine göttliche Wahrheit sein mußte – wie immer sie auch aussah – nachzuforschen. Und aus solcher Ehrfurcht entsprang etwa die Schlußzeile des ersten Buches seines Werkes über die Umdrehungen der Himmelskörper: »So groß ist also diese göttliche Werkstatt des Allervollkommensten und Allerhöchsten!«

Die Annahme einer Bewegung der Erde um die Sonne bildet den Hauptkern der kopernikanischen Lehre. Durch sie wurde, in ähnlicher Weise wie die tägliche Bewegung der Sterne aus der Erdumdrehung, auch die jährliche Bewegung der Sonne, die den Wechsel der Jahreszeiten verursacht, als eine nur scheinbare erklärt. Fortan ist es nicht mehr die Sonne, die sich binnen eines Jahres um die Erde in dem schiefen Kreis der Ekliptik bewegt, sondern umgekehrt die Erde, die sich im entgegengesetzten Sinne zur scheinbaren Bewegung der Sonne um diese bewegt, innerhalb des gleichen Zeitraumes.

Eine solche Annahme aber zog als erste Konsequenz die weitere Behauptung nach sich, daß nicht die Erde, sondern die Sonne als Mittelpunkt des Weltalls anzusehen sei. (Daher »heliozentrisches System«, im Gegensatz zum »geozentrischen System« des Ptolemäus.) Als zweite aber die Feststellung, daß sich die Planeten mit Ausnahme des Mondes nicht um die Erde, sondern um die Sonne als gemeinsames Zentrum bewegen.

Hierdurch gelang es Kopernikus, die seit bald zwei Jahrtausenden bekannten und so äußerst merkwürdigen Rückläufigkeiten, ja Stillstände, die seltsamen Schleifen und Schlingen in den Planetenbahnen, um deren Enträtselung die ganze bisherige Astronomie vergeblich gerungen hatte, als bloße Täuschungen nachzuweisen. »Sie werden,« so lehrte er, »dadurch hervorgerufen, daß wir Menschen, die wir uns, ebenso wie die Planeten, in einem Kreise um die Sonne bewegen, diese Planeten stets von verschiedenen, ständig wechselnden Orten im Raum aus beobachten.«

Und nun zeigte er, ausgehend vom Saturn, als dem am weitesten entfernten unter den damals bekannten Planeten, einzeln und der Reihe nach deren Stellungen und Bewegungen am Himmel und erklärte sie als nur scheinbar, in ihren so verzwickten Bahnen, die sofort in kreisförmige übergehen würden, könnte man sie von der Sonne aus beobachten. Nur der Mond, so schloß er, bei dem diese charakteristischen Schleifen und Schlingen in der Bahn nicht vorhanden sind, obwohl er doch der Erde so besonders nahe stehe, sei auch weiterhin eben dieser Erde zuzuzählen. Er müsse deswegen als eine Art Planet zweiter Ordnung, als ein Trabant der Erde angesprochen werden, während die anderen Planeten als solche erster Ordnung zu gelten hätten.

In den dieser fundamentalen Erkenntnis vorangehenden Kapiteln hatte Kopernikus bereits den Nachweis erbracht, daß die Erde – deren Kugelgestalt ja von keinem ernsthaften Vertreter der astronomischen Wissenschaft mehr angezweifelt wurde – sich innerhalb vierundzwanzig Stunden einmal um ihre eigene Achse drehe. Damit konnte aber zugleich die bisherige, durchaus unwahrscheinliche Annahme, daß die ungeheuer weit entfernten Fixsterne sich täglich einmal mit unvorstellbaren Geschwindigkeiten um den Erdball drehten, fallen gelassen werden. Man konnte auf sie bedenkenlos verzichten, und ohne weiteres erklärten sich so die täglich von Sonne, Mond und Sternen von Ost nach West um die Erde beschriebenen Bahnkreise.

Kreise? Dieser Begriff spielte in der Lehre des so unermüdlichen Wahrheitssuchers oben im Norden, im rauhen Klima des Ordenslandes, eine besondere und bedenkliche Rolle.

Kopernikus hatte nämlich bei der Aufstellung seines neuen Weltsystems nur eines der beiden aristotelischen Prinzipien durchbrochen und verworfen, das nämlich, daß die Erde im Mittelpunkt der Welt ruhe. An dem zweiten Prinzip, die Bahnen der Planeten müßten Kreise sein, hielt er nach wie vor unerschütterlich fest. Dadurch aber blieben auch die Ungleichförmigkeiten in den Bewegungen der Planeten bestehen, die anscheinenden Regellosigkeiten, die sich in veränderlichen Geschwindigkeiten äußerten. Um sie zu erklären, mußte auch ein Kopernikus doch wieder zu exzentrischen Kreisen oder gar zu Epizyklen greifen, so daß in dieser Beziehung das von ihm erdachte System nicht viel Neues bot. Schlimmer noch: auch dem astronomischen, mathematischen Rechner bot es kaum irgendwelche nennenswerten Vorteile. Er mußte, mit wenigen Abweichungen, fast genau so vorgehen wie bei Anwendung des ptolemäischen Systems, um den Ort eines Sternes, richtiger gesagt eines Planeten, im Raum festzustellen.

Es wäre unrecht, wollte man deshalb versuchen, das Verdienst, das sich Kopernikus erworben hat, zu schmälern. Auch die großen, brennenden Augen dieses Genies vermochten nicht alles zu sehen. Und das Bild, das sein System dem Geist bot, war doch ein von allem Gewesenen ungeheuer abweichendes und völlig anderes. Jetzt erst konnte man sich von den Entfernungen der Planeten von der Sonne eine zutreffende Vorstellung machen. Das Wissen trat an die Stelle von oft direkt phantastischen Spekulationen. So gab Kopernikus mit seinem Werk sozusagen mit einem Schlage völlige Klarheit dort, wo bisher Dunkel und Verwirrung geherrscht hatten. Sein System gab die Distanzen, und damit enthüllte sich das All als ein wohlgeordnetes Ganzes. Wo bei Ptolemäus vollständige Regellosigkeit herrschte, da alle Planeten völlig durcheinander gehen konnten, da gab es hier ein, wenn auch noch nicht übersichtliches, so doch geregeltes System.

Kopernikus mochte selbst gerade hierin ein wesentliches Ergebnis seines Werkes gesehen haben, und es darf deshalb nicht wundernehmen, daß ihn berechtigter Stolz erfüllte.

»Die aber«, so schrieb er später in seiner Widmung an den Papst Paul den Dritten, »die exzentrische Kreise ausklügelten, haben anscheinend zwar zu einem großen Teile die scheinbaren Bewegungen zahlenmäßig damit in Einklang gebracht, mußten aber verschiedene Annahmen mit aufnehmen, die den ersten Grundsätzen über die Gleichheit der Bewegung widersprechen dürften. Ferner konnten sie die Gestalt des Weltalls und eine bestimmte Symmetrie seiner Teile nicht ermitteln oder aus jenen Kreisen erschließen. So ging es ihnen wie einem, der Hände, Füße, Haupt und andere Glieder, die zwar an sich trefflich, aber nicht von einem und demselben Leibe abgezeichnet wurden, zusammenfügen wollte, so daß kein einziges Glied zum andern paßte, und das Ganze vielmehr ein Ungetüm als einen Menschen darstellen müsse.«


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