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Der Weg, der uns Menschen zu einer neuen Wahrheit führt, zu einer neuen Erkenntnis, ist meist sehr lang und oft schier unübersehbar lang. Er macht zahllose Schleifen, er macht Umwege, die wir Irrtümer nennen und die doch notwendig sind, weil nach unsern Erfahrungen keine Wahrheit gefunden werden kann, der nicht Irrtümer vorangegangen sind. Es bedarf also meist eines langen, langen Zeitraumes, ehe schließlich in einem menschlichen Hirn jener göttliche Funke zündet, aus dem eine solche Wahrheit geboren wird.
Doch ist mit der Geburt einer solchen neuen Wahrheit ihr noch keineswegs zum Siege verholfen. Der Mensch sperrt sich gegen neue Erkenntnisse, setzt sich fast instinktiv zunächst gegen jede neue Idee zur Wehr. Er folgt darin wie alles Seiende, wie die ganze belebte und unbelebte Natur – zu der er ja ebenfalls gehört – dem großen, zwingenden Gesetz der Beharrung, der Trägheit. Neue Wahrheiten sind unbequem. Es bedarf einer oft erheblichen Energie, eines seelischen und geistigen Kraftaufwandes, sich zu einer neuen Idee zu bekennen. Es ist unbequem und es ist unangenehm, plötzlich ganz neu sehen, denken, empfinden, alte und seit Jahrhunderten vertraute Anschauungen über Bord werfen zu müssen. Viel lieber hält man am Gegebenen fest. Viel lieber bewegt man sich weiter in dem ausgefahrenen Geleis überkommener Anschauungen. Nirgends erweist sich dies überzeugender, schlagkräftiger, als im Bereich der Geschichte unseres astronomischen Weltbildes. Wenn wir uns also die Würdigung und Darstellung des gedanklichen Werkes eines Mannes wie Nikolaus Kopernikus zum Ziel gesetzt haben, so liegt sein äußeres, tatsächliches Leben gleichsam nur am Rande unserer Aufgabe. Nicht der Frauenburger Domherr oder Kanonikus ist uns wichtig, in solchem Zusammenhang. Viel, viel wichtiger ist uns der Geistesheros, der uns mit seiner Erkenntnis beschenkte. Und ihm sowie seiner wahrhaft umstürzlerischen, revolutionären Tat – »Beweger der Erde, Befestiger des Himmels und der Sterne«, so preist ihn eine Inschrift auf seinem Denkmal in ebenso schlichten wie großartigen und umfassenden Worten – kann man nicht gerecht werden, wenn man nicht vorher bemüht ist, sich zu vergegenwärtigen, wie die Menschen bis zum Auftreten von Kopernikus über die Erscheinungen am Himmelsdom gedacht haben, über ihre Zusammenhänge und die Gesetze, denen sie gehorchten.
Eben die Summe all dieser Betrachtungen, Anschauungen und Gedanken, die mit dem gestirnten Himmel zusammenhängen, nennt man das astronomische Weltbild. Dieses Weltbild war und ist natürlich nichts Feststehendes, es war und ist dauernden Änderungen unterworfen, in demselben Maße, wie neue Beobachtungen, Erfahrungen und Erkenntnisse es bereichern und vertiefen. Es ist dabei wahrscheinlich, ja sogar als sicher anzunehmen, daß die Bemühungen, ein solches Weltbild zu gewinnen, bis in die fernsten Tage der Menschheit, bis in die Zeit zurückreichen, wo der Mensch erstmals begann, seiner selbst bewußt zu werden. Das aber würde heißen, bis in eine Zeit, über die uns nicht mehr die Geschichte, nicht mehr Schriftzeichen und Ähnliches unterrichten, sondern nur noch die Sage. Wenn dem aber so ist, dann darf man ohne Übertreibung sagen, daß die Astronomie der älteste Zweig der Naturwissenschaft überhaupt ist. Die Wiege der Astronomie aber muß in jenen südlicheren Breiten gestanden haben, in jenen Ländern Vorderasiens und des Mittelmeerbeckens, von denen alle menschlichen Kulturen ausgegangen sind. Denn als der Mensch erstmals über das Notwendige, das Notdürftige, die Beschaffung der erforderlichen Nahrung, hinwegdachte, erstmals den Kopf gen Himmel hob, sah er die Sterne. Nirgends aber sah er sie deutlicher, klarer, strahlender, überwältigender, nirgends auch ungestörter, als in jenen von der Natur besonders begünstigten Gebieten, nirgendwo anders hatte er mehr dazu Gelegenheit, sie zu beobachten als dort, wo oft genug die glühende Hitze des Tages erschlaffend wirkte und das Leben sich erst richtig regte, wenn mit sinkender Sonne die Kühle des Abends und der Nacht über die Erde strich. Im Norden hielt die beißende Kälte des Winters, eines oft sechs Monate währenden Winters, die Menschen in ihren Behausungen, in ihren warmen Hütten und Unterkünften fest. Und in den anderen Monden behinderten Nebel, Bodenfeuchtigkeit, Wolkenzug allzu häufig eine regelmäßige und einwandfreie Beobachtung des Sternenlaufs.
