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Ankunft in Antofagasta. – Südseezauber. – Rosi, die Strandläuferbella. – Michel Angelo, das verkannte Genie. – Malerarbeiten à la chilessa. – Geschwindigkeit ist keine Hexerei. – »Nur die Lumpen arbeiten mehr als drei Tage in der Woche.« – Teure Blumen. – Etwas von Segelschiffen. – Nationalökonomie auf dem Straßenpflaster. – Paul, der Taucher. – Ein Seelenverkäufer. – Schwindelige Malerarbeiten. – Die Fiesta. – Das südamerikanische Preußen – viva Chile!
Eine Weile fuhren wir entlang der Küste, ohne daß etwas anderes zu sehen gewesen wäre als blaues Meer und gelber Wüstensand im grellen Sonnenlicht. Tief unten tobte die weißschäumende Brandung zwischen den schwarzen Klippen. Allmählich leuchteten vereinzelte Häuser auf, die da und dort wie grelle Farbenflecken in der Einöde lagen. Zu Füßen eines felsigen Abhangs breitete sich ein Kirchhof aus, der mit seinen langen Reihen von schwarzen, düsteren Kreuzen beim Beschauer unwillkürlich den Wunsch erwecken mußte: »Nicht hier.« Dann wuchsen allmählich Schornsteine und Kirchtürme aus dem Sande der Wüste, und über ein Gewirr von niedrigen, flachdachigen, buntbemalten Häusern hinweg schweifte der Blick bis hinüber zum Hafen, wo die Takelage der stolzen Segelschiffe wie ein Wald von Masten gegen den blauen Himmel stand. Dann ging es in langsamer Fahrt mitten durch die breiten, sandigen Straßen der Stadt, über holperige Weichen und rostige Schienen, vorbei an düsteren Wagenreihen und schwarzen rußigen Schuppen, in denen die tatendurstigen Lokomotiven qualmten. Schließlich hielt der Zug vor einem weitläufigen Holzgebäude, wo in großen Buchstaben zu lesen stand: »Antofagasta«.
Der Zug war noch nicht zum Stillstand gekommen, als uns ein Schwarm von fliegenden Händlern überfiel. Tschitscha, Caña, Limonade, Pasteten, Streichhölzer und Schuhriemen boten sie feil. »Kaufen Sie, Caballero! Billig! Billig!«
Ein Mann mit ausgefransten Manschetten und schmutzigem Gummikragen nahm sich meiner an.
»Suchen der Herr eine Fonda?« fragte er mit öliger Stimme, – »oder ein Hotel? Ein erstklassiges Hotel, Caballero! Mit elektrischem Licht und eleganter Damenbedienung! – Dann nehmen Sie vorlieb mit dem Hause Ihres ergebenen Dieners.«
Und ehe ich mich's versah, standen wir schon vor einem Hause, das nach europäischen Begriffen nicht viel anders aussah als eine bessere Kaschemme.
»Aqui está en su casa«, sagte mein Begleiter mit kastilianischer Grandeza und führte mich durch einen dunklen, halsbrecherischen Hausgang in ein Zimmer, in dem von der Gotteswelt keine weiteren Möbel standen als ein Bett. Fenster gab es nicht. Wer Wert auf frische Luft legte, der mußte die Tür offen halten, die nach dem Patio führte. Bei Unterlassung dieser Vorsichtsmaßregel würde er wohl Gefahr laufen, über Nacht zu ersticken, denn das Zimmer war so klein wie das jenes legendären Schreibers, der jedesmal das Dachfenster aufmachen mußte, wenn er den Überzieher anziehen wollte.
In jener Nacht trieb ich mich lange am Strande umher, wo die weiche Seebrise kosend wehte und die schwarze Meeresfläche jeden Stern des klaren Nachthimmels wiederspiegelte, als ob sie ein Teil des Himmels selber wäre. In immer gleichem Rhythmus tobte die Brandung gegen die Küste. Wie wilde Tiere sprangen die bläulich-weißen Schaumkämme aus dem Dunkel der Meeresfläche, brausten wütend heran und überschlugen sich tausendmal an der felsigen Küste, bis sie brüllend und schäumend hinaufrannten zu den schwarzen Klippen, an denen sie donnernd zerschellten. Und wie sie kraftlos zerrannen, da glänzten sie wie ein Meer von Silber, und zwischen den Klippen, wo sich die Brandung verlor, funkelte und glühte das Meerleuchten in immer neuen Farben.
Ja, auch noch heute erinnere ich mich jenes Abends, als ob es gestern gewesen wäre! Es war eine jener weichen, verträumten Nächte, wie sie nur die Tropen kennen. Weit draußen auf der Reede, wo die Segelschiffe ihre schwarzen Finger phantastisch in den Nachthimmel streckten, blitzten ab und zu die roten, grünen und weißen Laternen auf und warfen einen zitterigen Schein in die schwarze Wasserfläche. Deutlich kam der Ton einer Schiffsglocke, die eben die Glasen anschlug, über das Wasser. Dann war wieder alles still, bis auf die grelle, mißtönende Stimme eines Musikkastens in einer nahen Kneipe, der die Weise eines nagelneuen Gassenhauers herunterleierte, der eben erst seinen Weg übers große Wasser gefunden hatte.
Nachdenklich schlenderte ich über die Straße, wo sich eine Schifferkneipe an die andere reihte, wie etwa drüben in St. Pauli, oder auf der Skipperstraße in Antwerpen. Ein paar »landfeine« Matrosen, denen man an den blauen Anzügen, dem dicken Halstuch und der weit im Nacken sitzenden Schiffermütze die deutsche Herkunft schon von weitem ansehen konnte, kamen eben um eine Straßenecke. Der eine von ihnen pflanzte sich mit einer Cañaflasche mitten auf der Straße auf. »Achterut, all Hands!« rief er mit dröhnender Stimme, »Besanschot!« Nicht weit davon lungerte vor der Tür eines schmutzigen Hauses ein englischer Strandläufer, ein zerlumpter, ausgefranster, rothaariger Kerl. »Hallo,« sagte er zu mir, »wie wär's mit ein paar Centavos für einen armen Schiffskameraden, der schon seit einem halben Jahr am Strande liegt!«
In einer Schänke, die von außen im Vergleich zu den anderen nach etwas Besserem aussah, kehrte ich ein. Es war aber nur äußerlich eine bessere Kneipe. Von innen war es, wie alle anderen, ein wüstes Lokal mit Sägemehl auf dem Fußboden und großen Spucknäpfen in den Ecken. Tabakrauch und Alkoholdunst lagen in der Luft, Einer von den Seeleuten, die sich vor der Bar ellbogten – seinem grauen Bart nach zu urteilen wohl ein Segelmacher – betrachtete mich aufmerksam von oben bis unten. »Zu welchem Schiff gehörst du?« fragte er mich neugierig.
