Kurt Faber
Dem Glücke nach durch Südamerika
Kurt Faber

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Auf dem Dache Südamerikas

Das freie Chile. – In den Randkordilleren. – Die Boraxmine. – Wie man über Nacht zu einer Respektsperson wird. – Der trinkfeste Monteur. – Der Ausflug auf den Vulkan. – Das graue Elend. – Immer noch Puna. – Wieder auf Reisen. – Eine Lehrstunde in chilenischer Geographie. – Durch die Wüste Atakama. – Salpeterwerke. – Endlich in Antofagasta. – Ja, das Meer!

Die chilenischen Zollkontrolleure nehmen es mit ihrem Amt offenbar nicht allzu genau. Im Schatten seiner Amtsstube saß der Herr Inspektor und hielt Siesta. Das Kommen und Gehen der Züge störte ihn nicht im geringsten in seiner olympischen Ruhe. Es war auch besser so, denn was hätte es ihm genutzt, wenn er es genauer genommen hätte mit seinen Amtspflichten? Was hätte es ihm und den Finanzen des chilenischen Staates eingebracht, wenn er plötzlich aus dem Schatten seiner Amtsstube herausgekommen wäre, um vor mich hinzutreten mit der schicksalschweren Frage: »Haben Sie nichts zu verzollen?«

Weiter ging die Reise durch das wilde Land. Immer höher wurden die Berge, immer drohender und trauriger die Landschaft, bis auf einmal, wie ein Hohn auf die umgebende Wildnis, in einer Senkung zwischen zwei Vulkanen eine lärmende Fabrik auftauchte. Hastige Maschinen rasselten in den düsteren, weitläufigen Gebäuden, geschäftige Menschen wimmelten wie kleine, schwarze Ameisen auf den rußigen Straßen. Qualmende Schornsteine ragten in die dünne Luft. Das waren die Werke von Cebollar, die reichsten Boraxgruben der Erde.

Ich fand es geraten, hier die Reise zu unterbrechen, denn in solch geschäftiger Umgebung schien mir die Aussicht auf Arbeit und Verdienst nicht gering. Schon eine Weile war ich aufs Geratewohl umhergewandert in dem Ruß und Staub der Straßen, die in mathematischen Vierecken diese Herrlichkeit aus Holz und Wellblech durchzogen, als ein Engländer mit Sportmütze, Tonpfeife und Reithosen von froschartigem Zuschnitt auf mich zukam und mich fragte, ob ich Arbeit suchte.

»Si, señor!« antwortete ich eifrig, denn nichts brauchte ich mehr, als einen kleinen Verdienst.

Der Engländer schaute mich kritisch, und etwas von oben herab, wie das die Art seiner Landsleute ist, an und erkundigte sich eingehend nach dem Woher und Wohin in einem Spanisch, das vor der Kritik der Akademie nicht länger Stand gehalten hätte wie Karlchen Wiesnicks Extemporale vor dem gestrengen Ordinarius der Quarta.

Ob ich ein Chilene wäre?

Nein.

Oder ein Spanier?

Auch das nicht.

Wohl gar ein Italiener?

Niemals!

»Ja was, beim Teufel, sind Sie denn?«

Mit geziemender Bescheidenheit eröffnete ich ihm, daß ich nur ein Deutscher sei, worauf er mir – das hatte ich am wenigsten erwartet – voll Begeisterung die Hand hinstreckte.

»Deutscher? – Wirklich ein echter Deutscher aus Deutschland? Allright! very fine! Sie können gleich hier anfangen. Die Deutschen sind immer die besten Arbeiter, o yes! Ein einziger Deutscher ist mir lieber, als ein Dutzend Chilenos.« –

Über dem Sprechen hatte er ein Blatt aus seinem Notizbuch herausgerissen und etwas darauf geschrieben.

»Bringen Sie das zu Mister Müller.«

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen. Sehr bald hatte ich den Herrn ausfindig gemacht. Er war ein Mann in den besten Jahren; sehr stattlich, sehr korpulent, mit einem roten Gesicht und wässerigen Augen. Auch ohne die zahlreichen in der Werkstatt umherstehenden leeren Bierflaschen konnte man sehen, daß er ein trinkfester Mann war. Er war ein Deutscher, und zwar einer von der Sorte, die man – leider – nicht allzuoft antrifft. Im allgemeinen muß man wohl sagen, daß der Deutsche – und nicht nur der im Ausland – keine Neigung verspürt, sein Volkstum besonders zu betonen.