Zwei Quellen vor allem waren es, die zunächst den astronomischen Forscherdrang speisten. Einerseits war es ein religiöses Moment. Man sah in den Gestirnen, die aus so unfaßbarer Weite auf die Erde niederstrahlten, entweder göttliche Wesen überhaupt oder doch mindestens Offenbarungen einer Gottheit und zollte ihnen also auch göttliche Verehrung. Andererseits meldete sich schon früh das Bedürfnis, den unablässig dahinfließenden Strom der Zeit zu teilen, innerhalb seines Fließens einen bestimmten festen Punkt zu gewinnen, das Unmeßbare meßbar zu machen. Und vor allem: die beobachtete Wiederkehr bestimmter Vorgänge, des Wechsels von Tag und Nacht, des Wechsels der Jahreszeiten auf irgendeine Art in diese Zeit einzuordnen. Denn gab es nicht auch am Himmel solche ewig, in stetem Kreislauf, sich wiederholenden Vorgänge, die auch ohne sorgfältige Beobachtung jedem sichtbar wurden? Etwa die Mondphasen, mit Vollmond und Neumond, erstem Viertel und letztem Viertel? Oder den Gang der Sonne selbst, dieser großen Lebens- und Wärmespenderin? Die zu manchen Zeiten einen weit höheren Bogen an der Kuppel des Himmels beschrieb als zu anderen? Es ging also mit einem Wort um ein geordnetes, praktisches, brauchbares Zeiteinteilungs- und Kalenderwesen. Und gerade auf ein Bestreben solcher Art ist die frühe Geschichte der Astronomie überwiegend zurückzuführen.
Sie führte, besonders bei den Babyloniern, später auch, zum Teil von ihnen befruchtet, bei den Ägyptern und Griechen zu recht beachtlichen Resultaten. Recht früh und dabei recht genau schon verstand man es, trotz sehr unzureichender, ja primitiver Hilfsmittel, die Länge eines Jahres bis auf Minuten zu berechnen, ferner die Umlaufszeiten des Mondes und ihr Verhältnis zur Dauer des Jahres; die Finsternisse des Mondes wurden beobachtet und sogar schon kommende Finsternisse für eine Reihe von Jahren richtig vorausgesagt. Hinzu kam ein ansehnliches Wissen um die fünf großen – und also hellsten! – Planeten. Man hatte erkannt, daß sie sich von den Fixsternen unterschieden, die ja in ewig unveränderlicher Stellung zueinander über die Himmelskugel kreisten, und man hatte ihre Umlaufzeiten mit einigermaßen befriedigender Genauigkeit errechnet.
Dies war noch nicht viel. Es war, genau genommen, nur ein erster, kleiner, winziger Schritt von der bergenden, schützenden, vertrauten Erde hinweg in die unendlichen Tiefen des Raumes hinein. Von ihnen ahnte der forschende Menschengeist freilich noch nichts, sonst hätte er wohl auch schon diesen ersten Schritt gescheut. Ihn zu tun, vorbedacht, wissend, bedurfte es ohnehin einiger Jahrtausende. Wir kennen Keilschriften, in Granit, in Sandstein, in Muschelkalk oder ähnliches Material gemeißelt, die uns Heutige davon unterrichten, daß die babylonische Astronomie schon bis ins dritte Jahrtausend vor Christi Geburt zurückreicht. Schon vor viertausend, schon vor fünftausend Jahren standen die Priester Baals auf den hohen Türmen ihrer Tempel und beobachteten, mit nie erlahmender Mühe und Aufmerksamkeit, den majestätischen Gang der Gestirne. Diese Tempeltürme ersetzten die heutigen Observatorien, die Sternwarten, waren gleichsam ihre direkten Vorläufer. Hier standen also die Priester, die gleichzeitig auch fast immer Lehrer der von ihnen Auserwählten, des Nachwuchses, würden wir heute sagen, waren, und beobachteten, unter dem klaren, nächtlichen Himmel. Beobachteten, maßen und – deuteten. Ja, sie deuteten auch, das heißt also, sie versuchten Verbindungen zwischen dem Gang der Sterne und dem Geschehen auf der Erde, den Schicksalen Einzelner und den Schicksalen ganzer Völker und Stämme, festzustellen. So beschenkten uns die Babylonier nicht nur mit der Astronomie, dieser reinen Wissenschaft, sondern auch mit ihrer illegitimen Schwester; mit diesem Bastard, der Astrologie oder Sterndeutung, Schicksalsdeutung nach den Sternen, heißt. Auch diese zweite Erbschaft hat die angeblich so hoch entwickelte, so an Wissen und Erkenntnissen reiche Menschheit des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnender Weise bis heute noch nicht aufgegeben. Noch immer zählen ihre Anhänger, Menschen, die glauben, daß die Stellung der Sterne zueinander am Tage und in der Stunde ihrer Geburt auf ihr weiteres Leben, auf ihre charakterlichen Anlagen und sonstigen Gaben oder Mängel von schicksalhafter Bedeutung sei, nach Millionen.