Das war die landesübliche Begrüßungsformel. In Antofagasta frägt man die Leute nicht nach dem Woher und Wohin, man erkundigt sich nicht nach der Gesundheit und man spricht nicht vom Wetter, sondern man fragt einfach: »Von welchem Schiff?« Daß einer zu irgend einem Schiff gehört, versteht sich ganz von selbst. Einen anderen würde man einfach nicht für voll nehmen. Für den richtigen Seemann fängt der Mensch überhaupt erst am Teerpott an. Selbst ein Minister in all seiner Würde kann ihm keinen Respekt einflößen; denn der kann ja nicht einmal einen ordentlichen Kreuzknoten zusammenbringen.
»Ich gehöre zu gar keinem Schiff,« antwortete ich wahrheitsgemäß, »ich komme eben erst von Bolivien.«
»Hm,« meinte der alte Seebär, »das dacht' ich mir schon! Noch nie etwas Gutes gesehen, das von Bolivien gekommen ist.«
Dann tat er einen großen Zug aus seiner Pfeife, spuckte über die Köpfe der anderen weg in den Spucknapf in der anderen Ecke des Raumes und würdigte mich hinfort keines Blickes mehr.
Der Wirt hatte mir eben ein Glas von dem dünnen Bier vorgesetzt, als unvermutet ein kleines Ding mit einem Gassenbubengesicht neben mir auftauchte.
»Bier!« sagte sie mit einer Miene voll grenzenloser Verachtung. »Pfui Teufel! Bist du ein billiger Kavalier! Da mußt du schon eine Leuchtkugel schmeißen, wenn du was gelten willst, hierzulande. – Bringt eine Caña, Patron!«
Der Wirt, ein wohlbeleibter Chilene mit olivenbraunem Gesicht und Brillantringen an den dicken Fingern, schenkte ein großes Glas gelber Caña ein, dessen Anblick eine besänftigende Wirkung auf das Temperament der jungen Dame hatte.
»Hast du vielleicht dort oben irgendwo in der Pampa oder in Bolivien einen Nigger angetroffen?« fragte sie mit lauernder Miene, »so ein großes, schwarzes Ungeheuer mit einem Affengesicht voller Pockennarben? Sein Großvater hat noch Menschenfleisch gefressen, aber er gefällt sich als Mister Abraham Lincoln Jones, farbiger Gentleman und Caballero!«
Die Beschreibung paßte auffallend auf den Neger, den ich droben in Bolivien bei der Vermessungsexpedition angetroffen hatte.
»Ist er nicht Koch?« fragte ich.
»Koch!« rief sie voll Geringschätzung, »das schwarze Ungeheuer könnte kein Wasser kochen ohne es anzubrennen! – Aber wenn du demnächst wieder nach der Pampa gehst, so sage ihm, daß Rosi ihm schon die Suppe versalzen hat. Ich habe das Ding mit Don Felipe ausgemacht. Der hat ein flinkes Cuchillo und es kommt ihm auf eine Mordtat mehr oder weniger gar nicht an, wenn er dabei fünf Pesos verdienen kann.«
Jetzt erst betrachtete ich mir die kleine Vogelscheuche genauer. Also das war die Rosi, deren Ruhm ich schon in Bolivien hatte singen hören! Rosi, der Schwarm aller Seeleute. Rosi, die Strandläuferbella! Im Grunde genommen war sie ja nur ein ganz ordinäres Frauenzimmer, aber – und das ist der Grund, warum ich sie hier erwähne – sie hatte eine höchst merkwürdige Vergangenheit. Schon manches erstaunliche Abenteuer hatte ihren Lebensweg gekreuzt seit jenem schicksalsschweren Tag, da sie ihren drei Monate alten Hausstand mit samt dem Gatten in Callao sitzen ließ, um an der Seite eines jungen Schiffskapitäns ihr Glück in der weiten Welt zu suchen. Der Ärmste – ich meine den Schiffskapitän – merkte bald, daß Rosi doch wohl nicht die richtige Lebensgefährtin für ihn sein konnte. In San Franzisko kappte er sein Kabel und überließ die liebesfrohe Señora ihrem Schicksal. Aber Rosi war noch lange nicht am Ende ihres Lateins. Sie wurde Ausruferin bei einem Löwenbändiger, mit dem sie die halbe Welt durchreiste, bis sie eines Tages in Schanghai landete, wo es ihr so gut gefiel, daß sie umgehend ein Weißwarengeschäft einrichtete. Da das Geschäft nicht ging, siedelte sie bald nach Singapore über, wo sie sich in der Rolle einer »interessanten jungen Witwe« gefiel. Dann hörte man lange Zeit nichts mehr von Rosi. Sie soll eine spanische Weinstube in Kalkutta, ein arabisches Nachtkaffee in Madras und ein Tingeltangel in Surabaja betrieben haben. Böse Zungen haben ihr Andenken noch mit vielen anderen Abenteuern belastet. Tatsache ist, daß sie eines Tages hungrig und verkommen und ohne einen roten Heller im Hafen von Sidney ankam, wo der mitleidige Steuermann eines Segelschiffes sich ihrer annahm und sie wohl verstaut an Bord seines Schiffes nach der chilenischen Küste entführte. Hier weilte sie nun schon geraume Zeit, und unter den einfachen Matrosen, die hier in den Schenken verkehrten, fanden sich immer noch Opfer ihrer Verführerkünste, die auch jetzt noch auf der Höhe ihrer glorreichsten Tage standen, und ihrer verwelkenden Schönheit, die einst die Köpfe der Schiffskapitäne zu verwirren vermochte.
Vierzehn Tage, nachdem ich sie in jener Schenke zum erstenmal gesehen, war sie plötzlich spurlos verschwunden, und ich weiß nicht – es mag reiner Zufall sein, daß zu gleicher Zeit ein amerikanischer Bankdieb mit einer ansehnlichen Summe das Weite gesucht hatte.
Alle diese erstaunlichen Erinnerungen, die mir schon droben in Bolivien stückweise zu Ohren gekommen waren, bekam ich nun aus Rosis eigenem Munde zu hören; gewürzt mit vielen Kraftausdrücken, die nicht für Tinte und Druckerschwärze sind, und unterbrochen von unzähligen Püffen der qualmenden Zigarette und einem gelegentlichen tiefen Blick in das Cañaglas. Ja, Rosi war heute bei rosigster Laune. Sie sagte, sie fühle sich wieder so jung wie damals in Callao. Sie könne eine Cueca und einen Fandango tanzen, wenn's darauf ankäme. Und als einer der herumsitzenden Matrosen seine »Quetschmaschine« in Gang setzte, da versuchte sie sogar einen Cakewalk.
Es war warm in dem kleinen Raum. Der heiße Atem der vielen Menschen zitterte in der Luft, und der blaue Tabaksrauch verschleierte die trüben Lampen. Ich wollte mich eben wieder hinaus ins Freie flüchten, als mir zwischen Tür und Angel kein Geringerer als Michel Angelo selbst den Weg vertrat.