Civis germanus sum – das heißt auf deutsch: Entschuldigen Sie, daß ich geboren bin!

Herr Müller machte bei allen seinen sonstigen Fehlern in diesem Punkte eine rühmliche Ausnahme. Für ihn fing der Mensch erst beim Deutschen an. Alles andere war in seinen Augen nur ein Gewürm von minderwertigen Geschöpfen, und nicht viel besser als eine Bewegung im Wege. Er dachte nicht daran, der Landessitte die geringste Konzession zu machen oder gar eine fremde Sprache zu lernen. John Bull ins Deutsche übersetzt. Das technische Personal seiner Werkstatt – und er beschäftigte nicht wenige Menschen – bestand nur aus Deutschen, denn Herr Müller erachtete es unter seiner Würde, mit Vertretern anderer Nationalitäten etwas anderes zu wechseln, als böse Blicke und giftige Gebärden. Daher auch die auf den ersten Blick etwas unerklärliche Vorliebe des Engländers für alles Deutsche.

Zähneknirschend sahen die Söhne Albions im Direktionsgebäude diese Zustände mit an, aber ändern konnten sie es nicht, denn Herr Müller hatte alle Trümpfe in der Hand. Vor einem halben Jahre war er im Auftrag einer deutschen Firma herübergekommen, um die von ihr gelieferten Maschinen zum Trocknen des Borax zu montieren. Er allein verstand sich auf den Mechanismus dieser Apparate; er allein unter allen Menschen in ganz Chile wußte, wo jedes einzelne der unzähligen, in genialem Durcheinander umherliegenden Teile hingehörte, und wenn er auf den Gedanken kommen sollte – er drohte damit so ziemlich an jedem anderen Tage – die Arbeit niederzulegen, so würde das Werk einen unersetzlichen Schaden erleiden.

»Ja, das könnte den Herren Engländern so passen, wenn ich mir hier ein Bein ausreißen wollte mit harter Arbeit,« versicherte er mir schon am ersten Tage. »So schön wie hier werde ich es in meinem ganzen Leben nicht wieder bekommen. Fünfzig Pfund verdiene ich im Monat! Das sind tausend Mark nach unserem Geld. Und dazu noch die freie Station und die Prozente und das, was ich mir nebenher stehlen kann. Hier schimpfen die Leute mich Direktor, Ingenieur und was sonst noch, während drüben – ja drüben, da bin ich nur ein kleiner Monteur mit hundertfünfzig Mark Gehalt im Monat. Da müßte ich doch von allen guten Geistern verlassen sein, wenn ich mich selbst durch meinen Fleiß um das schöne Pöstchen bringen würde.«

Die Logik in diesen Gedankengängen ließ sich nicht wohl abstreiten. Die Rechnung hätte gestimmt, wenn – ja, wenn Herr Müller ein Teatotaler oder Cebollar ein Temperenzverein gewesen wäre. So aber ging alles vom Schlechten zum Schlimmeren und mußte schließlich im heulenden Elend enden.

In einem gefiel mir Herr Müller: Er war nicht kleinlich. War er schon selbst nicht fleißig, so verlangte er auch von seinen Untergebenen keine übermäßigen Anstrengungen. Morgens um 10 Uhr erschienen wir bei der Arbeit. Dann wurde Bier getrunken bis Mittags. Der Nachmittag wurde im wesentlichen von einer Vesperpause ausgefüllt und nachts leerten wir wieder unzählige Bierflaschen bis zur 12. Stunde und ließen uns für diese Zeit Überstunden bezahlen. Es war ein ganz abscheuliches Getränk. Dünn, sauer und abgestanden. Ich mochte zuerst nichts davon trinken, aber die anderen lachten mich deshalb aus und nannten mich einen weißgewaschenen Engländer. Den Vorwurf mochte ich nicht auf mir sitzen lassen.