Mehr als zweier Jahrtausende bedurfte es, um die Astronomie der Babylonier von ihren ersten, tappenden Schritten bis zu jenem Gipfel hinaufzuführen, den zu erreichen ihr überhaupt bestimmt gewesen ist. Das geschah etwa im sechsten oder fünften Jahrhundert vor Christi Geburt. Und es beweist uns wiederum, daß die Taten des Geistes eines Volkes völlig unabhängig sind von seiner äußeren Stellung. Denn um diese Zeit hatte Babylon schon längst aufgehört, als eine politische Macht zu bestehen. Aber noch immer ging von diesem in politischem Sinne zertrümmerten Reich ein fülliger, belebender Strom von Wissen und Erkenntnissen auf die aufnahmebereiten Völker des nahen Orients und des östlichen Mittelmeerbeckens über. Das erklärt denn auch die schon erwähnte Befruchtung der griechischen Astronomie durch Babylon. Babylonische Sternkundige und Sterndeuter – also Astrologen – durchzogen später, in den Zeiten des mählichen Verfalls Babylons, als sie in ihrer Heimat sozusagen arbeitslos geworden waren, die Länder und Provinzen des römischen Weltreiches und versuchten erfolgreich, ihre Kenntnisse zu klingender Münze zu machen und aus der Verbreitung ihres Wissens ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Versuchen wir es, mit wenigen Worten und ohne Anwendung mathematischer Begriffe und Formeln – aber alle Astronomie ist natürlich, das dürfen wir trotzdem nie vergessen, in wesentlichen Teilen Mathematik und bedarf der Mathematik als ihrer Hilfswissenschaft – zu umreißen, was Babylons Priester, die wir ohne weiteres als Gelehrte ansprechen können, in den bald dreitausend Jahren erreicht haben, so ergibt sich ungefähr folgendes Bild: Sie kannten die Umlaufzeiten der Sonne und des Mondes. Horizont und Ekliptik als sogenannte Beziehungspunkte waren ihnen vertraute Begriffe. Sie hatten eine genaue Zeiteinteilung, also einen Kalender, das sogenannte Lunisolarjahr mit neunzehnjährigem Schaltzyklus, einen Kalender, der den praktischen Bedürfnissen durchaus, den wissenschaftlichen halbwegs gerecht wurde. Sie kannten den Unterschied zwischen Fixsternen und Planeten, also Wandelsternen, soweit sich ein solcher Unterschied in der Verschiedenartigkeit der Bewegungen äußerte. Sie hatten eine unendliche Fülle von Himmelsbeobachtungen sorgfältig und gewissenhaft zusammengetragen, die sich – zur Beglückung aller Astronomen, auch noch der heutigen – über eine im geschichtlichen Sinne fast unvorstellbar lange Zeit, nämlich mehrere Jahrtausende, erstreckten. Und sie waren schließlich so weit gekommen, daß sie eine Reihe von Erscheinungen nicht nur registrieren, sondern auch vorausberechnen konnten und das Beobachtete mathematisch, rechnerisch, wenigstens in Einzelfällen, zu erfassen vermochten. Dies bald mit mehr, bald mit weniger Glück. Das schwierigste Problem, das sich einer, wenn wir so sagen wollen, wissenschaftlichen Erfassung immer wieder entzog, war auch für die Babylonier die – scheinbar – rückläufige Bewegung der Planeten, die allen so wohl erdachten Regeln immer wieder Hohn zu sprechen schien. Wir werden später sehen, warum die gesamte Astronomie vor Kopernikus gerade vor diesem Problem, vor dieser nicht abzustreitenden Erscheinung immer wieder scheitern und die Waffen strecken mußte.
Es war also schon ein ganz stattliches und verhältnismäßig gut gesichertes Fundament, das die Baalspriester der Menschheit hingestellt hatten, auf dem dann spätere Zeiten und andere Völker das imponierende Gebäude ihrer wachsenden Wissenschaft errichten konnten.
Der Beitrag der Ägypter dazu war freilich recht dürftig und erreichte in nichts den Wert und das große Maß überlieferten Wissens, mit dem das Zweistromland die Menschen beschenkt hatte. Er läßt sich deshalb auch in wenigen Worten skizzieren. Man kann sich dabei beinahe auf das Negative beschränken, auf die Darstellung dessen, was die Ägypter im Gegensatz zu den Babyloniern nicht gewußt haben. Gewiß gibt es da allerhand Inschriften und bildliche Darstellungen, Papyrusfunde und anderes, woraus wir entnehmen dürfen, daß auch die ägyptische Astronomie auf eine lange Entstehungsgeschichte zurückblicken konnte. Aber wir kennen keine Aufzeichnungen über die so merkwürdigen und verwickelten Bewegungserscheinungen des Mondes und der Planeten, keine über beobachtete Sonnen- und Mondfinsternisse, ja nicht die bescheidensten Anhaltspunkte dafür, daß man versucht hat, über das bloße Aufzeichnen und Registrieren hinaus auch eine Erklärung für das Beobachtete zu finden.
Immerhin hatten die ägyptischen Priester – auch hier war ja die Priesterkaste die berufene und einzige Hüterin und Pflegerin der Astronomie – schon beizeiten für eine geordnete Zeitrechnung Sorge getragen. Schon im vierten Jahrtausend rechneten sie mit einem Sonnenjahr, bei dessen Festlegung die alljährlich mit erstaunlicher Regelmäßigkeit auftretenden großen Nilüberschwemmungen ihnen ein wertvolles Hilfsmittel wurden. Sie rechneten das Sonnenjahr mit 12 Monaten zu je 30 Tagen und 5 Zusatztagen, so daß ihnen mit 365 Tagen als Dauer eines Jahres schon ein ganz respektabler Annäherungswert gelang. Aber wenn im großen und ganzen auch die Beobachtungen der Ägypter sich nicht durch allzu große Genauigkeit auszeichneten, so konnte es auch ihnen auf die Dauer doch nicht verborgen bleiben, daß es sich hier eben um einen bloßen Annäherungswert handelte. Denn da war der Sirius, jener glänzende Stern, dessen Frühaufgang im Morgendämmern gerade im vierten Jahrtausend vor Christi Geburt mit dem Beginn der Nilüberschwemmung zusammenfiel. Es zeigte sich nun, daß dieser »heliakische« Aufgang des Sirius sich alle vier Jahre um einen Tag verspätete. Das aber ergab, neben dem Sonnenjahr, das sogenannte Siriusjahr mit 365¼ Tagen. So hatte man schließlich zwei Zeitrechnungen in Ägypten. Das tägliche Leben vollzog sich nach dem Sonnenjahr mit 365 Tagen, die großen Feste, die ja fast alle entweder mit der Nilüberschwemmung oder mit der Ernte zusammenhingen, wurden nach dem Siriusjahr gefeiert. Für den durchschnittlichen Ägypter war das eine etwas komplizierte Angelegenheit, doch brauchte er sich ihretwegen keine Sorgen zu machen. Hier eine Übereinstimmung und Ordnung zu schaffen, war ja die eigentliche Aufgabe der Priester, und ihr wenigstens sind sie zweifellos gerecht geworden.