»Ich habe die Ehre, Ihnen Michel Angelo vorzustellen,« sagte der Wirt mit dem Hinweis auf einen schlanken jungen Mann mit bleichem Gesicht und schwarzen, brennenden Augen, den man nach seiner großen, phantastisch gebundenen Krawatte und seiner übrigen Aufmachung wohl für einen verkommenen Kunstmaler oder einen ausgemusterten Seiltänzer halten mochte.
Michel Angelo lächelte verbindlich.
»Wie es Ihnen beliebt, Caballero,« redete er mich an in wohlgesetztem Kastilianisch, »ich habe nichts dagegen, wenn die Leute mich Michel Angelo nennen, zumal ich ja auch von derselben Zunft bin.«
Dabei hielt er seinen großen Schlapphut ans Licht, damit man die daran klebenden Ölfarbflecken besser erkennen konnte.
»Gerade eben habe ich den Vorhang fürs Stadttheater fertig gemalt. Ein feines Stück Arbeit! Dekorationen, Caballero, wie man sie an der Tiepola nicht schöner finden kann. Aber wer hat denn Verständnis für so etwas in Antofagasta? Nur Lastesel mit starken Muskeln und dicken Schädeln kann man gebrauchen hierzulande. Zweibeinige Maulesel, wie die da – dies mit einem vernichtenden Blick auf die Gäste im Lokal – aber die Kunst – die kann betteln gehen heutzutage!«
Dann hielt er mir eine lange Rede über die schädlichen Begleiterscheinungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems, der ich so teilnahmsvoll wie möglich zuhörte. Michel Angelo bestellte eine Flasche um die andere und duldete nicht, daß ich auch einmal den Geldbeutel zog.
»Nein, das bezahle ich!« sagte er abwehrend, »heute habe ich Geld. Morgen werden Sie welches haben, und übermorgen haben wir beide keins. Das ist nun einmal nicht anders unter Caballeros.«
Das Geldverdienen sei übrigens zurzeit hier in Antofagasta eine Kleinigkeit. Es seien nur noch knapp drei Wochen bis zum 18. September, dem Tag des Nationalfestes, und bis dahin müßten laut Polizeiverordnung alle Häuser frisch gestrichen sein. Da gäbe es denn goldene Zeiten für die Gringos, denen man solche Malerarbeiten stets übertrage, weil es meist weggelaufene Seeleute sind, die mit dem Farbenquast umzugehen verstehen. Er selbst habe mehrere Aufträge übernommen, und es wäre ihm gerade recht, wenn er jemand finden würde, der ihm bei der Arbeit behilflich wäre.
So begannen wir denn am nächsten Tage mit unserem Kontrakte.
Ich weiß nicht, wie ein zünftiger Malermeister in Deutschland bei seiner Arbeit zu Werke geht. Ich nehme an, daß er zunächst an der zu bemalenden Hausfront die schadhaften Stellen ausbessert, daß er die alte Farbe abkratzt an den Stellen, wo sie in der Sonne rissig geworden ist und daß er vor allem anderen der Hauswand zunächst mit Wasser und Bürste zu Leibe geht. So müßte die Arbeit vor sich gehen, wie man meinen sollte. Aber bei solchen Kleinigkeiten hielten sich große Geister wie Michel Angelo gar nicht erst auf.
In einem großen Blechgefäß löste er die spinatgrüne Farbe in Terpentinöl und verdünnte sie dann ausgiebig mit – Petroleum. »Das ist die Hauptsache,« meinte er. »Dünn muß der Stoff sein! Er kann nie dünn genug werden.«
Es war ein großes, dreistöckiges Gebäude, das wir in Angriff genommen hatten, und ich glaubte, daß wir wohl für acht Tage Arbeit daran haben würden, aber Michel Angelo meinte lächelnd, daß wir wohl in drei bis vier Tagen damit fertig werden würden, wenn wir uns daran hielten. In der Tat: Geschwindigkeit ist keine Hexerei.
Ich machte mich an die Bearbeitung des einen Hausgiebels, dem ich mit deutscher Gründlichkeit zu Leibe ging. Es war ein hartes Stück Arbeit. Die Sonne brannte erbarmungslos vom klaren Himmel, die heiße Luft flimmerte unter dem Dachfirst, und der scharfe Geruch der Ölfarbe stieg mir in die Nase. Aber wie sehr ich mich auch anstrengte – meine Bemühungen fanden keine Gnade vor Michel Angelos Augen.
»Aber Mensch!« schrie er schon von weitem, als er die Farben fertig gemischt hatte und nun herbeikam, um mir beim Streichen behilflich zu sein, »du glaubst wohl gar, daß du ein europäischer Malermeister bist? So streicht man keine Häuser hierzulande! Mal her mit dem Farbenquast. Ich will dir etwas vormalen. So – so – und so!« Und dabei fuhr der Pinsel mit genialem Schwung über die schmutzige Hauswand.
Das war allerdings ganz nach meinem Geschmack. Für solche Malerei hatte ich Verständnis. Ich tunkte den Pinsel tief in den Farbpott und malte darauf los, unbekümmert um die vielen »Feiertage«, durch die das schmutzige Grün des alten Farbenkleides noch hindurch schaute. Im Nu war der ganze Giebel gestrichen, und schon nach drei Tagen war der Kontrakt erledigt. Das große Haus sonnte sich in dem Glanze seines neuen Anstrichs, und wenn wohl auch die Qualität der Arbeit, die wir geleistet hatten, vor der Kritik eines zünftigen Malermeisters nicht länger bestehen konnte als ein Schneeball in der Hölle, so ließ sie doch immerhin genug frische Farben an der Hausfront, um auch das kritischste Schutzmannsauge von der Tatsache des neuen Anstrichs zur Feier der kommenden Fiesta zu überzeugen.
Wir hatten nun noch andere lohnende Kontrakte in Aussicht, aber Michel Angelo beeilte sich nicht mit deren Ausführung. »Wer viel arbeitet, der ist kein Caballero,« meinte er. »Nur die Lumpen arbeiten mehr als drei Tage in der Woche.« Da er aber doch der Geschäftsleiter war, mußte ich mich auch wohl oder übel mit dem frühen Feiertag abfinden. Tagsüber trieb ich mich am Strande umher und schaute den Pelikanen und den Kaptauben zu, die in der verlaufenden Brandung zwischen den Klippen ihre Beute suchten, oder ich bummelte zwecklos durch die Straßen der Stadt.
In Antofagasta braucht man sich nicht über Mangel an schönem Wetter zu beklagen. Wenn irgendwo auf dieser Erde die Phrase von dem »ewig blauen Himmel« ihre Gültigkeit hat, so ist es hier. In Antofagasta regnet es nie. Morgens, vor Sonnenaufgang, steigen die Nebel aus dem Meere. In dicken Schwaden ziehen sie über die Stadt hinweg zu den benachbarten Bergen; aber noch ehe die Sonne recht aufgegangen ist, zerrinnen sie wieder über der erhitzten Fläche und lösen sich auf in ein Nichts, bis auch das letzte Atom von Feuchtigkeit aus der klaren Luft verschwunden ist. Seit Menschengedenken ist das so gewesen. Jedermann hat seine Lebensweise darauf eingestellt und würde es als eine Zumutung empfinden, wenn es einmal anders käme.