Die Stellung war also, wie gesagt, eine Sinekure im vollsten Sinne des Wortes; für mich fast noch mehr als für die anderen. Hier war, vielleicht zum erstenmal in meinem Leben, der Ort, wo ich »der rechte Mann am rechten Platze« war. Die Ingenieure und die Buchhalter waren alle Engländer, der Lagerverwalter ein zappeliger Franzose, die Handwerker – soweit sie nicht zur eigenen Werkstatt gehörten – Chilenen und Spanier, während die indianischen Arbeiter zumeist keine andere Sprache verstanden, als ihr zungenbrechendes Kitschua. Herr Müller aber – wie schon gesagt – sprach und verstand grundsätzlich nur deutsch. So kam ich mit meinen Kenntnissen gerade recht in diese babylonische Sprachverwirrung. Mit einemmal war ich eine Respektsperson geworden. Von morgens bis abends lief ich mit dem großen Schraubenschlüssel von einer Werkstatt zur anderen und spielte den Dolmetscher. Die Handwerksleute sahen mit Ehrfurcht zu mir empor, der ich selbst in den geheiligten Privatkontorräumen des allmächtigen Gerente ungehindert ein- und ausging. »El assistente ingenerio« nannten sie mich und hatten eine unbegrenzte Hochachtung vor meinen technischen Kenntnissen.

* * *

Die Boraxgruben von Cebollar sind die reichsten der Erde.

Hier, wo die Niederschläge selten sind und die dünne Luft die Verdunstung begünstigt, wird der Borax, der sonst nur in Salinen durch das künstliche Abdampfen und Verdunsten des Wassers boraxhaltiger Seen gewonnen wird, bereits in trockenem Zustand in mächtigen Schichten als weiße salzartige Masse gefunden. Man hat darum nichts weiter zu tun, als mit dem Dampfpflug über die weiße Fläche des ausgetrockneten Sees zu rennen und die aufgebrochenen Brocken in die Karren der Feldbahn zu laden, worauf sie in der Fabrik zerstampft, ausgelaugt und wieder getrocknet werden. Dann wird der Boraxkalk in Säcke geschaufelt und zwecks Weiterverarbeitung nach Europa verschifft. Das alles sind staubige, schmutzige, gesundheitsgefährliche Arbeiten. Namentlich der Ort, an dem die sogenannten »Chancheros« das Zerkleinern der Stücke vornehmen, ist eine Arbeitsstätte, gegen die selbst die Trockenräume einer Oelmühle in Texas eine Sommerfrische bedeuteten.

Allmählich war eine Woche um die andere vergangen und ich war immer noch in dieser Wüste, obwohl ich mich selbst am meisten darüber wunderte. Denn wenn es auf dieser Erde einen Ort gibt, von dem man sagen kann, daß er ein mörderisches Klima habe, so ist es Cebollar. Hier, in 5000 m Meereshöhe, ist die Luft so dünn, daß der mit normalen Herz und Lungen versehene Mensch, der von der Tiefebene heraufkommt, nicht imstande ist, tausend Schritt in normaler Gangart zurückzulegen, ohne mit erschöpften Lungen und fieberhaftem Herzklopfen wie nach einem langen Schnellauf, anzuhalten. Die Stimme verliert ihren vollen Klang und sinkt zu einem heiseren Flüsterton herab. Geschmack und Geruchsinn gehen völlig verloren. Alle Speisen die man zu sich nimmt, haben den gleichen widerwärtigen Geschmack; fade und salzlos, wie das Leben dort oben. Das ist die Puna. Es kommt noch etwas anderes hinzu, wodurch das Klima vollends zur Hölle wird, das ist der feine, beißende, schwefelduftende Rauch der Vulkane. Fast unsichtbar und dennoch allgegenwärtig brütet er über dem Talkessel, und wenn auch der Wind ihn zuweilen verscheucht, so fegt er doch zu gleicher Zeit immer neue Rauchfahnen hinunter in das Tal. Bis in die innersten Eingeweide dringt dieser Rauch. Den Magen erfüllt er mit giftigen Gasen und die Lunge zermartert er, bis sie rauh ist wie ein Smyrnateppich und Nacht für Nacht den Menschen mit schrecklichen Hustenanfällen aus dem Schlafe schreckt.

Wenn es – wie ich wohl annehmen muß – in einem zukünftigen Dasein eine Vergeltung gibt für die Sünden, die wir hienieden begangen, so glaube ich, daß man mir die Tage in Cebollar darauf anrechnen wird. Und die auf dem Wege von Tupiza nach Uyuni auch. Es wäre ungerecht, wenn es anders wäre. –

Manchmal hatte Herr Müller gar sonderbare Einfälle. Eines Tages belud er den armen Christoph Columbus bis über seine langen, grauen Ohren mit wohlgefüllten Bierflaschen und kommandierte sein ganzes Personal zu einem Ausflug auf den Gipfel eines der Vulkane, der schon lange seine Neugierde gereizt hatte. Der Vulkan war annähernd 6000 m hoch und stand 1000 m über der Talsohle. Auf halber Höhe machten wir ein kümmerliches Feuer, um uns vor der barbarischen Kälte zu schützen, während wir die Bierflaschen leerten und dabei den Worten des Meisters lauschten.