Nun aber trat ein ganz anderes Volk in den Ring. Jenes Volk, das wie keines sonst nicht nur die Kultur, die gesamte Wissenschaft seiner Zeit weitgehend beeinflußt und befruchtet hat, von dessen Errungenschaften wir auch heute noch auf vielen Gebieten zehren: die Griechen.
Die Griechen brachten ganz andere Voraussetzungen mit, geistig gesehen, als etwa die Ägypter oder sogar die Babylonier. Sie waren beseelt von reinem Erkenntnisstreben. Nie war es die Möglichkeit der praktischen Nutzbarmachung eines Wissens, die sie lockte. Mindestens nicht in erster Linie. Sie wollten wissen – wenn dies Wissen in irgendeiner Form auch nützlichen Dingen und Verrichtungen dienstbar gemacht werden konnte, nun, so war es gut. Wichtig war es nicht, und unbedingt nötig war es erst recht nicht. Deshalb traten sogar religiöse, sakrale Überlegungen und Gesichtspunkte auf astronomischem Gebiet ganz in den Hintergrund. Ein anderes Motiv schob sich statt dessen immer mehr vor. Beobachtungen mußten sein, natürlich. Aber Beobachtungen, und wären sie noch so zahlreich, noch so sorgfältig, waren schließlich nur das Rohmaterial, sozusagen das Futter für den schöpferischen, denkenden Geist. Sie waren, wenn es nur bei den Beobachtungen blieb, in gewissem Sinne doch nur ein Chaos, ein ungeordnetes, wüstes Durcheinander, mit dem man so ohne weiteres nicht allzu viel anzufangen vermochte. Es galt also, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Ordnung war Schönheit, und die Griechen waren dasjenige Volk der alten Zeit, in dem sich der Trieb nach Schönheit am herrlichsten, am vollkommensten offenbarte.
Eine solche Ordnung in der Astronomie ließ sich aber nur erreichen, wenn man in die Vielfalt der beobachteten Himmelserscheinungen das Verbindende, das Gemeinsame brachte. Wenn man jene allgemeinen Prinzipien, jene »Regeln« fand, die dieses bunte Durcheinander mit seinen vielen, mindestens scheinbaren Widersprüchen gleichsam auf einen Nenner zwangen. Wenn man Erklärungen fand – und am besten nur eine, allem gerecht werdende Erklärung – für das unerklärlich Erscheinende.
Eine starke Neigung zu theoretischer Naturwissenschaft, eine besondere Begabung für Mathematik – ohne die ja, wie wir sahen, Astronomie als Wissenschaft nicht denkbar ist – kamen solchen Überzeugungen und Zielen zu Hilfe. Zu Hilfe kamen den Griechen aber natürlich auch eben jene sorgfältigen und über lange Zeiträume sich erstreckenden Beobachtungen, die die Priester Baals in Babylon verzeichnet hatten.
Die Wirkungen, die Früchte dieser Abwendung vom Augenschein, von dem bloßen Augenschein, wie man mit Recht sagen darf, waren erstaunlich. Man kennt und benutzt zwar im Volksmund und im Alltagsleben die Wendung: »wie der Augenschein lehrt«. Aber jeder ernsthaft Denkende und die Wissenschaft zumal haben seit langem erkannt, daß nichts so leicht zu Irrtümern und zu Täuschungen verleiten kann, wie die Wahrnehmungen unserer Sinnesorgane. Und einige der fundamentalsten Erkenntnisse der Astronomie sind gerade im Widerspruch zu der täglichen und allen Menschen gemeinsamen »Erfahrung« gewonnen worden.
Stützten sich also die Griechen, was die genauen und sorgfältigen Beobachtungen am Himmelsdom anbelangt, weitgehend auf jenes Wissen, das ihnen die Babylonier vermittelt hatten, so gingen sie in der gedankenmäßigen Durchdringung dieser Sachverhalte sehr bald ganz eigene und ganz neue Wege. Der erste große Schritt dabei war die Erkenntnis, daß das Himmelsgewölbe nicht, wie man bislang – auf Grund des Augenscheins! – angenommen hatte, eine Halb-, sondern eine Vollkugel sei. Alle bisherigen astronomischen Weltbilder basierten ja auf der Überzeugung, daß die Erde eine flache Scheibe sei, über der sich der Himmel als eine klare, durchsichtige, halbkugelförmige Schale wölbe. Aber die Griechen waren ein Volk, das unermüdlich – wir kennen dieses Forschungsprinzip, diese »Methode« von Sokrates her – Fragen stellte, und so kamen sie denn auch recht bald auf die Frage, wo denn eigentlich die Sonne bleibe, wenn sie abends im Westen untergegangen sei, und was sie wohl tue in der Zeit bis zu ihrem Wiederaufsteigen am nächsten Morgen.