Einmal aber – das war etwa drei Jahre vor meinem Aufenthalt in Antofagasta – hat es dort wirklich und wahrhaftig geregnet. Es war ein Ereignis, an dessen Erinnerung die kommenden Geschlechter noch zehren werden. Wäre ein Erdbeben gekommen, so hätte man sich mit Humor dareingefunden, denn so etwas ist dort keine Seltenheit. Aber Regen –
Zuerst waren es nur einige dicke Tropfen, die man ungläubig bestaunte. Dann kam es immer stärker und verdichtete sich schließlich zu einem rauschenden Platzregen, der während des ganzen Vormittags mit eintöniger Ausdauer herunterprasselte auf Gerechte und Ungerechte. Er drang durch die undichten Dächer in Küche und Keller und verwandelte die intimsten Schlafgemächer in stinkende Wassertümpel. Die Straßen wurden zu Sturzbächen und in den Hinterhöfen, wo der Schmutz und Unrat von zehn Jahren aufgespeichert lag, und kein Mensch daran dachte, ihn fortzuschaffen, weil die sterilisierende Trockenheit keine sichtbaren und riechbaren Zeichen der Verwesung aufkommen ließ, da wälzte sich nun auf einmal eine zum Himmel stinkende gelbe, grüne, braune Schlammflut von Fäulnis und Pestilenz. Alles rannte, rettete, flüchtete hinaus in die sumpfigen Straßen und fort in die benachbarten Berge und oh! in zwanzig Jahren wird man noch davon erzählen, wie es in Antofagasta geregnet hat. –
Zur Steuerung der Trinkwassernot in dieser regenlosen Stadt hat man eine mächtige Wasserleitung von zweihundert Kilometer Länge angelegt; denn der Mensch, wenn er irgendwo seinen Vorteil sieht, läßt sich durch kein Hindernis der Natur imponieren.
Auf die Lava, die der Berg geschieden,
Möcht ich nimmer meine Hütte bauen.
Und doch, wie viele schöne Städte stehen gerade auf solchem Boden! Neapel, Messina, San Franzisko, Galveston . . . Der Mensch, der vorwitzige, würde sich selbst in dem Schlund des Kraters ansiedeln, wenn er sich davon einen Vorteil verspräche.
Natürlich hat Antofagasta auch eine Plaza. Natürlich heißt sie Plaza Prat. In Argentinien ist es bekanntlich San Martin, der in solchem Fall zur Nomenklatur herhalten muß, doch hat man dort immer noch einige Varietäten: Moreno, Rivadavia, Sarmiento, Bartolome Mitre. – In Chile ist es immer Prat – Arturo Prat. Eine chilenische Stadt ohne Plaza Prat ist wie ein Mensch ohne Kopf. Es erhebt sich nun die Frage: Wer ist, oder wer war dieser Prat? War er ein Staatsmann? – Nein. – Ein Gelehrter? – Nein. Oder ein Künstler, oder ein Forscher, oder ein großer Feldherr? – Auch das nicht.
Arturo Prat war ein junger Schiffskapitän in der chilenischen Marine. Während des Krieges gegen Peru war er Kommandant des Kreuzers »Esmeralda«, der auf der Reede von Iquique von dem feindlichen Panzer »Huascar« angegriffen und durch einen Rammstoß zum Sinken gebracht wurde.
Arturo Prat, der ein mutiger Mann war, versuchte in diesem Augenblick vergeblich das feindliche Schiff zu entern. Bei dem Versuch fand er den Tod; und dann – Nein, die Erzählung hat keine Fortsetzung. Man kommt leicht zu einem Denkmal, wenn man Chilene ist.
Altpreußische Anschauung würde in diesem Zusammenhang etwas von »verdammter Pflicht und Schuldigkeit« geredet haben; die »Preußen Südamerikas« messen mit anderem Maßstab. »En el reino de los ciegos, el cegito es rey.« Um es auf deutsch zu sagen: »Im Reiche der Blinden ist der Einäugige König.« –
Die Plaza von Antofagasta – um wieder auf das Thema zurückzukommen – ist der einzige grüne Flecken in einem Umkreis von mehreren hundert Meilen. Mit unendlicher Mühe und Geduld hat man hier einen hübschen Garten in den Sand der Wüste gezaubert. Selbst das Erdreich für die Rasenbeete mußte man mit großen Kosten durch Schiffe vom Süden heraufbringen, weil die Menge von Salz und Salpeter, die in dem heimischen Boden enthalten ist, den Pflanzenwuchs zerfressen und verbrennen würde. Hat man aber erst die nötigen Vorbedingungen geschaffen, so tut das milde Klima ein übriges, und die dankbaren Blumen und Bäume vergelten die liebe Mühe mit wahren Wundern von Wachstum und Farbenfreudigkeit.
Dort an der Plaza ist es schön, zumal dann, wenn die Nacht windstill ist und die hellen Sterne zwischen den regungslosen Palmenwedeln hindurchblicken.
Dann fängt es an sich zu regen in den kleinen Häuschen der benachbarten Straßen. Es duftet nach kochendem Öl und gebratenen Fischen. Der rote Lichtschein fällt weit in die Straße und von drinnen kommt eintöniger Gesang zum Klang einer dumpfen Trommel. Man tanzt. Dichtgedrängt sitzt das Völkchen in der Fonda. Bunte Lampions schwingen an der Decke.
Fahnen und Fähnchen in chilenischen Farben, buntscheckige Papierschlangen und chinesisch bemalte Fächer zieren die Wände. Breit und behäbig schenkt der Wirt die Tschitscha ein, die in großen Litergläsern von Mund zu Mund wandert. Irgend jemand klimpert auf einer Harfe, einem Banjo oder etwas ähnlichem und ein kleiner Junge schlägt dazu die Trommel. Die anderen singen ein eintöniges Lied, von dem man kaum ein anderes Wort versteht als das eine, das immer wiederkehrt in tausend Variationen; bald keck herausfordernd, bald leise verträumt und verschlafen, bald wieder lang gezogen süß und schmelzend wie ein Schneeball in der Sommernacht: querer – querer – querer –
Querer heißt lieben.
Eine Señorita mit Augen so schwarz wie chinesische Tusche tritt hervor in den von rotem Licht beschienenen Halbkreis. Sie schwenkt ein buntes Taschentuch. Keck, kokett herausfordernd schaut sie sich im Kreise um, worauf ein junger Stutzer ebenfalls mit einem Taschentuch, auf leisen Sohlen an sie herangeschwebt kommt. Es gibt ein großes Getänzel, ein Hin und Her mit gliederverrenkenden Bewegungen, ein fortwährendes Winken mit den Taschentüchern und ein verliebtes Getue mit den Augen, daß einem übel dabei werden kann.