»Heute habe ich Geburtstag!« fing er unvermittelt an.

»Que dice el ingenerio?« fragten mich die Chilenos.

»Jawohl!« fuhr der andere fort, »schaut mich nur nicht so dämlich an, ihr spanischen Hunde! Mein vierzigster Geburtstag ist heute, wenn ihr nichts dagegen habt! Ihr alle sollt hier oben auf meine Gesundheit trinken. Und wenn ihr im nächsten Jahr noch Lust habt zu Landpartien und euch der Teufel inzwischen noch nicht geholt hat, so werden wir wieder hier heraufkommen und den einundvierzigsten Geburtstag feiern. Denn ich habe Zeit, viel Zeit! Ich bin monatlich bezahlt.«

Dabei schaute er einen der Peone so grimmig an, daß dieser die Rede auf sich persönlich bezog. Blitzschnell zog er sein langes Messer und stürzte auf den Meister los. So endete die Festlichkeit mit einer Dissonanz, wie man zu sagen pflegt. Der Indianer bekam eine Tracht Prügel und Herr Müller mußte nach dem Lager hinuntergeschafft werden. Ein hoffnungsloses Opfer des delirium tremens, des heulenden Elends, von dem er sich vorerst nicht erholte.

Ich benützte die günstige Gelegenheit, um mit Anstand wegzukommen. Noch am selben Abend ließ ich mir mein Geld ausbezahlen, und am nächsten Morgen fuhr ich mit dem ersten Zug hinunter nach der Küste. Bald schauten die Schneegipfel von Cebollar nur noch weit, weit im Hintergrund wie riesige Zuckerhüte hinter den blauen Bergen hervor. Ich habe ihnen keine Tränen nachzuweinen. – –

Ja, es war lange her, seit ich zum letztenmal als zahlender Caballero in einem Eisenbahnzug gesessen hatte! Zuletzt war es wohl irgendwo zwischen Buenos Aires und Rosario gewesen; aber dazwischen lagen tausende von Meilen über endlose Ebenen und himmelhohe Berge. Wohlig streckte ich die Beine aus. Die Pesoscheine knisterten in meiner Tasche und irgendwo hinter dem Hutbande – man kann nie vorsichtig genug sein in Chile – schlummerte ein Scheck auf eine Bank in Antofagasta. Noch nie war mir Südamerika so schön vorgekommen wie heute.

Es war ein schmutziger Eisenbahnwagen mit rußigen Fenstern, schmierigem Fußboden und staubigen, abgewetzten Polstersesseln, auf denen dunkelhäutige, ponchoumhüllte Halbblutindianer den Rauch ihrer Zigarillos in die heiße, stickige Luft sandten. Ein langer Engländer, mit einer karierten Sportmütze, der es sich in einer Ecke bequem gemacht hatte, war in die Lektüre der »Times« vertieft. Zwei amerikanische Prospektoren waren mit einem Pokerspiel beschäftigt und verwandten keinen Blick ihrer eckigen, lederfarbigen Gesichter von den Karten. Nur ab und zu sandten sie zwischen den Zügen aus der Maiskolbenpfeife über die Köpfe der anderen Passagiere weg einen nassen Strahl, der mit unfehlbarer Sicherheit stets den Spucknapf am anderen Ende des Wagens traf.

»Three kings!« rief der eine mit näselnder Stimme.

»Full house!« triumphierte der andere.

»By Jove . . .«

Während so der Zug zwischen den wüsten Bergen der Küste entgegeneilte, hatte mich ein patriotischer Chilene mit dunklen, glühenden Augen ins Gebet genommen, um mich mit den Vorzügen seines Vaterlandes vertraut zu machen. »Bei euch in Alemania mag es ja auch ganz schön sein,« meinte er nachsichtig, »aber mit Chile ist es nicht zu vergleichen. So reich wie unser Land ist keines! – Caramba! Wir brauchen niemand, denn bei uns gibt es alles. Drunten in der Gegend von Valdivia, wo Ihre Landsleute wohnen, gibt es Tannen und Fichten, die ein halbes Jahrtausend alt sind, bei Santiago gibt es Melonen, so groß wie Kinderköpfe, in Valparaiso trinkt man den Wein, wie man anderswo das Wasser trinkt; hier in den Bergen gibt es mehr Kupfer als in allen anderen Ländern und drunten in der Pampa Salpeter genug, um die ganze Welt zu versorgen.«