Es war Anaximander, der Begründer der jonischen Naturphilosophie, der auf diese Frage die revolutionäre Antwort gab, man habe das sichtbare Himmelsgewölbe zu einer vollen Kugel zu ergänzen. Aber er blieb hierbei nicht stehen. Während die ganze vorangehende Astronomie – ebenfalls vom Augenschein verführt – sich zu der Überzeugung bekannte, daß die Erde an ihrem kreisförmigen Rande den Himmel berühre, dachte er sich den Durchmesser des Himmels, also alle mit dem Himmel in Zusammenhang stehenden Dimensionen, ins Ungeheure vergrößert, dagegen den der Erdscheibe verkleinert, und kam so zu der in ihrer Erstmaligkeit großartigen Vorstellung einer frei im Raume schwebenden Erde, die von allen Punkten der Himmelskugel gleich weit entfernt sei und eben deshalb auch nach keiner Richtung hin stürzen oder fallen könne, sondern sich in vollkommenem, schwebendem Gleichgewicht halte. Es müssen also hier auch schon, mindestens im Unterbewußtsein, Vorstellungen von der den Raum durchdringenden Anziehungskraft der Massen – als »Masse« war ja auch die Himmelskugel anzusehen! – mitgesprochen haben.
Die Erde war, auch nach Anaximanders Ansicht, also noch eine Scheibe. Oder, mathematisch richtiger ausgedrückt, da sie ja doch eine gewisse Dicke hatte, ein im Mittelpunkt der Himmelskugel schwebender, verhältnismäßig flacher Zylinder, auf dessen Oberfläche das Geschlecht der Menschen, Tierwelt und Pflanzenwelt lebten.
Vom Blickpunkt der Gegenwart aus betrachtet, erscheint die weitere Entwicklung des Gedankenwerkes der griechischen Astronomie beinahe selbstverständlich. Aber es bedurfte doch noch geraumer Zeit und vielen Tastens und Irrens, ehe die nächste Etappe erreicht wurde.
Es war, wenn vielleicht auch nicht gerade Pythagoras selbst, so doch die Philosophenschule der Pythagoräer, die den nächsten gewaltigen Schritt tat: den zur Erkenntnis von der Kugelgestalt der Erde. Alles, was heute als selbstverständlich erachtet, als »trivial geringgeschätzt wird«, war einmal »als paradox verdammt« worden – das ist das Schicksal aller großen Wahrheiten, denen immer nur zwischen zwei solchen Zeiträumen ein kurzes Siegesfest beschieden ist, wie Nietzsche sich ausdrückte. Und so werden wir uns kaum noch eine Vorstellung zu machen vermögen, wie wohl jene Erkenntnis auf die denkenden Zeitgenossen jener fernen Tage gewirkt haben mag.
Auch hier führte der Weg von dem reinen Augenschein fort zur Beobachtung, von der Beobachtung zum abstrakten Denken und zur logischen Schlußfolgerung. Noch handelte es sich um bloße Analogieschlüsse, die von der sichtbaren Kugelgestalt der Sonne und des Mondes ausgingen. Aber schon Aristoteles erbrachte für die Richtigkeit dieser Hypothese jene Beweise, die wir auch heute noch kennen und als durchaus zutreffend und ausreichend ansehen. Sie lassen sich in wenigen, knappen Worten skizzieren:
Den fünften, jedem Schuljungen geläufigen Beweis, daß man von herannahenden Körpern zuerst die oberen, höchsten Teile sieht, etwa die Spitze eines Schiffsmastes, und umgekehrt bei Entfernung eines Körpers zuerst die unteren Teile – in unserm Falle also der Schiffsrumpf – dem Blickfeld entschwinden, wird man wahrscheinlich dem griechischen Philosophen Eratosthenes zuzuschreiben haben. Jedenfalls wurde die Lehre von der Kugelgestalt der Erde schon zur Zeit der Pythagoräer die in der wissenschaftlichen Welt jener Tage allgemein herrschende, und nachdem erst einmal Aristoteles die notwendigen Beweise erbracht hatte, gab es keinen ernst zu nehmenden Denker mehr, der sie angezweifelt oder sich gegen sie gesperrt hätte.
Hand in Hand mit dieser Lehre von der Kugelgestalt der Erde ging die Einteilung der Erde selbst in fünf Zonen, die, wenn auch anders bezeichnet, doch durchaus der heutigen Zoneneinteilung schon entsprachen. (Arktische Zone vom Nordpol bis zum nördlichen Polarkreis, nördliche gemäßigte Zone, äquatoriale oder heiße Zone zwischen den beiden Wendekreisen des Krebses und des Steinbocks, südliche gemäßigte Zone und schließlich antarktische Zone.)