Indes geht die Musik immer weiter. Unermüdlich bearbeitet der Junge die Trommel, der Harfe entzittert ein dünnes, schmächtiges Geklimper. Man klatscht in die Hände, und man singt dazu Lieder, die keinen Sinn und keinen Verstand haben, wie etwa dieses:
En la noche no hay coche.
Ay, Ay – Ay, Ay.
Es wird noch immer weiter getanzt und weiter getrunken. Das mächtige Tschitschaglas geht von Mund zu Mund. Der Rotwein fließt. Die Gemüter erhitzen sich. Wilder wird die Musik, wilder der Tanz, wilder das Beifallklatschen, und ach, was mit Zither und Harfe und Banjo begonnen, das endet nur allzuoft mit dem langen Cuchillo!
La Cueca nennt man diese Veranstaltung. Es ist der chilenische Nationaltanz. Ich zweifle nicht daran, daß er demnächst auch auf der anderen Seite des Meeres in den Salons von Paris und im Tiergartenviertel beim Tee-Tango eine Rolle spielen wird. One-Step, Two-Step, Cakewalk, Maxixe, Foxtrott und so viele andere Neger- und Indianertänze sind der Reihe nach en vogue gekommen in der Welt, in der man sich langweilt. Warum nicht auch zur Abwechslung einmal die Cueca? – –
* * *
Was soll ich noch weiter von Antofagasta erzählen? Ach, es ist trotz allem ein gar trauriger Erdenwinkel! Gelber Sand, grauer Stein und grellgrüne Häuser. Und immer wieder Sand, Sand, Sand. Loser, fließender, knietiefer Sand in allen Straßen. Ich möchte nicht Fuhrmann sein in Antofagasta. Und noch weniger eine von den vielgeplagten und viel geschundenen Mulas. Wer nicht unbedingt muß, bedient sich keines Fahrzeugs. Darum sind Auto und Droschken eine Seltenheit. Der Fußgänger bewegt sich auf den Steigen, die mehrere Fuß hoch über der Straße sich wie eine lange Veranda an den Häusern hinziehen. –
Wenn man zum wandernden Volk gehört, so zieht es einen immer wieder wie mit einem unsichtbaren Magnet hinunter zum Hafen. Dort drunten zeigt sich Antofagasta wirklich von der schönen Seite. Dort ragt die mächtige Masse des Morro Moreno wie ein Ungeheuer weit hinaus in die blauen Fluten, die Tag und Nacht in nimmermüdem Ansturm dagegen anrennen und schäumend und zischend an den schwarzen Klippen zerschellen. Dort tummeln sich flinke Vögel über der brausenden Brandung und glatte Seelöwen wälzen sich wohlig in den kühlen Fluten. Das Auge des Menschen, so lange beleidigt und mißhandelt durch die grellen Farben der Wüste, weidet sich wonnig an dem tiefen Blau der unendlichen Wasserfläche, die weit, weit draußen sich in dem Blau des Himmels verliert. Der Hafen von Antofagasta ist so schlecht wie nur möglich. Die Bai ist nach Süden und Westen weit offen, so daß das Meer zu jeder Zeit eine schwere Dünung hereinwirft, die brandend an dem Felsenufer zerschellt. Schon seit Jahrzehnten trägt sich die chilenische Regierung mit dem Plane, durch den Bau von Wellenbrechern den Hafen in moderner Weise auszubauen. Doch was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe, zumal in Chile! Es ist genug, wenn sie von einer Wahl zur anderen ihre Dienste tun.
Trotzdem ist die Reede stets von zahlreichen Schiffen besucht. Zur Zeit lagen dort mehr als dreißig große Segler, die auf Salpeterfrachten nach Europa warteten. Die Westküste von Chile ist heute fast noch der einzige Platz, an dem sich das Segelschiff im Wettbewerb mit dem Dampfer zu halten vermag. Wie lange wird es gehen, bis es auch von dort verschwunden ist? Sic transit gloria mundi. So geht ein Stück der alten Romantik nach dem anderen aus dieser schon allzu nüchternen Welt.
Dampfschnaubend Tier, seit du geboren,
Die Poesie des Reisens flieht – –
* * *
Doch ich wollte ja von Michel Angelo erzählen.
Der Mann war entschieden ein Philosoph. In den vier Tagen der Woche, die er sich als Feiertage erkoren hatte, stand er oft stundenlang am Strand und schaute regungslos hinaus auf das blaue Meer, oder er saß auf einer Bank in der Plaza und verwandte keinen Blick von den feinen Blättern der Pfefferbäume, die in der Hitze zitterten, oder von den scharfen Mustern, die der Schatten der breiten Palmenwedel in den weißen Sand der Plaza zeichnete. Wenn man ihn so dasitzen sah, so mochte man ihn wohl für einen gedankenlosen, selbstzufriedenen Spießbürger halten, aber das war nur Schein. Finstere, weltstürzlerische Gedanken bewegte er in seinem unruhigen Kopfe. Tag und Nacht dachte er darüber nach, wie man wohl dem kapitalistischen Wirtschaftssystem den Garaus machen könnte und welches der beste Weg sein mochte, um eine gerechtere Verteilung der Güter unter den Menschen zu bewirken. »Eigentum ist Diebstahl.« Das war sein Grundsatz, denn Michel Angelo war ein Anarchist.
Ja, er war ein Weltverbesserer und ein Verächter der bürgerlichen Gesellschaft und der staatlichen Ordnung. Er glaubte an die Internationale.
La patria el mundo
La ley la libertad.
Er kannte sie alle, die großen Götter und Halbgötter der Nationalökonomie. Den Adam Smith, den Oliver Cromwell, den Sully Prud'homme. Und er verachtete sie alle. Selbst für Karl Marx hatte er nichts übrig. Wenn er auf die Sozialisten zu sprechen kam, so wurde sein Gesicht noch um eine Schattierung bleicher und seine schwarzen Augen funkelten von fanatischer Glut. Die Sozialisten – so meinte er –, die seien die größten Philister. Sie besorgten die Geschäfte der Reichen, indem sie den Armen und Enterbten einredeten, daß sie ihren Platz an der Sonne, den sie doch nur mit Blut und Eisen zu erobern vermochten, mit der Zeit schon mit einem Stimmzettel erwerben könnten. Sie seien auch wie die Pfaffen, weil sie mit ihrer glatten Zunge das Eiapopeia von dem schönen Zukunftsstaat vorgaukelten. Überhaupt der Zukunftsstaat! Er hatte wenig Verlockendes für Michel Angelo. Dort würden die Parlamentarier herrschen, die dem Volke Brei um den Mund schmieren und hernach ebenso große Tyrannen wären wie alle anderen, wenn sie erst einmal an der Krippe säßen. Sie wollten die Könige verjagen und Hanswürste an ihre Stelle setzen. Nein, das war nichts für Michel Angelo. Er war für sofortiges Eingreifen, gleich jenem anarchistischen Wanderprediger, dem ich einmal irgendwo in den Vereinigten Staaten zugehört habe, wie er beim Scheine einer wild flackernden Fackel von der Höhe einer Seifenkiste seine Weisheit auf das Publikum ausgoß, das sich an einer belebten Straßenecke staute. Die Polizei hatte ihm das Reden verboten, weil der Auflauf, den er verursachte, allzu lebensgefährlich wurde. »Well!« sagte der Herr Anarchist, »wenn ich nicht reden darf, so kann man mir wenigstens das Singen nicht verwehren.« Und so fing er denn an zu singen zur Freude des Publikums:
Der Himmel auf Erden sei unser Ziel,
Wir wollen ihn heut und sogleich,
Er nützt uns hienieden wohl ebenso viel
Wie droben im Himmelreich.