»Aber die da« – mit einem Seitenblick, der den Engländer und die beiden Amerikaner zu erdolchen schien, – »die haben den Vorteil von alledem. Die lassen es sich wohl sein in unserem Land; schimpfen sich ingenerios, contractores und was sonst noch! Verdienen ein Heidengeld und rauchen teure Habanazigarren, derweilen wir mit unseren Zigarillos zufrieden sein müssen. Peone sind wir in unserem eigenen Land, und die Gringos sind die Herren!«

Eine Weile hüllte er sich in nachdenkliches Schweigen.

»Und gibt es in Deutschland auch Senatoren?« fuhr er unvermittelt fort. Beschämt mußte ich ihm gestehen, daß bei uns, abgesehen von den Hansastädten, die Kultur noch nicht bis zu diesem Grad der Vollkommenheit aufgestiegen sei, und der Chilene schien nicht wenig erstaunt über diese Rückständigkeit. Eine Welt ohne Senatoren konnte er sich schlechterdings nicht vorstellen, so wenig wie eine Hölle ohne Teufel.

»Was? Keine Senatoren!« rief er aus im höchsten Diskant des Erstaunens, »ja, Amigo, ist das denn möglich?«

»Warum denn nicht?«

»Dann haben Sie wohl auch keine Minister, keine Präfekten und nicht einmal di–pu–ta–dos?«

Ich versicherte ihn, daß es von diesen sehr viele, nach meinem Geschmack sogar übermäßig viele bei uns in Deutschland gäbe, worauf er sich erneut in grübelndes Schweigen hüllte, um dann unvermittelt fortzufahren wie einer, der von einem Unglück berichtet, das man machtlos als eine Strafe Gottes über sich ergehen lassen müsse.

»Die Senatoren und die Erdbeben, Caballero, die sind die schlimmste Pest im ganzen Lande. Die und die Diputados und die Minister und die Präfekten. Ein Pack von Ämterjägern, das sich auf unsere Kosten gute Tage macht; ein Klub von Tagdieben, eine Gesellschaft von Räubern und Spitzbuben, die für fette Tantiemen unseren Salpeter und unsere Kupferminen an die Gringos verschachern.

Sie sollten einmal hier sein, wenn die Wahlen sind!

Dann können die ärmsten Rotos Wein und Tschitscha trinken und kein Mensch fragt nach der Rechnung. Dann sind sie alle da mit großen Worten und schönen Versprechungen, die democratos, die radicales, die liberales-doctrinarios, die Monttinos, die Nationales, die Balamacedistas, die Pipioles, die Pechoños – ladrones, ladrones todos! Diebe, Diebe! Alle! Wie glücklich wären wir, Caballero, wenn wir keine Senatoren und keine Diputados hätten!«

Spät abends, als die Sonne schon untergegangen war und der Mond eben hinter den Bergen hervorgekrochen kam, erreichten wir das Städtchen Calama. Da der nächste Zug erst um Mitternacht fahren sollte, benutzte ich die Gelegenheit zu einem Spaziergang durch die verschlafene Hauptstraße des Ortes. Es war ein wunderbarer Abend. Der laue Wind flüsterte in den Baumkronen, die ihre breiten, fleischigen Blätter schwarz und gespensterhaft in den helleren Nachthimmel streckten. Eine schwarze Fledermaus schwirrte vorüber. In den Hecken am Wege zirpten die Grillen. In der Ferne krähte ein verschlafener Hahn. Würziger Geruch entströmte einem Orangengarten und mischte sich mit dem süßen Duft von neugemähtem Heu, der von den Kleefeldern hereinkam.

In einer schmutzigen Fonda verzehrte ich eine Portion gebackener Fische und ein öliges Beefsteak und setzte um Mitternacht die Reise nach der Küste fort. Es war eine lange und langweilige Fahrt, denn der Weg führte durch die wegen ihrer Unwirtlichkeit und ihres mörderischen Klimas berüchtigte »Pampa«. Dem Geographen ist sie als die Wüste Atakama bekannt. Sie ist die trostloseste Wüste der Erde. Hier regnet es nie. Sand und Sonne führen das Regiment in den langen, heißen Tagen. Dicke Staubwolken jagen über die brennenden Steine, und auf den weißen Salzseen tanzt die erhitzte Luft in unruhigem Flimmern. Kaum aber ist die Sonne verschwunden, so kommt die Nacht mit ihrem kalten, messerscharfen Hauch, der nach der Hitze des Tages sich doppelt fühlbar macht. Nirgendwo kann man so erbärmlich frieren, nirgendwo funkeln die Sterne in so kaltem, lieblosem Licht wie dort in der Wüste Atakama.