Aus dem Wissen um die Kugelgestalt der Erde stieß man sehr bald zu der sich dann beinahe zwangsläufig ergebenden Frage nach der Größe, nach dem Umfang dieser Erde, unserer aller Heimat, vor. Die Antwort darauf war für die griechischen Philosophen, bei denen sich Phantasie und folgerichtiges Denken auf beglückende Art die Waage hielten, keineswegs schwer zu finden. Man wußte ja, daß, je nach dem Ort, auf dem der Beobachter stand, sich ein anderer Stern im Zenit, also in seinem Scheitelpunkt befand. Die Entfernung zweier solcher Sterne am Himmel in Teilen des Kreisbogens war leicht zu ermitteln, ihr mußte ein entsprechender Bogen oder Winkel auf der kugelförmig gekrümmten Erdoberfläche entsprechen. Kannte man nun also, was ja keine Mühe besonderer Art machte, die Entfernung der beiden Beobachtungsorte voneinander – in Stadien, denn Stadium hieß das griechische Längenmaß, das rund 185 m entsprach –, so mußte man auch aus dem Teil das Ganze, aus dem Kreisbogen den gesamten Kreis und damit den gesamten Erdumfang berechnen können. Archimedes kam auf diese Art zu dem Ergebnis: 300 000 Stadien. Das sind 55 500 km nach unserem Meßsystem. Der wirkliche Erdumfang beträgt nun zwar, wie bekannt, 40 000 km, aber wenn man bedenkt, wie äußerst primitiv noch die den Griechen jener Zeit zur Verfügung stehenden Meßinstrumente waren, wie groß deshalb die dadurch entstehenden Fehlerquellen sein mußten, so wird man zugeben müssen, daß diese Zahl eine von der Wahrheit nicht allzu sehr abweichende Größenordnung darstellt.
Aber noch entzog sich ein Vorgang mit zäher Hartnäckigkeit immer wieder dem wissenschaftlichen Erkenntnistrieb und der Möglichkeit einer Erklärung, die jeden Zweifel zu entwaffnen vermochte: Die Bewegung der Planeten. Sie hatte schon den Ägyptern, sie hatte vor allem den Babyloniern weidlich Kopfzerbrechen bereitet. Die Letzteren hatten das Rennen bald aufgegeben und sich mit einer bloßen Feststellung der Perioden dieser Bewegungen begnügt. Die Griechen waren anders geartet. Sie brachten es nicht fertig, der Sache einfach mit einem Achselzucken aus dem Wege zu gehen. Das Gegenteil geschah: gerade diese scheinbar regellose Bewegung der Planeten wurde von ihnen als das Hauptproblem der Astronomie schlechthin angesehen und in den Mittelpunkt gerückt. Damit aber wurde der Menschheit ein Rätsel aufgegeben, um das sie sich zweitausend Jahre hindurch unablässig bemühte und das zu lösen erst Kopernikus und seinen Nachfolgern möglich wurde.
Wieder war es Pythagoras, der sich mit seinen Schülern als erster diesen Planeten zuwandte – noch Anaximander hatte ihnen kaum irgendwelche Beachtung geschenkt. Er erweiterte die von den Babyloniern überkommenen Kenntnisse durch eine Fülle eigener und sorgfältiger Beobachtungen, die schließlich in einer Art universellen Weltbildes gipfelten, auf das er erstmalig den fortan in den ständigen Wortschatz der Astronomie eingegangenen Ausdruck »Kosmos« anwandte. Mit diesem Wort wollte Pythagoras die Einheit, die Ordnung, die Vollkommenheit und Harmonie des Weltganzen kennzeichnen und umreißen.
Aber ein Wort ist nur ein Wort und nicht mehr, wenn ihm nicht ein entsprechender Inhalt gegeben werden kann. Und waren es nicht gerade die Planeten, nicht wieder einmal die Planeten, die dieser großen und schönen Idee von der allumfassenden Ordnung und Harmonie so heimtückisch widersprachen? War es nicht abwegig, von Ordnung, von Harmonie zu sprechen, wenn die Planeten, wenn eine Venus oder ein Mars oder ein Saturn scheinbar völlig regellos am Himmel ihre Bahn beschrieben? Gewiß, sie alle gingen, wie die Fixsterne, im Osten auf und im Westen unter, und hätten sie sich daran Genüge sein lassen, so wäre nichts zu erinnern. Aber außerdem machten sie noch andere, von West nach Ost gehende Bewegungen, änderten fortwährend ihre Stellung zu den Fixsternen, ja sie beschrieben des öfteren sogar richtige Schleifen. Diese entgegenlaufenden Bewegungen waren zudem noch von verschiedener Dauer, sie betrugen 27 Tage beim Mond, 88 Tage beim Merkur, kurzum, sie waren – wir wissen das heute – genau so lang, wie die Umlaufzeiten dieser Weltkörper waren.
Pythagoras suchte den sich hier zeigenden Schwierigkeiten durch ein System gerecht zu werden, dem man Genialität nicht wird absprechen können, wenn es sich auch späterhin als ein Irrtum erweisen sollte. Er ließ die Erdkugel im Mittelpunkt des Weltalls ruhen. Um sie herum drehte sich die Himmelskugel, eine Hohlkugel, an der die Fixsterne wie mit Nägeln in einem festen Abstand voneinander, der sich nie veränderte, befestigt waren. Die Dauer einer solchen Umdrehung entsprach der Dauer eines Tages und also vierundzwanzig Stunden. Dazu nahm nun Pythagoras noch sieben weitere, konzentrisch ineinander geschachtelte Sphären an, deren jede einen der fünf Planeten sowie Sonne und Mond trug. Sie drehten sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten um eine gemeinsame Achse, die nicht mit der Weltachse, also jener der Fixsternsphäre, identisch war.