Ich weiß wohl, daß es keine Originalgedanken waren, die Michel Angelo hier zum Ausdruck brachte. Vor langer Zeit schon haben kluge Männer diese Thesen aufgestellt, zungenfertige Agitatoren haben sie in gangbare Münze umgeprägt, und täglich gibt es Millionen von Menschen in aller Herren Ländern, die sie gedankenlos nachplärren. Dieser aber war der erste und einzige in allen meinen Erfahrungen, der es der Mühe wert hielt, schon in der Gegenwart seine Lebensweise den Grundsätzen dieser grauen Theorie anzupassen.
»Eigentum ist Diebstahl!« sagte Michel Angelo. Also handelte er danach. Einmal traf er in einer Schenke einen jungen Leichtmatrosen, der mit dem Geld nur so um sich warf.
»Leihe mir einen Peso,« bat er ihn.
Der Matrose gab ihm sogar zwei Pesos, die Michel Angelo ohne ein Wort des Dankes einstrich. Nun wollte es das Geschick, daß acht Tage später dieser selbe junge Mann, der inzwischen von seinem Schiff weggelaufen war, vollständig abgebrannt in derselben Kneipe saß, in der er noch vor kurzem eine so große Zeche gemacht hatte. Sein Gesicht hellte sich auf, als er seinen Gläubiger zur Tür hereinkommen sah. »Die zwei Pesos!«
Der aber schaute ihn groß an. »Die bekommst du nicht wieder,« sagte er mit salbungsvollem Lächeln. »Ich bin groß und du bist nur eine Handvoll. Also liegt es im Interesse der Allgemeinheit, daß ich dir die zwei Pesos nicht zurückgebe, denn je mehr die Starken die Schwachen ausbeuten, desto schneller wird die Auswahl der Tüchtigen –«
»Der Teufel hole deine Redensarten!« sagte der Matrose, aber Michel Angelo fuhr unbeirrt in seiner Auseinandersetzung fort.
»Ich könnte dir ja im Wege der Wohltätigkeit das Geld zurückgeben, aber das verstößt gegen mein Prinzip. Ich glaube nicht an die Wohltätigkeit. Sie ist nur eine Bettelsuppe, die man den Armen hinwirft, weil man in den Himmel kommen will. Wenn's keine Wohltätigkeit gäbe, gäb's keine Armen mehr. Kannst du denn das nicht verstehen?«
Nein, das konnte der andere gar nicht einsehen. Er schimpfte gewaltig und überschüttete seinen Gläubiger mit allen Kraftausdrücken seines reichhaltigen Vokabulariums.
Der aber schüttelte nur den Kopf, und ein mitleidiges Lächeln glitt über sein bleiches Gesicht.
»Warum nur die Aufregung?« fuhr er fort, »das Geschäft ist doch ganz ehrlich. Wenn jemand sein Geld weggibt ohne Sicherheit für die Rückzahlung, so beweist er dadurch, daß er nicht damit umzugehen versteht, und es ist für die Allgemeinheit nur von Vorteil, wenn es recht schnell in die Hände von Leuten übergeht, die seinen Wert zu schätzen wissen. Und überhaupt – wirst du nicht täglich hundertmal in viel schlimmerer Weise ausgebeutet, ohne daß du dich darüber beklagst? Behält nicht der Reeder einen Teil – den größten Teil – der Werte, die deine Arbeit hervorbringt, für sich zurück, damit er an die Riviera fahren kann, derweilen du dich irgendwo draußen auf dem Weltmeer in Wind und Wetter abschinden mußt? Und der Kapitän? Gibt er sich nicht täglich die größte Mühe, um mehr als das vereinbarte Maß von Arbeit aus dir herauszupressen, damit er, der am Ende doch auch nur ein Lohnsklave und ein Proletarier ist wie du, sich einen guten Namen mache bei den Herrschaften, die ihn bezahlen? Und der dicke Wirt hier hinter der Bar? Steckt er nicht einen Heidengewinn ein bei jedem Glase Whisky, das er dir verkauft? Ist das nicht alles Schwindel und Ausbeuterei? Jawohl! Überall wirst du betrogen um Geldeswert, den deiner Hände Arbeit hervorbringt, und nun machst du so ein Geschrei wegen lumpiger zwei Pesos! Lächerlich!«
Sprach's und schritt stolz zur Tür hinaus, ohne den anderen eines weiteren Blickes zu würdigen. Um der Ehre der Firma willen zahlte ich schließlich einen Peso – mehr konnte ich mir nicht erlauben – aus meiner eigenen Tasche.
So also malte sich die Welt in Michel Angelos Kopfe. Man mag wohl sagen, daß seine Ansichten bockbeinig und ungereimt gewesen sind, aber er hatte wenigstens Ansichten, und er hatte den Mut, seine Lebensweise danach einzurichten. Und das ist immerhin schon etwas in unserer Zeit der tönenden Phrasen und der billigen Schlagwörter, wo Menschen mit einer eigenen Lebensanschauung so selten sind wie die weißen Raben. –
Inzwischen war das Nationalfest schon nahe herbeigekommen, und Antofagasta rüstete sich eifrig zur würdigen Begehung des Tages. Auf der Plaza wurden riesige Fahnenstangen errichtet und Drähte mit bunten elektrischen Glühbirnen von Mast zu Mast gespannt. Sogar die Straßen wurden gereinigt. Überall wurde geputzt, geschmiert und gestrichen, und die Maler waren begehrte Handwerksleute. Aber Michel Angelo hielt trotz der Hochkonjunktur an seinem dreitägigen Arbeitspensum fest. Eine längere Arbeitszeit hielt er für unvereinbar mit seinem Proletariergewissen und mit seiner Würde als Caballero.