Dennoch ist die Gegend voll von lebendigem Leben. Schon von weitem erkennt man die Stationen an dem weißen Licht der elektrischen Bogenlampen, in dem die langen, finsteren Gebäude sich scharf abheben, und die schwarzen Rauchwolken aus den hohen, gespensterhaften Schornsteinen phantastische Figuren malen. Das sind die Werke, die die ganze Welt mit dem sowohl als Düngemittel wie als Rohmaterial für die Pulverfabrikation so wichtigen Chilesalpeter versorgen. Es sind die Goldgruben des chilenischen Staates, die er vor nahezu dreißig Jahren seinen peruanischen und bolivianischen Nachbarn entrissen hat und um derentwillen die Chilenos noch heute von diesen scheel angesehen werden. –

Noch immer war nirgendwo in der weiten Runde ein Grashalm oder sonst etwas Grünes zu entdecken; noch immer war alles Sand und Sonne. Langgestreckte Sanddünen verrieten die Nähe des Meeres.

Und dann lag es plötzlich vor uns. Unter einem blauen wolkenlosen Himmel breitete sich tief unten die endlose dunkelblaue Fläche, und nur entlang des Landes, wo die Brandung sich an der gelben Sandküste brach, zog sich ein breiter, silberheller Streifen hin.

Und wie wir dann dicht an der Küste den in der Ferne auftauchenden Häusern von Antofagasta entgegenfuhren, wie die laue, salzige Brise mit wildem Ungestüm die heiße Luft des Eisenbahnwagens verjagte, wie in der Ferne das Donnern der Brandung ertönte und die weißen Seemöven kreischend vorübersegelten, da war es mir, als ob ein lieber alter Bekannter von vergangenen Zeiten erzählte.

Ich dachte an alles, was ich im Laufe der Jahre an den Ufern und auf den Fluten dieses großen Wassers erlebt hatte. Wie gestern sah ich plötzlich wieder den Tag vor mir, da ich irgendwo an der Küste von Südkalifornien zum erstenmal am Strande dieses blauen Meeres stand. Damals, ja damals hatte ich den Kopf voll großer Rosinen und die kindische Phantasie tanzte mit den glitzernden Wellen in die lockende Ferne. Sie flog mit den weißen Möven zu rauschenden Palmen an fernen Gestaden. Damals – sollte man's glauben, daß schon wieder reichlich acht Jahre darüber hingegangen waren? Ich dachte daran – nein, das werde ich nicht vergessen und wenn ich so alt werde wie Methusalem selber! – Ich dachte daran, wie ich dann einige Monate später hungrig und abgerissen mit leerem Geldbeutel über das holperige Pflaster der Barbarenküste von San Franzisko wanderte und so ganz unverhofft und unversehens unter die Matrosen und die Walfischfänger geraten war. Ich dachte an wilde Stürme, die die Segel zerfetzten und an laue Nächte im rauschenden Passatwind, wo man stundenlang am Ruder gestanden und statt nach den Segeln und dem Kompaß nur immer nach dem phosphoreszierenden Kielwasser und den vorbeischießenden Haifischen gesehen hat, bis der Bootsmann mit einem ganz unpoetischen »Bi de Wind, Döskopp« die wandernden Gedanken wieder in vorschriftsmäßige Bahnen lenkte. Es tauchten wieder alte Erinnerungen auf an die Perlenfischer an der australischen Küste und an die Kopraschoner, auf denen die heiße Äquatorsonne das Pech zwischen den Decksplanken gekocht und die großen schwarzen Käfer, die aus der Ladung herauskrabbelten, einen fast lebendig aufgefressen hätten. Ich dachte an all die sonderbaren Erdenwinkel, in die mich im Laufe der Jahre das wechselnde Geschick verschlagen hatte. – Oder war es am Ende doch nur der eigene Unverstand? Die eigene Unruhe, die nimmer müde Unstetigkeit, die rastlos vor sich selbst davonläuft?

 


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