Das war eine Konstruktion, selbstverständlich. Aber, wie schon gesagt, eine geniale Konstruktion. Und ihr Vorzug war, daß sie allen beobachteten Bewegungen am Sternenhimmel einigermaßen gerecht wurde. Sie hatte zur Voraussetzung, daß die Erde im Zentrum dieses erdachten Gebildes unbeweglich schwebte. Es gab freilich unter den Pythagoräern einige, die gerade diese Idee zugunsten einer anderen fallen ließen. Es wird sich später ergeben, daß Kopernikus gerade auf sie zurückgriff, als er sein gewaltiges Gedankengebäude entwickelte, daß er gerade von ihnen die wertvollsten Anregungen erhielt. Aber diese Lehre ging, kaum entstanden, sehr bald wieder verloren, ohne wesentliche Spuren zu hinterlassen. Das konnte nicht anders sein. Denn Aristoteles hatte den Standpunkt, daß die Erde den Mittelpunkt des Alls bilde, als den einzig möglichen und allein richtigen bezeichnet, und sein Ansehen, der Ruf, den er als bedeutendster Philosoph Griechenlands genoß, waren schon im Altertum so groß, so unbedingt und unwidersprochen, daß keine andere Meinung Aussicht hatte, sich ihm gegenüber auf die Dauer zu halten. Es war ein Ansehen, das noch Jahrtausende überdauern sollte, so daß die größten Widerstände, die das Werk von Kopernikus zu überwinden hatte, gerade aus dem Umstande erwuchsen, daß hier ein Kopernikus gegen einen Aristoteles aufstand.
Freilich – je genauer, je sorgfältiger man die Bewegung von Sonne, Mond und Planeten am Himmel beobachtete, desto erstaunlicher wurden die Unregelmäßigkeiten, die man dabei feststellen mußte. Anomalien, Ungleichheiten, sagten die Griechen dazu. Die Tatsache etwa, daß die Sonne im Laufe eines Jahres alle Zeichen des Tierkreises durchläuft, und zwar in einer gegen den Himmelsäquator etwas geneigten Ebene – die Ekliptik – ließ sich noch ganz einfach dadurch erklären, daß man eben eine bestimmte Sphäre für die Sonne annahm. Wenn deren Achse gegen die Weltachse um den gleichen Winkel geneigt war, wie die Ekliptik gegen den Himmelsäquator, dann wurde man dieser Erscheinung ohne weiteres Herr. Größere Rätsel gab schon der Mond auf, zunächst durch die wechselnde Lichtgestalt, die sogenannten Phasen, dann aber auch dadurch, daß er bald höher am Himmel steht als die Sonne im Sommer, bald tiefer als die Sonne im Winter. Zu reinen Kreuzworträtseln schließlich wurden für die Astronomie der Alten die Planeten. Sie bewegten sich einmal wie Sonne und Mond, also rechtläufig, wie der Fachausdruck lautet. Aber dann wieder, in bestimmten Augenblicken, standen sie still, bewegten sich eine Zeitlang im entgegengesetzten Sinn, rückläufig, standen wieder still und setzten dann die ursprüngliche, rechtläufige Bewegung fort. Das aber bedeutete, daß sie am Himmel förmliche Schleifen beschrieben.
Mit dem Tode des Aristoteles endete die klassische Epoche der griechischen Philosophie, von der die Astronomie ja nur ein Teil, aber vielleicht der bedeutendste war. Jetzt wurde Alexandria, die Residenz der ägyptischen Könige, der Ptolemäer, das Zentrum der Wissenschaft und das Sammelbecken der Gelehrten des Altertums. Unter ihnen ragte nach Aristarch und Eratosthenes vor allem Hipparch hervor, zweifellos der bedeutendste Astronom des Altertums. Über seine äußeren Lebensdaten ist herzlich wenig bekannt, aber seine Bedeutung wurde schon von seinen Zeitgenossen richtig gewürdigt. Sie nannten ihn und ehrten ihn durch den Beinamen »Der Große«. Bei seinen Bemühungen um eine geometrische Darstellung der Bahnen von Sonne und Mond bewegte sich Hipparch ganz in dem Vorstellungskreis von Aristoteles. Wesentlicher war die Vervollständigung des Verfahrens zur Bestimmung der Abstände zwischen Sonne, Mond und Erde. Und am bedeutendsten der von ihm angelegte Sternkatalog. In ihm wurde erstmalig die Lage der Sterne nach Länge und Breite dargestellt. Neu war darin ferner die Einteilung der Sterne nach Größenklassen, wie sie noch heute üblich ist, erstaunlich die Zahl der im Katalog verzeichneten Sterne – mehr als 1000!
Erst dreihundert Jahre später trat Ptolemäus, der letzte Astronom von Bedeutung aus der Zeit des Altertums, die Erbschaft an, die Hipparch der Nachwelt hinterlassen hatte. Er lebte um die Wende des ersten Jahrhunderts n. Chr. – auch über sein Leben ist wenig genug bekannt. Statt dessen aber sind seine Schriften beinahe vollzählig erhalten geblieben. Als sein wichtigstes Werk, die eigentliche Lebensarbeit dieses bedeutenden Forschers, muß seine »Große Zusammenstellung der Astronomie« bezeichnet werden. In der arabischen Übersetzung führte sie den Titel »Almagest«, und als das »Große Almagest« ist es eines jener wenigen Werke geworden, die sich durch eine lange Reihe rinnender Jahrhunderte allgemeinster Wertschätzung unter den Wissenschaftlern erfreuten. Ja, man darf vielleicht ohne Übertreibung sagen, daß es kaum ein anderes Buch gibt, das auf die Entwicklung einer Wissenschaft einen so tiefgehenden, so lange Zeit währenden Einfluß ausgeübt hat. Bis in die beginnende Neuzeit hinein blieb das Almagest für die Astronomie so etwas wie ein Dogma, es war, anders ausgedrückt, gleichsam die Bibel der Astronomie. Das lag nicht nur an dem wissenschaftlichen Inhalt des Buches, sondern auch an der Art der Darstellung. Ganz langsam, behutsam beinahe wird der Leser von den einfachsten Problemen der Astronomie, der Einteilung der Erde in Zonen, der Berechnung der Auf- und Untergangszeiten der Himmelskörper usw., bis zu den schwierigsten Theorien, denen der Bewegung von Sonne und Mond, der Vorausberechnung der Finsternisse und des Planetenumlaufs geführt. Da es auch eine Schilderung des Gebrauchs und der Konstruktion der wichtigsten astronomischen Instrumente enthält, kann es als ein richtiges Handbuch der Astronomie angesprochen werden.