Unter diesen Umständen sagte ich nicht nein, als ich einen anderen Mann antraf, der mir Beschäftigung für die ganze Woche bis zur Fiesta versprach. Dieser Mann war einer der schlimmsten Seelenverkäufer an der ganzen Westküste. Sie nannten ihn »Paul der Taucher«, weil er vor Zeiten einmal Taucher in der amerikanischen Marine gewesen war. Er war ein Deutscher, aber infolge des langen Aufenthaltes in Chile schon stark »verhiesigt«. Er trank Tschitscha und kaute Koka wie ein richtiger Roto. Er hatte eine chilenische Frau geheiratet mitsamt einem großen Anhang von mehr oder minder abenteuerlich aussehenden Gevattern. Paul der Taucher war nicht ohne Talente. Außer Deutsch und Spanisch sprach er noch ein halbes Dutzend anderer Sprachen; ein Umstand, der ihm bei seinem Beruf als Heuerbas sehr zu statten kam. Als solcher war er bei Matrosen und Kapitänen gleicherweise berüchtigt. Denn er war eine Ausgeburt von dem, was der Seemann einen Landhaifisch nennt. Nur wenn es sich gar nicht umgehen ließ; wenn das Schiff vollbeladen auf der Reede lag und kostbare Tage verlieren mußte, weil die Mannschaft noch nicht »komplett« war, pflegte sich der Kapitän in seiner Not mit schwerem Herzen an Paul den Taucher zu wenden. Der wußte die Leute aufzutreiben. So oder so! Wenn nur der zehnte Teil wahr ist von dem, was man sich von seinen Taten erzählte, so hätte er zehnmal den Galgen verdient. Sogar Hochwürden und Exzellenzen soll er bei Gelegenheit schon »verschanghait« haben. Doch es ist nicht immer alles bare Münze, was als solche in dem Garn eines Seemanns an der Westküste umläuft. Neben seinem Geschäft als Heuerbas betrieb Paul der Taucher auch noch eine Seemannskneipe, einen Tabaksladen und eine Unterkunft für junge Damen von zweifelhaftem Ruf. Mit einem Chinesen zusammen hatte er ein Speisehaus, eine Dampfwäscherei, eine Spielhölle, eine Opiumhöhle und ein arabisches Kaffeehaus gegründet. Daneben war er noch Schiffsmakler und Versicherungsagent. Er vermittelte Stellungen für die Chorknaben in der Kathedrale und begrub die Toten, die im Stadtspital an den Pocken gestorben waren, solange es nur Geld genug einbrachte. »Non olet« war Pauls Grundsatz.
Nun hatte er die Herrichtung der Plaza für die kommende Fiesta übernommen und durchstöberte die ganze Stadt nach Leuten, die die hohen Eisengerüste streichen könnten, an denen die elektrischen Bogenlampen hingen. Chilenos kamen für diese Arbeit nicht in Betracht, weil sie so hoch nicht hinaufsteigen mochten, und die Gringos getrauten sich nicht anzufangen, weil er nur hinterher bezahlen wollte. »Paul der Taucher ist schlau,« sagten sie. »Er läßt dich arbeiten bis zum 18. September, und von da an sind so viele Fiestas, daß du niemals zu deinem Geld kommen wirst.« Erst als die Zeit drängte, bequemte sich Paul zu täglicher Zahlung und bekam nun alle Gringos, die er brauchte für seine Arbeit.
Dort oben auf dem Kandelaber, wo ich mit meiner Arbeit begann, sah es übel aus. Auf dem brüchigen, vom Rost zerfressenen Eisengerüst lag der Staub von zehn Jahren, den ich mit der hohlen Hand auf die gaffenden Zuschauer fegte, die sich tief unten auf der Plaza wie ein Ameisenschwarm um den Kandelaber versammelten. Plötzlich drang Pauls des Tauchers Stimme von unten herauf. Er fluchte gewaltig: »Was soll der Unsinn da oben? Ich glaube gar, das Kamel streicht die Eisenplatten auch noch an der Oberseite, wo kein Mensch hingucken kann! Du glaubst wohl, ich hätte die Farben gestohlen?«
Das glaubte ich nun gerade nicht, aber daß es gestohlene Farben waren, die wir verwandten, das wußte ich wohl aus den Gesprächen der Bootsmänner, die damit in den Kneipen renommierten. Das machte mir indes nicht die geringsten Gewissensbisse. Man ist verdorben zum Sittenrichter, wenn man lange als heimatloser Abenteurer in der Welt herumgeworfen wird.
So malte ich denn unbekümmert um Rost und Staub wieder flink drauflos, wie ich es von Michel Angelo gelernt hatte. In der Tat: es war wohl nicht zu erwarten, daß ein neugieriger Stadtvater hier hinaufklettern würde, um sich persönlich davon zu überzeugen, daß die Arbeit auch oben und innen gewissenhaft ausgeführt wäre! Ich hatte zwar eine dunkle Idee davon, daß man ein Eisengerüst nicht nur zur Verschönerung, sondern vor allem auch zum Schutz gegen die zerstörende Wirkung von Wind und Wetter mit einem Farbenkleid versehe, aber beim Teufel! Wir waren ja in Chile! Daß ich das immer wieder vergessen mußte!
Wie dem auch sei: der Prinzipal war mit meiner Arbeit zufrieden, und ab und zu hatte ich sogar die Freude zu sehen, wie eine vorübergehende Señorita vor dem Werke meiner Hände stehen blieb und die Blicke ihrer schwarzen Augen über das frische Farbenkleid schweifen ließ, das sich in der Sonne spiegelte.
»Bonito!« sagte sie mit wohlgefälliger Miene.
»Lindo, lindo! Carramba!« meinte der sie begleitende Kavalier.
Endlich kam der große Tag der Fiesta, nachdem in der Nacht vorher unzählige Revolverschüsse sein Kommen verkündet hatten. Wie immer in Antofagasta war es ein Tag voll blauem Himmel und strahlender Sonne. Schon am frühen Morgen ergingen sich die Caballeros auf der Plaza, und die Señoritas, die unter den Palmen lustwandelten, trugen die neuesten Schöpfungen Pariser Modehäuser zur Schau. Eine Schar weißgekleideter Kinder mit bunten Schärpen kam des Weges, genau so wie damals auf jener Fiesta in Tucuman, die so sehr zur Unzeit gekommen war. Die Musik spielte einen Tusch, und die Kinder sangen mit blechernen Stimmen die Nationalhymne. Dann bestieg ein kleines Ding von etwa zwölf Jahren, in weißem Kleid und losen, mit einem blauen Bändchen zusammengehaltenen Haaren, das Podium. Was es dort oben wollte? Es mußte wohl ein Gedicht aufsagen. Laut und deutlich. Hübsch fein akzentuiert, bis es auf einmal mitten im besten Tun den Finger in den Mund steckt und mit dicken Tränen in den Augen nach der Mama schreit. Ach nein! Das kleine Wesen breitete ein Konzept aus und hielt eine richtiggehende Festrede an das Volk, das sich auf der Plaza versammelt hatte. Und welche Rede! Dieser Schwung, dieser Satzbau, dieses Pathos, diese Kühnheit, die vor keinen Bildern und Vergleichen zurückschreckte. Der Pazifische Ozean sei stolz darauf, daß seine Fluten ein so glorreiches Land wie Chile bespülen dürften, und der Himmel – so sagte sie – betrachte es als eine Gnade, daß er täglich neue Farben aus den Kelchen chilenischer Blüten saugen könne. Überhaupt Chile! Es sei unzweifelhaft das größte Land auf Erden. Das mächtigste, das reichste, das stolzeste und das schönste von allen. – Viva Chile!
»Viva Chile!« rief die Kinderschar und die Versammlung der Honoratioren, die in Frack und Zylinder auf den Stufen der Freitreppe standen, die nach dem Stadthaus hinaufführte. Aber kein Laut kam von der großen Menschenmenge, die sich auf der Plaza drängte. Da zeigte sich plötzlich die wohlbeleibte Gestalt eines älteren Mannes über den Köpfen der Menge. Er war ein Stück Wegs an einem der frischgestrichenen Kandelaber aufgeentert und sprach von diesem erhöhten Platze eifrig gestikulierend auf die Umstehenden ein. »Viva Chile!« brüllte er mit weithin hallender Stimme, »son muertos los chileños? Sind sie tot, die Chilenen? Viva Chile!«
»Viva Chile!« sagte ich.
»Viva Chile!« antwortete es da und dort aus dem Publikum.
Dieses Verhalten der Menge hat mich damals sehr gewundert, denn die Chilenen sind – zu ihrer Ehre sei's gesagt – ohne Ausnahme glühende Patrioten. Aber Antofagasta ist kein urchilenischer Boden. Erst im Jahre 1878, in jenem ruhmreichen Kriege, den die Chilenen den pazifischen nennen, wurde die Stadt von Bolivien erobert, und die Bevölkerung besteht noch heute zum großen Teil aus unterworfenen Bolivianos und Peruanos, die rot vor den Augen sehen, sobald man in ihrer Gegenwart das Wort Chile in den Mund nimmt. Doch nun kam eine andere Nummer in dem Programm.
Während die Kinder noch ein Lied sangen und ein richtiger Festredner mit dem Zylinderhut in der Hand die Tribüne bestieg, ertönte in der Ferne kriegerische Musik.
Ich bin ein Preuße,
Kennt ihr meine Farben?
Die Fahne weht mir
Schwarz und weiß voran.
Und mit schimmernden Pickelhauben und funkelnden Messingknöpfen kamen die Soldaten heranmarschiert. Voran der Hauptmann. Hoch zu Roß. Mit silberner Schärpe. Und dann die Herren Leutnants. Stramm und schneidig. Einglas im Auge. Und dann die Mannschaft in langen Kolonnen: Preußisch = Blau. Streng nach Vorschrift der Potsdamer Parade, bis zum letzten Knopf. Nur vorn am Helm war der Kondor an Stelle des Adlers als Wappentier angebracht, und die Gesichter der Rotos, die unter dem Helm hervorschauten – nun ja, die waren wohl auch nicht alle ganz vorschriftsmäßig nach preußischem Muster.
Und es war nicht etwa nur eine sklavische Nachahmung des preußischen Soldaten, wie er sich räuspert und wie er spuckt. Diese Griffe! Dieser Parademarsch! Die Rotos standen und staunten, und die Señoritas winkten mit den bunten Fächern. Die Herzen, die die Festredner nicht zu erwärmen vermochten, hatte die Uniform im Sturm erobert. »Viva Chile!« rief es an allen Ecken und Enden.
Die Chilenen sind eine sehr militärfromme Nation und sie tun sich besonders etwas darauf zugute, daß ihre schönen Soldaten »con tactica alemana« ausgebildet sind. Denn Alemania ist dort die große Mode. So war es damals, und so wird es auch wohl heute noch sein, wo wir überall sonst auf der Erde nur »boches« und Hunnen sind. Vielleicht daß später einmal – doch nein! Wenn erst einmal der Weltkrieg vorübergebraust ist, dann werden wir keine Zeit haben, uns um Chile zu bekümmern. Wir werden wieder hinüberschielen wollen nach denen in London und Paris. Wir werden es gerührt einander erzählen, wenn dort drüben irgendeiner in irgendeiner winzigen Zeitung uns Brei um den Mund schmiert. Und oh! Wie interessant werden wir uns vorkommen, wenn wir unseren Mitmenschen auseinandersetzen, daß die anderen doch gar nicht so übel seien! Daß sie uns im Gegenteil nur immer alles Gute gewünscht und daß sie nie, nie, nie daran gedacht hätten, uns unsere Provinzen zu rauben, unseren Handel zu vernichten und unsere Flagge vom Weltmeer zu fegen. Das sei nur der und der und der gewesen, die für eine Weile mit ihrem chauvinistischen Geschrei die Stimme des Mannes auf der Straße übertönt hätten, aber das Volk, die große Masse der gewöhnlichen Leute dort drüben – nein, das seien ebenso nette Menschen wie wir selber – mindestens ebenso nett! Und wieder wie vorher wird jeder Franzose bei uns ein Muster von Esprit und Eleganz, jeder Italiener ein Apollo, jeder Engländer ein Gentleman und jeder Yankee ein Halbgott sein. Was sind dagegen die Spanier! Und was die Chilenen! . . . Doch das sind Worte aus dem Jahre 1916. Die Zeiten vergehen, aber sie gleichen sich nicht, und es ist nicht mehr als recht, daß die Worte hinterherlaufen und sich den Zeiten anpassen. –
Etwas außerhalb der Stadt, am Rande der Wüste, war ein Platz für Volksbelustigungen hergerichtet, über dem unzählige Fahnen und Wimpel in chilenischen Farben wehten und wo in langen Gassen die Zelte und Wellblechbuden standen, in denen sie Fische backten und Cueca tanzten. Ganz Antofagasta hatte sich hier versammelt, von der modisch gekleideten »sympatica señorita« bis zu dem verwilderten Roto, der barfuß einherging und an dessen Poncho noch die »Caliche« der Salpeterminen klebte. Begeisterte Reden wurden gehalten. Die Gitarren klimperten, und die Blechmusik tönte. »Viva Chile!« hörte man rufen.
Und als bei Dunkelwerden die Feuerwerke verpufften und unzählige Lampions in der Tropennacht glühten, da begann sich die Stimmung sichtlich zu heben. Immer lauter wurde die Musik, immer lärmender die Begeisterung. In bunten, phantastischen Kostümen, das Pañuelo in der Hand, tanzten die schwarzäugigen und schwarzhaarigen Señoritas »la cueca« und die Musik spielte dazu patriotische Weisen.
Da und dort tauchte irgendein Peruaner oder Bolivianer mit dem Cuchillo auf, und es kam zu einer glorreichen Rauferei. Dann wurde wieder getrunken und gesungen. Die Cañaflasche machte die Runde. Der billige, verstärkte und verfälschte, santiaguinische Rotwein fand reißenden Absatz, und das Tschitscha floß in Strömen. Die Fahnen flatterten im Nachtwinde. Der scharfe Alkoholdunst lastete schwer wie eine Wetterwolke über dem Platze. Der Lärm in den Zelten wurde immer lauter und ungereimter, und ab und zu stolperte irgendwo eine schwankende Gestalt aus einer der Buden heraus und schrie mit lallender Stimme in die Nacht hinein: »Viva Chile!«