Mit dem Almagest des Ptolemäus hatte die Sternkunde, die Astronomie des Altertums, den höchsten Gipfel erreicht, den zu besteigen ihr überhaupt beschieden gewesen ist. Die Völkerwanderung vernichtete den größten Teil des überkommenen Wissens und ließ nur bescheidene Bruchstücke erhalten bleiben. Und so war es im wesentlichen den Arabern zu verdanken, daß – nachdem Europa wieder einigermaßen zur Ruhe gekommen war – die Errungenschaften der Griechen und der Alexandriner auf diesem Umweg wieder den abendländischen Völkern zugute kamen. Sie wurden vermehrt durch das, was die Araber diesem geistigen Erbe hinzufügten. Zwar übernahmen sie – überhaupt mehr aufnehmend und verarbeitend als schöpferisch begabt – das System des Ptolemäus, wie es jetzt allgemein genannt wurde. Aber sie verbesserten die von ihm errechneten Werte und verbesserten und entwickelten auch die hauptsächlichen astronomischen Instrumente. Das Astrolabium, das gleichzeitig zur Zeitbestimmung und zur Messung der Gestirnhöhe diente, sowie der Mauerquadrant, der bei der Messung der Meridianhöhe der Sterne sich als äußerst brauchbar erwies, sind auf die Araber zurückzuführen. Das gleiche gilt für den Sextanten und den Oktanten, die sich beide aus dem Mauerquadranten entwickelten. Sonnenuhren und Wasseruhren sowie zahlreiche andere Instrumente ergänzten aufs glücklichste das nun schon reichhaltige Handwerkszeug der astronomischen Wissenschaft.
Als sich die ersten Spuren eines unaufhaltsamen Niederganges der arabischen Wissenschaft im allgemeinen und ihrer Astronomie im besonderen zeigten – die natürlich mit den politischen Geschehnissen aufs innigste verknüpft waren –, zeigte es sich, daß im christlichen Abendlande schon alle Voraussetzungen gegeben waren, um nun wiederum das arabische Erbe fast ungeschmälert anzutreten. Das Interesse an der Astronomie wurde seitens der Kirche vor allem durch den Wunsch nach einem wirklich zuverlässigen Kalender wachgehalten. Er bedingte aber eine genaue Vertrautheit mit den Bewegungen besonders von Sonne und Mond. Der sich dabei ergebenden Schwierigkeiten wurde man unter Verwendung des ptolemäischen Systems am besten Herr. So war es keineswegs erstaunlich, sondern natürlich und beinahe selbstverständlich, daß allmählich griechische, alexandrinische, arabische Astronomie, christliche Weltanschauung und scholastische Theologie, daß Aristoteles und Ptolemäus und die Dogmen der Kirche zu einer neuen Einheit zusammenschmolzen. Sie wurde bestimmend für die gesamte astronomische Wissenschaft des Mittelalters.
Doch dies »einheitliche astronomische Weltbild« hatte keineswegs den Vorzug, auch einfach zu sein. Im Gegenteil: je sorgfältiger man unter Verwendung aller technischen Errungenschaften und Instrumente jener Zeit den Himmel und die Bewegungen der Himmelskörper, der Planeten vor allem, beobachtete, desto mehr ergaben sich Abweichungen von den komplizierten Erklärungsversuchen des Ptolemäus und seiner Nachfolger. Durch immer neue Konstruktionen und Theorien suchte man ihrer Herr zu werden. Und es kam schließlich so weit, daß König Alfons auf dem Astronomenkongreß in Toledo, als die versammelten Gelehrten versuchten, ihm durch immer neue Hilfskonstruktionen den verwickelten Gang der Planeten verständlich zu machen, in die melancholischen Worte ausbrach: »Wenn Gott mich bei der Erschaffung der Welt zu Rate gezogen hätte, wahrlich, es wäre manches besser geworden!«
Vielleicht war dieses Wort eines Königs, wenn es wirklich gefallen ist, die erste Kritik an der Richtigkeit und Unbedingtheit des ptolemäischen Weltsystems, die überhaupt im Mittelalter laut wurde. Mindestens begann die Bereitschaft zu schwinden, sich ohne Widerrede der Autorität der Alten zu beugen. Gewiß war man noch weit davon entfernt, nun einfach alles zu verwerfen, was man bisher geglaubt hatte, zu verbrennen, was man eben noch angebetet hatte. Aber man war doch stutzig geworden. Und die schöne Sicherheit, mit der man sich Jahrhunderte hindurch in gewohnten Bahnen bewegt hatte, war dahin.